3,99 €
Sechs Personen brechen unabhängig voneinander in die Abgeschiedenheit Schwedens auf, um dort einen erholsamen Urlaub zu verbringen. Aber bei ihrer Ankunft ist nichts so, wie sie es sich vorgestellt haben. Als erste Hindernisse auftauchen und das Wetter plötzlich umschlägt, beginnen sie zu begreifen, dass sie in eine Falle gelockt wurden. Die Gruppendynamik birgt einige Risiken, denn ihnen wird bewusst, dass jeder ein Geheimnis hütet, das besser im Verbogenen geblieben wäre. Während sie von der Düsternis und der Kälte eingeschlossen sind, spitzt sich die Lage dramatisch zu und das Misstrauen wächst. Dann geschieht ein Mord, und die Frage drängt sich in den Vordergrund, vor wem sie sich am meisten fürchten müssen?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2024
Anmerkung
Protagonisten
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Epilog
Weitere Bücher der Autorin
Impressum
Auf das in Schweden übliche Duzen wurde zugunsten der Lesbarkeit verzichtet.
Die Geschichte sowie sämtliche Protagonisten, Institutionen und Handlungen sind in diesem Roman frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Wo tatsächlich existierende Orte erwähnt werden, geschieht das im Rahmen fiktiver Ereignisse. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Das monotone Motorengeräusch ließ Nora schläfrig werden. Sie waren schon seit Stunden unterwegs auf dem Weg in die Wildnis, als das Wetter urplötzlich umgeschlagen hatte. Ein heftiger Graupelschauer ging auf sie nieder und die Scheibenwischer des Fahrzeugs hinterließen auf der Frontscheibe hässliche Schlieren. Sie hatten gerade den Storsjö passiert, dessen Oberfläche silbern schimmerte. Die Gegend war mit der Zeit immer einsamer und die Ortschaften immer weniger geworden. Hohe Berge, dunkle Wälder und tiefe Seen wechselten sich ab und boten eine traumhafte Kulisse. Jämtland hatte viele Facetten.
„Das war ja wieder so klar, dass es ausgerechnet uns treffen musste“, murmelte Nora. „Von wegen Goldener Oktober …“
„Mit dem plötzlichen Wetterwechsel konnte doch niemand rechnen“, erwiderte Kian.
„Ich wäre viel lieber ans Meer gefahren, und zwar im Sommer.“ Beim Anblick der immer weißer werdenden Landschaft erfasste sie ein kalter Schauer.
„Tut mir leid, dass ich im Sommer keinen Urlaub nehmen konnte. Wir hatten mit dem Projekt viel zu tun.“
„Mir ist bewusst, dass die ersten Jahre nach einer Firmengründung anstrengend sind. Aber bei diesem Anblick“, sie deutete auf die Umgebung, „würde ich am liebsten umkehren.“
„Dann machen wir uns ein paar schöne Tage im Hotel. Der Wellnessbereich sah im Prospekt sehr vielversprechend aus und ich könnte ganz gut eine Nackenmassage vertragen.“
„Du hast recht. Hauptsache, endlich ein paar freie Tage.“
Eine Böe erfasste den Wagen und sie wurden ordentlich durchgerüttelt. Der Graupel trommelte sein Stakkato aufs Dach, sodass Nora fröstelnd die Schultern hochzog. Nachdem sie Osvallen hinter sich gelassen hatten, setzte Kian den Blinker und bog auf eine Schotterstraße ab.
„Nur noch ein paar Kilometer, dann sind wir endlich am Ziel“, sagte er zuversichtlich.
„Ich hätte mir den Roman an der Tankstelle kaufen sollen, für die langen Abende, die uns erwarten“, sagte sie.
„Immer positiv denken, noch ist es nicht Winter.“
„Aber genau so fühlt es sich an. Von dem Temperatursturz ganz zu schweigen, es sind gerade einmal fünf Grad über null.“
Kian drehte die Heizung höher und schaute sie fragend an. „Besser so?“
„Danke.“
Sie kuschelte sich tiefer in den Sitz. Der Wald zu beiden Seiten des Schotterweges bildete eine undurchdringbare Mauer, sodass sie nur wenige Meter weit sehen konnte. Immerhin hatten der Graupelschauer und der Wind an Stärke verloren.
„Wie weit ist es noch?“, fragte sie.
„Die Straße ist echt eine Herausforderung, ich rechne mit einer Stunde Fahrzeit.“
„Eine Stunde noch?“, fragte sie entgeistert. „Ich habe Hunger und der Rücken schmerzt vom vielen Sitzen.“
Kian angelte einen Schokoriegel aus dem Seitenfach und reichte ihn ihr. „Für den kleinen Hunger zwischendurch“, sagte er mit einem Augenzwinkern.
„Danke, du bist ein Schatz.“
Sie bedachte Kian mit einem liebevollen Blick. Noch hatte sie ihm nicht verraten, warum ihr Appetit in letzter Zeit so ungezügelt war. Der perfekte Moment wäre ein Dinner bei Kerzenschein – so hatte sie es sich zumindest ausgemalt – um ihm das Päckchen mit den winzigen Schühchen zu überreichen.
Für einen kurzen Augenblick legte sie sacht die Hand auf ihren Bauch und hieß das neue Leben willkommen. Sie konnte kaum glauben, dass es nach all der Zeit doch noch geklappt hatte und ihr größter Wunsch in Erfüllung gehen würde. Die erste Ultraschalluntersuchung hatte sie aus der Angst heraus vor Kian geheim gehalten. Sie wollte keine falschen Hoffnungen wecken, wie so oft …
„Alles in Ordnung?“
„Ja.“ Sie lächelte. „Bis auf das Wetter.“
„Ach komm, wir machen es uns richtig gemütlich.“ Er erwiderte ihren Blick, griff nach ihrer Hand und drückte sie sacht. Dann konzentrierte er sich wieder auf die Schotterstraße.
„Ich kann es kaum erwarten, meine Beine auszustrecken. Die Fahrt war ziemlich anstrengend.“ Sie seufzte leise.
„Es dauert nicht mehr lange, keine Sorge.“
Eigentlich hätte sie lieber eine Städtetour gemacht, Museen und Kunstausstellungen besucht, aber die frische Luft und das Wandern waren ihr, in Anbetracht der Schwangerschaft, sinnvoller erschienen. Sie legte inzwischen viel Wert auf eine gesunde Lebensweise, auch wenn sie den Schokoriegel nur zu gern in sich hineingestopft hätte. Allein bei der Vorstellung des Abendessens, das sie im hoteleigenen Restaurant einnehmen würden, lief ihr das Wasser im Munde zusammen. Eine Woche lang nicht kochen zu müssen, der Traum einer jeden Frau.
„Das gibt es doch nicht …“, rief Kian unvermittelt.
„Was?“
„Da, schau es dir an.“ Er deutete irritiert auf die rotleuchtende Tankanzeige.
„Schon wieder ein Softwarefehler?“, fragte sie. Die Verlässlichkeit der Technik in neuen Fahrzeugen ließ oft zu wünschen übrig.
„Ich werde gleich nachsehen.“
Kian streifte sich die Jacke über und stieg aus. Ein kalter Windhauch fegte durch die Tür ins Innere des Wagens. Kian öffnete die Motorhaube und kontrollierte die Kabel.
„Hier ist alles in Ordnung“, rief er. Anschließend schraubte er den Tankdeckel auf, um mit dem Peilstab den Benzinpegel zu messen und fluchte leise.
„Was ist los?“, fragte sie besorgt durch die geschlossene Scheibe.
„Der Tank ist tatsächlich leer.“
„Wie kann das sein? Du hast doch gesagt, du hättest vollgetankt.“
Er stieg wieder ein und zog aus dem Seitenfach den Kassenbon hervor. „Überzeuge dich selbst, hier steht die Literzahl und wie viel es gekostet hat.“
„Aber das ist unmöglich.“
„Anscheinend nicht.“
„Schaffen wir es noch bis zum Hotel?“
„Nein, ich glaube nicht.“
„Gibt es eine Tankstelle in der Nähe?“
Er verneinte.
„Und was machen wir nun?“
„Ich werde zurück zur Straße laufen und versuchen, Benzin aufzutreiben.“
„Oh nein, du kannst mich in dieser Einöde nicht allein zurücklassen.“ Sie sank wieder tiefer in den Sitz. „Warum rufst du nicht im Hotel an und bittest darum, uns abzuholen?“
„Eine hervorragende Idee.“
Er wählte die Nummer und wartete. Nach einigen Minuten gab er auf.
„Die Rezeption scheint nicht besetzt zu sein.“
„Das kann doch nicht sein.“
„Dann versuch selbst“, erwiderte er schulterzuckend.
„Nein, schon gut.“
Der Regen trommelte aufs Autodach und der Wind ließ die Wipfel über ihnen rauschen.
„Ich verstehe das alles nicht …“, sagte sie.
„Ich auch nicht“, antwortete er. „Kann sein, dass die Zapfsäule defekt war, anders ist dieses Desaster nicht zu erklären.“
„Ja, das wäre eine Möglichkeit“, stimmte sie ihm zu. „Aber wie geht es jetzt weiter?“
„Wir werden einfach abwarten. Mit etwas Glück kommt ein weiterer Gast hier vorbei und kann uns mitnehmen.“
„Dann hoffen wir mal, dass wir Glück haben.“
„Tja, wer bei der Buchung spart …“ Kian seufzte. „Dabei hatte das Angebot so verlockend geklungen. Wahrscheinlich haben sie deshalb die Gutscheine verschickt, um überhaupt Gäste zu ködern. Wenn die Rezeption schon nicht dauerhaft besetzt ist, dann will ich mir den Service gar nicht erst vorstellen.“
„Versuche doch noch einmal dein Glück.“
Er wählte nochmals die Telefonnummer, mit demselben niederschmetternden Ergebnis.
