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"Die Geburt der Tragödie" ist ein Buch von Friedrich Nietzsche, das er zuerst Anfang 1872 veröffentlichte. Es war das erste bedeutende Werk Nietzsches, mit dem sich der damals 27jährige Philologieprofessor zugleich von der wissenschaftlichen Philologie distanzierte. Auf etwa 100 Buchseiten und in 25 knappen Kapiteln entwickelt der Jungwissenschaftler aus seinen Studien des Griechentums, seiner Liebe zur Musik und der Wertschätzung Schopenhauers und Wagners sein kulturelles Weltbild. (aus wikipedia.de)
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Seitenzahl: 218
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Die Geburt der Tragödie
Oder: Griechenthum und Pessimismus.
Inhalt:
Friedrich Nietzsche – Biografie und Bibliografie
Versuch einer Selbstkritik.
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Die Geburt der Tragödie
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Die Geburt der Tragödie, Friedrich Nietzsche
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849616274
www.jazzybee-verlag.de
Namhafter philosophischer Schriftsteller, geb. 15. Okt. 1844 in Röcken bei Lützen, gest. 25. Aug. 1900 in Weimar, war der Sohn eines Pfarrers, der zeitig starb, wurde von seiner Mutter in Naumburg a. S. erzogen, besuchte die Landesschule Pforta und studierte von 1864–67 in Bonn und Leipzig klassische Philologie. Frühreif, ein bevorzugter Schüler Ritschls, erhielt er noch vor seiner Promotion (1869) einen Ruf als außerordentlicher Professor der klassischen Philologie an die Universität Basel, wurde 1870 schon ordentlicher Professor daselbst, welche Stellung er bis 1870 bekleidete. In diesem Jahre nötigte ihn ein schweres Augenleiden, verbunden mit Überreizung des Gehirns, sein Amt aufzugeben, nachdem er schon den Winter 1876/77 in Sorrent zugebracht hatte. Von da ab führte er, beständig schriftstellerisch äußerst tätig, ein Wanderleben, hielt sich mit Vorliebe in Venedig, in der Schweiz, in Turin, Genua, Nizza, bisweilen auch in Leipzig und Naumburg auf, bis er im Frühjahr 1889 in Turin nach übermäßiger geistiger Anstrengung und zu starkem Gebrauch von Schlafmitteln geisteskrank wurde. Kürzere Zeit brachte er in der Heilanstalt in Jena zu, wo ihm keine Genesung wurde; dann lebte er wieder bei seiner Mutter in Naumburg und nach deren Tode in treuester Pflege seiner Schwester zu Weimar in einer oberhalb der Stadt gelegenen Villa, wo sich jetzt das Nietzsche-Archiv befindet (vgl. Kühn, Das Nietzsche-Archiv zu Weimar, Darmst. 1904). Mit Rich. Wagner war er längere Jahre eng befreundet, brach aber den Verkehr später mit ihm hauptsächlich wegen dessen religiösen Ansichten ab. Im persönlichen Umgange sehr gewinnend, aber doch die Einsamkeit liebend, ging er in seinen Schriften schonungslos gegen alles ihm nicht Gefallende vor. Als Stilist ist er in der Gegenwart unübertroffen, seine Sprache hat oft einen geradezu bestrickenden Zauber, und ihr ist zum Teil die große Wirkung seiner Werke zuzuschreiben.
