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»Die Gästeliste« ist ein raffiniert-gruseliger Psychothriller über die Abgründe der sozialen Netzwerke. Das Leben ist ein Spiel und Carola Martin hält alle Karten in der Hand. In der Welt der sozialen Netzwerke, in der mehr Schein als Sein herrscht, kennt sich keiner besser aus als Star-Bloggerin Carola Martin. Auf ihren Partys finden sich die wichtigsten Persönlichkeiten des sozialen Lebens ein – die perfekte Gelegenheit für Carola, um dem einen oder anderen ein alkoholträchtiges Geheimnis zu entlocken und sich auf diesem Weg eine strahlende Zukunft zu sichern. Doch gerade, als ihre Karriere auf ihren Höhepunkt zusteuert, wird einer ihrer Partygäste brutal ermordet aufgefunden. Sämtliche Spuren führen zu Carola. Offenbar hat der Mörder noch eine Rechnung mit ihr offen. Um zu verhindern, dass ihr Leben vollständig zerstört wird, muss sie ihren wertvollsten Besitz herausgeben: die Gästeliste. Dieser Roman ist bereits unter dem Titel "Die Gästeliste" von Sanne Averbeck erschienen.
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Seitenzahl: 488
Sonja Rüther
Die Gästeliste
ThrillerGefällt mir · Antworten · 1. September 2015
Knaur e-books
»Die Gästeliste« ist ein raffiniert-gruseliger Psychothriller über die Abgründe der sozialen Netzwerke.
Das Leben ist ein Spiel, und Carola Martins hält alle Karten in der Hand.
In der Welt der sozialen Netzwerke, in der mehr Schein als Sein herrscht, kennt sich keiner besser aus als Star-Bloggerin Carola Martins. Auf ihren Partys finden sich die wichtigsten Persönlichkeiten des sozialen Lebens ein – die perfekte Gelegenheit für Carola, um dem einen oder anderen ein alkoholträchtiges Geheimnis zu entlocken und sich auf diesem Weg eine strahlende Zukunft zu sichern. Doch gerade als ihre Karriere auf ihren Höhepunkt zusteuert, wird einer ihrer Partygäste brutal ermordet aufgefunden. Sämtliche Spuren führen zu Carola. Offenbar hat der Mörder noch eine Rechnung mit ihr offen. Um zu verhindern, dass ihr Leben vollständig zerstört wird, muss sie ihren wertvollsten Besitz herausgeben: die Gästeliste.
Dieser Roman ist bereits unter dem Titel »Die Gästeliste« von Sanne Averbeck erschienen.
In einer Welt, die Virtualität und Realität verschmelzen lässt, gelten andere Gesetze – strengere Gesetze. Schein und Sein hängen von der Intelligenz oder Bauernschläue der Individuen ab, die sich die Möglichkeiten der sozialen Netzwerke zu eigen machen. Wer heute ein König ist, kann schon morgen mit faulen Worthülsen beworfen werden. Und Sicherheit ist nur einen Mausklick vom Untergang entfernt.
Lydia Raymond
Sozialwissenschaftlerin
Philosophie der virtuellen Macht
Bianca, du bist wie immer meine Rettung!« Carola zog ihre Freundin in die Wohnung und warf die Tür hinter ihr zu.
Bianca sah gehetzt aus, trug eine Schüssel Kartoffelsalat unterm Arm, und das grüne Kleid betonte die unvorteilhaften Stellen ihres Körpers. Carola hätte gern Biancas langweilige Frisur durcheinandergebracht und ihr etwas Leben in den Leib geschüttelt, aber dafür war keine Zeit.
»Komm mit«, sagte sie und ging zum Schlafzimmer. Sie musste sich beeilen, wenn sie ihre Gäste nicht im Bademantel empfangen wollte.
Bianca stellte auf dem Weg den Kartoffelsalat auf dem Büfetttisch ab. Sie war die zuverlässigste Person, die Carola kannte. Und sie war herrlich unambitioniert. Auf den Partys saß sie meist stumm auf dem Sofa und nippte an einem Mineralwasser. Sie war ein Joker, den Carola einsetzen konnte, wann immer sie ihn brauchte. So wie jetzt.
»Guck dir das an.« Carola deutete auf das Kleid, das auf ihrem Bett lag. »Ich soll es heute Abend tragen und viele Fotos von mir ins Netz stellen. Es ist fast sechstausend Euro wert.«
»Es ist scheußlich«, sagte Bianca und berührte zögerlich den regenbogenfarbenen Stoff.
Sie brachte das Problem auf den Punkt. Das Kleid war ein mit Kristallen besetzter Albtraum. Selbst mit viel gutem Willen ließ sich aus dem Look nichts machen, was Carola nicht in eine Witzfigur verwandelte.
»Wer hat dir das geschickt?«
»Ein Freund von Felix arbeitet bei Boulgatonie. Ich denke, Felix schustert mir solche Deals zu, weil er sehen will, wie verlässlich ich arbeite.«
Bianca setzte sich neben dem Kleid auf das Bett und sah ihre Freundin an. »Hat es nicht auch etwas mit Verlässlichkeit zu tun, wenn man etwas ablehnt, weil es an einem selbst nicht gut aussieht?«
Für einen Moment überlegte Carola, ob Bianca in das Kleid passen würde, und sie musste grinsen. Bianca war so sehr das Gegenteil von ihr, dass man das Kleid anschließend nur noch im Zirkus verkaufen könnte.
»Du hast recht. Und genau deshalb bist du so wichtig für mich«, sagte sie leichthin und trat zum Schrank, um ein anderes Kleid auszuwählen. Bei all den Klamotten, die sie zugeschickt bekam, hätte sie zwei Monate lang jeden Tag etwas Neues tragen können. Wer ihren Blog verfolgte, schickte ihr etwas in Rot, am besten mit einem goldenen Gürtel. Genau das Richtige für eine schlanke Blondine, die mit ihren neunundzwanzig Jahren die Welt im Griff hatte.
»Was willst du überhaupt von Felix? Er kommt doch immer nur her, um Weiber klarzumachen.«
»Du weißt schon, dass er ein einflussreicher Mann ist, oder?«, fragte Carola und legte ungeniert den Bademantel ab. Ihre Freundin hatte sie schon oft in Dessous gesehen.
»Seit seiner Scheidung und der öffentlichen Schlammschlacht ist er gar nicht mehr so beliebt.«
Carola lächelte. Ohne seine private Misere wäre sie niemals an Felix herangekommen. Seine kurze Bodenhaftung hatte ihr den Zugang zu einem Mann geöffnet, der sonst ein äußerst egozentrisches Leben führte. Sie war zur rechten Zeit im richtigen Klub gewesen, hatte die Ahnungslose gespielt und seinen Kummer geerntet. Er schuldete ihr etwas, weil sie alle Bekenntnisse seines alkoholträchtigen Moments für sich behielt.
Bianca stand auf und ging zur Tür. »Ich nehme mal an, dass noch ein paar Vorbereitungen erledigt werden müssen?«
»Das ist so lieb von dir. Du weißt ja, wo alles steht.«
Carola holte ein kurzes, enges Kleid aus dem Schrank, das scharlachrot leuchtete. Auf ihren Partys war sie stets ein Hingucker. Nahbar, freundschaftlich und Fäden spinnend.
Sie beeilte sich mit dem Anziehen und wählte den passenden Schmuck dazu. Golden und filigran, ihrem Äußeren schmeichelnd. Sie sah sich im Spiegel in die Augen. Ein offener Blick, wie ihn kein anderer Mensch je sehen würde. Das Leben war ein Spiel, und Carola konnte bluffen.
Es klingelte. Sie hörte Bianca zur Tür gehen. Bis die Gäste im fünften Stock ankamen, würde sie Bianca am Eingang ablösen. Jeder Gast sollte als Erstes und als Letztes an diesem Abend die Gastgeberin sehen und dadurch das Gefühl bekommen, wichtig zu sein. Es gehörte nicht viel Aufwand dazu, andere glauben zu lassen, sie würden zum inneren Kreis gehören. Ein Kompliment hier, überschwängliche Anteilnahme da – der Verstand wurde übertölpelt von unerwarteter, aufgesetzter Nähe. Und wenn Carola an die Gästeliste für diesen Abend dachte, war sie sehr stolz auf die Komposition der Möglichkeiten.
Die Show lief wie immer gut. Carola verstrickte ihre Gäste in Gespräche, in die sie eintauchen konnte, wann immer es ihr gefiel, ohne dass jemand sie zu lange in Beschlag nahm. Die Namen derjenigen, die ohne Entschuldigung nicht gekommen waren, markierte sie auf der Liste in der Küche mit einem kleinen roten Punkt. Die Zettel mit den siebzig Namen steckten zwischen den Kochbüchern, die eher aus Dekorationszwecken unter dem Tresen standen. Wer sich nicht abmeldete, wurde so schnell nicht wieder eingeladen, was auch für jene galt, die vor Mitternacht gingen und andere mitzogen. Niemand sollte glauben, diese Partys wären eine Selbstverständlichkeit. Hier zu sein, war ein Privileg.