„Es geht keiner ran.“
„Dann müssen wir wohl oder übel warten. Können wir den Motor weiterlaufen lassen?“
„Das ist mir zu riskant.“
Kian zog umständlich seine Jacke aus und legte sie über ihre Beine. „Damit du nicht so schnell auskühlst.“
„Aber dann wirst du frieren“, widersprach sie.
„Ich gehe einmal davon aus, dass in Kürze jemand vorbeikommen wird. Überlege doch nur einmal, wie riesig das Anwesen mit den vielen Zimmern und den dazugehörigen Ferienhäusern ist.“
„Aber wir haben keine Hochsaison mehr. Schon bald wird ein eiskalter Ostwind über den zugefrorenen See fegen. Nicht jeder ist so verrückt wie wir.“
„Mach dir nicht so viele Gedanken, denk positiv.“
„Na ja, das Hotel ist der Inbegriff der Isolation. Hier kommen nur Menschen her, die absolute Ruhe haben wollen.“
„Kaum vorstellbar, in Anbetracht der Größe“, sagte er.
„Lass dich mal nicht täuschen. Auf Prospekten sieht immer alles deutlich schöner und größer aus als es in Wirklichkeit ist.“
Die Temperatur im Wagen war merklich gesunken und Nora griff nach ihrer Jacke, die auf dem Rücksitz lag. Sie lauschte angestrengt den Geräuschen, aber bis auf das stetige Rauschen der Wipfel war nichts zu hören. Aufmerksam schaute sie sich um.
„Aber du musst schon zugeben, dass dieser Schotterweg ziemlich verlassen wirkt. Als wäre das letzte Fahrzeug vor Jahrzehnten hier entlanggefahren, wie in einer Dystopie.“
Kian lachte. „Du solltest weniger Romane lesen.“
„Na ja, wenn sie so spannend sind.“
„Zumindest sind die Dystopien der Fantasie eines Autors entsprungen, und das hier ist ziemlich real, findest du nicht?“
„Genau das ist ja das Beängstigende daran.“
„Es wird jemand kommen, ganz sicher.“
Aus irgendeinem Grund konnte sie seinen Optimismus nicht teilen. Allein der Blick aus der Frontscheibe sorgte für Gänsehautfeeling, und das garantiert nicht im positiven Sinne. Schon bald würde die Dunkelheit unaufhaltsam über sie hereinbrechen, und was dann?
„Du sollst nicht so viel grübeln“, sagte Kian und nickte ihr aufmunternd zu.
„Ich kann leider nicht über meinen Schatten springen“, erwiderte sie. „Wir müssen uns etwas überlegen, weil die Temperaturen viel zu niedrig sind, um die Nacht im Fahrzeug zu verbringen.“
„Bis dahin sind wir längst im Hotel“, beschwichtigte er.
„Bist du dir sicher, dass es überhaupt der richtige Weg ist?“
„Ich habe die Adresse ins Navigationsgerät eingegeben.“
„Kannst du das bitte noch einmal überprüfen?“
Er stöhnte leise. „Wird erledigt.“ Er wischte über das Display seines Smartphones. „Hier, überzeuge dich selbst. Das ist unser aktueller Standort und das ist das Hotel.“
„Vor lauter Bäumen kann man kaum etwas erkennen.“
„Genau das, was wir uns gewünscht haben, mit ganz viel Natur.“
„Bitte, wir müssen eine Entscheidung treffen. Schon jetzt ist es viel zu kalt im Fahrzeug.“
„Aber hier sind wir vom Regen geschützt und es kommt garantiert jemand vorbei.“
Sie drehte sich zu ihm und schaute ihm in die Augen. „Also wenn ich ehrlich bin, dann habe ich kein gutes Gefühl. Ich komme mir vor wie in einem Horrorfilm, wo alles auf Flucht ausgelegt ist.“
„Jetzt übertreibst du aber.“ Er lächelte sanft.
„Auf dem Schild hätte auch Prypjat stehen können, so alt, wie das ausgesehen hat. Ist dir das gar nicht aufgefallen?“
„Und was sollen wir deiner Meinung nach tun?“
„Den Wagen zur Seite fahren, uns unsere Rucksäcke schnappen und zum Hotel laufen.“
„Wir werden völlig durchnässt dort ankommen. Wenn wir uns eine Erkältung einfangen, dann war es das mit dem Urlaub.“
„Wenn wir hier in der Kälte sitzenbleiben, dann auch.“
„Okay, du hast mich überzeugt. Machen wir uns auf den Weg.“
Sie hoffte, dass Kian ihr die Enttäuschung über den verpatzten Urlaubsanfang nicht ansehen konnte. Er startete den Motor, fuhr den Wagen an den Rand und pflückte die Rucksäcke von der Rückbank.
„Hast du die Taschenlampe eingepackt?“
„Sorry, die hätte ich beinahe vergessen.“
Er kramte die Taschenlampe aus der Box im Kofferraum, dann marschierten sie los. Der Wind zerrte an der Kleidung, die schon nach wenigen Minuten durchnässt war. Auf den Oberschenkeln bildeten sich dunkle Flecken und Nora war nach wenigen Minuten bereits komplett durchgefroren.
„Was für ein Mistwetter“, fluchte sie leise und hoffte, dass die Kälte dem Baby nicht schaden würde.
„Halte durch, es dauert nicht mehr lange“, sagte Kian aufmunternd.
„Wann werden wir ungefähr am Hotel sein?“
„Wir haben ungefähr eine Stunde Fußmarsch vor uns.“
„Aber das hast du vorhin schon gesagt, als wir noch mit dem Wagen unterwegs gewesen sind.“
„Ich bin wegen der tiefen Schlaglöcher ja auch nur im Schritttempo gefahren.“
„Deine Antwort zieht mich ganz schön runter“, sagte sie. „Ich habe wirklich gehofft, dass es näher wäre.“
„Tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss. Soll ich dir deinen Rucksack abnehmen?“
Sie wehrte ab. „Nein, nein, es geht schon.“
Die Wolken hingen tief und ein weiterer Graupelschauer ging auf sie nieder. Die feinen Eiskristalle prickelten schmerzhaft auf der Haut und Nora spürte, wie die Kälte durch ihre feuchte Kleidung drang.
„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich auf eine warme Dusche freue. Ich werde mindestens zwei Stunden im Badezimmer einplanen.“
„Und ich werde mich nach dem Abendessen einfach ins Bett fallen lassen, umdrehen und schlafen.“
Eine Weile liefen sie stumm nebeneinander her und hingen ihren Gedanken nach. Nora hatte fest damit gerechnet, von einem Fahrzeug mitgenommen zu werden. Aber es kam niemand vorbei, und diese andauernde Einsamkeit ängstigte sie. Wenn man vom Rauschen des Windes und dem Knarren der Bäume einmal absah, war kaum etwas zu hören. Hatte das Hotel aus diesem Grund die preiswerten Gutscheine verteilt, um Kunden auch in dieser unwirtlichen Jahreszeit anzulocken?
Stoisch setzte sie einen Fuß vor den anderen, während der Rucksack schwer auf ihren Schultern lastete. Sie schaute nicht mehr auf die Uhr, um sich keiner Illusion mehr hinzugeben. Der Weg zog sich quälend in die Länge und mit dem Einsetzen der Dämmerung hatte ihre Stimmung einen Tiefpunkt erreicht. Auf einer Skala von eins bis zehn, war sie bei null angekommen.
„Wir haben es gleich geschafft“, verkündete Kian irgendwann, nachdem sie jegliches Zeitgefühl verloren hatte. „Hinter der nächsten Kurve müsste das Hotel schon zu sehen sein.“
„Gott sei Dank“, seufzte sie. „Stell dir doch nur einmal vor, wir wären im Wagen sitzengeblieben? Kein Mensch hätte uns mitgenommen.“
„Lass uns einfach das Beste draus machen“, erwiderte Kian. „Der Urlaub hat zwar etwas holprig angefangen, aber es kann nur besser werden. Nächstes Jahr können wir garantiert im Sommer …“ Seine Stimme erstarb und er deutete nach vorn.
Im ersten Moment begriff Nora nicht, was er meinte, dann folgte sie seinem Blick. „Das ist nicht dein Ernst?“
„Mir fehlen die Worte“, raunte er heiser und konnte den Blick nicht von dem Gebäude abwenden.
„Hast du den Gutschein noch?“
„Ja, zu Hause auf dem Küchentisch. Die Restsumme habe ich bereits überwiesen.“
„Hast du mit jemandem telefoniert?“, fragte sie und versuchte, ruhig zu bleiben.
„Natürlich, unter der Nummer, die angegeben war.“
„Ich verstehe das nicht“, murmelte sie. „Also sind wir abgezockt worden?“
„Ich denke schon.“
Nora konnte das Zittern kaum noch verbergen. Sie war den Tränen nahe, erschöpft und durchgefroren. „Es sieht nicht nur aus wie Prypjat, es ist Prypjat.“
„Ja, wie eine Geisterstadt.“ Kian starrte noch immer mit einem entrückten Gesichtsausdruck zum Hotel.
„Was sollen wir jetzt machen? Zurücklaufen?“
Sie hätte Kian gern die Schuld gegeben, aber sie war selbst auf den Gutschein hereingefallen. Die Masche schien Substanz zu haben und sich zu lohnen.