Seine schriftstellerische Laufbahn begann N. mit kürzern philologischen Arbeiten über Theognis und Diogenes Laertius, aber schon in seiner ersten größern Schrift: »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« (Leipz. 1872), wandte er sich von der rein philologischen Methode ab, indem er sich von allgemeinen philosophischen und künstlerischen Anschauungen, namentlich solchen Schopenhauers u. Wagners, leiten ließ. Derselben Richtung folgt er auch, zugleich ein deutsches Kulturideal anstrebend'. in den »Unzeitgemäßen Betrachtungen« (4 Stücke, Leipz. 1873–76), verläßt sie aber in seinen weitern aphoristischen Werken: »Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister« (Chemn. 1878–80, 3 Tle.); »Morgenröte. Gedanken über moralische Vorurteile« (das. 1881); »Die fröhliche Wissenschaft« (das. 1882), wo der Glaube an Ideale preisgegeben, der Mensch als reines Naturprodukt betrachtet wird, auch die Sittlichkeit sich mit ihren Gesetzen nicht von höhern Mächten oder der allgemeinen Vernunft, sondern aus den natürlichen Trieben der Menschen herleiten soll. So hatte N. mit aller sittlichen und religiösen Tradition gebrochen, war nicht mehr an Vorurteile, nicht mehr an die sogen. ewigen Gesetze der Vernunft gebunden, namentlich nicht an die christliche Welt- und Lebensanschauung, von der diese unsre Welt im Gegensatz zu einer erdichteten jenseitigen mißachtet werde, bei der die natürlichen Triebe des Menschen nicht zu ihrem Rechte kämen, aber die Schwäche der Unterwerfung für das Höhere gelte. Der Mensch muß nach N. seine Instinkte möglichst befriedigen, sich selbst zum Zweck seines Daseins setzen, diesen nicht außer sich, nicht in selbstlosen Handlungen suchen, er muß sich selbst leben, den Willen zur Macht, den er hat, möglichst zur Erfüllung bringen, die Tugenden nicht über sich stellen, nicht ihnen dienen, sie vielmehr als sein Machwerk betrachten. So zeichnet N. die Gestalt des Übermenschen, der nur sich selbst will und sich seine Welt gewinnt, für den nur gut ist, was er will, der weltfreudig und stark ist in seinem Wollen und alles, was sich ihm entgegenstellt, niederwirft, nichts von Ergebung weiß, nichts von Mitleid, das nur die Tugend des Schwachen ist. Nicht alle können gleiche Macht und gleichen Genuß haben, nur gemäß ihrer verschiedenen Stärke können die einzelnen das Ziel des Menschen erreichen; deshalb gibt es auch nicht gleiche Rechte für alle Menschen: der Starke hat das Recht, der Schwache muß ihm zur Erreichung seiner Ziele dienen. Diese Gedanken sind ausgeführt in. »Also sprach Zarathustra« (1.–3. Teil, Chemn. 1883 bis 1884; 4. Teil, Leipz. 1891); »Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel zu einer Philosophie der Zukunft« (Leipz. 1886); »Zur Genealogie der Moral« (das. 1887); »Der Fall Wagner« (das. 1888); »Götzendämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert« (das. 1889). Alle diese Werke sind in einer Reihe von Auflagen erschienen. Von »Also sprach Zarathustra« sind schon 50,000 Exemplare gedruckt. Von der Gesamtausgabe der »Werke« Nietzsches enthält die erste Abteilung (Leipz. 1895, 8 Bde.) das von N. selbst Veröffentlichte und außerdem: »N. contra Wagner«, »Der Antichrist. Versuch einer Kritik des Christentums« und »Gedichte«. Eine 1893 schon begonnene (von Peter Gast) mußte nach Ausgabe von 5 Bänden abgebrochen werden. Der »Antichrist« ist das erste Buch des nicht vollendeten philosophischen Hauptwerkes Nietzsches: »Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte«, dessen unvollendete weitere drei Bücher den Titel haben: »Der freie Geist. Kritik der Philosophie als einer nihilistischen Bewegung«, »Der Immoralist. Kritik der verhängnisvollsten Art von Unwissenheit der Moral«, »Dionysos, Philosophie der ewigen Wiederkunft«. Von der ersten Abteilung der Werke ist 1899 auch eine Ausgabe in kleinerm Format erschienen. Die zweite Abteilung der Gesamtausgabe ist in 7 Bänden 1901–04 erschienen und enthält aus den ungedruckten Papieren Nietzsches die unvollendeten Schriften und Fragmente, Entwürfe, Nachträge und Aphorismen. Übersetzungen der ersten Abteilung der gesamten Schriften ins Englische und Französische erschienen in London 1897 ff. und Paris 1899 ff. Von Nietzsches gesammelten Briefen sind 3 Bände veröffentlicht worden (Berl. u. Leipz. 1900–05), besonders wichtig sind die an Erwin Rhode und Malvida v. Meysenbug. Das »Leben Fr. Nietzsches« ist von seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche (Leipz. 1895 bis 1904, 2 Bde.) geschrieben. Das Werk enthält auch viele Briefe und Aufzeichnungen Nietzsches. Sein Bildnis s. Tafel »Deutsche Philosophen II«.