»Na, machst du wieder deine Notizen?«
Carola schob die Zettel an ihren Platz zurück und drehte sich mit einem Lächeln um. »Amüsierst du dich, Dagmar?«
Die Frau in dem schwarzen, eleganten Kleid stand Carola in puncto Attraktivität in nichts nach. Sie war die personifizierte Konkurrenz, ein finsterer Albtraum, und sie war ihr bei Felix ein Stückchen voraus. Er hatte sie mitgebracht, weshalb Carola sie begrüßt hatte wie ihre liebste Freundin, obwohl sie ihr am liebsten die Tür vor der Nase zugeschlagen hätte. Die Metamorphose von einem billigen Partygirl zu einer ernst zu nehmenden Geschäftsfrau hatte nur zwei Jahre gedauert, weil Dagmar alles kopierte, was Carola vorlebte. Und mittlerweile drohte ihre finstere Zwillingsschwester, sie rechts zu überholen.
»Er wird mir die Kolumne geben«, sagte Dagmar ohne Umschweife. »Ich bin sein Typ. Das kannst du auch gleich in deinen Unterlagen notieren.«
Carola grinste. »Das freut mich für dich. Du wirst das sicher großartig machen. Ich wusste gar nicht, dass du so belesen bist.«
Im Hintergrund lachte eine Gruppe, die Stimmung unter den Gästen war gut. Die offene Küche war kein Ort für ebenso offene Worte. Es nervte Carola, dass diese Frau von den Aufzeichnungen wusste und es jedem unter die Nase rieb, der mehr als drei Worte mit ihr wechselte. Carola übte sich darin, Dagmars Ausführungen diesbezüglich subtil ins Lächerliche zu ziehen. Ein Scherz hier, eine Ersatzliste da, auf der sie nur Häkchen hinter die Namen gemacht hatte und die sie halb verdeckt in der Küche liegen ließ, würden reichen, um den Gerüchten das Gewicht zu nehmen.
Dagmar nahm sich einen Käsespieß vom Büfett und schwenkte ihn durch die Luft wie eine Zigarette. »Warum trägst du das Kleid nicht? Felix hat sich das auch schon gefragt. Wir waren uns einig, dass Boulgatonie dir dieses schicken sollte. Es passt zu deinen blauen Augen.«
Die Gelassenheit war Carolas Schutzwall, den jemand wie Dagmar nicht durchbrechen konnte. Mit einer eleganten Geste strich sie sich die Haare über die Schultern und trat etwas näher an Dagmar heran, um leiser zu sprechen. »Es braucht ein paar Jahre, bis man ein Auge für guten Stil entwickelt. Aber keine Sorge, da kommst du auch noch hin.«
Mit einem Zwinkern ließ sie ihre Konkurrentin stehen und wusste, mit wem sie jetzt reden musste, um die passende Retourkutsche auf diesen Angriff in Gang zu setzen. Felix lächelte sie im Vorbeigehen unbedarft an. Sie war sich sicher, dass Dagmar ihm irgendwas über körperliche Missstände auftischen würde als Begründung, warum Carola das Kleid nicht trug. Sie würde derlei nicht mit einer Rechtfertigung untermauern.
Elegant wirkte, wer niemals etwas Negatives über andere sagte, es sei denn, es demonstrierte Stärke und Entschlossenheit. Wie Carolas Distanzierung von Akif Pirinçci, als er bei seiner Pegida-Rede bedauert hatte, dass es keine Konzentrationslager mehr gab. Carola hatte bis dahin nicht mal gewusst, wer der Kerl war, aber sie kaufte sich schnell einen seiner Katzenkrimis bei Amazon Marketplace, schmiss diesen hochoffiziell in den Müll und kommentierte das Foto in ihrem Blog mit dem Statement, dass sie sich von diesem Menschen distanzierte. Der Link wurde vielfach geteilt, kommentiert und gelikt.
Dagmar tat ihr leider nicht den Gefallen, sich öffentlich derart zu äußern, dass sich Carola von ihr distanzieren konnte. Für sie bedurfte es einer anderen Art der sanften gesellschaftlichen Entfernung.
»Schön, dass du da bist«, sagte sie zu Jens, der gerade dem Gespräch von Sven und Beate zuhörte. Carola strich mit einer Hand über seinen Oberarm. Unter dem Stoff spürte sie die Muskeln und die Anspannung, die sie bei ihrem heimlichen Verehrer verursachte. »Mein Beetle schnurrt wie ein Kätzchen.« Umgehend lenkte sie das Thema auf die gemeinsame Fahrt nach Wolfsburg, wo sie dank ihm Prozente beim Kauf des Autos erhalten hatte. Seitdem parkte der Wagen in der Tiefgarage und war nicht mehr bewegt worden. Sie wohnte mitten in Hamburg in direkter Nachbarschaft des Michels. Eigentlich brauchte sie kein Auto, aber falls doch, stand es für sie bereit.
Jens wurde rot und senkte verlegen den Blick. Für jemanden, der in Hamburg die teuersten Immobilien an den Mann brachte, wirkte er oft jungenhaft und weich. Genau das machte ihn trotz seines durchtrainierten Körpers so unattraktiv für Carola.
Er hingegen war bis über beide Ohren in sie verliebt. Jeden seiner Offenbarungsversuche hatte sie bislang im Keim erstickt, aber sie fürchtete, dass es irgendwann einfach aus ihm herausplatzte.
Seine Verlegenheit war ihr Einstieg. Mit einem Seufzer sah sie sich um und wechselte zu einem tapferen Lächeln, als würde sie bereitwillig in die Diskussion über die Flüchtlingssituation einsteigen wollen, die Sven und Beate hitzig führten.
»Alles gut?«, flüsterte er ohne Umschweife.
»Ja, alles okay.« Mit ihren Zehn-Zentimeter-Absätzen war Carola beinahe auf Augenhöhe mit ihm.
»Ich seh doch, dass du was hast.«
Ihr Schweigen stellte sicher, dass er ihre Worte ernst nehmen würde.
Sie wand sich, holte tief Luft und ließ den Eindruck entstehen, dass sie die folgenden Worte im Grunde gar nicht sagen wollte. »Mir hat gerade jemand gesteckt, dass Dagmar gewisse Dienste gezielt anbietet. Ich meine, nicht nur besetzungscouchmäßig, sondern wie eine Preisliste. Für Gefälligkeiten.«
Unauffällig sah Jens zu Dagmar hinüber. »Wer hat das gesagt?«
»Bianca, und du weißt, dass sie eigentlich keinen Scheiß über andere erzählt.« Bianca saß wie immer allein auf dem Sofa ihre Zeit ab. Die Gefahr, dass er zu ihr ging und das hinterfragte, war sehr gering. Und sollte er es doch genauer wissen wollen, würde Bianca als gute Freundin nicht gleich alles abstreiten.
»Meinst du, da ist was dran?«, fragte er nachdenklich.
»Selbst wenn, das geht doch niemanden etwas an«, erwiderte sie mit einem tadelnden Unterton. »Ich meine, sie wird ihre Kunden ja wohl nicht hier anwerben, oder?«
Seine hübschen, grauen Augen strahlten so viel Verbundenheit aus, dass sie ihm noch ganz andere Lügen hätte auftischen können.
Sie ließ die Schultern kreisen. »Ich finde sie nett, das ist doch das Einzige, was zählt. Seit ich sie kenne, hat sie richtig was aus sich gemacht. Man sieht ihr gar nicht mehr an, dass sie früher ein Partyluder war. Und wenn sie dadurch meinen Job bekommt, dann liegt es wohl eher an Felix als an ihr, nicht wahr?«
Sie fühlte seine Hand auf ihrem Rücken, und wie er sanft mit dem Daumen über ihre Haut strich. Das Kleid war rückwärtig bis zur Taille ausgeschnitten.
»Wenn das stimmt, solltest du sie nicht noch mal einladen.«
»Das habe ich nicht«, sagte sie schnell, als wäre es unbedacht aus ihr herausgeplatzt. »Ich meine, sie kommt immer als ›plus eins‹ von jemandem. Diesmal ist sie mit Felix aufgetaucht. Du weißt ja, dass ich meinen Gästen keine Vorschriften mache.«
Felix war passenderweise gerade dabei, Dagmar eine Hand auf den Po zu legen. Das war der gravierende Unterschied zwischen den beiden Frauen: Dagmar machte es tatsächlich nichts aus, sexuelle Gefälligkeiten zu erweisen, wenn es sie ans Ziel brachte. Da war der Gedankensprung von gefälliger Frau zu Edelnutte gar nicht mehr so groß – nur dass Letzteres anrüchig genug war, um nicht gesellschaftsfähig zu sein. Erfolgreiche Männer wollten erobern und nicht den Ruf haben, für Beischlaf zahlen zu müssen. Wenn dieses Gerücht ihre Party verließ, würden wahrscheinlich einige Werbepartner davon erfahren und kritischer hingucken. Moderne Unternehmen behielten die sozialen Netzwerke im Auge.
»Aber Felix hat das doch nicht nötig«, sagte Jens.
Carola sah ihrem Beschützer liebevoll in die Augen. »Als ob Felix sich über Geld oder andere Dinge Gedanken macht. Aber ich glaube das sowieso nicht. Die Moderation beim Spirit Event hat sie sich doch auch erarbeitet?«
Jens rutschte mit einem Finger unter den Saum ihres Kleides, sodass Carola das Gewicht verlagern musste, um dies zu korrigieren.