„Jetzt, wo wir schon einmal hier sind, sollten wir uns erst aufwärmen und dann nach einer geeigneten Lösung suchen.“
„Und warum rufen wir keinen Pannendienst an?“
„Weil wir hier kein Netz haben.“
„Aber du hast doch gerade noch …“
„Keine Ahnung, mit einem Mal war es weg.“ Er zuckte mit den Schultern. „Es macht wenig Sinn, noch länger im Regen zu stehen und zu diskutieren. Wir sollten einen Weg ins Innere finden und uns ausruhen. Danach sehen wir weiter.“
Nora folgte ihm still. Tränen der Enttäuschung brannten in ihren Augen, als sie an das Päckchen mit den Kinderschuhen dachte. Kein Abendessen, keine warme Dusche, nur die dunklen Fensterhöhlen eines verlassenen, zweistöckigen Gebäudes, dessen Türöffnungen mit Brettern zugenagelt worden waren.
Das gesamte Areal war weitläufig, rechts und links gingen die Wege zu den Ferienhäusern ab. Zwischen den Baumstämmen blitzte silbern die Wasseroberfläche des Sees hindurch. Der einstige Charme dieser Anlage war einer düsteren Atmosphäre gewichen, die unweigerlich an das Szenario einer Apokalypse erinnerte.
Der Kies knirschte unter ihren Füßen, als sie die Einfahrt entlangschritten. Der Regen hatte zum Glück etwas nachgelassen.
„Es muss früher einmal wunderschön gewesen sein“, sagte Kian unvermittelt.
„Ja, die Betonung liegt auf früher“, antwortete sie.
Er schaute sie verschmitzt an. „Wenn wir das jemandem erzählen, halten die uns für komplett verrückt“, prustete er.
„Schön, dass wenigstens einer von uns noch lachen kann“, antwortete sie.
„Wir kriegen das wieder hin“, sagte er voller Zuversicht und rüttelte an den verschlossenen Türen.
„Sieht nicht so aus, als ob wir einen Weg ins Innere finden.“
„Dann lass uns zur Rückseite gehen“, schlug Kian vor, und er sollte recht behalten. „Die Kellertür ist offen“, rief er.
Nora folgte ihm nach unten und trat ein. „Gruseliger geht es kaum“, flüsterte sie und zog fröstelnd die Schultern hoch, als ihr ein Schauer über den Rücken jagte. „Bates Hotel ist ein Witz dagegen.“
Der Lichtkegel der Taschenlampe huschte den Kellergang entlang. Es roch nach Feuchtigkeit und Verfall und überall rieselte der Putz von den Wänden. Altes Mobiliar reihte sich aneinander, von Stühlen bis zu Tischen war so ziemlich alles dabei.
„Unglaublich, dass es auf dem Satellitenbild nicht zu erkennen war“, sagte sie.
„Wer weiß, aus welchem Jahr das Prospekt stammt. Hier kommt schon lange niemand mehr vorbei.“
„Wohl wahr. Das werden diese Gauner ausgenutzt haben.“
Der Wind fuhr heulend durch jeden Spalt und irgendwo im Haus tropfte es. Kian lief weiter und sie streckte die Hand aus, um sich an der Schlaufe seines Rucksacks festzuhalten. Das sollte ihr wenigstens die Illusion von Sicherheit vermitteln. Als es über ihnen laut polterte, zuckte sie erschrocken zusammen.
„Was war das?“, wisperte sie.
„In einer der oberen Etagen wird eine Tür zugefallen sein. Der Wind hat ordentlich an Stärke zugelegt.“
„Wie beruhigend.“
Ihre scharrenden Schritte hallten dumpf von den Wänden wider. Dieses verlassene Hotel wirkte so unheimlich und sie ärgerte sich, warum sie nicht im Wagen sitzengeblieben war und auf Kian gewartet hatte. Als sie plötzlich Schritte hinter sich hörte, blieb sie abrupt stehen.
„Was ist?“, fragte er.
„Hast du das auch gehört? Es hat wie Schritte geklungen.“
„Mach dich nicht verrückt, das wird nur der Wind gewesen sein.“
„Nein“, beharrte sie. „Ich habe die Schritte ganz deutlich gehört.“
„Möchtest du vorausgehen, damit du dich sicherer fühlst?“, fragte er.
„Nein. Ich habe nur Angst, dass wir hier nicht allein sind. In diesem verlassenen Gebäude könnte sich sonst wer eingenistet haben.“
„Wer sollte hier schon wohnen? Das Hotel ist nur von dichten Wäldern umgeben und wir haben kein Fahrzeug gesehen.“
Sie kniff die Lippen zusammen und schwieg. Sie hatte keine Kraft mehr, um zu diskutieren, sie wollte nur noch weg. Als hinter ihnen eine Tür knarrte, fuhr Nora erschrocken herum.
„Kannst du bitte mal nachsehen?“, bat sie leise. „Ich habe das Gefühl, als wenn uns jemand beobachten würde.“
Kian machte kehrt und schaute in jeden Kellerraum. Dann kam er wieder zu ihr zurück. „Hier ist niemand, lass dich von dieser gruseligen Kulisse nicht verunsichern.“
„Du hast gut reden. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn wir uns in den Garagen nach einem Benzinkanister umgesehen hätten.“
„Selbst wenn, wir wissen doch gar nicht, ob es sich um Diesel oder Benzin handeln würde.“
„Du demotivierst mich.“
„Tut mir leid, aber wir sollten realistisch bleiben.“
„Ich komme mir wie in einem Horrormovie vor“, wisperte sie.
„Du kannst ruhig lauter sprechen, wir sind allein.“
„Das werden wir ja noch sehen.“
Nachdem sie eine Weile im Keller herumgeirrt waren, hatten sie endlich den Aufgang zur oberen Etage gefunden. Schutt und Glas knirschte unter ihren Sohlen, weil im Foyer schon einiges zu Bruch gegangen war. Der Lichtkegel der Taschenlampe glitt über die Wände, die mit obszönen Graffitis verschandelt worden waren, und erfasste dann die Rezeption. Dort stand eine zertrümmerte Glasvitrine, und jetzt wusste Nora auch, woher die vielen Scherben auf dem Boden stammten.
„Und hier sollen wir die Nacht verbringen?“ Nora schob die kalten Hände in die Jackentaschen. „Es ist kalt, schmutzig und ungemütlich.“
„Wir werden einen Platz finden und morgen zum Wagen zurücklaufen.“
„Und dann?“
„Dann werden wir den Pannendienst anrufen.“
„Das hätten wir gleich machen sollen.“
„Ach Nora, wer hätte denn damit rechnen können? Diese eine Nacht werden wir auch überstehen und anschließend nach Hause zurückfahren. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich auf unsere eigenen vier Wände freue. Das wird der beste Urlaub meines Lebens.“
„Ich hätte nie für möglich gehalten, dass ich dir zustimmen würde.“
Kian drehte sich zu ihr um und legte seine warme Hand an ihre kalte Wange. „Noch einmal wird uns das garantiert nicht passieren, das war Lehrgeld genug.“ Er beugte sich zu ihr herunter, um sie zu küssen. „Ich bin froh, dass du an meiner Seite bist, und morgen Abend werden wir darüber lachen können.“
„Ich hoffe es.“
Vom Foyer aus gingen mehrere Türen ab. Kian öffnete jede einzelne, während Nora den Blick schweifen ließ. Im gesamten Gebäude herrschte eine beklemmende Stimmung. Die leeren Flure und Zimmer, die vom Verfall gezeichnet waren, vermittelten ihr das Gefühl von endloser Einsamkeit. Das Knarren der alten Holzdielen und das Heulen des Windes verstärkten die düstere Atmosphäre, und die Schatten, die sich im schwachen Dämmerlicht bewegten, ließen die Vorstellung von Geistern und unheimlichen Gestalten auferstehen. Nora fragte sich, welche Geheimnisse sich wohl in diesem Hotel verbargen.
„Hier ist eine kleine Bibliothek mit einem Kamin“, rief Kian unvermittelt. „Wir könnten in diesem Raum theoretisch ein Feuer machen.“
„Und praktisch?“
„Wenn der Rauch durch die fehlende Wartung nicht abzieht, haben wir ein Problem.“ Er schloss die Tür. „Wollen wir lieber nach oben gehen, um nach einem passenden Zimmer zu suchen?“
„Alles in mir sträubt sich, die Nacht hier zu verbringen.“
„Das ist ein Abenteuerurlaub vom Feinsten.“ Er kniff ihr liebevoll in die Wange.
„Kian … ich …“, hob sie ihre Stimme, weil sie kurz davor war, es ihm zu sagen. Sie durften ihr gemeinsames Kind nicht gefährden, das hier war kein Spiel mehr.
„Was ist los?“ Besorgt musterte er sie.
„Ach, nichts …“
„Du wolltest doch gerade etwas sagen.“
Ein lautes Knarren direkt über ihnen unterbrach das Gespräch.
„Willst du wirklich nach oben gehen?“, fragte sie und versuchte, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen.
„Wahrscheinlich irgendein Tier, das den Weg nach draußen nicht mehr findet.“
„Das sind ja beruhigende Aussichten.“
Er griff nach ihrer Hand und zog sie sanft mit sich. Sie stiegen in den ersten Stock und der Strahl der Taschenlampe huschte über den länglichen Flur.
„Wollen wir uns ganz am Ende ein Zimmer suchen?“, fragte er.