Die Nietzscheschen Ansichten haben viele Gegner gefunden, wie dies bei dem vielen Paradoxen und Umstürzenden in ihnen natürlich, anderseits auch viele Freunde besonders in der jüngern Generation, in dieser zum Teil wegen der Zersetzung des Traditionellen. Im ganzen hat die Verehrung Nietzsches nach seinem Tod eher noch zu-als abgenommen; namentlich hat sein »Zarathustra« große Verbreitung und Bewunderung erfahren. Man fängt an, das dauernd Wertvolle bei N., namentlich sein Streben nach einer höhern Kultur und seinen Individualismus anzuerkennen und betont, daß N. selbst eine vornehme reine Natur voller Ideale war, und daß niedriger Egoismus in seiner Lehre keine Stelle findet. Manche seiner Ansichten freilich, so die von ihm selbst hochbewertete von der ewigen Wiederkunft des Gleichen, finden wenig Anerkennung. Infolge der verschiedenen Stellung zu N. ist eine große Reihe von Schriften und Abhandlungen über ihn, gegen ihn und für ihn erschienen, von denen hier nur die wichtigsten genannt sein mögen: O. Hansson, Friedrich N. (Leipz. 1890); Kaatz, Die Weltanschauung Fr. Nietzsches (Dresd. 1892–93, 2 Tle.; 2. Aufl. 1898); L. Stein, Fr. Nietzsches Weltanschauung und ihre Gefahren (Berl. 1893); Andreas-Salomé, Friedr. N. in seinen Werken (Wien 1894); Steiner, Friedr. N., ein Kämpfer gegen seine Zeit (Weim. 1895); Meta v. Salis-Marschlins, Philosoph und Edelmensch (Leipz. 1897); Th. Ziegler, Friedr. N. (Berl. 1900); Schellwien, Max Stirner und Friedr. N., Erscheinungen des modernen Geistes und das Wesen des Menschen (Leipz. 1892); Alex. Tille, Von Darwin bis N. Ein Buch Entwickelungsethik (das. 1895); Riehl, Fr. N. der Künstler und der Denker (Stuttg. 1897, 3. Aufl. 1901); Deussen, Erinnerungen an F. N. (Leipz. 1901); Vaihinger, N. als Philosoph (Berl. 1902, 3. Aufl. 1905); Richter, F. N. Sein Leben und sein Werk (Leipz. 1903); Ewald, Nietzsches Lehre in ihren Grundbegriffen (Berl. 1903); Drews, Nietzsches Philosophie (Heidelb. 1904); Lichtenberger, La philosophie de Fr. N. (Par. 1898, 6. Aufl. 1901; deutsch, 2. Aufl., Dresd.1900); J. de Gaultier, De Kant à N. (2. Aufl., Par. 1900) und N. et la réforme philosophique (das. 1905); Seillière, Apollon ou Dionysos. Étude critique sur F. N. (das. 1905; deutsch, Berl. 1905); Zoccoli, Federico N. La filosofia religiosa, la morale, l'estetica (Modena 1898, 2.Aufl. 1901); Orestano, Le idee fondamentali di Fed. N. (Palermo 1903).
Was auch diesem fragwürdigen Buche zu Grunde liegen mag: es muss eine Frage ersten Ranges und Reizes gewesen sein, noch dazu eine tief persönliche Frage, — Zeugniss dafür ist die Zeit, in der es entstand, trotz der es entstand, die aufregende Zeit des deutsch-französischen Krieges von 1870/71. Während die Donner der Schlacht von Wörth über Europa weggiengen, sass der Grübler und Räthselfreund, dem die Vaterschaft dieses Buches zu Theil ward, irgendwo in einem Winkel der Alpen, sehr vergrübelt und verräthselt, folglich sehr bekümmert und unbekümmert zugleich, und schrieb seine Gedanken über die Griechen nieder, — den Kern des wunderlichen und schlecht zugänglichen Buches, dem diese späte Vorrede (oder Nachrede) gewidmet sein soll. Einige Wochen darauf: und er befand sich selbst unter den Mauern von Metz, immer noch nicht losgekommen von den Fragezeichen, die er zur vorgeblichen „Heiterkeit“ der Griechen und der griechischen Kunst gesetzt hatte; bis er endlich, in jenem Monat tiefster Spannung, als man in Versailles über den Frieden berieth, auch mit sich zum Frieden kam und, langsam von einer aus dem Felde heimgebrachten Krankheit genesend, die „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ letztgültig bei sich feststellte. — Aus der Musik? Musik und Tragödie? Griechen und Tragödien-Musik? Griechen und das Kunstwerk des Pessimismus? Die wohlgerathenste, schönste, bestbeneidete, zum Leben verführendste Art der bisherigen Menschen, die Griechen — wie? gerade sie hatten die Tragödie nöthig? Mehr noch — die Kunst? Wozu — griechische Kunst?….