»Was man so über Wolfram hört, soll er nicht gerade der treuste Ehemann sein«, sagte Jens. »Die Spirit-Sache veranstaltet er zwar für seine Frau, aber ich kann mir schon vorstellen, dass ihm ein kleiner Bonus gefallen hätte.«
»Scht!« Carola legte ihm einen Finger auf den Mund. »Das ist doch nur ein Gerücht, sag das bitte nicht laut.« Sie wusste, dass er auch diese Berührung genoss. »Lassen wir das Thema lieber ruhen.«
»Na, was ist denn hier los?« Monique und Dorothea gesellten sich dazu und sahen amüsiert auf Carolas Hand, die sie langsam von Jens’ Mund nahm.
»Ihr wisst doch, Männer sind die reinsten Plaudertaschen«, sagte Carola und boxte ihm freundschaftlich gegen den Arm. Besser konnte es nicht laufen, nun standen genau die Personen zusammen, die ihr Vorhaben ermöglichten. »Ich hole euch noch etwas Sekt, die Gläser sind ja schon fast leer.«
Auf dem Weg zur Küche ging sie so dicht an Felix vorbei, dass er sie wahrnehmen musste. Und er kam ihr nach.
»Ah, es gibt Nachschub.« Erfreut hielt er ihr zwei Gläser entgegen, auf einem klebte Lippenstift. »Was war denn mit dem Kleid? Dagmar sagt, es war zu eng?« Er sah vielsagend an ihr hinab.
»Ach Felix, wir wissen beide, dass dieses Kleid an mir nicht zur Geltung gekommen wäre. Ich wollte dir vorschlagen, dass ich das passende Model auswähle, das darin umwerfend aussieht.« Mit einer drehenden Bewegung ihrer Hand strich sie sich die langen blonden Haare über die Schulter und bemerkte, dass seine Aufmerksamkeit an ihrem freien Hals hängen blieb. Dann legte sie einen Finger an die Lippen, als würde sie nachdenken.
»Nun« – mit einem Schulterzucken betonte sie die Besonderheit ihrer spontanen Idee –, »ich weiß, wer es tragen könnte, damit sich Boulgatonie vor Klicks kaum retten kann. Gib mir eine Woche, und du wirst in der Fischauktionshalle ein kleines Wunder erleben.«
Am liebsten hätte sie sich selbst auf die Schulter geklopft. Nicht nur, dass er jetzt zu ihrem Event kommen musste, obwohl er hatte absagen wollen; sie wusste tatsächlich genau, wer seinem Typ entsprach und in diesem Kleid ein Hingucker wäre. Und wenn Elena Kudrow erfuhr, dass sie ein Boulgatonie tragen dürfte, stünde auch ihrer Teilnahme nichts mehr im Weg. Das junge Model war bislang keiner von Carolas Einladungen gefolgt, das würde sich nun ändern.
Begeistert sah sie Felix an und schenkte nach. »Und wenn der Trubel vorbei ist, können wir ja mal über unsere Zusammenarbeit sprechen, denn ich bin für jede Schandtat zu haben.«
Er trank einen großzügigen Schluck und ließ sich erneut nachfüllen. Sie fand, dass er wie Kevin Spacey aussah. Dieses leicht Verschmitzte, das Feuer in seinem Blick und die starken Hände – ihr war klar, warum Frauen schwach wurden, wenn er ihnen Interesse suggerierte. Und gerade weil es so offensichtlich war, sprach es sie nicht an.
»Für jede?« Er ließ sich den Scherz nicht nehmen, und sein Blick wanderte zu ihrem Dekolleté.
Lachend schüttelte sie den Kopf. »Nimm erst mal dein aktuelles Eisen aus dem Feuer. Sie sieht so aus, als würde sie es glatt mit dir in der Garderobe treiben.«
Die Vorstellung schien ihm zu gefallen. »Dann sollte ich die Holde nicht warten lassen.«
Es wäre nicht das erste Mal, dass er mit dem Beischlaf nicht bis zum Verlassen der Party wartete. Seit seiner Scheidung lebte Felix sein Playboy-Leben in vollen Zügen aus. Was zuvor heimliche Affären gewesen waren, fand nun recht öffentlich statt. Und genau deshalb würde Carola gegen Dagmar gewinnen.
Jemand wie er respektiert nur Frauen, die er nicht haben kann.
Als sie Dagmars Blick begegnete, setzte sie die Maske unterdrückter Wut auf, als wäre ihr eigener Charme bei diesem Mann abgeblitzt. Soll sie sich doch ins Zeug legen, um ihn ganz für sich zu gewinnen.
Sie kehrte mit der Sektflasche zu Jens, Monique und Dorothea zurück, goss nach und nippte an ihrem eigenen Glas.
Es dauerte nicht lange, bis sie das hörte, was sie hören wollte.
»Ist das wahr?«, fragte Dorothea geradeheraus. »Dagmar ist eine Nutte?«
»Verdammt, nein, das hat so niemand gesagt«, erwiderte Carola. »Und ich glaube nicht, dass an den Gerüchten irgendwas dran ist. Und mal ehrlich, Felix ist ja nun echt kein Maßstab für den Charakter einer Frau. Der kriegt fast jede ins Bett.«
»Dich nicht«, stellte Monique fest.
Carola genoss diese Worte. »Nein, ich kann ohne Liebe einfach keinen Sex haben.«
Wäre dem tatsächlich so, hätte sie überhaupt keinen Sex. Liebe war ein Gefühlskonzept, das in ihrem Leben nicht existierte. Die Macht, die mit Sex verbunden war, erschloss sich ihr schon eher.
Und während sich Jens erneut Hoffnungen machte und seine eigene Meinung vollkommen bestätigt sah, arbeitete es in den Köpfen der Frauen.
»Sie kam wie aus dem Nichts und ist jetzt genauso erfolgreich wie du«, fasste Dorothea zusammen. »Und ich finde, sie sieht schon irgendwie aus wie eine Professionelle.«
»Guckt euch an, wie die sich antatschen lässt. Was nimmt sie wohl für so einen Abend?« Monique hatte endlich diesen Tonfall, der aus einem Gerücht eine Wahrheit machte.
Felix schien die Vorstellung von Sex in der Garderobe so gut zu gefallen, dass er nun anfing, Dagmars Hals zu küssen und ihr ins Ohr zu flüstern. Dagmar lachte. Sie sah triumphierend zu Carola, weil sie sich als Siegerin wähnte. Und Carola mimte mit wenigen Regungen auf dem Gesicht die Eifersüchtige.
»Ich bringe mal die Flasche weg«, sagte sie leise und ließ die kleine Gruppe stehen.
Monique und Dorothea beäugten Dagmar und Felix, die nun durch den Flur in den kleinen Nebenraum gingen, der als Garderobe ausgebaut war.
»Sie werden doch nicht …«, hörte Carola Dorothea sagen.
Sie grinste.
Screenshot von Dorothea Buthes Facebook-Seite:
[Foto von Dagmar und Felix, die aus Carolas Garderobe treten. Dagmar entsetzt, Felix breit grinsend.]
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👍 Peter Pringler, Jo Aubach und 105 weitere Personen
Monique Müller Peinlicher geht’s nicht. haben Prostituierte nicht normalerweise ein Zimmer im Puff oder einen Wohnwagen?
Gefällt mir · Antworten · 👍 5 · 18 Min.
Sybille Klaasen Du bist ja krass drauf.
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Monique Müller Die liebe Dagmar ist eine Professionelle, das weiß doch inzwischen jeder.
Gefällt mir · Antworten · 👍 2 · 17 Min
Franziska Wolff Das ist eine Lüge. Carola verbreitet den Scheiß, weil meine Schwester ihr den Rang abläuft!
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Monique Müller Im Gegenteil, sie hat deine Schwester noch in Schutz genommen.
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Jo Aubach Halt Carola da raus, Franziska! deine Schwester hat sich ganz allein so aufgeführt!
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Monique Müller Ich habe Franzi blockiert, ich konnte sie eh nie leiden.
Gefällt mir · Antworten · 👍 10 · 13 Min.
Franziska zitterten die Finger, als sie die Diffamierung ihrer Schwester online mitverfolgte. Bekannte und unbekannte Personen besuchten Dagmars Profil, um Beleidigungen oder Häme zu hinterlassen. Es war schlimmer als in der Schule, wo sie ihre Schwester auch hatte ständig verteidigen müssen, denn diese Kommentare waren distanzlos und abgrundtief böse. Fremde Menschen bezeichneten Dagmar als Schlampe, Hure oder Nutte, stellten Vermutungen über ihre sexuellen Qualitäten an und bewerteten das Foto, das von ihr und diesem High-Society-Schwein gemacht worden war. All ihre hart erarbeiteten Erfolge gerieten in Vergessenheit, weil die Leute etwas hatten, woran sie sich aufgeilen konnten.
Carola Martins war an allem schuld. Sie war eine Schlange, windig, listig und giftig. Als Franziska noch dazugehört hatte, hatte sie viele Talente hoffnungsvoll kommen und vernichtet wieder gehen sehen, aber die große Carola wusch jedes Mal ihre Hände in Unschuld.