„Nein, ich würde die Nähe der Treppe bevorzugen, damit wir im Notfall schnell aufbrechen können.“
„Das klingt nach Flucht, aber wir sind hier ganz allein.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher.“
„Ach Schatz, sieh es als Abenteuer an. Wann hat man schon einmal die Gelegenheit dazu, so etwas zu erleben?“
„Kian, ich weiß, dass du ein positiv denkender Mensch bist. Aber kommt es dir nicht seltsam vor, dass der Gutschein ausgerechnet in unseren Briefkasten geflattert ist?“
Er lachte. „Wir werden nicht die einzigen Deppen sein, die darauf hereingefallen sind.“
„Das Ganze hier ist mir zu suspekt.“
„Nur diese eine Nacht, und dann kehren wir zum Wagen zurück. Ich werde versuchen, so benzinsparend wie möglich zu fahren, damit wir es bis zur Straße schaffen. Natürlich liegen einige Kilometer Fußmarsch bis Osvallen vor uns, aber dort wird man uns sicher helfen.“
„Ich kann es kaum erwarten“, erwiderte sie matt und gähnte hinter vorgehaltener Hand. „Wir sollten uns jetzt ein Zimmer suchen und das letzte Sandwich teilen. Zum Glück haben wir noch zwei Flaschen Wasser dabei.“
Ein Großteil der Räume war durchwühlt worden, die Matratzen lagen auf dem Boden und überall verteilte sich Müll. Die hinteren Zimmer waren vom Vandalismus verschont geblieben und so zogen sie in einem ein. Wasser und Strom funktionierten nicht mehr, trotzdem hockte sich Nora auf die Toilette, um sich zu erleichtern.
„Welches Bett möchtest du?“, fragte Kian.
„Das am Fenster. Könntest du zur Sicherheit den Stuhl unter die Klinke stellen?“
„Kein Problem.“
„Ehrlich gesagt, ist es hier auch nicht wärmer als im Auto“, stellte sie fest.
„Vergiss nicht, dass über Nacht die Temperaturen sinken. Vorhin sind es nur noch vier Grad gewesen.“ Kian nahm seine Bettdecke und legte sie ihr um die Schultern. „Zwei Decken sollten dich schützen.“
„Sie sind klamm und riechen muffig.“
„Besser als nichts. Hier drin wird es nicht so schnell auskühlen wie im Fahrzeug.“
„Wenn du das sagst …“ Sie holte das Sandwich aus dem Rucksack und reichte ihm die andere Hälfte.
„Nein danke, ich habe keinen Hunger.“
Unter normalen Umständen hätte sie darauf bestanden, die letzte Mahlzeit des Tages zu teilen. Aber der kilometerlange Fußmarsch, der noch vor ihnen lag, ließ sie umdenken. Schon jetzt fühlte sie sich grenzenlos erschöpft und machte sich große Sorgen um den Winzling, der in ihrem Bauch heranwuchs. Sie würde es Kian irgendwann sagen müssen, aber nicht unter diesen Umständen.
„Was hältst du davon, wenn ich die Küche suche? Vielleicht finden wir noch ein paar Konserven, die haltbar sind.“
„Das kannst du vergessen, ich werde auf gar keinen Fall allein zurückbleiben“, protestierte sie. „Das Hotel steht seit mindestens zehn Jahren leer, wenn nicht noch länger. Selbst wenn du etwas finden würdest, können wir unmöglich das abgelaufene Zeug essen.“
„Schon okay, ich habe es nur gut gemeint.“ Er beugte sich zu ihr herunter. „Gute Nacht und ich hoffe, dass du ein wenig schlafen kannst.“
„Danke, dir auch eine gute Nacht.“
Sie umarmten einander, dann legte sich jeder in sein Bett und Kian löschte das Licht der Taschenlampe.
Nora wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere und konnte nicht einschlafen. Der Wind pfiff durch jede Ritze und irgendwo klapperte ein Blech. Alles wirkte gespenstisch und sie würde wohl kein Auge zumachen, bei all den unheimlichen Geräuschen um sie herum. Das Hotel schien ein seltsames Eigenleben zu führen. Es polterte mal hier und mal da, Türen schlugen zu, und durch den entstandenen Luftzug bauschten sich die Gardinen auf und fielen wieder in sich zusammen.
„Das ist nur der Wind“, murmelte Kian schlaftrunken und drehte sich auf die andere Seite.
Sie beneidete ihn darum, überall schlafen zu können, das war ihr leider nicht vergönnt. Irgendwann richtete sie sich auf und lauschte. Da waren eindeutig Schritte auf dem Flur zu hören und ihr Herz klopfte so schnell wie bei einem Marathonlauf. Vorsichtig schob sie sich aus dem Bett und huschte zur Tür. Ihr Puls schnellte in die Höhe, als die Schritte direkt vor ihrer Tür stoppten.
Sie drehte sich um und rüttelte an Kians Schulter. „Wach auf, es steht jemand vor unserer Zimmertür!“
Verschlafen rieb er sich die Augen. Er erhob sich, stellte den Stuhl zur Seite und riss die Tür auf. „Da ist niemand, du musst dich getäuscht haben“, sagte er und leuchtete mit der Taschenlampe noch einmal den langen Gang aus. Aber bis auf die gespenstischen Schatten an den Wänden war keine Menschenseele zu sehen.
„Ich schwöre, dass ich die Schritte klar und deutlich gehört habe.“
„Vielleicht hat es nur so geklungen. Versuche bitte, ein wenig zu schlafen, damit du morgen wieder bei Kräften bist.“
Sie kroch zurück unter die Bettdecken und starrte an die Zimmerdecke. In ihren Augen war dieser Tripp kein Abenteuer, sondern der blanke Horror. Und den nächsten Urlaub, das schwor sie sich, würde sie auf der Couch verbringen.
„Na, schon gespannt?“, fragte Leo seine Begleiterin.
„Und wie“, antwortete Cilia.
„Zum Glück haben wir über die Gruppe die Adressen getauscht, allein macht es nur halb so viel Spaß. Außerdem sind wir zu zweit sicherer unterwegs, falls etwas passieren sollte. Lost Places können es manchmal in sich haben.“
„Wie kommen wir überhaupt dorthin?“
„Wir werden nicht den offiziellen Weg nehmen und auch nicht direkt davor parken. Falls das Hotel von Securityleuten bewacht wird, können wir wieder ungesehen verschwinden.“
„Das klingt nach einem Plan.“
„Ja, nur das Wetter könnte besser sein.“
„Ach was, davon lassen wir uns nicht abhalten“, erwiderte Cilia.
„Nein, auf gar keinen Fall.“
Die Scheinwerfer teilten die Dunkelheit und sie hatten das Gefühl, durch einen Tunnel hindurchzufahren. Der Wald schien endlos zu sein, nur ein Rudel Rehe wechselte die Seiten und verschwand aufgescheucht im Dickicht.
„Laut Karte müssten wir gleich da sein, ich werde ungefähr einen halben Kilometer vom Hotel entfernt parken“, sagte Leo. Die Anschaffung eines Offroaders hatte sich gelohnt, er konnte mit dem Fahrzeug jeden Weg nehmen.
„Hoffentlich kommen wir nicht bis auf die Haut durchnässt an.“
Leo winkte ab. „Und wenn schon, wir sind schließlich nicht aus Zucker.“
Er war ein wenig zu großspurig unterwegs, aber er konnte einfach nicht anders. Cilia war zwar ein wenig älter, aber in seinen Augen eine Schönheit. Flammendes Haar, grüne Katzenaugen und ein zart geschnittenes Gesicht. Er musterte sie erneut und sie hatte die vollen Lippen halb geöffnet. Himmel, was für eine Frau. Sie erinnerte ihn an jemanden, aber das konnte auch Einbildung sein. Jedenfalls genoss er jede einzelne Minute in ihrer Nähe.
Er verminderte die Geschwindigkeit und hielt schließlich an. Der Dauerregen hatte zum Glück ein wenig nachgelassen. Sie schnappten sich ihr Equipment und stiegen aus. Sie hatten einen Overnighter geplant und wollten nach zwei Tagen wieder abreisen.
„Alles dabei?“
„Ich denke schon. Falls meine Gaskartusche den Geist aufgeben sollte, muss ich bei dir schnorren“, antwortete Cilia.
„Gerne, ich habe immer Ersatz dabei. Eine warme Mahlzeit, Kaffee und Tee sind bei diesem Mistwetter unverzichtbar.“
„Du sagst es.“
Ihm fiel auf, dass nicht nur Cilias Rucksack nagelneu war.
„Bist du das erste Mal auf Tour?“, fragte er.
„Wie kommst du darauf?“
„Weil an deiner Jacke noch das Preisschild hängt.“
„Oh, wie peinlich …“
„Schon okay. Hast du überhaupt Erfahrung mit Touren dieser Art?“
Sein Misstrauen war geweckt, weil sie ihm noch vor einer Stunde versichert hatte, sich auszukennen. Er wusste, dass Frauen hin und wieder überreagierten, wenn er mit ihnen verlassene Gebäude durchstreifte. Von Hysterie bis zu Weinkrämpfen war alles dabei gewesen. Darauf konnte er bei diesem Tripp getrost verzichten. Das verlassene Hotel hatte schon ewig auf seiner To-do-Liste gestanden und als Cilia ihn gebeten hatte, sie zu begleiten, hatte er sofort zugestimmt. Allein ihr Profilbild hatte ihn überzeugt.
„Ich habe eine Bonuszahlung erhalten und meine alte Ausrüstung komplett gegen eine neue getauscht, bevor die Kronen wieder in anderen Kanälen versickern“, antwortete sie lächelnd.
„Oh ja, das kenne ich. Das Geld ist schneller ausgegeben, als ich bis drei zählen kann.“
„Siehst du.“
Sie schalteten ihre Stirnlampen ein und machten sich auf den Weg.