Man erräth, an welche Stelle hiermit das grosse Fragezeichen vom Werth des Daseins gesetzt war. Ist Pessimismus nothwendig das Zeichen des Niedergangs, Verfalls, des Missrathenseins, der ermüdeten und geschwächten Instinkte? — wie er es bei den Indern war, wie er es, allem Anschein nach, bei uns, den „modernen“ Menschen und Europäern ist? Giebt es einen Pessimismus der Stärke? Eine intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus Fülle des Daseins? Giebt es vielleicht ein Leiden an der Ueberfülle selbst? Eine versucherische Tapferkeit des schärfsten Blicks, die nach dem Furchtbaren verlangt, als nach dem Feinde, dem würdigen Feinde, an dem sie ihre Kraft erproben kann? an dem sie lernen will, was „das Fürchten“ ist? Was bedeutet, gerade bei den Griechen der besten, stärksten, tapfersten Zeit, der tragische Mythus? Und das ungeheure Phänomen des Dionysischen? Was, aus ihm geboren, die Tragödie? — Und wiederum: das, woran die Tragödie starb, der Sokratismus der Moral, die Dialektik, Genügsamkeit und Heiterkeit des theoretischen Menschen — wie? könnte nicht gerade dieser Sokratismus ein Zeichen des Niedergangs, der Ermüdung, Erkrankung, der anarchisch sich lösenden Instinkte sein? Und die „griechische Heiterkeit“ des späteren Griechenthums nur eine Abendröthe? Der epikurische Wille gegen den Pessimismus nur eine Vorsicht des Leidenden? Und die Wissenschaft selbst, unsere Wissenschaft — ja, was bedeutet überhaupt, als Symptom des Lebens angesehn, alle Wissenschaft? Wozu, schlimmer noch, woher — alle Wissenschaft? Wie? Ist Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus? Eine feine Nothwehr gegen — die Wahrheit? Und, moralisch geredet, etwas wie Feig- und Falschheit? Unmoralisch geredet, eine Schlauheit? Oh Sokrates, Sokrates, war das vielleicht dein Geheimniss? Oh geheimnissvoller Ironiker, war dies vielleicht deine — Ironie? ——
Was ich damals zu fassen bekam, etwas Furchtbares und Gefährliches, ein Problem mit Hörnern, nicht nothwendig gerade ein Stier, jedenfalls ein neues Problem: heute würde ich sagen, dass es das Problem der Wissenschaft selbst war — Wissenschaft zum ersten Male als problematisch, als fragwürdig gefasst. Aber das Buch, in dem mein jugendlicher Muth und Argwohn sich damals ausliess — was für ein unmögliches Buch musste aus einer so jugendwidrigen Aufgabe erwachsen! Aufgebaut aus lauter vorzeitigen übergrünen Selbsterlebnissen, welche alle hart an der Schwelle des Mittheilbaren lagen, hingestellt auf den Boden der Kunst — denn das Problem der Wissenschaft kann nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden —, ein Buch vielleicht für Künstler mit dem Nebenhange analytischer und retrospektiver Fähigkeiten (das heisst für eine Ausnahme-Art von Künstlern, nach denen man suchen muss und nicht einmal suchen möchte…), voller psychologischer Neuerungen und Artisten-Heimlichkeiten, mit einer Artisten-Metaphysik im Hintergrunde, ein Jugendwerk voller Jugendmuth und Jugend-Schwermuth, unabhängig, trotzig-selbstständig auch noch, wo es sich einer Autorität und eignen Verehrung zu beugen scheint, kurz ein Erstlingswerk auch in jedem schlimmen Sinne des Wortes, trotz seines greisenhaften Problems, mit jedem Fehler der Jugend behaftet, vor allem mit ihrem „Viel zu lang“, ihrem „Sturm und Drang“: andererseits, in Hinsicht auf den Erfolg, den es hatte (in Sonderheit bei dem grossen Künstler, an den es sich wie zu einem Zwiegespräch wendete, bei Richard Wagner) ein bewiesenes Buch, ich meine ein solches, das jedenfalls „den Besten seiner Zeit“ genug gethan hat. Darauf hin sollte es schon mit einiger Rücksicht und Schweigsamkeit behandelt werden; trotzdem will ich nicht gänzlich unterdrücken, wie unangenehm es mir jetzt erscheint, wie fremd es jetzt nach sechzehn Jahren vor mir steht, — vor einem älteren, hundert Mal verwöhnteren, aber keineswegs kälter gewordenen Auge, das auch jener Aufgabe selbst nicht fremder wurde, an welche sich jenes verwegene Buch zum ersten Male herangewagt hat, — die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens….