Jemand musste es ihr endlich heimzahlen. Für all ihre Intrigen musste sie endlich die Quittung bekommen! Franziska hatte ihre Schwester gewarnt, immer wieder, weil sie wusste, dass Carola gefährlich war. Und sie fühlte sich schuldig, da Dagmar ihre Warnungen als Herausforderung wahrgenommen hatte.
Das Internet vergisst nichts, lautete die kurze Nachricht von Dagmar, als sie Franziska den Link zu dem Facebook-Post geschickt hatte. Sie würde recht behalten. Dagmar sah auf dem Foto wie eine durchgevögelte, angetrunkene Frau aus, die jegliche Kontrolle verloren hatte. Und die feine Carola schwieg, genoss die Show und freute sich wahrscheinlich über den Fall der einzigen Konkurrentin, die ihr in den gemeinsamen Kreisen tatsächlich das Wasser hatte reichen können.
Sie musste es tun – sie musste Carola einen Denkzettel verpassen, den sie ihr Leben lang nicht mehr vergessen würde. Etwas, das so vernichtend war, dass die Trend-Prinzessin aus dem Internet gejagt werden würde und nur ein pechbesudeltes Häufchen Elend zurückbliebe.
Der Zeitpunkt war günstig. Carolas kleine Partygesellschaft traf sich am kommenden Samstag in der Fischauktionshalle zu einem Event, bei dem sie nicht penibel auswählte, wer kommen durfte, sondern alle wichtigen Personen von ihrer illustren Liste eingeladen waren. Für diese Veranstaltung wurde Carola bezahlt, weil sie den Abend moderierte. Irgendwer hatte verstanden, dass diese Frau sich selbst zum Mittelpunkt einer gewinnbringenden Gesellschaft gemacht hatte, und was von ihr präsentiert wurde, in die Aufmerksamkeit solventer Personen gelangte. Verpackt in ein Unterhaltungsprogramm würden die Gäste wohlwollend zuhören, was die Sponsoren zu sagen hatten.
So weit wird es nicht kommen.
Das Chatfenster öffnete sich mit einer neuen Nachricht von Dagmar.
Felix geht nicht mal ans Telefon. Er wird die Sache nicht richtigstellen, weil er mich gar nicht wiedersehen will. Ich habe es so richtig verbockt!
Franziska rieb sich über die Augen, bevor sie eine Antwort tippte. Dieses Schwein wäre als Nächstes dran.
Vergiss den Arsch!
Drei kleine, sich wellenförmig bewegende Punkte erschienen als Zeichen, dass Dagmar etwas schrieb. Ungeduldig wartete Franziska. Die Wut auf diese Riege der Selbstgefälligen, die auf ihren hohen Rössern saßen und auf ihre kleine Schwester hinabblickten, brannte in ihr. Am liebsten wäre sie sofort aus dem Haus gestürmt, um Carolas hübsche Nase nach innen zu dreschen.
Endlich erklang das Signal, und die Nachricht erschien. Ich musste meinen Blog deaktivieren, weil die Kommentare auf meiner Site so gemein und verletzend sind. Was habe ich diesen Leuten getan?
Nichts, tippte Franziska. Absolut nichts. Carola ist an allem schuld. Ich kenne dieses Miststück. Aber die wird noch ihr blaues Wunder erleben. Das verspreche ich dir!
Als Franziska die beiden Frauen einander vorgestellt hatte, war Dagmar Angestellte bei H & M gewesen. Seitdem hatte ihre Schwester eine Veränderung durchgemacht, dass sogar Carola sie zunächst nicht wiedererkannt hatte. Falsche Wimpern, geglättete Haare, aufwendiges Make-up; mit viel Sport hatte sie ihre Figur geformt und mit viel Geld ihren Stil geändert. Sie blühte auf, hatte plötzlich eine Perspektive und gab sich nicht mehr mit den Jungs von der Tanke zufrieden. Sie orientierte sich an Carola und eröffnete einen Lifestyle-Blog, gewann eigene Kontakte und wurde richtig gut darin, sich immer neu zu präsentieren und auf positive Weise im Gespräch zu bleiben. Dass sie es schaffen würde, zu einer ernst zu nehmenden Konkurrentin für Carola zu werden, war trotzdem nicht absehbar gewesen.
Nun war sie in der Hölle gelandet. Dank dieses Miststücks.
Alle vielversprechenden Karrierechancen verpufften mit dem Samenerguss eines Arschlochs. Der große Mann ließ sich weiterhin feiern, während seine kleine »Nutte« durch den Dreck gezogen wurde.
Was mache ich denn jetzt nur?, erschien die nächste Nachricht.
Egal, was sie machte, ihr Image blieb dauerhaft beschädigt. Dasselbe Schicksal sollte auch Carola treffen. Das war Franziska ihrer Schwester schuldig.
Lass etwas Zeit ins Land gehen, dann erzählst du den Ersten im Vertrauen, dass du einen Tumor hast und du das Leben genießen wolltest, falls die OP nicht gut verläuft.
Die Reaktion erschien umgehend.
Was???
Franziska schüttelte den Kopf. Ihre Schwester war gut, aber manchmal fehlte ihr das letzte Quäntchen Verständnis für dieses Spiel. Willst du dabeibleiben oder aufgeben?
Die drei Punkte erschienen erneut.
Dranbleiben.
Gut, dann tu, was ich sage. Franziska dachte einen Moment nach. Der Plan war gewagt, aber er konnte funktionieren.
Erst ziehst du dich aus allem zurück, dann erzählst du, dass die Kopfschmerzen unerträglich sind und du dich gerade nicht mit dem Geschehen in den Netzwerken und auf deiner Page auseinandersetzen kannst.
Eine Pause, dann:
Okay?
Franziska grinste, weil ihr die Idee zunehmend besser gefiel. Verzichte von Tag zu Tag mehr auf Make-up, damit die Leute langsam sehen, dass es dir schlecht geht. Aber sag, dass du nicht willst, dass es öffentlich wird. Die stille Post soll so richtig gute Dienste leisten, bevor du dich zu deiner Erkrankung bekennst.
Sie griff nach ihren Zigaretten und zündete sich eine an. Genussvoll ließ sie den Rauch zwischen ihren Lippen entweichen. Er passte zu der aufgeheizten Atmosphäre und dem Pläneschmieden. Zum Glück war ihr neuer Freund ebenfalls Raucher. Sie fragte sich, ob er mitspielen würde, wenn sie ihn einweihte, aber für derlei Erwägungen war die Beziehung noch zu frisch.
Irgendwann wird jemandem auffallen, dass ich nicht krank bin, gab Dagmar zu bedenken.
Frankziska tippte: Das wird der Moment sein, in dem ich ein Foto von dir ohne Haare in einem Krankenhausbett poste. Ich werde dir viel Glück für die Chemo wünschen. Niemand wird sich mehr an dieses beschissene Foto von der Party erinnern. Sie werden nur sehen, was für eine Kämpferin du bist. Und schwups überwindest du den Tumor und bist geheilt und rehabilitiert.
Eine Weile regte sich nichts außer den Statusmeldungen, die im Hintergrund aktualisiert wurden. Facebook-Freunde, die Bilder ihrer Katzen zeigten, sich über Pegida aufregten, Spendenaufrufe teilten oder Werbung für irgendetwas machten. Ein Becken voller Selbstdarsteller. Die Challenge Zeige eine Woche lang jeden Tag ein Foto, das mindestens zwanzig Jahre alt ist animierte Personen, peinliche Fotos in Badehosen oder Windeln zu posten. Das, was sie sonst ihren Kindern antaten, taten sie nun auch postadult sich selbst an. Vermeintlich lustig, doch schrecklich erbärmlich in Franziskas Augen. Zumindest erklärten viele Fotos, warum die Selbstdarsteller heute solche Arschlöcher waren, die verzweifelt um Aufmerksamkeit buhlten. Manche von ihnen waren sicher die gesamte Schulzeit über gemobbt worden, und bei einigen Bildern musste Franzi sich zurückhalten, um keine Hänseleien in die Kommentarfelder zu schreiben.
Endlich tippte Dagmar wieder etwas.
Okay, aber müssen die Haare wirklich ab?
Mit einem zufriedenen Grinsen zog Franziska an ihrer Zigarette. »O ja«, sagte sie leise. »Und wenn du erst siehst, wie es funktioniert, wirst du eine brillante Kranke sein.«
Sie nahm die Zigarette zwischen die Lippen, damit sie besser tippen konnte. Schau dir den Film »Heute bin ich blond« an. Ich freue mich aufs Perückenshoppen. Carola wird blass neben dir aussehen, versprochen!
Die verhasste Carola konnte keinen Tumor aus dem Hut zaubern, wenn Dagmar bereits vorgelegt hatte. Jetzt musste sie nur noch von ihrem goldenen Thron geschubst werden und unten liegen bleiben. Viel Zeit zum Planen hatte Franziska nicht. Sie musste irgendwie in die Fischauktionshalle kommen und sich etwas ausdenken, das Carola mehr schadete als ihr selbst.
Ich werde ihr was in den dämlichen Drink schütten, dachte sie. Nein, das wird nachgewiesen, und am Ende schlägt sie noch Kapital draus.