„Aber du bist schon neu in unserer Gruppe?“
„Ja, eigentlich ziehe ich lieber allein los. Leider bin ich bei meiner letzten Tour auf einen unfreundlichen Obdachlosen gestoßen, der mich unsanft aus seinem Revier katapultiert hat.“
„Stimmt, als Frau kann das ziemlich gefährlich werden.“
„Du sagst es.“ Sie holte ihr Handy aus der Jackentasche, wischte mit dem Zeigefinger über das Display und eine Galerie voller Fotos erschien. „Hier, damit du dich überzeugen kannst. Das sind die Orte, an denen ich gewesen bin.“
„Wow, klasse Bilder. Du hast ein Händchen fürs Fotografieren.“
„Danke.“ Sie ließ das Handy wieder in ihrer Jackentasche verschwinden und lief stumm neben ihm her.
„Tut mir leid, dass ich so misstrauisch gewesen bin“, sagte er.
„Kein Problem. Man will schließlich wissen, mit wem man unterwegs ist.“
„Genau.“
Er hatte in den sozialen Netzwerken nach ihr gesucht, um herauszufinden, ob sie Single war. Leider hatte er nicht viel finden können, was unter den gegebenen Umständen auch normal war. Die meisten aus der Szene hielten sich bedeckt, um Anzeigen wegen Hausfriedensbruch zu entgehen. Außerdem wurden Adressen nur sehr selten weitergegeben, damit der Vandalismus dieser unberührten Orte nicht überhandnahm.
„Ich habe dich übrigens auch gecheckt“, verriet sie.
„Tja, dann weißt du ja so ziemlich alles über mich.“
„Das kann nie schaden.“
Vor ihnen tauchten die ersten Ferienhäuser auf, wobei Hütten wohl der passendere Ausdruck gewesen wäre. Sie waren klein und lagen versteckt im Wald, sodass jeder Gast mehr oder weniger abgeschottet war und seine Privatsphäre genießen konnte.
„Warum wurde das Hotel überhaupt geschlossen?“, fragte sie. „Es liegt sehr idyllisch mitten im Wald und der See ist auch nicht zu verachten.“
„Der Investor hat sich mit den Buchungen verschätzt, das Hotel war selten voll belegt.“
„Wirklich schade, dass so ein schöner Ort sich selbst überlassen bleibt. Zumindest ein Rückbau wäre erstrebenswert.“
„Die Gelder fehlen, wie überall“, erwiderte er. „Aber wenn ich ehrlich bin, dann finde ich das Gelände schon ein wenig spooky. Fehlt nur noch, dass in einer der Hütten Licht brennt.“
„Ja, das wär’s.“ Sie lachte.
„Hast du gar keine Angst?“
„Nein, warum sollte ich?“
„Ich habe da schon ganz andere Kaliber erlebt.“
„Danke für das Kompliment.“
„So war das doch nicht gemeint.“
„Schon gut, ich habe mich auch nicht angesprochen gefühlt.“
Ihr Lächeln wirkte süß, aber auch irgendwie geheimnisvoll. Sie schien sich tatsächlich nicht zu fürchten und schritt forsch voraus.
„Nicht so schnell“, rief er.
„Sorry, aber ich will endlich ins Trockene.“
„Kennst du den Weg ins Innere des Hotels?“
„Nein. Aber den wirst du mir sicher gleich zeigen.“
Leo steuerte die Kellertreppe an. „Die Tür sollte offen sein“, sagte er über seine Schulter hinweg, lief nach unten und legte die Hand auf die Klinke. „Eins, zwei und drei …“ Die Tür schwang leise knarrend auf.
„Wow, der Master kann zaubern.“
„Ich versuche es zumindest.“
Er mochte es, wenn Frauen eine gehörige Portion Humor mitbrachten, das lockerte die Stimmung auf. Der Strahl seiner Stirnlampe erhellte den Kellergang und diesmal war er es, der zielstrebig vorauslief.
„Du kennst dich hier aus?“, fragte sie.
„Malte ist so nett gewesen und hat mir den Grundriss zukommen lassen. Das spart uns eine Menge Zeit und wir müssen nicht suchen.“
„Perfekt. Dürfte ich nachher einen Blick darauf werfen?“
„Selbstverständlich. Was willst du zuerst erkunden, Ober- oder Untergeschoss?“
„Die untere Etage, da gibt es sicher viel zu entdecken. Die Hotelzimmer ähneln sich meistens. Kennst du eines, kennst du alle.“
„Wäre es nicht besser, wenn wir uns bei Tageslicht im Erdgeschoss umsehen?“
„Wenn du schon eine Entscheidung getroffen hast, warum fragst du mich dann?“
„Der Höflichkeit halber.“
„Aha.“ Sie zog fröstelnd die Schultern hoch. „Hättest du etwas dagegen, wenn wir uns erst einen Tee kochen würden?“
„Kein Problem. Wollen wir in die Küche?“
Sie nickte und folgte ihm. Leo wusste, dass die Küche im linken Flügel lag und nur wenige Schritte weiter drückte er die Schwingtüren auf.
„Noch alles vorhanden“, sagte er und ließ seinen Blick schweifen.
„Ja, erstaunlich.“
Bis auf kleinere Küchengeräte waren die Edelstahleinbauten noch vorhanden, auch der Herd und die Dunstabzugshaube. Selbst das Geschirr stand noch in den Schränken, auch wenn sich jemand den Spaß gemacht hatte, einige Teller auf dem Fliesenboden zerschellen zu lassen. Die Scherben knirschten unter ihren Sohlen.
Cilia fegte den Putz, der sich von der Decke gelöst hatte, von der Arbeitsplatte und stellte den Rucksack ab. Sie packte den Campingkocher aus – natürlich auch das neueste Modell und unbenutzt – schüttete Wasser in den Edelstahlbecher und erwärmte das Ganze. Anschließend hängte sie einen Teebeutel hinein.
„Möchtest du auch einen Tee, wenn ich schon dabei bin?“
„Nein danke. Ich werde noch bis nach Mitternacht warten und mir dann einen Snack zubereiten.“
„Wie du willst.“
Während Cilia den Tee schluckweise trank, schaute er sich in der Küche genauer um und lauschte den Geräuschen. Überall klapperte und knarrte es, als wenn das Hotel ein ganz spezielles Eigenleben führen würde. Durch jede noch so kleine Ritze pfiff der Wind und erzeugte ein schauriges Heulen.
„Ganz schön kalt und zugig hier“, sagte Cilia. „Da sehnt man sich in die eigenen vier Wände zurück.“
„Ja, das Wetter könnte besser sein, zumal wärmere Temperaturen und sogar Sonnenschein vorausgesagt wurden. Falls es dir zu ungemütlich wird, dann können wir jederzeit wieder fahren.“
„Gut zu wissen.“ Sie wischte den Becher mit einem Tuch aus, packte alles zusammen und schulterte den Rucksack. „Dann auf, in die obere Etage.“
„Sehr gerne. Möchtest du vorausgehen?“
„Nein, ich laufe dir lieber hinterher.“
„Wenn du Fotos machen möchtest, sag einfach Bescheid.“
„Das verschiebe ich auf morgen. Die Fahrt hierher war anstrengend genug.“
Leo nickte ihr zu und kehrte ins Foyer zurück. Eine Tür schlug ständig auf und zu und er leuchtete mit der Taschenlampe in den Flur. „Ich werde mal schauen, ob ich die Tür fixieren kann.“
„Mach das, ich werde hier warten.“
Er folgte dem Geräusch in den hinteren Bereich des Gebäudes, wo die Büroräume lagen. Schon von Weitem konnte er erkennen, dass ein Gegenstand die Tür blockierte. Er schob mit dem Fuß den Aktenordner zur Seite und trat ein. Das Fenster stand angelweit offen und durch den entstandenen Durchzug schwang die Tür auf und zu. Er verriegelte den Fensterflügel und drückte die Tür ins Schloss. Eine beinahe wohltuende Stille trat ein. Zwar klapperte noch irgendwo ein Blech, aber damit konnte er leben.
„Na, alles erledigt?“
Er nickte. „Ja, Problem gelöst. Wollen wir uns jetzt einen Schlafplatz suchen?“
„Ja.“
„Getrennte Zimmer?“
Sie zögerte kurz. „Das wäre mir lieber.“
„Zum Glück stehen einige zur Auswahl. Aber die Präsidentensuite gehört mir.“ Er lachte.
„Die werde ich dir im Nullkommanichts abgeluchst haben.“
„Das will ich sehen.“
Sie stiegen die Treppe nach oben und leuchteten in jedes Zimmer. Einige waren verwüstet, andere hingegen noch im Originalzustand.
„Das Zimmer sieht doch ganz passabel aus“, sagte Cilia.
„Okay, ich werde mich nebenan niederlassen. Falls etwas sein sollte, einfach gegen die Wand klopfen.“
„Darauf kannst du lange warten.“ Schon wieder dieses geheimnisvolle Lächeln, das ihren angespannten Gesichtsausdruck aber nicht verdrängte. Irgendetwas schien sie intensiv zu beschäftigen. Noch bevor er diesen Gedanken zu enden führen konnte, wurde direkt hinter ihnen eine Tür aufgerissen. Sie erstarrten in ihren Bewegungen und drehten sich ruckartig um.
Nora drängte sich dicht an Kian. „Wer sind diese Leute?“, wisperte sie.