Nochmals gesagt, heute ist es mir ein unmögliches Buch, — ich heisse es schlecht geschrieben, schwerfällig, peinlich, bilderwüthig und bilderwirrig, gefühlsam, hier und da verzuckert bis zum Femininischen, ungleich im Tempo, ohne Willen zur logischen Sauberkeit, sehr überzeugt und deshalb des Beweisens sich überhebend, misstrauisch selbst gegen die Schicklichkeit des Beweisens, als Buch für Eingeweihte, als „Musik“ für Solche, die auf Musik getauft, die auf gemeinsame und seltene Kunst-Erfahrungen hin von Anfang der Dinge an verbunden sind, als Erkennungszeichen für Blutsverwandte in artibus, — ein hochmüthiges und schwärmerisches Buch, das sich gegen das profanum vulgus der „Gebildeten“ von vornherein noch mehr als gegen das „Volk“ abschliesst, welches aber, wie seine Wirkung bewies und beweist, sich gut genug auch darauf verstehen muss, sich seine Mitschwärmer zu suchen und sie auf neue Schleichwege und Tanzplätze zu locken. Hier redete jedenfalls — das gestand man sich mit Neugierde ebenso als mit Abneigung ein — eine fremde Stimme, der Jünger eines noch „unbekannten Gottes“, der sich einstweilen unter die Kapuze des Gelehrten, unter die Schwere und dialektische Unlustigkeit des Deutschen, selbst unter die schlechten Manieren des Wagnerianers versteckt hat; hier war ein Geist mit fremden, noch namenlosen Bedürfnissen, ein Gedächtniss strotzend von Fragen, Erfahrungen, Verborgenheiten, welchen der Name Dionysos wie ein Fragezeichen mehr beigeschrieben war; hier sprach — so sagte man sich mit Argwohn — etwas wie eine mystische und beinahe mänadische Seele, die mit Mühsal und willkürlich, fast unschlüssig darüber, ob sie sich mittheilen oder verbergen wolle, gleichsam in einer fremden Zunge stammelt. Sie hätte singen sollen, diese „neue Seele“ — und nicht reden! Wie schade, dass ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte: ich hätte es vielleicht gekonnt! Oder mindestens als Philologe: — bleibt doch auch heute noch für den Philologen auf diesem Gebiete beinahe Alles zu entdecken und auszugraben! Vor allem das Problem, dass hier ein Problem vorliegt, — und dass die Griechen, so lange wir keine Antwort auf die Frage „was ist dionysisch?“ haben, nach wie vor gänzlich unerkannt und unvorstellbar sind…
Ja, was ist dionysisch? — In diesem Buche steht eine Antwort darauf, — ein „Wissender“ redet da, der Eingeweihte und Jünger seines Gottes. Vielleicht würde ich jetzt vorsichtiger und weniger beredt von einer so schweren psychologischen Frage reden, wie sie der Ursprung der Tragödie bei den Griechen ist. Eine Grundfrage ist das Verhältniss des Griechen zum Schmerz, sein Grad von Sensibilität, — blieb dies Verhältniss sich gleich? oder drehte es sich um? — jene Frage, ob wirklich sein immer stärkeres Verlangen nach Schönheit, nach Festen, Lustbarkeiten, neuen Culten, aus Mangel, aus Entbehrung, aus Melancholie, aus Schmerz erwachsen ist? Gesetzt nämlich, gerade dies wäre wahr — und Perikles (oder Thukydides) giebt es uns in der grossen Leichenrede zu verstehen —: woher müsste dann das entgegengesetzte Verlangen, das der Zeit nach früher hervortrat, stammen, das Verlangen nach dem Hässlichen, der gute strenge Wille des älteren Hellenen zum Pessimismus, zum tragischen Mythus, zum Bilde alles Furchtbaren, Bösen, Räthselhaften, Vernichtenden, Verhängnissvollen auf dem Grunde des Daseins, — woher müsste dann die Tragödie stammen? Vielleicht aus der Lust, aus der Kraft, aus überströmender Gesundheit, aus übergrosser Fülle? Und welche Bedeutung hat dann, physiologisch gefragt, jener Wahnsinn, aus dem die tragische wie die komische Kunst erwuchs, der dionysische