Wieder ertönte das Chatsignal. Ein zweites Fenster öffnete sich mit dem Profilbild ihrer Schwester. Der Name daneben lautete jedoch Freund Amié.
Hallo Schönheit.
Wer bist du, und warum hast du Dagmars Foto als
Profilbild?
Ich bin ein Freund.
Welcher Freund?
Dein Freund.
Franziska war das zu blöd. Wer auch immer sich einen Scherz erlaubte, war nicht besonders lustig. Sie klickte auf das Profil und sah sich die Chronik an. Nur ein einziges Posting war zu sehen, der Account war neu. Und das Posting war das geteilte Foto von Dagmar und Felix mit der Überschrift: So sieht es aus, wenn Carola Martins am Werk war.
Wie ist dein Posting gemeint? Bist du für oder
gegen Carola?
Gegen.
Und was willst du ausgerechnet von mir?
Das ist doch deine Schwester?
Ja, und?
Das kannst du doch nicht so stehen lassen, oder?
Komm zum Punkt!
Was du auch vorhast, ich will dir helfen.
Hilfe konnte sie gut gebrauchen. Beiläufig drückte sie die Zigarette im Aschenbecher aus und holte sich ein Bier aus der Küche. Sie wollte nichts überstürzen. Franziska wusste, dass eine Menge Leute Carola nicht mochten, doch die Angst, sich selbst aus wichtigen Kreisen zu katapultieren, ließ jeden schweigen. Carola wurde mehr Macht zugesprochen, als sie tatsächlich besaß.
Wer bist du?
Das kann ich dir hier nicht sagen, aber ich weiß,
wie wir ihr schaden können.
Wie?
Ich werde dir eine Einladung zu ihrer Feier in den
Briefkasten werfen. Als Bonus lege ich etwas hinzu,
das dir wie ein Weihnachtsgeschenk vorkommen wird.
Nun, ich bin gespannt.
Wahrscheinlich war es heiße Luft, aber was schadete es, wenn sie es sich ansah? Die Frage, wie sie Zugang zur Veranstaltung bekäme, wäre damit zumindest behoben.
Sie nannte ihre Adresse und lehnte sich zurück. Ich habe nichts zu verlieren, also zeig mal, was du hast.
Dagmar war offline gegangen. Das kleine Handysymbol zeigte, dass sie nur theoretisch ansprechbar war. Franziska hoffte, dass ihre Schwester die Nerven behielt und alle Nachrichten, Kommentare und Mails von anderen ignorierte. Sie mussten sensibel an die Verbreitung ihrer fiktiven Erkrankung gehen. Dagmar durfte nichts überstürzen.
Es war besser, ihr von dem anderen Vorhaben nichts zu erzählen, denn sollte es schiefgehen, musste ihre Unschuld glaubhaft sein. Noch wusste Franziska nicht, was der oder die Fremde ihr zuspielen würde, und wenn es unbrauchbar war, fing sie bei null an.
Nachdenklich kaute sie an einem Hautfetzen ihres Nagelbetts.
Ihre Hände sahen ständig ramponiert aus, weil gerade Hochsaison für Gärtner war. Die Kunden wollten winterfeste Gärten, und Franziska verdiente sich schwarz ein Taschengeld zum Unterhalt ihres Ex-Manns. Sie war nicht die beste Gärtnerin, aber eine gute Angestellte war sie noch weniger. Lasse zahlte zwar ohne Murren, verwehrte ihr jedoch Extraleistungen. Er wäre auch ein passender Gast für Carolas dämliche Partys. Ein Bauunternehmer, der in Hamburgs Stadtplanung saß wie die Made im Speck und seiner Ex-Frau läppische dreitausend Euro monatlich überwies. Carola bekam allein dreitausend Euro, wenn sie in ihrem Blog übers Wetter schwadronierte.
Wenn Franziska ihre beste Entscheidung benennen sollte, dann war es die, dass sie ihren damaligen Mann nie mit auf eine von diesen beschissenen Partys genommen hatte. Auch wenn sie es ungern zugab, war sie selbst auch nur dort gewesen, weil Carola auf ihre patente Art zurückgreifen wollte. Franziska war kein Püppchen, sie war jemand, der Schränke zusammenbaute und bei Umzügen half, und genau das hatte sie als Freundschaftsdienst auch für Carola erledigt. Nur deshalb durfte sie eine Zeit lang zur illustren Runde gehören. Sie erinnerte sich an Carolas überschwängliche Freude, als Franziska ihre Hilfe anbot, an all das Getue und das Beteure, dass sie damit nicht gerechnet habe und überglücklich sei. Carola zu helfen hatte sich gut angefühlt. Es hatte sich angefühlt, als sei Franziska wichtig und wertvoll.
Ihr Smartphone fiepte. In einer halben Stunde sollte sie bei irgend so einem faulen Sack sein, der sich in Hamburg einen Garten leistete, aber keinen Bock auf die Arbeit darin hatte.
Sie zog sich Schuhe an, warf sich die Arbeitsjacke über und tippte im Gehen die Adresse in die Navi-App. Sie brauchte nichts mitzunehmen, denn dafür, dass sie nur fünfzehn Euro die Stunde nahm, mussten ihre Auftraggeber alle Gerätschaften stellen und für die Entsorgung entsprechende Säcke kaufen und den Müll selbst wegbringen.
Schon als sie auf den Button für die Navigation mit öffentlichen Verkehrsmitteln tippte, wusste Franziska, dass sie gnadenlos zu spät dran war. Sie fuhr mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss und fasste ihre langen, rotblonden Locken zum Zopf zusammen. Dagmar wollte ihr ständig zeigen, wie hübsch sie mit Make-up wäre – vielleicht würde sich Franziska für das Event in der Fischauktionshalle von ihr schminken lassen. Im Fahrstuhlspiegel sah sie alles andere als glamourös aus, so wie sie es mochte: ein Kumpel, jemand, auf den man sich verlassen konnte, keine Tussi.
Unten angekommen, sah sie im Briefkasten nach, ob der mysteriöse Verbündete schon etwas hineingeworfen hatte. Das Fach war leer.
Die Sonne blendete sie, als sie ins Freie trat. Der goldene Herbst schaffte eine angenehme Arbeitsatmosphäre. Sie sah auf das Telefon hinab und ging los. Zehn Minuten bis zur U1, behauptete die App, doch so schnell, wie sie ging, würde sie nur sieben benötigen.
Die Distanzlosigkeit im Internet manifestiert sich auf unterschiedliche Weise. Ganz gleich, ob die User sich als verletzliche, ständig enttäuschte Opfer outen oder Beleidigungen, Hetze und Drohungen unter dem Klarnamen geäußert werden – offensichtlich ist das Internet noch immer ein abstrakter Raum, in dem sich die Menschen anonym fühlen. Und das trotz trügerischer Nähe, fiktiven Freundeskreisen und realer Hassgefühle.
Lydia Raymond
Sozialwissenschaftlerin
Philosophie der virtuellen Macht
Bist du nervös?« Bianca betrachtete Carola von der Seite. Es war beneidenswert, dass sie ohne viel Schminke perfekt aussah.
»Ich gehöre zu den Glücklichen, die niemals Lampenfieber haben«, sagte Carola und drehte sich einmal um die eigene Achse. Das schwarze Kleid fächerte auseinander, und rote Seide flammte in den raffinierten Falten auf. Der Schnitt erinnerte ein wenig an die Mode der Sechziger, weil es oben gerade geschlossen und eng anliegend war und ab der schmalen Taille ausgestellt bis zu den Knien fiel. Ein Petticoat darunter wäre denkbar gewesen, aber Carola hatte diesen Vorschlag kategorisch abgelehnt und gesagt, dass sie nicht wie eine Ballerina rumlaufen wollte. Ihre blonden Haare trug sie hochgesteckt, kleine Nadeln mit Strasssteinen glitzerten dazwischen. Dies war ihr Abend, und das strahlte sie aus – Bianca wusste, dass sie jeden verzaubern würde, der die Fischauktionshalle betrat.
Noch war alles leer. Sie standen vor der Bühne, und Carola machte einen sehr zufriedenen Eindruck. Alles lief wie geplant.
Tatsächlich fehlte an ihr jedes Anzeichen von Nervosität. Bianca war sich sicher, dass Carola jede Bewegung, jedes Wort und jeden Blick im Griff hatte. Ihr selbst wäre so ein Leben zu anstrengend, allerdings mochte Bianca ihr eigenes Leben auch nicht sonderlich. Ihre Mutter hatte in den letzten zehn Minuten dreimal angerufen, um ihr fünf unterschiedliche Arbeitsaufträge zu erteilen. Einer dringender als der andere, der Weltuntergang war demnach vorprogrammiert. Es lief immer gleich ab: Bianca erzählte ihrer Mutter von einem besonderen Abend, und ihre Mutter machte daraus eine kleine Egoshow.
»Wenn du das Handy nicht selbst ausschaltest und für den gesamten Abend verschwinden lässt, übernehme ich das«, sagte Carola.
Es wäre nicht das erste Mal, dass sie diese Drohung in die Tat umsetzen würde, also schaltete Bianca das Smartphone aus und steckte es in die Handtasche. »Meine Mutter glaubt mir nicht, dass ich ihre Schlaftabletten schon aus der Apotheke geholt habe. Sie hat noch welche daheim, aber sie schiebt Panik, dass der Nachschub ausbleibt. Manchmal würde ich ihr gerne alle auf einmal in den Mund stopfen.«
»Meinen Segen hast du.« Carola sichtete ihre Karten und ging langsam auf die Bühne zu.