„Was wollen Sie hier?“
Der junge Mann machte einen Schritt auf ihn zu. „Das Gleiche könnte ich Sie fragen.“
„Wir sind mit unserem Wagen liegengeblieben und aufgrund des rapiden Wetterwechsels übernachten wir hier.“
„Cilia und ich suchen Lost Places auf, um sie zu erkunden. Auch wir sind vom Wetter überrascht worden.“
Nora drängte sich an Kian vorbei und trat in den Flur. Sie musterte den jungen Mann und seine Freundin, die ungefähr im selben Alter waren.
„Hi, ich bin Nora. Ihr seid doch sicher mit einem Fahrzeug da?“
„Ja, ich fahre einen Offroader.“
„Diesel oder Benzin?“
„Diesel.“
„Egal. Wir sitzen hier fest und vielleicht könntet ihr uns bis zur nächsten Ortschaft mitnehmen.“
„Wir hatten geplant, für ein oder zwei Nächte hierzubleiben“, sagte Cilia.
„Wir würden selbstverständlich dafür zahlen“, sagte Nora hastig. Sie würde alles dafür tun, um so schnell wie möglich wieder von hier zu verschwinden.
„Wir sollten morgen in Ruhe darüber reden, es war ein anstrengender Tag“, schlug Leo vor.
„Alles klar“, sagte Kian. „Bevor ihr euch zurückzieht, habt ihr vielleicht Proviant dabei, den ihr mit uns teilen würdet?“
„Ihr habt nichts dabei?“, antwortete Leo mit einer Gegenfrage.
„Nein, aber das ist eine längere Geschichte.“ Nora war dankbar, dass Kian daran gedacht hatte.
„Ich habe noch eine Packung Powersnacks, die könnt ihr haben“, sagte Leo und ließ den Rucksack von seinen Schultern gleiten. Er kramte im Seitenfach und zog eine buntbedruckte Packung heraus, um sie Kian in die Hand zu drücken.
„Danke“, sagte Kian und zog die Geldbörse aus der Hosentasche. „Was bekommst du dafür?“
Leo winkte ab. „Nicht der Rede wert. Ihr solltet auf langen Touren immer etwas mitnehmen, man weiß schließlich nie, wie der Tag enden wird. Gute Nacht und bis morgen.“
„Euch auch.“
Leo und Cilia zogen sich in ihre jeweiligen Zimmer zurück.
„Ich bin so erleichtert, dass wir nicht mehr allein sind“, sagte Nora und positionierte sicherheitshalber wieder den Stuhl unter der Türklinke, während Kian ungeduldig die Verpackung aufriss.
„Ich habe einen Bärenhunger“, murmelte er und biss hinein.
Sie streckte fordernd die Hand aus. „Bitte vergiss mich nicht.“
„Wie könnte ich …“
„Danke übrigens, dass du auf deine Hälfte des Sandwiches verzichtet hast.“
„Für dich doch immer.“ Er griff nach ihrer freien Hand und strich sanft mit dem Daumen über ihren Handrücken. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich über die nächtliche Ruhestörung bin. Sie werden uns sicher helfen.“
„Am liebsten hätte ich sofort meine Sachen gepackt, um aufzubrechen.“
„Leo und Cilia sahen ziemlich erschöpft aus, sie haben wahrscheinlich eine ebenso anstrengende Fahrt hinter sich wie wir. Morgen werden wir das Hotel verlassen, und nur das zählt.“
„Ich kann es kaum erwarten. Erst jetzt weiß ich so richtig zu schätzen, was für ein schönes Zuhause wir uns geschaffen haben. Helle Räume, ein wärmender Kaminofen, in dem das Feuer knistert, und ein kuscheliges Bett, das wir miteinander teilen.“
Sie war von ihren überwältigten Gefühlen überrascht. Aber das lag sicher nur an den Hormonen. Ja, sie hatten sich ein schönes Leben aufgebaut, und schon bald wären sie zu dritt. Und bis zur Geburt des Kindes, das schwor sie sich, würde sie auf jede weitere Urlaubsreise verzichten.
„Stimmt, wir haben großes Glück gehabt. Wer heiratet schon seine Jugendliebe und bleibt über so viele Jahre zusammen? Ich bin dankbar, dass es so gut mit uns funktioniert. Und das …“, er machte eine raumgreifende Bewegung, „… überstehen wir auch noch.“
Nach Kians Worten fühlte sie sich schon deutlich besser. Dort, wo vorher nur pure Verzweiflung über diese vertrackte Situation geherrscht hatte, keimte nun das Pflänzchen der Hoffnung. Schon morgen würde ein Wechsel bevorstehen, egal, wie viele Kronen sie auch dafür hinblättern müssten.
Sie verkroch sich unter den Decken und horchte noch eine Weile in sich hinein. Ob es dem Kind gutging? Sie konnte es kaum erwarten, die ersten zarten Bewegungen zu spüren und fragte sich, wie sich das wohl anfühlen würde. Das monotone Klappern des Bleches ließ sie schläfrig werden und irgendwann driftete sie ins Land der Träume.
„Guten Morgen, Liebes“, raunte Kian, nachdem sie die Augen aufgeschlagen hatte.
„Wie lange bist du schon wach?“, fragte sie.
„Schon eine ganze Weile.“ Er lag auf der Seite und hatte den Blick fest auf sie gerichtet.
„Hast du mich beim Schlafen beobachtet?“
Er nickte. „Der einzige schöne Anblick in diesem Zimmer.“
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Danke.“ Sie räkelte sich, wollte aber nicht aus ihrer warmen Höhle herauskriechen. „Was gibt es zum Frühstück? Ist der Kaffee schon fertig?“
„Der Speisesaal ist gerade belegt, wir werden noch eine Weile warten müssen“, antwortete er.
„Na ja, zumindest haben wir unseren Humor nicht verloren.“
„Die Aussicht auf Hilfe hat mich aus meinem Stimmungstief geholt. Es kann nur noch besser werden.“ Kian reichte ihr einen Powerriegel. „Lass es dir schmecken, Kaffee gibt es später.“
„Danke.“ Sie biss hinein und merkte erst jetzt, wie ausgehungert sie war. Auf der Rückfahrt würden sie am erstbesten Restaurant anhalten und sich die Bäuche vollschlagen, so viel war sicher. „Sind Leo und Cilia schon wach?“
„Ich glaube nicht, so still wie es ist.“
„Hoffentlich sind sie nicht ohne uns abgefahren.“ Allein bei diesem furchtbaren Gedanken klopfte ihr Herz wie verrückt.
„Wie kommst du denn darauf?“
„Keine Ahnung, es ist nur so ein Gefühl. Würdest du nachsehen, ob sie noch da sind?“
„Ich kann doch nicht in ihre Zimmer gehen, wenn sie noch schlafen. Sie sahen gestern ziemlich erschöpft aus.“
„Bitte, schau einfach nach, ob sie noch da sind.“
Er stieß einen Seufzer aus und erhob sich. An der Tür drehte er sich noch einmal zu ihr um.
„Halte mich nicht für paranoid, ich will nur auf Nummer sicher gehen“, sagte sie.
„Schon okay.“
Er verschwand im Flur und es verstrichen einige Minuten, bis er zurückkehrte.
„Und?“
„Die Zimmertüren sind geschlossen und Leo scheint zu schnarchen.“
Sie atmete erleichtert auf. „Danke.“ Erst jetzt bemerkte sie, dass Kian fror, und klopfte auf die Matratze. „Komm her, zu zweit ist es wärmer.“
Sein dankbarer Blick streifte sie, als er zu ihr unter die Decke kroch.
„Himmel, ist das schön warm.“ Er schmiegte sich so dicht an sie, dass sie seinen Herzschlag hören konnte. „Irgendetwas ist anders“, sagte er unvermittelt.
„Was meinst du?“
„Ich kann es nicht genau definieren, aber ich möchte dich am liebsten nie wieder loslassen.“
Wow, er schien die Veränderungen in ihrem Körper wahrzunehmen. Aber die Freude über seine Worte währte nur kurz, weil sie ihm immer noch nicht gebeichtet hatte, dass er in einigen Monaten Vater sein würde. Dabei hatte sie es sich schon so oft in Gedanken ausgemalt, wie sie ihm davon erzählen würde. Aber nicht jetzt und nicht hier, und nicht in diesem Overlook-Horrorhotel.
Das Knarren einer Tür durchbrach die gespenstische Stille.
„Endlich sind sie wach“, flüsterte sie erleichtert.
„Kann ich noch eine Weile liegenbleiben?“, bat er. „Die Nacht war so bitterkalt.“
Erst jetzt registrierte sie, dass kleine Atemwölkchen zur Zimmerdecke stiegen, und ihr schlechtes Gewissen meldete sich zu Wort.
„Tut mir leid, dass ich so egoistisch gewesen bin“, flüsterte sie.
„Schon gut, ich bin schließlich ein ganzer Kerl.“
Er grinste breit und sie küsste ihn auf die Nasenspitze. Genau in diesem Moment klopfte es an ihre Zimmertür. Kian war sofort auf dem Sprung, aber sie drückte seine Schultern nieder.
„Ich kümmere mich darum, wärm dich noch eine Weile auf.“
Kian hatte nicht untertrieben, es war bitterkalt, als sie zur Tür lief.
Mit einem freundlichen „Guten Morgen“ begrüßte Leo sie. „Wollt ihr einen Kaffee?“
Normalerweise trank sie ihn wegen der Schwangerschaft nur entkoffeiniert. Aber heute hätte sie für eine Tasse Kaffee getötet.
„Das wäre super.“
„Gut, dann sehen wir uns in zehn Minuten.“
„Danke.“
„Kaffee, was für ein Luxus“, sagte Kian, als sie die Zimmertür wieder geschlossen hatte.
„Oh ja. Ein echter Glücksfall, dass die beiden hier aufgetaucht sind.“
„Das sehe ich auch so.“
Kian hatte gestern wegen der Kälte die Gardinen zugezogen und sie schob sie ein Stück zur Seite. Der Anblick der weißen Landschaft entlockte ihr einen überraschten Laut.
„Was ist los?“, fragte er.
„Es hat geschneit, und das nicht gerade wenig.“
Er reckte seinen Hals und schaute ebenfalls aus dem Fenster. „Wie kalt muss es draußen sein, dass der Schnee liegengeblieben ist?“
Sie rieb sich frierend über die Arme. „Vielleicht können wir sie überreden, uns gleich nach dem Frühstück nach Osvallen zu fahren. Ich bin bereit dazu, beinahe jeden Preis dafür zu zahlen.“
„Wir versuchen es, aber wir sollten sie nicht zu sehr bedrängen.“
Als ein intensiver Kaffeeduft unter der Tür hindurch ins Zimmer wehte, gingen sie nach nebenan. Leo hatte zusätzlich Porridge zubereitet und verteilte ihn auf vier Teller.
„Ist das für uns?“, fragte Nora und konnte kaum glauben, dass Leo auch sein Frühstück mit ihnen teilen würde.
„Ja, mit Honig gesüßt. Ich habe immer genug dabei, man weiß schließlich nie.“
„Stimmt, wir sind das beste Negativbeispiel.“ Sie setzte sich auf die Bettkante. „Woher hast du das Geschirr?“
„Aus der Küche“, antwortete er. „Cilia war so nett und hat das verstaubte Geschirr mit Schnee gereinigt.“
„Vielen Dank, ihr habt es echt drauf.“ Kian hob den Daumen und setzte sich neben Nora.
Dann betrat Cilia das Zimmer. Sie sah genauso müde aus wie gestern.
„Schlecht geschlafen?“, fragte Nora mitfühlend.
Sie nickte. „Das Hotelzimmer entspricht nicht unbedingt meinem Standard.“
„Wir sollten uns an der Rezeption beschweren und eine schlechte Bewertung schreiben“, sagte Kian und sie mussten lachen.
Leo verteilte die Teller und Tassen. Nora probierte Porridge und Kaffee und stellte fest, dass es das beste Frühstück seit Ewigkeiten war.
„Schmeckt’s?“, fragte Leo.
„Und wie.“ Nora hatte das Gefühl, über das ganze Gesicht zu strahlen. Der dampfende Kaffee wärmte von innen und sie fühlte sich gerade ausgesprochen wohl. Deshalb wagte sie einen kleinen Vorstoß. „Mir ist klar, dass ihr den Tag anders geplant habt. Aber wäre es möglich, uns zuerst nach Osvallen zu fahren? Wir sind sehr verzweifelt und zahlen jeden Preis.“
Kian schien überrascht, aber auch froh zu sein, dass sie es ausgesprochen hatte.
Leo wechselte einen Blick mit Cilia. „Was meinst du?“
„Warum sollen wir sie noch länger warten lassen? Von mir aus können wir gleich nach dem Frühstück aufbrechen.“
„Du könnest hierbleiben und in Ruhe deine Fotosession starten“, schlug Leo vor.
Cilia entschied sich dagegen. „Ich werde mitkommen, es ist unheimlich so ganz allein.“
„Das kann ich gut verstehen“, sagte Nora. „Und danke, dass ihr bereit seid, uns zu helfen. Das Frühstück war das beste aller Zeiten.“
„Kein Problem, jeder kann mal in eine Notlage geraten“, erwiderte Leo. „Ich wäre auch dankbar, wenn mir jemand in einer brenzligen Situation zur Seite stehen würde.“
Nora konnte es kaum erwarten, und nachdem sie die Tasse geleert hatte, sprang sie auf, um ihre Sachen zusammenzupacken. Sie schaute sogar unter den Betten nach, um sicher zu gehen, dass nichts aus den Rucksäcken herausgefallen war.
„Immer langsam, wir wollen nicht unhöflich erscheinen“, sagte Kian.
„Tut mir leid, aber ich habe immer den Gedanken im Hinterkopf, dass sie es sich anders überlegen könnten.“
„Leo ist freundlich und zuvorkommend, er wird sein Wort halten.“ Kian legte die Hand an ihre Wange. „Ich kann dich verstehen, dieses Hotel ist der Horror. Aber wir müssen uns auch nach Leo und Cilia richten.“
„Ich weiß“, erwiderte sie matt und schaute aus dem Fenster. Normalerweise freute sie sich immer wie ein kleines Kind über den ersten Schnee. Aber diesmal jagte ihr der Anblick der mit Puderzucker bestäubten Landschaft einen Schauer über den Rücken.
Kian trat an sie heran und legte seine warmen Hände auf ihre Schultern. Sie war froh, ihn an ihrer Seite zu haben, in guten wie in schlechten Zeiten.
„Ich bin mir sicher, dass wir gleich aufbrechen werden. Hab noch ein wenig Geduld.“
Nur wenige Minuten später hatten sie ihre Rucksäcke geschultert und liefen hinter Leo und Cilia die Treppe hinunter. Auch bei Tageslicht verströmte das Hotel eine gespenstische Atmosphäre und Nora zog fröstelnd die Schultern hoch. Diese Bewegung war ihr bereits in Fleisch und Blut übergegangen. Der Kellergang wirkte noch unheimlicher als gestern, und sie hoffte, diesen Teil Jämtlands nie wieder sehen zu müssen.
Eisige Kälte schlug ihnen entgegen. Noch vor ein paar Tagen hatte Nora in einem luftigen Shirt im Garten die Sträucher zurückgeschnitten und jetzt war alles weiß. Das einzige Schöne war die friedliche Stille, in der die Umgebung versank.
Leo drehte sich zu ihnen um. „Ich habe den Wagen ungefähr einen halben Kilometer von hier entfernt abgestellt.“
„Kein Problem, auch wenn wir es kaum erwarten können“, erwiderte Kian.
Es dauerte nicht lange, bis die feuchte Kälte des Schnees in Noras Schuhe drang. Sie spielte mit den Zehen, um sie warmzuhalten, was leider nichts nützte. Der Rucksack drückte schwer auf ihre Schultern und auch der Schlafmangel machte sich bemerkbar. Obwohl sie gerade etwas gegessen hatte, knurrte ihr Magen. Das kleine Wesen in ihr wollte wachsen und sie legte unbewusst die Hand auf ihren Bauch.
„Alles in Ordnung?“, fragte Kian leise.
Er war stehengeblieben und sein prüfender Blick streifte sie.
„Kaum zu glauben, aber ich habe schon wieder Hunger“, sagte sie. „Sobald wir das Problem mit unserem Wagen behoben haben, machen wir irgendwo Halt und schlagen uns die Bäuche voll.“
„Unbedingt.“ Er nickte ihr zu. „Ich habe schon befürchtet, dass es dir nicht gut gehen könnte.“
„Nein, nein, alles okay.“
Es reichte schon, dass sie sich Sorgen machte. Sie würde Kian von der Schwangerschaft erzählen, sobald sie am Abend gemütlich auf der Couch zusammensaßen. Sie wollte auf gar keinen Fall länger warten.
Voller Enthusiasmus stapfte sie durch den Schnee, der leise unter ihren Sohlen knirschte. Hin und wieder rieselte die weiße Pracht von den Bäumen, das einzige Geräusch, wenn man von ihren Schritten einmal absah. Als nach einigen Minuten das Fahrzeug vor ihnen auftauchte, hätte Nora am liebsten einen Jubelschrei ausgestoßen.
Leo entriegelte die Autotüren, nahm Nora den Rucksack von den Schultern und verstaute ihn in den Kofferraum. Anschließend stiegen sie ein.
„Ich bin euch so dankbar“, sagte Nora. „Vielleicht ergibt sich irgendwann die Gelegenheit, dass Kian und ich uns dafür revanchieren.“
„Ach was, nicht der Rede wert“, erwiderte Leo und startete den Motor, der genauso schnell wieder erstarb. Er wiederholte den Vorgang mehrmals, aber der Motor gab keinen Mucks mehr von sich. Mit gerunzelter Stirn stieg Leo aus und öffnete die Motorhaube. „Auf den ersten Blick ist alles in Ordnung und genügend Benzin im Tank. Ich habe keine Ahnung, woran das liegen könnte.“
Oh nein, bitte nicht, flehte Nora im Stillen. Beunruhigt beobachtete sie, wie Leo den Motorblock untersuchte und Kian ausstieg, um ihm zu helfen. Die beiden jungen Männer fachsimpelten eine Weile, woran das Problem liegen könnte. Dann startete Leo einen weiteren Versuch, der ins Leere lief. Er fluchte und schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad.
„Verdammt, das gibt es doch nicht. Gestern hat der Wagen doch noch einwandfrei funktioniert.“
Diesmal stieg Cilia gemeinsam mit Leo und Kian aus und Nora blieb allein zurück. Sie wollte nicht hinaus in die Kälte, wollte das sichere Fahrzeug nicht verlassen. Sie hatte all ihre Hoffnungen daraufgesetzt und fragte sich, ob dieser Albtraum denn niemals enden würde.
Leo konnte sich absolut nicht erklären, warum der sonst so treue Offroader plötzlich seinen Dienst versagte. Schon gestern hatte er geahnt, dass irgendetwas nicht stimmen konnte. Anfangs hatte er gedacht, dass Nora und Kian zu naiv waren, um vernünftig zu planen. Aber über Nacht waren ihm erste Zweifel gekommen. Solange er nicht wusste, warum sie tatsächlich gestrandet waren, würde sich das auch nicht ändern. Das war auch der Grund gewesen, warum er eingewilligt hatte, sie nach Osvallen zu fahren. Er wollte sie loswerden.
„Woran liegt es?“, fragte Cilia.
„Ich habe nicht die geringste Ahnung“, erwiderte er. „Der Wagen hat mich noch nie im Stich gelassen, ich bin noch kein einziges Mal liegengeblieben.“
„Und was schlägst du vor?“
„Ich hoffe, dass ich ihn mit Kians Hilfe wieder startklar machen kann.“ Er beugte sich wieder über den Motor, um noch einmal die Verbindungen der Kabel zu überprüfen. Aber alles schien intakt zu sein. „Und, was meinst du?“, fragte er Kian.
„Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum dein Wagen nicht mehr anspringt, und wir sollten jemanden anrufen, der sich damit auskennt. Wenn wir uns in Richtung Straße bewegen, dürften wir auch wieder Empfang haben.“
„Wäre es nicht besser, wenn Cilia und Nora wieder zum Hotel zurücklaufen würden?“
Kian schüttelte den Kopf. „Ich habe kein gutes Gefühl dabei.“
„Wir können schon auf uns aufpassen“, sagte Cilia.
„Ich weiß nicht so recht“, entgegnete Kian. „Schon gestern war Nora überzeugt davon, im Hotel nicht allein zu sein.“
„Dann sollen sie halt hierbleiben.“
Leo war von dem ganzen Hin und Her genervt. Er öffnete die Heckklappe und wühlte in seinem Rucksack nach dem Handy. Natürlich wusste er ganz genau, dass er es vorhin in die Seitentasche gesteckt hatte. Aber es war nicht mehr da.
„Also irgendetwas ist hier faul“, rief er. „Wer von euch ist an meinem Rucksack gewesen?“ Wütend ließ er seinen Blick von einem zum anderen schweifen.
Cilia hob beschwichtigend die Hände. „Niemand war am Kofferraum, wir haben alle brav im Wagen gesessen.“
„Ich kann es aber nicht finden“, beharrte er.
„Sieh nochmal genauer nach“, sagte Kian.
„Gut, wie ihr wollt.“ Er schüttete den Inhalt des Rucksacks auf den Fahrersitz. „Und? Könnt ihr es sehen?“
„Vielleicht hast du es vergessen oder verloren“, sagte Cilia.
„Niemals. Ich habe es vorhin in die Seitentasche gesteckt, das weiß ich ganz genau.“
„Kein Grund zur Aufregung, Nora und ich haben unsere Handys dabei.“ Kian lief nach hinten, schnappte sich seinen Rucksack und hielt sein Smartphone in die Höhe. „Wir werden von hier wegkommen, keine Sorge.“
Leo beobachtete ihn, wie er nervös aufs Display starrte.
„Meine SIM-Karte ist weg.“
„Wie weg?“ Leo zog fragend die Brauen zusammen.
„Mein Handy ist praktisch tot, ich kann nicht einmal den Notruf wählen.“
Nora hatte das Gespräch im Inneren des Fahrzeuges verfolgt. Jetzt öffnete sie hastig die Tür und lief zum Heck, um ebenfalls in ihrem Rucksack zu wühlen.
„Mein Handy ist weg“, murmelte sie und schwankte. Kian war sofort bei ihr, um sie zu stützen.
„Ich will den Teufel ja nicht an die Wand malen, aber seit ihr aufgetaucht seid, läuft alles schief.“ Leo machte einen Schritt auf die beiden zu. „Ich habe schon gestern das Gefühl gehabt, dass ihr uns etwas verschweigt.“
Kian tauschte mit Nora einen Blick, die immer noch fassungslos war, aber kaum merklich nickte. Er zog einen Flyer aus der Jackentasche und drückte ihm diesen in die Hand. „Wir haben in diesem Hotel einen Urlaub gebucht.“
Leo warf einen Blick auf den buntbedruckten Flyer und wusste im ersten Moment nicht, ob er laut lachen sollte, so verrückt war das Ganze.
„Ihr habt euch verarschen lassen?“
„Nenne es doch, wie du willst“, antwortete Kian.
Nora zupfte ihn an seinem Ärmel. „Ich will hier weg, sofort.“
„Das wollen wir inzwischen alle“, sagte Leo. „Warum habt ihr das Hotel nicht überprüft?“
„Das haben wir. Aber wegen der vielen Bäume war auf dem Satellitenbild kaum etwas zu erkennen.“
„Ihr hättet doch nur vorher tanken müssen, dann wärt ihr nicht liegengeblieben.“
„Das haben wir“, erwiderte Kian verärgert. „Willst du auch noch den Beleg sehen?“
Nora packte ihre Sachen wieder zusammen und schulterte den Rucksack. „Ich werde jetzt gehen“, sagte sie mit fester Stimme.
„Ich komme mit.“ Auch Kian schnappte sich seinen Rucksack. „Sobald wir in Osvallen angekommen sind, werden wir jemanden schicken.“
„Ganz hervorragend“, rief Leo aufgebracht. „Erst sollen wir euch fahren und wenn das nicht funktioniert, macht ihr euch aus dem Staub.“
„Wir wollen Hilfe holen, solange es noch hell ist. Diese eine Nacht im Hotel hat uns gereicht, wir stehen nicht auf diesen morbiden Charme.“
Genau in diesem Moment begann es wieder zu schneien.
„Na dann, viel Glück und vergesst uns nicht“, sagte Leo.
„Ihr habt uns geholfen und wir werden euch nicht im Stich lassen“, versprach Nora.
Kian hob zum Abschied kurz die Hand und folgte ihr. Mit gemischten Gefühlen schaute Leo ihnen hinterher, bis er sich wieder Cilia zuwandte.
„Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass es besser wäre, mich ihnen anzuschließen?“
„Keine Ahnung. Weil sich unser gesamtes Equipment noch im Hotel befindet?“
„Was hältst du für das Beste?“
„Abwarten“, antwortete sie.
„Also gehen wir zurück?“
„Wenn wir nicht ewig hier herumstehen wollen, dann schon.“ Sie schüttelte den Schnee aus ihren Haaren und setzte die Kapuze auf. „Ich bin mir sicher, dass sie jemanden schicken. Und bis dahin machen wir das Beste daraus.“
„Na gut, auf geht’s.“
Sie stapften durch den Schnee zurück zum Hotel, während er in Gedanken noch einmal durchspielte, was passiert war. Hatten Kian und Nora sie zum Narren gehalten? Er hatte zeitweise tief und fest geschlafen und konnte nicht mit Gewissheit sagen, ob die Beiden den Offroader manipuliert und sein Smartphone gestohlen hatten.
Allerdings hatte Noras Verzweiflung echt gewirkt. Entweder war sie eine perfekte Schauspielerin oder sehr zartbesaitet.
„Nimm es locker und denk nicht so viel darüber nach.“ Cilia lächelte ihn an und er hatte das Gefühl, sie schon ewig zu kennen. „Wir werden jetzt das Hotel erkunden und morgen zeitig aufbrechen, falls die zwei nicht Wort gehalten haben.“
„Ich beneide dich um deinen Optimismus“, antwortete er. „Aber du hast recht, wir können die Ausrüstung nicht unbeaufsichtigt zurücklassen.“
„Na siehst du.“ Sie rieb die kalten Handflächen aneinander, um sie aufzuwärmen.
Der Wald lichtete sich und sie liefen an den heruntergekommenen Ferienhäusern vorbei in Richtung Hotel. Direkt vor dem Eingangsportal stand eine Frau, eingehüllt in einen dunkeln Mantel, dessen Schöße im Wind flatterten. Sie wirkte ein wenig verloren, während sie nach oben schaute und die Fassade betrachtete.
„Hallo“, rief Leo und winkte ihr zu. Erst jetzt bemerkte er den Koffer, der neben ihr stand. Anscheinend hatten Nora und Kian die Wahrheit gesagt, denn der fassungslose Gesichtsausdruck der Fremden sprach Bände.
„Hallo“, erwiderte sie knapp.
„Willst du auch das Hotel erkunden?“, fragte Cilia.
„Erkunden?“, fragte sie irritiert.
„Leo und ich, wir haben ein Faible für Lost Places.“
„Nein, ich habe eine Reise gewonnen.“
Sie holte ein Prospekt aus der Manteltasche und reichte es an Cilia weiter. Leo riss es ihr sofort aus der Hand.
„Der gleiche Prospekt, den uns auch Nora und Kian gezeigt haben. Wenn das nicht ein merkwürdiger Zufall ist, was dann? Was hast du für diese Reise bezahlt?“
„Keinen einzigen Cent.“
„Das verstehe ich nicht. Kian und Nora haben behauptet, dass sie abgezockt wurden.“
Die Fremde zuckte mit den Schultern. „Ich kenne die beiden nicht.“
„Hast du an einem Gewinnspiel teilgenommen?“ Leo beschlich ein ungutes Gefühl. Nie hatte er an einem verlassenen Ort so viele verschiedene Personen getroffen.
„Eigentlich nicht. Ich habe eine Mail erhalten, in der behauptet wurde, dass ich eine Reise gewonnen habe. Erst wollte ich es nicht glauben. Fast jeder kennt diese Art der Lockangebote, bei denen man anschließend eine Menge Kronen dazuzahlen muss.“
„Und warum hast du die Reise dann doch angenommen?“, fragte Leo.
„Weil sie komplett kostenlos war.“
„Dann kann ich verstehen, dass du zugegriffen hast“, sagte Leo. „Sag mal, hast du ein funktionierendes Handy dabei?“