Wahnsinn? Wie? Ist Wahnsinn vielleicht nicht nothwendig das Symptom der Entartung, des Niedergangs, der überspäten Cultur? Giebt es vielleicht — eine Frage für Irrenärzte — Neurosen der Gesundheit? der Volks-Jugend und -Jugendlichkeit? Worauf weist jene Synthesis von Gott und Bock im Satyr? Aus welchem Selbsterlebniss, auf welchen Drang hin musste sich der Grieche den dionysischen Schwärmer und Urmenschen als Satyr denken? Und was den Ursprung des tragischen Chors betrifft: gab es in jenen Jahrhunderten, wo der griechische Leib blühte, die griechische Seele von Leben überschäumte, vielleicht endemische Entzückungen? Visionen und Hallucinationen, welche sich ganzen Gemeinden, ganzen Cultversammlungen mittheilten? Wie? wenn die Griechen, gerade im Reichthum ihrer Jugend, den Willen zum Tragischen hatten und Pessimisten waren? wenn es gerade der Wahnsinn war, um ein Wort Plato’s zu gebrauchen, der die grössten Segnungen über Hellas gebracht hat? Und wenn, andererseits und umgekehrt, die Griechen gerade in den Zeiten ihrer Auflösung und Schwäche, immer optimistischer, oberflächlicher, schauspielerischer, auch nach Logik und Logisirung der Welt brünstiger, also zugleich „heiterer“ und „wissenschaftlicher“ wurden? Wie? könnte vielleicht, allen „modernen Ideen“ und Vorurtheilen des demokratischen Geschmacks zum Trotz, der Sieg des Optimismus, die vorherrschend gewordene Vernünftigkeit, der praktische und theoretische Utilitarismus, gleich der Demokratie selbst, mit der er gleichzeitig ist, — ein Symptom der absinkenden Kraft, des nahenden Alters, der physiologischen Ermüdung sein? Und gerade nicht — der Pessimismus? War Epikur ein Optimist — gerade als Leidender? — — Man sieht, es ist ein ganzes Bündel schwerer Fragen, mit dem sich dieses Buch belastet hat, — fügen wir seine schwerste Frage noch hinzu! Was bedeutet, unter der Optik des Lebens gesehn, — die Moral?…
Bereits im Vorwort an Richard Wagner wird die Kunst — und nicht die Moral — als die eigentlich metaphysische Thätigkeit des Menschen hingestellt; im Buche selbst kehrt der anzügliche Satz mehrfach wieder, dass nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist. In der That, das ganze Buch kennt nur einen Künstler-Sinn und -Hintersinn hinter allem Geschehen, — einen „Gott“, wenn man will, aber gewiss nur einen gänzlich unbedenklichen und unmoralischen Künstler-Gott, der im Bauen wie im Zerstören, im Guten wie im Schlimmen, seiner gleichen Lust und Selbstherrlichkeit inne werden will, der sich, Welten schaffend, von der Noth der Fülle und Ueberfülle, vom Leiden der in ihm gedrängten Gegensätze löst. Die Welt, in jedem Augenblicke die erreichte Erlösung Gottes, als die ewig wechselnde, ewig neue Vision des Leidendsten, Gegensätzlichsten, Widerspruchreichsten, der nur im Scheine sich zu erlösen weiss: diese ganze Artisten-Metaphysik mag man willkürlich, müssig, phantastisch nennen —, das Wesentliche daran ist, dass sie bereits einen Geist verräth, der sich einmal auf jede Gefahr hin gegen die moralische Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins zur Wehre setzen wird. Hier kündigt sich, vielleicht zum ersten Male, ein Pessimismus „jenseits von Gut und Böse“ an, hier kommt jene „Perversität der Gesinnung“ zu Wort und Formel, gegen welche Schopenhauer nicht müde geworden ist, im Voraus seine zornigsten Flüche und Donnerkeile zu schleudern, — eine Philosophie, welche es wagt, die Moral selbst in die Welt der Erscheinung zu setzen, herabzusetzen und nicht nur unter die „Erscheinungen“ (im Sinne des idealistischen terminus technicus), sondern unter die „Täuschungen“, als Schein, Wahn, Irrthum, Ausdeutung, Zurechtmachung, Kunst. Vielleicht