In der Halle standen fünf lange Tischreihen mit dem Kopfende zur Bühne, und bis auf die jeweils zehn ersten Plätze gab es keine Reservierungen. Fünfzig Privilegierte. Für den Rest galt: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Eine Absicherung dafür, dass jene, die gesehen werden wollten, pünktlich kamen. Bianca zweifelte nicht daran, dass sich die Reihen bis auf den letzten Platz füllen würden.
Da sie ihrer Freundin als Fahrerin dienlich war, hatte sie vor allen anderen die freie Platzwahl gehabt. Ihre Strickjacke in ähnlicher Farbe wie ihr fliederfarbenes Kleid ruhte auf dem Stuhl ganz links, direkt hinter einem reservierten Platz. Sie hoffte, dass sie ihren Sitznachbarn mögen würde. Dass hier niemand gelangweilt aufstehen konnte, um den Platz zu wechseln, mochte ausnahmsweise ein Vorteil sein.
Bianca hatte nie viel zu sagen. Ihre Arbeit als Sozialversicherungskauffrau interessierte keine Sau, und alles, was Carola und die gemeinsame Freundschaft – die immerhin schon seit der fünften Klasse bestand – betraf, würde sie als Geheimnisträgerin mit ins Grab nehmen. Was auf den Partys passierte, blieb auf den Partys. Die beste Möglichkeit, ein längeres Gespräch zu führen, war, Interesse an den Themen der anderen zu zeigen.
Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es dauerte noch dreißig Minuten, bis die Türen geöffnet wurden. Jeder war beschäftigt. Die Servicekräfte stellten die Tabletts für die Sektgläser bereit. Die Techniker überprüften den Ton. Carola ging ihre Eröffnungsrede durch. Bianca stand wie Falschgeld vor der Bühne und lächelte über ihre Gedanken hinweg. Es war immer gut, als Erste vor Ort zu sein, weil die Neuankömmlinge dann sie begrüßen mussten.
Carola liebte es, irgendwo als Letzte reinzuplatzen, sich durch die Gäste zu arbeiten und jedem die Hand zu schütteln. Für Bianca war schon der Gedanke ein Albtraum. Ihr war bewusst, dass Menschen, die viel zu früh irgendwo erschienen, ebenso unhöflich waren wie Menschen, die zu spät kamen, aber ihre Überpünktlichkeit hatte etwas Zwanghaftes. Jeder Versuch, mit Absicht zu spät zu kommen, endete mit einer Punktlandung.
Ich bin eben verlässlich, kommentierte sie ihren Gedankengang. Das ist meine Superkraft.
Carola winkte von der Bühne herab, was Bianca mit einem Nicken erwiderte. Diese Frau las in Menschen wie in Büchern. Bianca hatte irgendwann beschlossen, diese Fähigkeit schlicht zu bewundern, statt sich darüber zu ärgern, gläsern zu wirken. Körpersprache, Kleidung, Tonfall und Auftreten verrieten Carola immer und jederzeit, mit wem sie es zu tun hatte und wie sie diese Person handhaben konnte. Bianca kompensierte die Langeweile auf den Partys meist mit dem Studium von Carolas Umgang mit anderen. Manchmal versank sie in ihren Beobachtungen, als würde sie fernsehen. Die unglaubliche Welt der Carola Martins.
Warum auch immer diese Freundschaft fortbestand, Bianca stellte sie nicht mehr infrage. Vielleicht brauchte jede hübsche Frau eine hässliche Begleitung – oder zumindest eine nichtssagende.
Bianca ging an ihren Platz und setzte sich auf den Stuhl. Die Langeweile siegte, sie schaltete das Smartphone wieder ein. Sie wollte bei Facebook nach den neuesten Statusmeldungen gucken, vielleicht Candy Crush spielen, bis alle Gratisleben verbraucht waren, oder im Internet nachschauen, was zu später Stunde noch im Fernsehen lief.
Mit der PIN-Eingabe entsperrte sie die SIM-Karte, und die Nachrichten ihrer Mutter erschienen auf dem Display. Sie drückte eine nach der anderen weg. In einer Stunde würde ihre Mutter sie dank Schlaftablette nicht mehr terrorisieren.
Bei Facebook schrieben manche, dass sie nun zur Fischauktionshalle fahren würden, garniert mit Fotos von den schicken Gästen in spe. Jemand, den sie kaum kannte, spottete über das Playboy-Magazin, das zukünftig seine Bunnys bekleidet ablichten wolle. Und gerade als Bianca die App wieder schließen wollte, erschien ein neues Posting zum heutigen Event. Von Dagmar, die wahrscheinlich die schlimmste Woche ihres Lebens hinter sich hatte. Bianca wusste, dass Carola daran nicht so unschuldig war, wie sie tat. Sie hatte das Geschehen auf der Party beobachtet und gesehen, wie Carola ihre Fäden gesponnen und daran gezogen hatte. Auch wenn sich Biancas Mitleid für Dagmar in Grenzen hielt, fand sie, dass Carola zu weit gegangen war. Dies war Bianca an jenem Abend auch bei Jens rausgerutscht, dem dadurch bewusst geworden war, was er angerichtet hatte.
Sie ließ sich das Posting anzeigen.
Das ist der schlimmste Tag meines Lebens. Ich musste meine Schwester gerade im Leichenschauhaus identifizieren. Franziska wurde bei einem Überfall ermordet!
Darunter häuften sich die Beileidsbekundungen. Alle von Gästen geschrieben, die jeden Moment durch die Türen kommen sollten.
Bianca sah von dem Smartphone zu Carola, die zufrieden auf der Bühne stand. Sie muss es wissen, bevor jemand anderes es ihr sagt. Jeder würde während dieses Abends über Franziska sprechen. Selbst wenn kaum einer näher mit ihr befreundet gewesen war, kannte doch jeder Dagmar.
»Es ist alles bereit. Ich denke, wir können die Gäste jetzt empfangen«, verkündete Carola.
»Warte«, rief Bianca lauter als gewollt. Sie lief mit dem Telefon zur Bühne.
Carola kam ihr mit ernster Miene entgegen. »Was ist?«
»Hier, lies selbst.«
Carola las – und Wut durchbrach die Gelassenheit. Nicht viele Nachrichten schafften dieses Kunststück. Sie hielt das Telefon so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. »Das darf doch nicht wahr sein!«
Deutlich arbeitete es in ihrem Kopf, dann gab sie das Smartphone Bianca zurück und überprüfte den Sitz ihrer Haare.
»Die Gäste sollen eintreten«, wies sie die Angestellten an.
Und mit leiser Stimme sagte sie zu Bianca: »Diese Nachricht wird mir meinen Abend nicht ruinieren. Dafür steht zu viel auf dem Spiel.« Sie drückte die Schultern durch.
»Selbst wenn nur ein paar Leute das gelesen haben, wird es sich wie ein Lauffeuer hier verbreiten«, sagte Bianca.
Ein leiser Fluch kam über Carolas Lippen. »Okay, das bedeutet, dass ich das Programm etwas ändern muss. Mir fällt schon was ein.« Entschlossen wandte sie sich um und visierte eine Servicekraft mit Sektgläsern an.
Bianca sah auf das schwarz gewordene Display ihres Smartphones. So oder so würde dies ein denkwürdiger Abend werden. Und sie würde all ihren Besitz darauf verwetten, dass Carola selbst den Tod in Gold verwandelte.
Bald füllte sich die Halle zügig mit Männern und Frauen, die so herausgeputzt waren, dass Bianca sich in ihrem fliederfarbenen Kleid lächerlich fühlte. Ein paar Blicke bestätigten den Eindruck. Zu allem Überfluss setzten sich Felix, Tatjana und David an Biancas Tisch, und keiner von ihnen würde das Wort an sie richten. Bianca war Luft. Vereinzelt hörte sie Gesprächsfetzen über Dagmar und den Tod ihrer Schwester; sensationsschwangeres Getuschel, ab und an ein Hauch schlechtes Gewissen oder gesellschaftstaugliche Anteilnahme. Die Verlogenheit war die Triebfeder dieser Gesellschaft, bei der unverschämter Egoismus mit so vielen Plattitüden verschleiert wurde, dass Bianca sich wie eine Aussätzige fühlte. Ihr ehrliches Interesse an Menschen war wie ein Leiden, das ihrer Persönlichkeit die Farben entzog und ein fliederfarbenes Häufchen Elend zurückließ.
Sie beobachtete die Besucher.
Jens saß nicht mit Monique und Dorothea zusammen; anscheinend hing ihm die Sache mit Dagmar noch nach. Er saß weiter hinten bei den weniger privilegierten Gästen und unterhielt sich mit Bernadette. Nicht unbedingt eine bessere Wahl.
