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Ein Märchen vom Loslassen und Finden. Während sie mit ihrem treuen sprechenden Pferd über Waldwege spaziert, träumt Prinzessin Helena von den Wundern der Zukunft und davon, ihren eigenen Weg im Leben zu finden. Bald würde sich ihr Schicksal entscheiden, denn sie soll in das Nachbarkönigreich aufbrechen, um die Frau des dortigen Prinzen zu werden. Doch wird es wirklich so einfach sein, das Glück zu finden und das eigene Schicksal selbst in die Hand zu nehmen? Dieses Märchen erzählt vom Verrat und von der Wahrheit, die immer ans Licht kommt, von der Macht der Worte und der Treue, die selbst den Tod überwindet. Neu erzählt von Loireag na Mara. Mit magischen Illustrationen von Līga Klavina.
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Seitenzahl: 97
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Loireag na Mara
DIE GÄNSEMAGD
UND IHR TREUES PFERD FALADA
Übersetzt von Carola Jürchott
Illustrationen von Liga Klavina
Grafiken von Mandy Zasadzki
Wunderhaus Verlag
Loireag na Mara
DIE GÄNSEMAGD
UND IHR TREUES PFERD FALADA
Aus dem Russischen von Carola Jürchott
Illustrationen von Liga Klavina
Grafiken von Mandy Zasadzki
Geschenkausgabe aus der Reihe »Unendliche Welten«
basierend auf dem Märchen der Brüder Grimm »Die Gänsemagd«
Lektorat: Carola Jürchott, Co-Lektorat: Barbara Reimann
Korrektorat: Friederike Gawlik
Satz und Layout: Marianna Korsh
ISBN 978-3-96372-051-2
Ökologisch gedruckt auf FSC®-Papier.
Zertifiziert mit Nordic Swan Ecolabel
© 2021 Wunderhaus Verlag GmbH,
Gedruckt in der EU
Alle Rechte vorbehalten
WWW.WUNDERHAUS-VERLAG.DE
Im ganzen Königreich herrschte geschäftiges Treiben. Das Klirren der Waffen, das Stimmengewirr der Menschenmenge, das nicht verstummen wollte, das Getümmel, die fröhlichen Rufe der Leute und die eindringlichen der Händler, die ihre verschiedenen Waren an den Mann zu bringen suchten ... All das verschmolz auf dem Platz vor dem Palast miteinander. Ob nun als Helden oder nicht, waren viele von ihnen doch zurückgekehrt – allerdings nicht alle. Der König war nicht unter ihnen. Die Königin schaute in die Ferne. Sie hatte ihren Gatten schon lange nicht mehr gesehen und die Hoffnung auf seine Heimkehr fast aufgegeben. Doch als sie nun hörte, was die Generäle verkündeten, die ihm am nächsten gestanden hatten, weigerte sie sich, ihren Worten zu glauben, und versuchte trotz allem, am Horizont seine Umrisse mit der Krone ihres Landes auf dem Haupt auszumachen.
Die Dämmerung brach herein, und die Leute waren bereits nach Hause gegangen, an den warmen Kamin und die reich gedeckte Tafel mit all den Speisen und Berichten über militärische Heldentaten, denn wer wollte schon etwas von Niederlagen hören, geschweige denn davon erzählen? Die Daheimgebliebenen lachten, die Heimkehrer lächelten müde; einige konnten die Freudentränen nicht zurückhalten, andere wiederum blickten düster und scheel von der Seite auf das Geschehen. Alle Tavernen waren brechend voll, der Wein floss in Strömen und wurde von den melodischen Klängen der Lieder begleitet, deren Echo bis zu den Mauern des Königspalastes hinübertönte. Die Königin aber hatte ihren Posten am Turmfenster noch nicht aufgegeben und sah nach wie vor unverwandt in die Weite, als fürchtete sie, etwas Wichtiges zu verpassen. In diesem Moment trat er aus der Dunkelheit, die bereits begonnen hatte, alles einzuhüllen.
Die Königin schrie auf und presste ihre zitternden Hände an ihr Herz. Sie stürzte hinunter zum Haupttor, besann sich aber auf halbem Wege und schlüpfte in das kleine Kinderzimmer, das unmittelbar an die königlichen Gemächer angrenzte. In zwei kleinen Bettchen lagen zwei kleine Mädchen, und beide waren überaus hübsch anzusehen. Eine von ihnen sah die Königin aufmerksam aus ihren schwarzen Augen an, so, als hätte sie überhaupt nicht geschlafen. Sie hieß Selena, was so viel wie »Mondenschein« bedeutete. Das andere Mädchen hatte ihr Kommen hingegen gar nicht bemerkt und lächelte im Schlaf. Dieses Mädchen hieß Helena, »Sonnenstrahl«.
Die Königin nahm das schlafende Kind und eilte hinunter. Als sie durch das Tor trat, schien es ihr, als hätte sie eine Ewigkeit dafür gebraucht, vom Turm herabzusteigen, und nun sah sie ihn endlich ganz – stark, stolz und einsam.
»Falada, mein teurer Freund, du bist es! Wie freue ich mich, dich wiederzusehen! Du wirst mir doch alles erzählen, ohne etwas zu verschweigen? Wirst du auch künftig zu mir stehen?« Sie lüftete die Decke und zeigte ihm das Gesicht des Mädchens. »Schau, Falada, das ist unsere kleine Prinzessin! Dem König war es nicht mehr vergönnt, sie zu sehen, aber jetzt bist du zurückgekehrt, und ich bin beruhigt. Du wirst doch ihr Freund sein? Du wirst sie nicht verlassen?«
Falada schaute die Königin mit seinen großen, tiefgründigen Augen an und schüttelte den Kopf.
»Ich danke dir.« Zum ersten Mal seit langer Zeit huschte ein Lächeln über die Lippen der Königin. Sie wollte ihn umarmen, doch das kleine Mädchen begann, sich im Schlaf zu bewegen, und die Königin begab sich zurück in ihre Gemächer. Auf dem Weg dorthin wiegte sie die Prinzessin.
Falada ging in die entgegengesetzte Richtung. Das Trappeln seiner Hufe hallte durch die abendliche Stille. Denn Falada war ein Pferd, und wie alle Pferde war er es gewohnt, im Stall zu schlafen.
Die Zeit verging, und die kleine Prinzessin wuchs heran. Als wäre sie ein einfaches Mädchen, tollte sie gern mit ihrer einzigen Freundin, der dunkelhaarigen Zofe Selena, über den Hof. Sie waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht, doch es gab etwas, das sie verband: Beide Väter waren aus jenem schier endlosen Krieg nicht zurückgekehrt. Selenas Mutter war bei der Geburt gestorben, und deshalb flatterte das Mädchen frei wie ein Vogel hierhin und dorthin, denn es war niemand da, der auf sie hätte achten und ihr wegen geschwänzter Unterrichtsstunden Vorhaltungen machen können. Im Gedenken an die Verdienste ihres Vaters, des Ersten Generals, war sie bei ihrer Geburt zur Zofe der Prinzessin ernannt worden, und sie wusste, dass ihr alles vergeben wurde, was immer sie auch tat.
Ganz anders lagen die Dinge bei Prinzessin Helena, die unter der ständigen Beobachtung der Dienerschaft stand. Wie träumte sie davon, sich ihren Weg ins Freie zu bahnen, damit der Wind das Lied von ihren Lippen davontragen, ihre goldenen Locken zerzausen und sie sich in seinem Wirbel drehen konnte! Doch Abenteuer kannte sie nur aus den Büchern, die sie heimlich, still und leise aus der Bibliothek stibitzt hatte. Das war ihr einziges Geheimnis. Ansonsten war sie immer folgsam, bemühte sich im Unterricht, zeigte Fleiß beim Sticken, ging stets gerade, griff bei Abendgesellschaften nie zum falschen Besteck und vermochte es, den Wind zu besänftigen. Da war an Abenteuer nicht zu denken! »Kind, du musst noch vieles lernen«, sagte die Königin eines Tages ernst. »Das Leben einer Prinzessin ist kein sorgloses, doch wenn du einst Königin bist wie ich, werden noch viele Sorgen hinzukommen, deshalb sei höflich und strebsam.«
»Mutter, wie soll ich aber wissen, dass ich genug gelernt habe?«, fragte die Prinzessin verwundert.
»Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich es dir ganz bestimmt sagen.« Die Königin klopfte ihr leicht auf die Schulter, küsste sie auf die Stirn und ließ sie mit ihren Gedanken allein.
Falada war der einzige Freund, der Helena wirklich nahestand. Oft kam sie in den Stall, um ihn zu besuchen, und kämmte lange seine wunderbar seidige Mähne mit ihrem eigenen goldenen Kamm. Sie liebte den Duft des Pferdes und mochte es, sein glänzendes perlweißes Fell mit der Bürste zu striegeln. Unbemerkt beobachtete sie, wie die Stallknechte ihn säuberten, besorgte sich heimlich große, schmutzige, ein wenig steif gewordene Arbeitshandschuhe, nahm einen Haken und putzte nacheinander jeden seiner Hufe. Diese Arbeiten machten ihr nichts aus, im Gegenteil: Die Prinzessin freute sich, dass sie ihrem Freund helfen konnte, der auch ihr stets so gern zu Hilfe kam. Irgendjemand musste das aber dennoch der Königin zugetragen haben, denn sie verbot Helena diese schmutzige Arbeit auf das Strengste. Die Prinzessin war ein wenig traurig, doch sie fügte sich.
Der Hengst sprach selten mit ihr, und wenn er es tat, redete er nie über sich selbst. Wenn sie aber in seine tiefgründig glänzenden Augen sah, erblickte Helena Verständnis. In diesen Momenten erfasste sie eine große Ruhe, obwohl es ihr leidtat, dass sie mit ihm kein richtiges Gespräch führen konnte.
»Ich kann schon sticken, und selbst das Weben gelingt mir immer besser. Alle lächeln mich an, und wenn sie mich sehen, kann man die Freude in ihren Gesichtern ablesen. Wenn ich etwas sage, lauscht man mir aufmerksam, und häufig ernte ich Zustimmung. Bin ich vielleicht schon bereit, die Welt kennenzulernen?«, fragte die Prinzessin und schlang ihre Arme um den Hals des Pferdes.
Der Hengst sah sie daraufhin schweigend an, schnaubte mit den Nüstern und gab ein Geräusch von sich, das einem leichten Seufzen ähnelte.
»Ja, ich weiß, mein Freund, ich weiß, dass ich erst zwölf Jahre alt bin! Aber vielleicht ist es dennoch schon an der Zeit, dass ich die Welt kennenlerne? Nein? Ach, Falada, natürlich werde ich mich noch ein wenig gedulden, wenn die Mutter es möchte. Schließlich ist sie weise und weiß, was zu tun ist.«
Häufig streiften sie durch die Wälder, die zum Schloss gehörten, manchmal Seite an Seite, und bisweilen sattelte die Prinzessin den Hengst. Dann jagten sie davon, schneller als der Wind, sodass dieser mit ihnen lachte und versuchte, sie einzuholen. Auch die Begleiter, die die junge Prinzessin ständig bewachten, konnten ihnen nicht beikommen. Ein anderes Mal wieder liefen sie langsam und lauschten dem Gezwitscher der Vögel ebenso wie dem Rascheln des Grases unter den Hufen, sodass die Begleiter zu gähnen anfingen und sich manchmal sogar von ihnen entfernten. Faladas Flanken waren heiß und glänzten wie Marmor, und seine lange Mähne schillerte in der Sonne wie Perlmutt, sein tiefgründiger Blick aber war immer voller Weisheit. Helena liebte es, sich an seine mächtige breite Brust zu schmiegen und zu spüren, dass er immer bei ihr sein würde. Die Wärme seines Körpers wärmte auch das Herz der Prinzessin, und sie kehrte voller Freude zu ihren alltäglichen Verpflichtungen zurück, vergaß allen Kummer und alle Fragen. ›Es kommt alles, wie es kommen soll!‹, dachte sie an manchem Abend, bevor sie mit einem Lächeln auf den Lippen einschlief.
Die Prinzessin trug immer ein Stückchen Zucker für jeden Bewohner des königlichen Pferdestalls bei sich. Obwohl nur Falada ihr Freund war, mochte sie auch die anderen Pferde: den jungen roten Hengst, die zarte braune Stute Fünkchen und all die anderen. Wie hätte sie sie auch nicht mögen sollen? Manchmal schien es ihr, als könnten sie alle sprechen und wollten es nur nicht. Oder als wüssten sie so viel, dass sie es vorzogen zu schweigen, um sich nicht zu verraten. Nur ihr eigenes Pferd hatte sich darauf eingelassen, sein Schweigegelübde zu brechen, warum wohl?
Manchmal nahm Helena auch Selena zu den Spaziergängen mit. Sie verbrachten fröhliche Stunden, jagten mit den Eichhörnchen um die Wette und spielten mit den Blättern und den Sonnenstrahlen. Bei diesen Spaziergängen weihte Helena die Zofe in ihren Kummer ein.
»Dein Wunsch ist doch dem Wind Befehl, warum fliegst du nicht mit ihm in ferne Länder?«, wunderte sich Selena.
»Oh nein, wie könnte ich? Der Wind wird mir nicht gehorchen, wo ich doch der Mutter mein Wort gegeben habe. Das ist ein Naturzauber, man darf ihn nicht einfach vergeuden, und ein königliches Wort ist unverrückbar. Habe ich es einmal gegeben, darf ich es nie wieder brechen. Und wie könnte ich ohne Falada davonfliegen? Auch würde die Mutter vor Gram vergehen«, seufzte die Prinzessin.
»Helena, du bist so folgsam, so treu!«, rief die Zofe aus. »Hätte ich deine Talente, wäre ich schon längst auf Nimmerwiedersehen über alle Berge geflogen!«
»Was denn, ganz allein?« Die Prinzessin konnte es nicht glauben. »Sogar mich hättest du zurückgelassen?«
»Nein.« Die Zofe lächelte. »Dich hätte ich entführt und mitgenommen!«
Die Mädchen lachten, die Zofe drehte sich mit der Prinzessin im Reigen, und die Zweige der Kiefern wiegten sich dazu im Takt.
So wuchsen sie heran: Seite an Seite und doch Welten voneinander entfernt. Die Jahre flogen dahin wie die Blätter im Frühlingswind. Ohne es selbst zu bemerken, wurde Helena erwachsen. Inzwischen liebte sie es, schöne Bilder zu sticken, und hatte gelernt, prächtige Gobelins zu wirken. Ihre hervorragenden Manieren und ihre feingliedrige Schönheit hatten sich bereits weit über die Grenzen ihres Königreiches herumgesprochen. Doch mit derlei Kleinigkeiten befasste sich die Prinzessin nicht. Sie begriff erst, dass sich etwas verändert hatte, als man ihr gestattete, das Schloss ohne Begleiter zu verlassen.