lässt sich die Tiefe dieses widermoralischen Hanges am besten aus dem behutsamen und feindseligen Schweigen ermessen, mit dem in dem ganzen Buche das Christenthum behandelt ist, — das Christenthum als die ausschweifendste Durchfigurirung des moralischen Thema’s, welche die Menschheit bisher anzuhören bekommen hat. In Wahrheit, es giebt zu der rein ästhetischen Weltauslegung und Welt-Rechtfertigung, wie sie in diesem Buche gelehrt wird, keinen grösseren Gegensatz als die christliche Lehre, welche nur moralisch ist und sein will und mit ihren absoluten Maassen, zum Beispiel schon mit ihrer Wahrhaftigkeit Gottes, die Kunst, jede Kunst in’s Reich der Lüge verweist, — das heisst verneint, verdammt, verurtheilt. Hinter einer derartigen Denk- und Werthungsweise, welche kunstfeindlich sein muss, so lange sie irgendwie ächt ist, empfand ich von jeher auch das Lebensfeindliche, den ingrimmigen rachsüchtigen Widerwillen gegen das Leben selbst: denn alles Leben ruht auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Nothwendigkeit des Perspektivischen und des Irrthums. Christenthum war von Anfang an, wesentlich und gründlich, Ekel und Ueberdruss des Lebens am Leben, welcher sich unter dem Glauben an ein „anderes“ oder „besseres“ Leben nur verkleidete, nur versteckte, nur aufputzte. Der Hass auf die „Welt“, der Fluch auf die Affekte, die Furcht vor der Schönheit und Sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden, um das Diesseits besser zu verleumden, im Grunde ein Verlangen in’s Nichts, an’s Ende, in’s Ausruhen, hin zum „Sabbat der Sabbate“ — dies Alles dünkte mich, ebenso wie der unbedingte Wille des Christenthums, nur moralische Werthe gelten zu lassen, immer wie die gefährlichste und unheimlichste Form aller möglichen Formen eines „Willens zum Untergang“, zum Mindesten ein Zeichen tiefster Erkrankung, Müdigkeit, Missmuthigkeit, Erschöpfung, Verarmung an Leben, — denn vor der Moral (in Sonderheit christlichen, das heisst unbedingten Moral) muss das Leben beständig und unvermeidlich Unrecht bekommen, weil Leben etwas essentiell Unmoralisches ist, — muss endlich das Leben, erdrückt unter dem Gewichte der Verachtung und des ewigen Nein’s, als begehrens-unwürdig, als unwerth an sich empfunden werden. Moral selbst — wie? sollte Moral nicht ein „Wille zur Verneinung des Lebens“, ein heimlicher Instinkt der Vernichtung, ein Verfalls-, Verkleinerungs-, Verleumdungsprincip, ein Anfang vom Ende sein? Und, folglich, die Gefahr der Gefahren?… Gegen die Moral also kehrte sich damals, mit diesem fragwürdigen Buche, mein Instinkt, als ein fürsprechender Instinkt des Lebens, und erfand sich eine grundsätzliche Gegenlehre und Gegenwerthung des Lebens, eine rein artistische, eine antichristliche. Wie sie nennen? Als Philologe und Mensch der Worte taufte ich sie, nicht ohne einige Freiheit — denn wer wüsste den rechten Namen des Antichrist? — auf den Namen eines griechischen Gottes: ich hiess sie die dionysische. —
Man versteht, an welche Aufgabe ich bereits mit diesem Buche zu rühren wagte?… Wie sehr bedauere ich es jetzt, dass ich damals noch nicht den Muth (oder die Unbescheidenheit?) hatte, um mir in jedem Betrachte für so eigne Anschauungen und Wagnisse auch eine eigne Sprache zu erlauben, — dass ich mühselig mit Schopenhauerischen und Kantischen Formeln fremde und neue Werthschätzungen auszudrücken suchte, welche dem Geiste Kantens und Schopenhauers, ebenso wie ihrem Geschmacke, von Grund aus entgegen giengen! Wie dachte doch Schopenhauer über die Tragödie? „Was allem Tragischen den eigenthümlichen Schwung zur Erhebung giebt — sagt er, Welt als