Felix sah sich um, wahrscheinlich sondierte er, welche Holde an diesem Abend seine Gesellschaft genießen durfte. Er entdeckte Bernd Gerhardt, seinen größten Widersacher, am Nachbartisch, ebenfalls auf einem der Ehrenplätze, was Felix mit geballten Händen kommentierte. Dagmar schien wenig Raum in seinem Denken einzunehmen. Von allen anwesenden Männern war er der zielstrebigste. Genussmensch, Opportunist und harter Geschäftsmann. Wenn Bianca es genau bedachte, war Bernd sein Kryptonit – niemand sonst brachte ihn so leicht aus der Fassung. Wenn die Männer einem Streit nicht aus dem Weg gehen konnten, schwang etwas in den Wortgefechten mit, das Bianca nicht einzuordnen vermochte. Irgendwas ist da zwischen den beiden.
Einige Meter weiter fiel ihr Peter Kampe auf. Der Polizeipräsident zählte zu Carolas Lieblingen. Bianca war sich sicher, dass es dafür eine romantische Basis gab, die Carola niemals zugeben würde. In Carolas Welt bedeuteten Informationen Macht, was manchmal sogar Bianca von einer Mitwisserschaft ausschloss. Über Peter Kampe machte Bianca gern Witze und Andeutungen, um ihrer Freundin einen Funken Wahrheit zu entlocken. Aber Carola zog jeden Versuch ins Lächerliche.
Ein Raunen ging durch den Saal. Die Blitzlichter der Fotografen kündigten sie an, bevor Bianca sie sah: Elena Kudrow, das Meisterstück von Carolas Inszenierung, war angekommen. Sie betrat die Festhalle mit Grazie, während sich das regenbogenfarbene Kleid im Scheinwerferlicht funkelnd an die perfekten Kurven ihres jungen Körpers schmiegte. Der dunkle Teint und die asiatischen Gesichtszüge waren als Kombination schon besonders, aber ihre großen, grünen Augen ließen das Model wahrhaft außergewöhnlich erscheinen. Die schwarzen Haare trug sie in leichten Wellen offen, und ihr feuriger Blick brachte die Würze in die festliche Atmosphäre. Jeder musste Elena Kudrow anschauen, ob er wollte oder nicht.
Bianca sah zu Felix.
Es fehlte nicht viel, und ihm wären wie in einem alten Cartoon die Augen aus dem Gesicht gesprungen und er hätte lustvoll geheult wie ein Wolf. Nun verstand Bianca, warum der Platz ihm gegenüber noch frei war.
Carola nahm Elena Kudrow vor aller Augen in Empfang und geleitete sie zum Tisch, wo sie Elena den direkten Sitznachbarn Felix, Tatjana, David und Bianca vorstellte und anschließend alle bat, sich wieder zu setzen.
Bianca schätzte an ihrer Freundin, dass sie von ihr in derartigen Situationen nicht übergangen wurde. Auch wenn Elena sie beim Händedruck nicht ansah.
»Du hast recht«, sagte Felix mit leuchtenden Augen zu Carola. »Das Kleid könnte nicht besser präsentiert werden.«
Eine engagierte Fotografin dokumentierte die Szene. Bianca lehnte sich zurück, um das Motiv nicht zu stören.
Mit einem zufriedenen Lächeln ließ sich Carola von einer Assistentin ein Mikrofon reichen und erklomm die Stufen zur Bühne. Bis zu diesem Moment war Bianca nicht bewusst gewesen, was ihre Freundin tatsächlich erreicht hatte. All das hier war der Wahnsinn. Unternehmer, Prominente, Politiker – nur Menschen von Rang und Namen, die einzig hier saßen, weil Carola sich über die Jahre ein Image erarbeitet hatte, das bis vor drei Jahren auf Sand gebaut gewesen war, auf Hörensagen und Gerüchten, die sie selbst in Gang gesetzt und nachträglich wahrhaftig gemacht hatte. Ihre Persönlichkeit war so präsent, dass kaum etwas hinterfragt wurde. Dabei war sie gelernte Steuerfachangestellte. Ihr buchhalterisches Geschick war ihr von Nutzen, aber die Zeit in der Kanzlei war nicht gerade glamourös gewesen. Carola selbst war es sehr wohl – immer schon.
Die Art, wie Carola die Bühne betrat und wartete, dass Ruhe einkehrte, war ein besonderer Anblick. Sie hatte es geschafft. Sie war die Siegerin in einem Wettkampf, dessen Regeln so kompliziert und heimtückisch waren, dass Bianca aufgegeben hatte, sie verstehen zu wollen.
»Vielen Dank, dass ihr so zahlreich meiner Einladung gefolgt seid«, begann Carola ihre Rede. »Uns erwartet ein famoses Programm mit großartigen Talenten, auf das ich mich schon freue, seit mir die Ehre zuteilwurde, es zusammenzustellen.«
Von einem auf den nächsten Moment schien alle Lebensfreude aus ihr herauszufließen. »Aber bevor wir beginnen, möchte ich euch um eine Schweigeminute für Franziska Wolff bitten. Die Nachricht ihres Todes hat mich eben erst erreicht, und ich bin erschüttert. Manche von euch werden Dagmars Schwester noch von meinen Partys kennen. Dass sie infolge eines Raubüberfalls sterben musste, macht mich so traurig und wütend, dass ich es kaum in Worte fassen kann.« Sie hielt inne und legte eine Hand über die Augen. Als sie weitersprach, wurde ihre Stimme dünn und brüchig. »Wenn man jung ist, glaubt man, man hätte alle Zeit der Welt. Menschen, die man mag, geraten in den Hintergrund, aber man vergisst sie nicht. Man glaubt, dass es selbstverständlich wäre, sie irgendwann wiederzusehen – aber das ist es nicht.« Sie atmete mehrmals tief durch. »Heute habe ich eine Freundin verloren. Ich werde nie vergessen, wie sehr wir gelacht haben, als ich versuchte, meinen Kleiderschrank alleine aufzubauen und mir alles über dem Kopf zusammenfiel.« Tränen sammelten sich in ihren Augen. »Franziska, ich hoffe inständig, dass dein Mörder gefunden wird und die Strafe bekommt, die er verdient. Ich verspreche dir, dass ich für deine Familie da sein werde – es ist das Mindeste, was ich tun kann. Nun lasst uns eine Minute schweigen.«
Bianca ertappte sich dabei, Carola abzukaufen, dass sie ernsthaft schockiert war. Es war so berührend, wie sie dort oben stand und diese Worte aussprach, ihren Kopf neigte und der Toten gedachte. Und sie alle machten mit. Jene, die Dagmar gestern noch mit Häme bedacht hatten, bezeugten nun eine Anteilnahme, die sie angesichts dessen, dass sie die Tote kaum oder gar nicht kannten, nicht empfanden.
Die Minute endete, Carola räusperte sich. »Es fällt mir schwer, den vergnüglichen Teil einzuläuten, aber die Kreativität, Profession und Anmut des folgenden Äquilibristen ist reinste Poesie. Allein durch seinen Gleichgewichtssinn und seine Muskelkraft erschafft Pierre Forall ein Bild dieser fragilen Welt, die durch den Willen eines Mannes aus den Angeln gehoben werden kann.«
Bianca klatschte als Erste. Es war ihr egal, ob sie damit den Künstler empfing oder Carolas gelungene Rede bedachte, es fühlte sich einfach gut und richtig an. Carola hatte es geschafft. Durch ihre kleine Rede hatte sie alle Anwesenden auf den gleichen Stand gebracht, ihnen erlaubt, gedanklich durch das Jammertal der gesellschaftlichen Normen zu schreiten, und anschließend ihre Gäste an dem Punkt abgeliefert, für den sie alle gekommen waren. Es gab keinen Grund mehr zu tuscheln, es war alles gesagt.
Das Programm lief anderthalb Stunden, dann kam der sogenannte gemütliche Teil, in dem sich Investoren und Gäste zu kleinen Gesprächsrunden zusammenfanden, mit Handschlägen Geschäfte besiegelten und Felix mit dem Model an die Bar umzog. Bianca blieb auf ihrem Platz zurück wie das benutzte Geschirr, das im Gegensatz zu ihr von den eifrigen Servicekräften abgeräumt wurde. Das Essen war lecker gewesen – und extra leicht, wie Carola ihr verraten hatte. Niemand sollte nach den drei Gängen müde werden, und es war ihrer Sache dienlich, wenn der Alkohol besser wirkte.
Unauffällig warf Bianca einen Blick auf ihre Uhr. So wie dieser Abend lief, würde sie nicht vor zwei zu Hause sein, da sie versprochen hatte, Carola heimzufahren. Mit einem leisen Seufzen verabschiedete sie sich von der Wiederholung von The Walking Dead, die sie gern noch gesehen hätte. Nach dieser Horde Blutsauger um sie herum war die Aussicht auf ein paar Zombies lustig gewesen. Ihr Faible für Zombies schrieb sie ihrer verkorksten Familie zu, in der es normal erschien, dass sich geliebte Menschen veränderten und eklig wurden.
»Amüsierst du dich?« Carola setzte sich kurz auf Elenas verwaisten Platz und fächelte sich mit einer Hand Luft zu.
»Die Show war atemberaubend.«
»Das habe ich nicht gefragt.«
»Alles gut. Im Rahmen meiner Möglichkeiten amüsiere ich mich köstlich.«
Verheißungsvoll grinsend arrangierte Carola beiläufig die verbliebenen Gläser auf dem Tisch neu – und schon kam der befürchtete Vorschlag: »Ich könnte dir ein paar Junggesellen vorstellen.«
Alles, nur das nicht.
»Nein, danke. Aber sag mal, ist es Absicht, dass Peter ohne seine Frau hier ist? Soll er dich nicht lieber nach Hause fahren, wenn hier alles vorbei ist?«
Nun lachte Carola. »Du weißt doch, der Herr Polizeipräsident ist nur mein geheimer Ritter, der mich jederzeit aus misslichen Lagen befreien würde.«
»Ich sehe seine Rüstung gar nicht.«
Mit einer anmutigen Drehung sah sich Carola zu ihm um. »Die trägt er drunter«, sagte sie und kicherte vergnügt. So aufgeputscht erlebte Bianca ihre Freundin selten. »Du kennst doch das Sprichwort: Freunde machen stark, Feinde machen klug. Ich würde sagen, es ist klug, so einen starken Freund zu haben.«
Carola bezeichnete Peter Kampe öfter als ihren Retter oder Schutz. Es war schon besonders, dass die alles durchdenkende Carola sich dazu verleiten ließ, Andeutungen zu machen.
Bianca rechnete es ihrer Freundin hoch an, von ihr Beachtung geschenkt zu bekommen, obgleich Carola das Zentrum dieser Veranstaltung war. Ständig drehte sich jemand nach ihr um, und nicht wenige warteten darauf, ein paar Worte mit ihr wechseln zu dürfen.
»Musst du nicht langsam zu deinen Gästen?«
»Warum kommst du nicht mit?« Carola meinte es ernst, obwohl sie beide wussten, dass Bianca stumm danebenstehen würde.
»Das ist deine Bühne. Ich bin wirklich stolz auf dich, du hast dich selbst übertroffen.«
Mit einem dankbaren Lächeln stand Carola auf. »Es steckt auch was von dir in allem, das weißt du, oder?« Sie streckte ihr eine Hand entgegen. »Komm mit, wir mischen uns unter die Leute.«
Bianca hob abwehrend die Hände. »Um Himmels willen, ich fühle mich hier an meinem Platz wohler. Geh ruhig.«
Es war Carola anzusehen, dass sie mehr dazu sagen wollte, aber sie beließ es dabei und strich über den Stoff ihres Kleides. »Irgendwann werde ich dich so lange schütteln, bis all deine Zweifel, Resignation und der Schatten deiner schrecklichen Mutter von dir abfallen.«
Mit einem Grinsen und einer scheuchenden Handbewegung entließ Bianca ihre Freundin, die kurz mit den Schultern zuckte und sich dann den nächsten Gästen zuwandte.
Der Schatten meiner schrecklichen Mutter.
Weiter hinten entdeckte Bianca wieder Jens. Er wirkte abwesend und blass, schlimmer noch als am Beginn des Abends. Wahrscheinlich kam die Eifersucht in ihm durch, weil Carola jeden bezauberte. Sie könnte sich so ziemlich jeden Mann für die Nacht aussuchen, aber so war sie nicht. Die Fäden, die sie zog, verursachten kontrollierbare Reaktionen. Mit ihrem Aussehen generierte sie Aufmerksamkeit, aber sie sorgte dafür, dass niemand es wagte, sie auf ihre Reize zu reduzieren.
Vielleicht sollte ich Jens Gesellschaft leisten?
»Das sieht nach schweren Gedanken aus«, sagte ein Mann und nahm ihr gegenüber Platz.
Bianca sah sich irritiert um, ob jemand neben ihr saß oder stand.
»Entschuldigung, habe ich Sie gestört?« Der Mann meinte eindeutig Bianca – und er sah umwerfend aus. Groß, schlank, hellbraune Haare, die mit Gel leicht verwuschelt waren, und braune, fast schwarze Augen, mit denen er sie interessiert betrachtete. Mit dem dünnen Bärtchen, das über der Oberlippe und senkrecht am Kinn entlanglief, sah er verwegen aus. Wie ein Pirat, der sich als Manager verkleidet hatte. Er hielt ihr die Hand entgegen. »Ich bin Rune.«
Sie schüttelte die Verwunderung ab und erwiderte die Begrüßung. »Bianca.«
»Sie müssen ja ganz weit weg gewesen sein«, meinte er grinsend.
»Um ehrlich zu sein, war ich gedanklich schon zu Hause auf dem Sofa.«
Er winkte eine Bedienung heran. »Zwei Gläser Sekt, bitte.«
Die Frau nickte geschäftig und machte sich auf den Weg. Es gefiel Bianca, dass er trotz Wohlstand – sonst wäre er nicht hier – ein höflicher Mensch zu sein schien. Die meisten Anwesenden sahen nicht mal hin, wenn ihnen etwas gebracht wurde oder sie Aufträge erteilten.
»Was machen Sie hier?«, fragte sie geradeheraus.
»Ich wurde eingeladen«, sagte er verwundert.
»Nein, das meine ich nicht.« Sie musste sich kurz sammeln, damit sie die richtigen Worte fand. Diese Situation war ungewohnt und irritierend für sie. »Warum haben Sie sich zu mir gesetzt?«
»Nun, ich kenne hier keinen, und Sie sitzen hier ganz verlassen, da dachte ich, dass wir beide davon profitieren würden.«
Bianca musste lachen. »O ja, das werden Sie ganz sicher.«
An seinem Blick erkannte sie, dass er ihren Ausspruch falsch verstand. »Nein, nicht meinetwegen«, ergänzte sie schnell und senkte den Blick auf die Serviette, die sie zwischen ihren Fingern zu kneten begann. »Ich will ganz ehrlich mit Ihnen sein, das verkürzt das Ganze ein wenig.« Ihr war klar, dass sie sich gerade die einzige Gelegenheit verdarb, zumindest einen Moment das Gefühl zu bekommen, doch irgendwie dazuzugehören, aber sie wusste, worauf es hinauslief, also konnte sie es ihm ebenso gut mit auf den Weg geben. »Alleine die Tatsache, dass Sie sich zu mir setzten, wird bei einigen Frauen für Aufmerksamkeit gesorgt haben. Zudem sind Sie ein extrem gutaussehender Mann, es wundert mich, dass Sie es überhaupt bis zu meinem Tisch geschafft haben, ohne abgefangen worden zu sein.«
Der Sekt wurde gebracht, Rune sah die Bedienung freundlich an und bedankte sich.
Ein Glas wird schon nicht schaden. Bianca nahm es entgegen und stieß mit ihm an.
»Und weiter?«
Sie nippte am Sekt. »Während Sie feststellen, wie langweilig meine Gesellschaft ist, sondieren Sie die Optionen, die sich Ihnen bieten. Monique oder Dorothea werden sicher bereits mit Ihnen Blickkontakt aufgenommen haben. Irgendwann haben Sie dann genug und entschuldigen sich, weil Sie mal zur Toilette müssen oder der Bedienung einen Weg ersparen wollen, woraufhin Sie dann aufstehen und ansatzlos zu den anderen gehen. Ende der Geschichte.«
Er lehnte sich zurück und fuhr sich mit zwei Fingern über das dünne Bärtchen. Biancas Blick blieb an seinen Lippen hängen, als käme der innere Teenager wieder in ihr durch. So ein Mann würde sie niemals küssen.
»Ich will auch ehrlich zu Ihnen sein«, sagte er. »Carola sagte, ich solle Ihnen mal Hallo sagen, weil sie der Meinung ist, dass wir uns gut verstehen würden. Als ich Sie hier sitzen sah, wusste ich, was sie meint. Sie sind nicht wie die anderen, und genau das macht Ihre Gesellschaft so reizvoll für mich.«
Bianca spürte, wie sie rot wurde. »Und woher kennen Sie Carola?«
Mit einer Hand zeigte er hinter sich auf die Bar. »Von dort, würde ich sagen.«
Carola war ganz in ihrem Element. Sie unterhielt ihre Gäste, netzwerkte und sah bezaubernd aus. »Sie hätten wohl kaum eine Einladung bekommen, wenn Sie Carola nicht vorher schon gekannt hätten.«
Er winkte ab. »Ich gehöre zu den Investoren, aber mir ist die Lust vergangen, hier ein paar Hände zu schütteln und meine Firma anzupreisen. Felix meinte, es wäre eine lohnende Sache, aber wenn ich mir seine Gesellschaft so anschaue, hatte er dabei wohl etwas anderes im Sinn.«
»Sie sind ein Freund von Felix?« Noch ein Grund, stutzig zu sein, dass er noch immer bei ihr saß.
»Lange Geschichte. Aber ich würde lieber hören, was Sie so machen.«
Sein charmantes Grinsen machte Bianca verlegen. Er sah sie an, als sei er ehrlich interessiert, aber wenn Carola ihn zu ihr geschickt hatte, tat er wohl eher ihr einen Gefallen. Sei nett zu der hässlichen Freundin und ernte deine Belohnung.
»Oje, habe ich Sie so verschreckt, dass Sie wieder in Ihre trüben Gedanken abtauchen?«
Peinlich berührt sah sie zur Seite. »Es ist wirklich nett von Ihnen, und ich fühle mich sehr geschmeichelt, aber Sie können Carola sagen, dass dies hier nicht nötig ist.«