Wille und Vorstellung II, 495 — ist das Aufgehen der Erkenntniss, dass die Welt, das Leben kein rechtes Genügen geben könne, mithin unsrer Anhänglichkeit nicht werth sei: darin besteht der tragische Geist —, er leitet demnach zur Resignation hin“. Oh wie anders redete Dionysos zu mir! Oh wie ferne war mir damals gerade dieser ganze Resignationismus! — Aber es giebt etwas viel Schlimmeres an dem Buche, das ich jetzt noch mehr bedauere, als mit Schopenhauerischen Formeln dionysische Ahnungen verdunkelt und verdorben zu haben: dass ich mir nämlich überhaupt das grandiose griechische Problem, wie mir es aufgegangen war, durch Einmischung der modernsten Dinge verdarb! Dass ich Hoffnungen anknüpfte, wo Nichts zu hoffen war, wo Alles allzudeutlich auf ein Ende hinwies! Dass ich, auf Grund der deutschen letzten Musik, vom „deutschen Wesen“ zu fabeln begann, wie als ob es eben im Begriff sei, sich selbst zu entdecken und wiederzufinden — und das zu einer Zeit, wo der deutsche Geist, der nicht vor Langem noch den Willen zur Herrschaft über Europa, die Kraft zur Führung Europa’s gehabt hatte, eben letztwillig und endgültig abdankte und, unter dem pomphaften Vorwande einer Reichs-Begründung, seinen Uebergang zur Vermittelmässigung, zur Demokratie und den „modernen Ideen“ machte! In der That, inzwischen lernte ich hoffnungslos und schonungslos genug von diesem „deutschen Wesen“ denken, insgleichen von der jetzigen deutschen Musik, als welche Romantik durch und durch ist und die ungriechischeste aller möglichen Kunstformen: überdies aber eine Nervenverderberin ersten Ranges, doppelt gefährlich bei einem Volke, das den Trunk liebt und die Unklarheit als Tugend ehrt, nämlich in ihrer doppelten Eigenschaft als berauschendes und zugleich benebelndes Narkotikum. — Abseits freilich von allen übereilten Hoffnungen und fehlerhaften Nutzanwendungen auf Gegenwärtigstes, mit denen ich mir damals mein erstes Buch verdarb, bleibt das grosse dionysische Fragezeichen, wie es darin gesetzt ist, auch in Betreff der Musik, fort und fort bestehen: wie müsste eine Musik beschaffen sein, welche nicht mehr romantischen Ursprungs wäre, gleich der deutschen, — sondern dionysischen?…
— Aber, mein Herr, was in aller Welt ist Romantik, wenn nicht Ihr Buch Romantik ist? Lässt sich der tiefe Hass gegen „Jetztzeit“, „Wirklichkeit“ und „moderne Ideen“ weiter treiben, als es in Ihrer Artisten-Metaphysik geschehen ist? — welche lieber noch an das Nichts, lieber noch an den Teufel, als an das „Jetzt“ glaubt? Brummt nicht ein Grundbass von Zorn und Vernichtungslust unter aller Ihrer contrapunktischen Stimmen-Kunst und Ohren-Verführerei hinweg, eine wüthende Entschlossenheit gegen Alles, was „jetzt“ ist, ein Wille, welcher nicht gar zu ferne vom praktischen Nihilismus ist und zu sagen scheint „lieber mag Nichts wahr sein, als dass ihr Recht hättet, als dass eure Wahrheit Recht behielte!“ Hören Sie selbst, mein Herr Pessimist und Kunstvergöttlicher, mit aufgeschlossnerem Ohre eine einzige ausgewählte Stelle Ihres Buches an, jene nicht unberedte Drachentödter-Stelle, welche für junge Ohren und Herzen verfänglich-rattenfängerisch klingen mag: wie? ist das nicht das ächte rechte Romantiker-Bekenntniss von 1830, unter der Maske des Pessimismus von 1850? hinter dem auch schon das übliche Romantiker-Finale präludirt, — Bruch, Zusammenbruch, Rückkehr und Niedersturz vor einem alten Glauben, vor dem alten Gotte… Wie? ist Ihr Pessimisten-Buch nicht selbst ein Stück Antigriechenthum und Romantik, selbst etwas „ebenso Berauschendes als Benebelndes“, ein Narkotikum jedenfalls, ein Stück Musik sogar, deutscher Musik? Aber man höre: