Die geheimen Reisen des Jack London - Christopher Golden - E-Book

Die geheimen Reisen des Jack London E-Book

Christopher Golden

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Beschreibung

1897. Auf der Suche nach Gold und Abenteuer reist der junge Jack London in den hohen Norden, in den Yukon, wo Gold in den Flüssen entdeckt wurde. Dort muss Jack feststellen, dass das Gold nicht auf der Straße liegt, und viele Menschen enttäuscht und gebrochen heimkehren - oder einfach elend verenden, mutlos und geschlagen. Aber Jack nimmt seinen ganzen Mut und Grips zusammen, um sich den Herausforderungen des Yukons zu stellen. Er trotzt den Gefahren des Winters und der Wildnis und einer noch größeren Gefahr: Grausame, gewissenlose Männer, die fern von Recht und Ordnung nur ein Gesetz kennen: das Gesetz des Stärkeren. Und dann muss Jack feststellen, dass die finsteren und schaurigen Legenden des hohen Nordens keine Märchen sind. Er begegnet dem entsetzlichen, unvorstellbar Bösen. Es wird ein Kampf auf Leben und Tod ...

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Seitenzahl: 381

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CHRISTOPHER GOLDEN & TIMM LEBBON

Aus dem Englischenvon Collin McMahon

Lübbe Digital

Vollständige E-Book Ausgabe

des in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG erschienenen Werkes

Lübbe Digital in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG

Titel der englischsprachigen Originalausgabe:»The Secret Journeys of Jack London: Book 1: The Wild«

Die englischsprachige Originalausgabe erschien bei:

HarperCollins Children´s Books,

Imprint of HarperCollinsPublishers, New York, U.S.A.

www.harpercollinschildrens.com

Für die Originalausgabe:

Text Copyright © 2011 by Christopher Golden & Tim Lebbon

Illustrations Copyright © by Greg Ruth. All rights reserved.

Published in arrangement with the author, c/o BAROR INTERNATIONAL, INC. Armonk, New York, U.S.A.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2011 by Baumhaus Verlag in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln

Text- und Bildredaktion: Gerold Anrich/Martina Instinsky-Anrich

Umschlaggestaltung: Sarah Hoy unter Verwendung

einer Illustration von Greg Ruth

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-8387-1158-4

Sie finden uns im Internet unter

www.luebbe.de

www.baumhaus-verlag.de

Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de

INHALT

Kapitel 1 · In die Wildnis

Kapitel 2 · Todesmarsch

Kapitel 3 · Die Yukonschönheit

Kapitel 4 · Das wird sein Tod

Kapitel 5 · Erwachen

Kapitel 6 · Stadt der Hoffnung und der Gier

Kapitel 7 · Nur die Wildnis

Kapitel 8 · Das Festmahl

Kapitel 9 · Der Schönheit in die Hände

Kapitel 10 · Die Macht des alten Waldes

Kapitel 11 · Die Sprache des Landes

Kapitel 12 · Der Friedhof der Lebenden

Kapitel 13 · Zurück an den Tatort

Kapitel 14 · Der Geist der Gewalt

Kapitel 15 · Rückkehr aus der Wildnis

Kapitel 16 · Gebrochene Kreise

Kapitel 17 · Der Ruf der Wildnis

Für unsere Kinder Nicholas, Daniel,Ellie, Lily und Daniel.Leben ist ein wildes Abenteuer.Hör seinen Ruf. Hab keine Angst.

»Der Mensch muss leben,nicht nur überleben.«

Jack London

Ich konnte noch nie gut schreiben. Aber für eine spannende Geschichte bin ich immer zu haben. Das habe ich Jack London zu verdanken. Er hat mir gezeigt, dass es bei Geschichten um Herz und Seele geht, nicht um Rechtschreibung und Wortschatz. Und er hatte Herz und Seele für zwei.

Jack hat mir viele Male das Leben gerettet. Einmal wirklich handgreiflich, als er zwei fiese Typen vertrieben hat, die mich entführen und versklaven wollten. Und dann bei anderen Gelegenheiten über die Jahre hinweg immer mal wieder, wobei er meistens gar nicht anwesend war. Es reichte der Gedanke an Jack. Der Gedanke an seinen Mut, seine Weltsicht, seine Philosophie, dass wir nicht bloß vor uns hin existieren sollen, sondern das Leben bis zum Anschlag leben sollen. Seine Überzeugung, dass es mehr zu entdecken gibt, als man in einem Leben schafft. Manches Sagenhafte, manches Schreckliche. Jack hat beides gesehen.

Wegen ihm bin ich Entdecker geworden, sowohl geistig als auch körperlich. Und ich bilde mir gerne ein, dass ich ihm auf meine bescheidene Weise bei seinen Abenteuern geholfen habe.

Wir wissen alle, was später aus ihm geworden ist: Einer der größten Schriftsteller Amerikas, der wie kein zweiter eine Geschichte schreiben und ihr eine Kraft verleihen konnte, die beinahe … übernatürlich schien. Viele dachten, er schriebe über das Leben, das er selbst gelebt hatte. Doch ich wusste die Wahrheit, denn mir hatte er sie anvertraut: Niemals konnte er niederschreiben, was ihm selber widerfahren war. Es war zu privat, zu persönlich. Und zu grauenhaft. Er hat Dinge gesehen, die nicht für andere Menschen bestimmt waren. Aber mir hat er nie verboten, darüber zu schreiben.

Jack starb viel zu jung. Doch in seinem kurzen Leben hat er soviel erlebt, wie viele Männer zusammen. Und er starb mit dem Wissen, dass es in dieser Welt mehr gibt, als wir verstehen können oder sollen.

Das ist mit ein Grund, warum ich dies hier alles nun endlich aufschreibe. Ich bin jetzt ein alter Mann. Wem wird die Wahrheit jetzt noch schaden? Wird sie überhaupt jemand glauben? In diesen modernen, hochtechnologischen Zeiten, in denen das Wunderliche gar nicht so wunderlich erscheint und die Wildnis gar nicht so wild ist, denke ich, müssen diese Geschichten Gehör finden, so entsetzlich sie auch sein mögen.

Sie sind eine Warnung, auf die wir hören sollten.

Hier also nun die wahre Geschichte von Jack London.

Seine geheimen Abenteuer.

San Francisco

Juni 1962

KAPITEL 1IN DIE WILDNIS

Jack London stand auf dem Deck der Umatilla und blickte auf den Hafen von San Francisco zurück. Er fragte sich, wann er seine Heimatstadt wiedersehen würde. Er war mit Fernweh im Herzen geboren worden, suchte das Abenteuer und hatte keine Angst vor den Gefahren von Reisen ins Ungewisse. Sobald die Umatilla die Bucht von San Francisco verließ, wäre er unterwegs in den Yukon, fernab der Zivilisation im eiskalten Norden, wo angeblich riesige Mengen Gold entdeckt worden waren und jeder zum Krösus werden konnte.

Doch es war nicht nur das Gold, was Jack in den Yukon lockte. Wenn man ihn vor die Wahl gestellt hätte, wäre er auch nur wegen der Reise selbst gefahren und hätte allein wegen des Abenteuers alles riskiert. Er hatte in seinem abenteuerlustigen Herzen die fixe Idee entwickelt, dass die Wildnis des Nordens auf ihn wartete.

Jetzt lehnte er an der Reling der Umatilla und atmete die Gerüche ein, sah sich das Panorama an und lauschte dem Trubel und dem Chaos um sich herum. Noch nie zuvor hatte er so eine bunte Menschenmischung gesehen. Menschen jeder Herkunft, Rasse und jeden Glaubens waren an Bord. Obwohl der Geruch des Meeres so stark war, konnte man doch ein Dutzend weiterer Düfte ausmachen. Am Steg verkaufte man geröstete Nüsse. Direkt neben Jack stank jemand nach billigem Fusel. Manche rochen nach Gewürzen, Rauch oder Essen, andere hatten dringend ein Bad nötig. Jack war Landstreicher gewesen, Austernpirat und Häftling und hatte Freunde gehabt, die seit Ewigkeiten nicht gebadet hatten. Aber der Gedanke, wie es unter Deck riechen würde, bis sie in Alaska waren, ließ ihn erschaudern.

Man munkelte, der Dampfer hätte doppelt soviel Passagiere an Bord, wie zugelassen waren, und das glaubte man sofort. Jack und Shepard, sein älterer, kränklicher Schwager, hatten ihre Ausrüstung eigenhändig im Frachtraum verstaut und mussten sich dazu durch eine Menge von Goldgräbern, Seeleuten und einfachen Tagelöhnern, aber auch von Söhnen aus reichem Haus zwängen, die ihr Glück selbst suchen wollten.

Nun nahmen sie an der Reling Abschied von San Francisco.

»Kein Grund zur Wehmut«, fand Shepard. »Die Stadt wird immer noch da sein, wenn wir wiederkommen, genauso wie jetzt.« Er sah Jack aus dem Augenwinkel an, und seine sonst funkelnden Augen schienen matt und leer. »Meinst du, wir haben uns verändert?«

Jack dachte an die Entbehrungen, die sie auf sich nehmen müssten. Er hatte schon siebzehn ereignisreiche Jahre gelebt. Für ihn war die Zukunft übervoll mit Möglichkeiten, die ihn mit einer Stimme riefen wie der Wind in der Wüste oder das Echo des Waldes zwischen weiß bedeckten Bäumen nach einem schweren Schneesturm. Diese Stimme nannte er den Ruf der Wildnis, und sie ließ Jacks Herz wie nichts anderes höher schlagen.

»Wir werden uns verändern, John, aber nur zum Guten«, erwiderte er schließlich. »Abenteuer lassen den Menschen wachsen.« Die andere Möglichkeit erwähnte er lieber nicht: Man kann bei Abenteuern auch zugrunde gehen. Doch Shepards Blick sagte ihm, dass dieser sehr wohl die brutale Wahrheit kannte.

John Shepard war ein großer Mann, den die Krankheit klein gemacht hatte. In seinen Augen leuchtete noch der Elan der Jugend, doch sein Körper war von den grausamen Spuren der Zeit gezeichnet, die ihre Furchen und Narben hinterlassen hatten. Nun wehrte er sich gegen diesen letzten großen Frontalangriff auf seine Gesundheit. Sein Herz wurde zwar schwächer, doch sein Verstand blieb so scharf wie immer. Jack hatte Shepard mit seinen grauen Haaren und grauen Augen immer gemocht. Er war zwar um einiges älter als Jacks Schwester Eliza, aber er schien sie glücklich zu machen. Und dass Eliza glücklich war, war Jack wichtiger als alles andere auf der Welt.

Obwohl Jack wusste, was für ein Risiko diese Reise für Shepard bedeutete – und Eliza es ebenfalls wusste –, hatte der ältere Mann schließlich alles finanziert. Es widerstrebte Jack, sein Abenteuer mit dem Makel des schnöden Geldes zu belasten, doch das war die einfache Tatsache. Zudem wirkte Shepard seit Reiseantritt wacher und lebendiger, wie schon lange nicht mehr. Das konnte nur gut für sie beide sein.

Endlich legten sie ab und winkten wie wild den Zuschauern am Pier zu. Jack war noch nie so aufgeregt gewesen. Vor ihnen lagen tausendsechshundert Meilen offene See, Wildflüsse, schneebedeckte Berggipfel, gefährliche Passstraßen und eine der unwirtlichsten Landschaften der Erde.

Es sollte das größte Abenteuer seines Lebens werden. Um Großes zu erreichen, muss man manchmal große Anstrengungen auf sich nehmen.

Die Fahrt dauerte acht Tage. Trotz der Überfüllung an Bord der Umatilla verging die Zeit schnell. Jack behielt Shepard im Auge und freute sich, dass sein Schwager während der Reise nichts an Entschlossenheit verloren hatte.

Als sie aufs Festland von Alaska mit seiner atemberaubenden Landschaft zusegelten und Dyea erreichten, schien Shepard vor neuem Eifer aufzublühen anstatt von der Reise mitgenommen zu sein. Sein Herz pumpte das Blut vielleicht nicht mehr so kräftig wie früher durch die Adern, doch es war immer noch stark.

Während das Schiff in die Bucht fuhr, versuchten Jack und John an der Reling einen guten Platz zu bekommen. Einer der Gründe, warum Jack mit der Umatilla so zufrieden gewesen war, war die Tatsache, dass sie in Dyea an Land konnten, denn die Umatilla hatte weniger Tiefgang als die meisten Schiffe, die in Skagway anlegen mussten, am Zugang zum White Pass, der noch tückischer und zeitaufwendiger war als die ohnehin schon gefährliche Route, die Jack ausgesucht hatte.

»Wo ist der Pier?«, wunderte sich Shepard. Er hustete sich in die Faust und spuckte einen Schleimbatzen über Bord.

Die meisten Jungs in seinem Alter schlugen für Gewöhnlich die Warnungen der Älteren in den Wind, und Jack war da keine Ausnahme. Doch was diese Reise – und das Gold – anging, benahm Shepard sich viel mehr wie ein aufgedrehter Junge als Jack selber. Und so runzelte Jack die Stirn, als er diesen misstrauischen Ton in Shepards Stimme hörte, und sah sich die Küste genauer an.

Die Mannschaft begann, ohne dass ein Dock in Sicht war, vor Anker zu gehen. Von hier konnte Jack den Strand sehen und den Kaminrauch der Stadt dahinter aufsteigen, doch nirgends eine Anlegestelle. Schon bewegte sich eine kleine Flotte aus kleinen Booten der Einheimischen aufs Schiff zu, die alle darauf erpicht waren, gegen Bezahlung beim Abladen zu helfen.

»Verzeihen Sie«, sprach Jack einen mürrischen Matrosen an – einen bleichen, mageren Kerl, etwa 30 –, der sich vorbeidrängeln wollte, obwohl Jack ihn aufhielt. »Wo ist der Pier?«

Der Mann riss seinen Arm aus Jacks Griff. »In Dyea gibt’s kein Pier, Junge. Ihr landet am Strand an.«

Shepard räusperte sich und klang wie ein zorniger Bär, während er den Mann am Handgelenk packte. »Moment mal. Das ist doch völliger Wahnsinn! Es wird doch Stunden dauern, um die ganze Fracht aus dem Laderaum zu holen, zu sortieren und vom Strand wegzubringen. Bis dahin ist schon längst die Flut da!«

Die Augen des Matrosen blitzten bedrohlich auf, und er sah auf Shepards Hand hinab, die ihn festhielt.

»John …?«, setzte Jack an und blickte sich um, ob ihnen noch jemand bedrohlich werden könnte. Mit einer Hand griff er sich an den Rücken, wo er ein kleines Messer in einer Scheide am Gürtel versteckt hatte.

Shepard löste den Griff, aber ließ sich nicht abwimmeln.

Der Matrose grinste. »Wenn ihr euch Sorgen wegen der Flut macht, dann würde ich mich mal beeilen.«

Und damit eilte er durch die Menge davon. Viele der Passagiere schienen von diesem kleinen Detail gewusst zu haben, andere erfuhren es erst jetzt, und ein Chor von Beschwerden erhob sich auf Deck, aber jetzt konnte man nichts mehr daran ändern. Sie waren schon zu weit gekommen und hatten zu viel Geld ausgegeben, um jetzt kehrtzumachen. Wenn Jack schon die Reisevorbereitungen überstürzt gefunden hatte, so war das alles nichts gegen das völlige Chaos, das ausbrach, als die über vierhundert Passagiere an Bord der Umatilla gleichzeitig versuchten, ihre Ausrüstung und ihren Proviant an den Strand und von dort ans höher gelegene Ufer zu bringen. Die Möchtegern-Goldgräber, die in der Presse die »Landstürmer« getauft worden waren, fluchten und stritten um die Plätze an Bord der vielen kleinen Boote, die die Menschen und ihr Gepäck an Land brachten.

Viele der Männer und Frauen an Bord waren offenbar schon während der Fahrt lustlos und apathisch geworden, andere schienen sich ihr Vorhaben jetzt erst anders zu überlegen. Jack hingegen hätte am liebsten vor Freude laut losgesungen, als er und Shepard endlich in einem kleinen Ruderboot saßen und ihr Gepäck mit ihren allernötigsten Sachen festhielten. Obwohl es erst Anfang August war, wurde es hier oben schon kühl, doch die Aufregung des Abenteuers wärmte Jack innerlich.

Während der letzten Tage in San Francisco hatte Jack mit Shepards Geld Ausrüstung und Proviant gekauft. Wetterfeste Kleidung war ein Muss: dicke Fäustlinge, Mützen, Pelzmäntel und –hosen, warme Unterhosen, Stiefel mit griffiger Sohle und Riemen, um sie oben gegen Wasser und Schnee abzudichten. Er kaufte Werkzeug, mit dem sie Bäume fällen sowie Boote und Blockhütten bauen konnten, Dosenproviant für ein Jahr – getrocknet, eingemacht oder eingelegt. Die Campingausrüstung war überlebenswichtig, und Jack hatte genug Geld, um von allem zwei zu kaufen. Zelte, Decken, Spaten, Bodenplanen, und die wichtigen Klondike-Öfen, tragbare Schwedenöfen, die sie beim Kampieren wärmen, ihr Essen kochen und Licht spenden würden.

Außerdem hatte er seine Bücher dabei, die ihm alles bedeuteten. Ohne zumindest ein Buch von Hermann Melville verreiste Jack nicht, und diesmal hatte er Moby Dick im Gepäck dabei.

Er atmete die Luft Alaskas ein und schnupperte dabei den Duft der Wildnis. Nach acht Tagen an Bord der Umatilla war er bereit, es mit dem Chilkoot-Pass aufzunehmen. Sämtliche Vorbereitungen hier in Dyea würden ihn nur noch unruhiger machen, endlich loszukommen. Hätte er noch am selben Tag losziehen können, wenn er alles Gepäck zurückließ, hätte er es ohne Zögern getan. Denn er war ins Nordland gereist, um alles zu wagen und sich von keinem Hindernis aufhalten zu lassen, aber nur ein Narr nahm unnötige Risiken auf sich.

Lieber vorsichtig und klug bleiben. Zu viel hing von dieser Expedition ab. Ein Lächeln machte sich auf seinen Lippen breit, als das Ruderboot den Strand von Dyea erreichte. Jack machte zwei Schritte – an das Schaukeln der Wellen hatte er sich schon längst gewöhnt –, dann stand er zum ersten Mal nach einer Woche wieder auf dem Festland. Er drehte sich um und sah Shepard aus dem Boot steigen. Er wollte seinem Schwager schon seine Hand reichen, doch dann machte er sich klar, dass der sie niemals annehmen würde. Es wäre ein Zeichen von Schwäche gewesen. Sobald er die Füße auf festem Boden hatte, warf Shepard den Kopf zurück und holte tief Luft. Jack erwartete schon einen seiner kehligen Hustenanfälle, doch der blieb aus. Ein gutes Zeichen. Shepard blickte zu dem Kaminrauch der Stadt und nickte, als würde er sich selbst etwas bestätigen.

»An die Arbeit, Junge«, sagte Shepard.

Junge. Da war wieder dieses verhasste Wort. Doch heute protestierte Jack nicht dagegen. Vielleicht war es nur als Kosename gemeint, oder wollte der alte Soldat sich und den jungen Stiefbruder seiner Frau daran erinnern, wer hier das Sagen hatte? Egal. Jack würde sich vom eisigen Norden nicht kleinkriegen lassen, und noch weniger würde er sich durch ein einziges Wort aus der Ruhe bringen lassen, trotz seines oft hitzigen Temperaments.

Also machten sie sich an die Arbeit.

Mit Jack als Aufpasser und Vorarbeiter und Shepard als Zahlmeister hatten sie schnell eine Truppe hilfsbereiter Einheimischer zusammengestellt. Ihre Ausrüstung traf nach und nach in Kisten und Bündeln am Strand ein, und die geschäftstüchtigen Indianer trugen sie weiter den Strand hinauf und stapelten sie ordentlich an einer Stelle, die Jack ausgesucht hatte. Da sie keinem vertrauen konnten, blieb Jack am Strand bei den Sachen, während Shepard das Abladen überwachte.

An diesem Nachmittag kam die Flut sehr schnell herein, drei Kisten wurden in der nahenden Brandung nass. Jack feuerte die Männer an, schneller zu arbeiten, sonst würden sie keinen Cent bezahlt bekommen. Die letzte Kiste schleppte er selber mehrere Meter den Strand herauf, um sie vor dem Wasser in Sicherheit zu bringen.

Sie waren erst halb fertig, als der Preis angehoben wurde. Bei Ebbe verlangten die Indianer 20 Dollar die Stunde – was schon ein astronomisch hoher Preis war – doch als die Wellen stiegen und die Flut näherkam, verlangten sie plötzlich 50 Dollar die Stunde.

»Bei dem Preis können sie doch gleich eine Knarre auf uns richten!«, ärgerte sich Jack entrüstet, während die Männer davoneilten, um sich am nächsten verzweifelten Passagier zu bereichern.

Shepard schien ihn kaum gehört zu haben. Der Mann hatte ein Lächeln im Gesicht, das Jack noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte, nicht einmal bei seinen zärtlichen Momenten mit Eliza.

»Ich hab einen Burschen beauftragt, uns ein Zimmer für die Nacht zu suchen«, sagte Shepard. »Wir brechen mit der Morgendämmerung auf.«

Er bemerkte, wie Jack ihn musterte.

»Was glotzt du denn so?«, wollte Shepard wissen.

»Du siehst gut aus«, staunte Jack. »Bereit für das Abenteuer?«

Shepard schien sich die Frage einen Moment lang durch den Kopf gehen zu lassen. Jack hatte eine lockere Antwort erwartet, einen Moment der Entspannung, ehe sie einen weiteren Trupp Indianerträger engagierten, um das Gepäck in die Stadt zu bringen. Doch sein Schwager wirkte irgendwie besorgt.

»Ich bin 61, Junge, und der Herrgott hat mir ein schwaches Herz gegeben.« Shepard blickte auf die Bündel und Kisten, die sich am Strand stapelten. »Nachts träume ich vom Gold. Es ist vielleicht das Einzige, das mich noch am Leben hält.«

Jack nickte. »Also gut, dann werden wir mal welches finden.«

Nachdem sie eingeborene Träger engagiert hatten, um ihre Ausrüstung und den Proviant zum Hotel zu tragen – und sie fürstlich entlohnt hatten –, schulterten Jack und Shepard ihre Rucksäcke und marschierten vom steinigen Strand ins Zentrum von Dyea. Wobei der Begriff »Zentrum« wohl nicht ganz zutraf, denn Dyea bestand nur aus einer einzigen Hauptstraße und einigen Randbebauungen. Es war eher eine Siedlung, weit davon entfernt, eine richtige Stadt zu sein. Bei der Ankunft vom Meer aus hatte Jack einen merkwürdigen Moment der Orientierungslosigkeit gehabt, als ob sie sich nicht in Alaska befanden, sondern in Deadwood, als der kalifornische Goldrausch noch im vollen Schwung war.

Als die Umatilla vor Anker gegangen war, war der Himmel von einem glasklaren Blau gewesen, doch an der Küste schien permanent ein leichter Nebel über Dyea zu hängen. Dazu kamen die Rauchschwaden aus den Kaminen der Siedlung und ergaben einen grauen Schleier, der den Blick ostwärts eintrübte. Man konnte die Umrisse eisiger Erhebungen in der Ferne erkennen, doch während sie die Main Street hinaufgingen, galt ihre Aufmerksamkeit erst mal der Umgebung um sie herum.

Zu ihrer Rechten lag eine Reihe fast identischer, scheunenartiger Gebäude. Jedes hatte direkt unterm Giebel ein kleines Fenster und darunter einen Ladeneingang. Jack betrachtete die Schilder – Yukon Handelsposten, US-Postamt, Coughlin Landry Eisenwaren, Holländer-Bill’s Saloon.

Die linke Straßenseite kam ihnen schon eher bekannt vor: ein alleinstehendes Gebäude mit bunt bemalter Fassade und einem Schild, auf dem nur TANZSAAL stand. Danach kam Hayley’s Hotel, ein großer Kasten mit groben Holzschindeln verkleidet wie alle anderen Gebäude – und den Namen direkt aufs Holz gepinselt.

»Sieht aus, als würde es gleich einstürzen«, grummelte Shepard.

»Ich hab schon viel schlimmer übernachtet«, sagte Jack und dachte an Abstellgleise und Gefängniszellen. »Auf jeden Fall wäre es schön, wenigstens ein weiches Bett für die Nacht zu haben, schließlich werden wir eine ganze Weile darauf verzichten müssen. Und ein Bad würde keinem von uns schaden.«

Shepard grunzte belustigt. Nach achten Tagen auf hoher See stanken sie beide zum Himmel. »Erst mal hinkommen.«

Das war tatsächlich nicht ganz leicht. Die ganze Straße war ein einziges Schlammloch mit Stiefel-, Huf- und Wagenradabdrücken. Stellenweise war der Schlamm zu hohen Wulsten zusammengebacken, an anderen Stellen stand Wasser in den Tälern dazwischen.

Während sie diese Bachläufe und Pfützen zu umgehen versuchten und der Schlamm an ihren Stiefeln saugte, wurden Shepards Atembeschwerden unter der Last seines fünfzig Pfund schweren Rucksacks immer größer. Jack warf ihm heimlich einen Blick zu: Anstatt vor Anstrengung rot zu glühen, war sein Schwager kreidebleich geworden. Es dauerte sicher nicht mehr lange, bis Shepard seinen Rucksack nicht mehr tragen konnte.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Jack.

»Es geht schon«, murmelte Shepard.

Die ganze bisherige Reise waren sie harmonische Reisegefährten gewesen, doch nun kam zunehmend Spannung zwischen ihnen auf. Auf der ganzen Welt liebte Jack keinen Menschen so sehr wie seine Stiefschwester Eliza. Sie hatte ihn praktisch großgezogen, und nun hatte er gegen ihren Wunsch und mit vollem Wissen um die schlechte Gesundheit seines Schwagers heimlich mit ihm den Plan für dieses Abenteuer geschmiedet. Und Shepard war auch noch praktischerweise bereit gewesen, die gesamte Reise zu finanzieren.

Vielleicht war Jack zu selbstsüchtig gewesen. Doch das half jetzt auch nichts mehr. Außerdem war Shepard ein begeisterter und beharrlicher Gefährte.

Er versuchte, seine Schuldgefühle zu mildern, indem er sich den anderen Grund für diese Reise vor Augen hielt: seiner Mutter zu helfen. Am Tag der Abreise hatte Eliza ihm enthüllt, dass ihre Mutter kurz davor stand, ihr Haus zu verlieren. Sie hatte sich lange Zeit auf seine Einnahmen verlassen, und seine kürzliche einmonatige Abwesenheit – eingesperrt wegen Landstreicherei, was seine Familie nicht wusste – hatte sie weiter in die Schulden rutschen lassen. Sie hatte sogar wieder damit angefangen, Geisterbeschwörungen und andere lächerliche Rituale als spirituelles Medium abzuhalten, eine Absurdität, die sie als bare Münze ausgab und die Jack zuwider war. Er war überzeugt davon, es sei nichts weiter als Betrug und Bauernfängerei. Doch obwohl diese Frau kaum Liebe in ihrem Herzen verspürte – als Junge hatte er alle Liebe und Zuwendung von Eliza erfahren –, war sie dennoch seine Mutter. Wenn er Gold finden sollte, könnte sie ihr Haus behalten und die spiritistische Scharlatanerie aufgeben. Doch das schien ihm im Moment die geringste aller Sorgen zu sein: Es war Shepard, der ihm Sorgen bereitete.

Doch Shepard sah das anders: Er war ein Mann, kein krankes Kind, um das man sich kümmern musste. Jack glaubte ja auch, dass jeder seines Glückes Schmied war. Aber er mochte gar nicht daran denken, wie es wäre, wenn Shepard eines Tages etwas zustoßen würde und er Eliza davon berichten müsste.

Mit Blick nach vorn und erhobenem Kinn marschierte Jack über die schlammige Ruine der Hauptstraße von Dyea auf den hölzernen Gehweg vor Hayley’s Hotel zu. Erst als er das Holz erreicht und sich den Schlamm von den Sohlen gekickt hatte, sah er sich nach Shepard um.

Der Mann war ein Dutzend Schritte hinter ihm stehen geblieben.

»John?«, fragte er.

Shepards Gesichtszüge waren schlaff geworden, mit aufgerissenen Augen starrte er ostwärts, unter dem Gewicht seines Gepäcks leicht vornübergebeugt. Er war zuvor schon blass gewesen, nun sah er ernsthaft krank aus. Er blinzelte, räusperte sich, und dann überkam ihn ein kräftiger Hustenanfall, bei dem er nach vorne zusammenklappte. Der alte Soldat ließ seinen Rucksack von seiner Schulter gleiten und fiel in den Schlamm.

Jack ließ seinen eigenen Rucksack fallen und eilte Shepard zur Hilfe.

»Was hast du, John?«, fragte er und packte den Mann am Ellbogen. »Das wird schon wieder, versuch tief durchzuatmen.«

Shepard zitterte, seine Haut fühlte sich heiß an, Blut befleckte seine Lippen und sein Kinn. Seit Jack ihn kannte, war er schon immer krank gewesen, aber dermaßen gebrechlich hatte er den Alten noch nie gesehen.

»John«, setzte er wieder sanft an.

John nickte und atmete mehrmals lang und tief ein, um sich zu beruhigen. Er starrte weiter nach Osten, japste und hustete wieder, das Wasser stand ihm in den Augen. Immer noch vornübergebeugt, die Hände auf den Knien, wies er mit dem Kopf in eine Richtung.

»Ist er das, mein Junge? Ist das der Pass?«

Jack wandte sich um und sah, dass der Dunst sich gelichtet hatte, sodass man nun die nächstgelegene Bergkette erkennen konnte. Es war zwar August, aber dies war Alaska. Weiße Eiswände ragten wie eine unwirtliche Traumlandschaft ewigen Winters empor. Die Lücke im Eis, die von hier aus nur als Schatten erkennbar war, war der Chilkoot-Pass. Der Weg nach Dawson City begann dort am Fuße dieser eisigen Felswände.

Selbst aus dieser Entfernung konnte Jack die dunkle Schlangenlinie aus Männern und Pferden ausfindig machen, die sich den Chilkoot-Trail zum lebensfeindlichen Pass hinaufkämpften – alles Männer, die von Gold träumten, sowie die Tlingit-Indianer, die am Transport der Landstürmer und ihrer Ausrüstung übers Gebirge ein kleines Vermögen verdienten.

Shepard fing wieder an zu husten. Als er sich die Lippen abwischte, sah Jack diesmal einen größeren Blutfleck.

Das bedeutete nichts Gutes. Dunkle Gedanken voller Frust und Ärger kamen in Jack hoch, doch er schob sie schnell beiseite. Sie hatten eine Abmachung, sie beide, und Jack London hielt immer sein Wort.

Er legte Shepard eine Hand auf die Schulter. »Ich helfe dir jeden Schritt des Weges. Ich bring dich dahin, so wahr mir Gott helfe, oder wir teilen uns ein eisiges Grab. Und da ich nicht vorhabe zu sterben, heißt das, dass wir beide im Frühjahr unser Revier am Klondike abstecken und uns einen Haufen Gold holen werden.«

Endlich konnte Shepard wieder normal atmen. Er schob Jacks Hand sanft zurück.

»Ich bin ein Narr gewesen«, sagte er mit einem Zorn, der offenbar ihm selber galt. »Du sollst nicht auch noch einer sein.«

»John«, sagte Jack. »Du hast es doch schon so weit geschafft.«

»Ja, und jetzt muss ich es noch so weit schaffen.« Er sah mit weit aufgerissenen Augen auf den Pass. Und Jack konnte erkennen, wie sich Johns Gesichtsausdruck von Furcht zu Resignation, Trauer und Bedauern wandelte.

Shepard schüttelte Jacks Hand ab und richtete sich langsam auf. Er schulterte seinen Rucksack und holte tief Luft. Schließlich drehte er den eisigen Bergen den Rücken zu.

»Ich muss zurück zum Strand, bevor die Umatilla ablegt«, stellte Shepard fest. »Ich richte Eliza und deiner Mutter deine Grüße aus.«

Jack schwieg. Shepard würde jetzt offenbar keinen Widerspruch dulden.

»Ich habe ziemlich viel in diese Reise investiert«, fuhr der alte Haudegen fort. »Ich meine mehr als nur Geld, verstehst du? Alle meine Wünsche und Träume lasse ich hier bei dir zurück und erwarte, dass du sie mit nach Dawson und noch weiter trägst. Lass mich nicht hängen, Junge.«

Jack schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht.«

»Das will ich hoffen«, meinte Shepard. Und dann ging er, stapfte wieder durch den halbgefrorenen Schlamm Richtung Ufer und ließ Jack mit all ihrer Ausrüstung und Entschlossenheit für zwei zurück.

Jack blickte ihm hinterher und wünschte ihm eine gesunde Heimreise, damit Eliza nicht trauern musste. Der Gedanke, alleine weiterzureisen, bekümmerte ihn kaum, denn im Leben war er bisher meistens allein unterwegs gewesen, auch wenn er von anderen umgeben war, die jeweils ihre eigenen Ziele verfolgten.

Shepard ging zum Stadtrand und verschwand den Weg zum Strand hinab, ohne sich umzusehen. Sobald er verschwunden war, machte sich ein riesiges Grinsen auf Jacks Gesicht breit. Er spürte eine merkwürdige Welle der Begeisterung in sich aufsteigen. Nun, da er von seinen Sorgen und Verpflichtungen gegenüber Shepard befreit war – und ja, von den Schuldgefühlen, weil er den Alten mitgeschleift hatte –, fühlte er sich selbstbewusster denn je auf seinem eingeschlagenen Weg.

Er drehte sich um und sah zum Nebel des Chilkoot-Passes hoch. Er wurde fast körperlich davon angezogen, und er musste sich zusammenreißen, um nicht gleich loszulaufen und es heute Nacht gleich in Angriff zu nehmen, Ausrüstung hin oder her. Die ganze Überfahrt hatten sie Geschichten von Todesopfern auf dem Trail gehört, von Männern, die umgekehrt sind oder aufgegeben haben. Shepard war beim bloßen Anblick des bedrohlichen Gebirges eingeknickt.

Aber nicht Jack. Der eisige Norden würde ihn nicht in die Knie zwingen. Nur der Tod konnte ihn jetzt noch aufhalten.

KAPITEL 2TODESMARSCH

In Dyea hieß es, ein Mann, der kein bestimmtes Ziel hätte, könnte monatelang auf dem Chilkoot-Trail überleben, ohne dass es ihm je an etwas fehlen würde: Warme Kleider, getrocknetes und gepökeltes Fleisch, Bohnen in Dosen, Jagdgewehre, Zelte … Der Handelsposten in Dyea wäre pleite gewesen, wenn die Landstürmer, die zu Tausenden am Strand ankamen, gewusst hätten, dass sie ihre ganze Ausrüstung gratis auf dem Weg zusammenklauben konnten. Vor allem auf der Westseite des Gebirges, beim Anstieg auf die tausend Meter Passhöhe, wo auch im Spätsommer eisige Winde die Reisenden peitschten, lag überall zurückgelassene Ausrüstung herum.

Auch wenn einem der Sinn nach frischem Fleisch stand, wurde man vom gnadenlosen Terrain des Chilkoot-Trails nicht enttäuscht. Pferde brachen vor Erschöpfung zusammen, knickten sich in Spalten die Beine ab oder stürzten und brachen sich die Wirbelsäule, wenn es zu steil wurde. Manche wurden mit einem Fangschuss von ihrem Elend erlöst, andere hingegen von hartherzigen Männern einfach einem langen, qualvollen Tod überlassen, weil diese keine Kugel verschwenden wollten.

Ohne Shepard an seiner Seite hatte Jack beschlossen, lieber mit wenig Gepäck zu reisen. Er machte ihre Kisten auf und holte nur das Nötigste heraus. Das Übrige verkaufte er an den Besitzer von Hayley’s Hotel. Shepards Klamotten tauschte er mit einem kräftigen, bärtigen Kerl namens Merritt Sloper, den er auf der Umatilla kennengelernt hatte. Sloper hatte eine besonders schöne Bratpfanne und mehrere Säcke Kaffee, die er bereit war, unter der Bedingung herzugeben, dass Jack ihm einen Kaffee spendieren würde, falls sie sich irgendwo unterwegs trafen.

Als der Handel beschlossen war, hatte Jack noch eine Decke aus Shepards Gepäck genommen und dann seine eigenen Sachen aussortiert. Bis er an dem Abend einschlief, hatte er drei Viertel von allem, was sie mitgebracht hatten, verkauft, verschenkt oder weggeworfen. Selbstsicher wie nie, zufrieden und erschöpft, wie er war, hatte er eigentlich erwartet, bis zum Morgengrauen durchzuschlafen.

Als er dann verwirrt und orientierungslos mitten in der Nacht aufwachte, setzte er sich auf und atmete in der Dunkelheit erst mal tief durch. Ich bin in Hayley’s Hotel in Dyea, sagte er sich. Dann hörte er ein Ächzen.

Jack hielt den Atem an. Er hatte zwar noch nie Angst vor der Dunkelheit gehabt, aber er hatte auch gelernt, sie zu respektieren.

Da war wieder das Ächzen: Es war eine Diele, die unter einem Gewicht knarrte, das nicht hätte da sein dürfen. Wer auch immer es war, versuchte leise zu sein.

»Wer ist da?«, raunte Jack.

Eine Tür schwenkte auf, wo er zuvor keine Tür gesehen hatte. Er war so beunruhigt, dass es eine Weile dauerte, bis er die gespreizte Hand auf dem Holz sah, und noch länger, bis er der Hand zum Arm gefolgt war und von dort die Schulter entlang zum Gesicht, das in der Dunkelheit hing.

»Mutter?«, staunte er. Als er sie erkannte, bemerkte er auch die vertrauten Gerüche von zu Hause: abgestandenes Essen und Räucherstäbchen.

»Unheil wird kommen«, verkündete seine Mutter, aber es war nicht ihre Stimme. Der Tonfall war flach, eiskalt, fast gleichgültig. »Unheil im Norden, ein Todesschrei in der großen weißen Stille, und nur die Geister werden Zeuge sein.« Sie kam ins Zimmer herein, und Jack hielt die Luft an. Das ist doch nicht meine Mutter, dachte er, und obwohl das absurd war – die Frau vor ihm war eindeutig seine Mutter, es waren ihre Haare, ihr Gesicht, ihr Nachthemd – konnte er den Gedanken nicht abschütteln. Irgendwas an ihrer Erscheinung war beunruhigend, als ob ein Fremder unter ihrer Haut lauerte und nach außen drängte. Sie wirkte völlig starr, ihre Haut war durchschimmernd und hatte die Farbe frisch gefallenen Schnees.

So etwas Ähnliches hatte er schon mal gesehen. Sie hatte ihm gesagt, es sei ihr Geistführer, der durch sie sprach. Er hatte noch nie an solchen Unsinn geglaubt und verachtete ihren Pseudo-Spiritismus. Sie führte die Leute damit hinters Licht, nutzte ihr Leid aus und –

Führt sie mich jetzt an der Nase herum? Bin ich hier, oder bin ich daheim? Er dachte, er träumt, aber meistens erlangte man dann die Kontrolle über seinen Traum, wenn man sich so was dachte. Im Moment kam er sich eher kontrolliert vor.

»Raus aus meinem Zimmer«, zischte er.

»Irgendwas folgt«, sagte seine Mutter lächelnd. Das Lächeln sah kränklich aus und färbte nicht auf die Stimme ab. »Dennoch wirst du im Schnee sterben, kalt … und fast ganz allein.« Dann wandte sie sich um und ging.

Es dauerte ein paar Minuten, bis Jack aus dem Bett aufstehen konnte, doch als er zu dieser Tür ging, war dort nur die Wand. Er berührte sie und fühlte, es war nur Holz. Jetzt bin ich ganz sicher wach, dachte er. Er ging wieder ins Bett, konnte aber nicht mehr einschlafen. Er sah das reinigende Licht des Morgengrauens langsam über Dyea erwachen.

Von seinem Albtraum beunruhigt, doch fest entschlossen, ihn vorm Tageslicht verblassen zu lassen, war Jack an dem Tag der Allererste, der zum Chilkoot-Pass aufbrach.

Er hatte Dyea mit zwei Lastpferden verlassen, die seine Ausrüstung trugen. Sein eigener Rucksack war zehn Kilo leichter als am Tag zuvor. Die Schultern waren gepolstert, damit die Riemen ihm nicht ins Fleisch schnitten. Als die Sonne über den weißen Gipfeln aufging, war er zügig losmarschiert, die Kerbe des Chilkoot-Passes winkte ihm aus der Ferne zu.

Das war vor vier Tagen gewesen.

Mittlerweile tränten seine Augen von dem Gestank der verwesenden Pferdekadaver am Wegrand. Er hielt soviel Abstand wie möglich zu den anderen, die beim Aufstieg um die beste Position wetteiferten. Er war bis jetzt gut vorangekommen, hatte die meisten Weißen überholt und sogar einige der Indianerträger, die das Klima und die Landschaft gewohnt waren.

Er behielt die Berggipfel im Auge und sein Ziel in Sicht, und blieb für sich. Etliche Schlägereien waren unterwegs ausgebrochen, und er musste seine Pferde nicht nur um die stinkenden Raufbolde manövrieren, sondern auch um die Schaulustigen, die stehen geblieben waren, um sie anzufeuern. Wahrscheinlich waren sie dankbar für die Ablenkung und hofften auf ein möglichst blutiges Spektakel. Jack hatte sich zwar noch nie vor einer Prügelei gedrückt, aber er roch schon den aufziehenden Winter in der Luft, während er immer höher kletterte und fürchtete, der Wintereinbruch würde viel früher kommen, als sie es erwarteten.

Die Trümmer der Kapitulation säumten links und rechts den Weg. Er ging vorbei an Umkehrern, die aufgegeben hatten und mit niedergeschlagenen Augen wieder unterwegs nach Dyea waren. Sie hatten versagt und schämten sich. Jack schwor sich, niemals zu ihnen zu gehören. Solch ein Versagen musste schwer auf einem lasten, denn sie zeigten keine Anzeichen von Erleichterung. Die körperlichen Mühen lagen vielleicht hinter ihnen, aber sie würden auf immer mit ihrem Scheitern leben müssen.

Während er weiterging und der Weg immer steiler wurde, blitzte die Erinnerung an den Traum dieser Nacht auf. Er träumte oft von seiner Mutter, entweder Fantasien einer perfekten Beziehung, die sie nie gehabt hatten, oder öfter noch Deutungsversuche ihrer Lieblosigkeit und gelegentlichen Grausamkeit. Sie konnte wirklich ein Herz aus Stein haben: Als Jack klein war, hatte sie oft seinen Stiefvater ermutigt, ihn zu schlagen, wenn er unartig war. Die einzige Zuwendung, die sie Jack zuteil werden ließ, war an den Tagen, wenn er mit seiner Lohntüte nach Hause gekommen war. Und dann gab es da noch diese Séancen, bei denen er sich auf den Küchentisch legen musste und sie die Geister der Toten anrief, um ihn für irgendeine kindliche Sünde zu verdammen. Er hatte schon damals nicht wirklich daran geglaubt, doch sie hatte dafür gesorgt, dass ihm die Prozedur soviel Angst wie möglich einjagte.

»Die Geister sind nicht so weit weg, wie du denkst«, sagte sie dann. »Und wenn du unartig bist, kann ich sie hereinbitten.«

Noch Tage nach solchen Séancen war er voller Wut und Verbitterung und traurig darüber, wie seine Mutter mit ihm umsprang. Sobald die Sonne unterging und er ins Bett musste, erfasste ihn außerdem die schreckliche Befürchtung, was wäre, wenn seine Mutter recht hatte. Auch jetzt traute er sich kaum, daran zu denken. Aber trotz allem war sie seine Mutter, und er liebte sie.

Solche Gedanken verwirrten Jack, und die Verwirrung machte ihn wütend.

Er fluchte und führte seine Pferde an den Wegrand. Tief in Gedanken hatte er die Passhöhe erreicht, der große Augenblick des Triumphs war ungefeiert verstrichen. Verdammt, weg mit diesen trübseligen Gedanken, hier nutzen sie keinem was!

Er beschloss sich einen Kaffee zu kochen, um mit einer heißen Tasse Kaffee den Beginn seiner weiteren Reise zu feiern.

»Ich hab ja gehofft, dass wir uns noch mal treffen würden.«

Jack hatte es sich hinter einem Windfang gemütlich gemacht, errichtet aus dem Haufen Kisten und Bündeln, den er von den Pferden abgeladen hatte. Er blickte von dem kleinen Feuer auf, das er sich angesteckt hatte, und sah in das rötliche, grinsende Gesicht von Merritt Sloper. Der Mann hatte Frost in seinem kastanienfarbenen Bart und eine dicke Mütze ins Gesicht gezogen, sodass er wie ein leicht vertrottelter Weihnachtsmann aussah.

»Du willst wohl eine Tasse Kaffee, was?« Jack musste grinsen. Zwar war er sich selbst Gesellschaft genug, aber im Moment hatte er nichts gegen Unterhaltung, auch mit jemandem, den er nur flüchtig kannte.

»Ich dachte, du fragst mich nie.«

»Aber nur wenn du deine eigene Tasse hast«, entgegnete Jack. »Ich hab nur eine.«

Sloper grunzte, ließ sich auf dem Boden neben Jack nieder und zog seinen Rucksack ab. Er schlug die behandschuhten Hände zusammen, zog sich die Handschuhe aus und hielt die Handflächen über das kleine Feuer. In erster Linie galt seine Aufmerksamkeit jedoch der kleinen schwarzen Kaffeekanne, die Jack an die Feuerstelle gelehnt hatte.

Sloper holte einen Blechnapf aus seinem Rucksack. Während Jack ihm eine halbe Tasse starken Kaffee einschenkte, näherte sich ein zweiter Mann, der ein Pferd führte.

»Verdammt noch mal, Merritt, du hättest ruhig mal auf mich warten können!«, schimpfte der Mann. Er war ausgemergelt und trug eine Brille, ein bisschen wie ein pedantischer Lehrer, der auf den Hund gekommen ist.

»Ich konnte dem Kaffeegeruch einfach nicht widerstehen, Freund Jim«, erwiderte Sloper mit gespielter Reue und ließ den Kopf hängen. »Verfluche mich nicht wegen meiner einzigen Sünde.« Dann zuckte er die Achseln zur Entschuldigung, schlürfte seinen Kaffee, seufzte lauthals und voller Zufriedenheit, schloss die Augen und kuschelte sich weiter in den knirschenden Schnee hinein.

»Du hast mich mit dem Pferd allein gelassen«, setzte Jim an und senkte dann seine Stimme. »Diese beiden Kerle aus Texas haben ein Auge auf unsere Vorräte geworfen, seit ihr letztes Pferd gestorben ist, und du …«

»Und überhaupt!«, rief Sloper und riss die Augen auf. »Wir haben es geschafft! Trotz all deiner Zweifel, mein Freund: Wir sind da! Ich hatte nicht genug Energie für einen Siegestanz, aber eine schöne Tasse Kaffee tut’s auch.«

Jim verdrehte die Augen und gab auf. Er führte sein schwer beladenes, erschöpftes Pferd neben die beiden von Jacks, hämmerte mit dem Stiefelabsatz einen Pflock in den Schnee und band das Tier an.

Dann beugte er sich übers Feuer und streckte Jack eine Hand entgegen: »Jim Goodman. Wir sind auf dem gleichen Schiff gewesen, glaub ich.«

Jack lächelte und nahm seine Hand. »Ja, ich erinnere mich.«

Ein angenehmes Gefühl stieg in ihm auf. So seltsam sie auch schienen, waren hier doch zwei Kerle, zäh genug, um den Chilkoot-Pass zu bezwingen, sich der Herausforderung zu stellen und nicht schlappzumachen. In der kurzen Zeit seit Dyea hatte Jack genug Niederlagen gesehen und genug Verwesung eingeatmet für ein ganzes Leben. Nun war ihm die Gesellschaft dieser beiden herzlich willkommen.

»Du hast nicht zufällig noch so eine Tasse Kaffee, oder?«, fragte Goodman niedergeschlagen. Jack schüttelte die Kanne. »Kaum noch ein Schluck, fürchte ich. Merritt hat den letzten Rest genommen.«

Goodman ließ die Schultern hängen. »Natürlich«, sagte er, als wenn das sein übliches Los wäre.

Überwältigt von seinem neuen Gefühl der Kameradschaft griff Jack in seinen Rucksack.

»Aber wir haben ja noch mehr davon. Ich koch uns noch eine Kanne, ja?«

»Im Ernst?«, sagten beide Männer gleichzeitig und hoben überrascht die Augenbrauen.

»Warum nicht?«, antwortete Jack. »Wir habe es bis nach oben geschafft, Jungs. Wir hängen da jetzt alle gemeinsam drin.«

Nach fast einer Woche Aufstieg auf dem Chilkoot-Trail schmerzten Jacks Knochen, und die Muskeln brannten. Doch er fühlte sich auf eine ganz besondere Weise lebendig. Eine Lebendigkeit, die wohl wenig andere Menschen erleben durften. Unrasiert und ungewaschen empfand er sich dennoch als sauber, und seltsamerweise durch die eiskalte Bergluft und seine eigenen schweißtreibenden Anstrengungen gereinigt. Weit weg von seiner Mutter und ihrem spirituellen Getue, und was noch wichtiger war, weit weg von jeder Arbeit, die er je gehabt hatte, von jedem Neuanfang, den er versucht hatte. Jetzt konnte er endlich die Erwartungen der Welt abstreifen und den Mann finden, der in ihm steckte.

Wer ist Jack London?, fragte er sich und war sicher, bei dieser Reise die Antwort darauf zu finden.

Von der Passhöhe aus schien der Rest des Weges wie ein Geschenk: Erst wurde er flacher, dann senkte er sich sanft Richtung ferne Täler hinab.

»Wie weit ist es zum Lake Linderman?«, wollte Sloper wissen.

Jack hob eine Augenbraue und sah zu Jim Goodman, denn selbst er hatte unterschiedliche Schätzungen gehört.

Goodman zögerte nicht: »Neun Meilen.«

»Das schaffen wir schon«, sagte Jack und zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Niemand kehrt um, der es über den Pass geschafft hat.«

Und er hatte recht. Der ganze Verkehr marschierte jetzt in die gleiche Richtung. Männer und Frauen, die zäh genug gewesen waren, es bis hierhin über den Berg zu schaffen, würden so schnell nicht wieder umkehren. Es lag noch teilweise zurückgelassenes Gepäck links und rechts vom Weg, und etwas voraus konnte Jack zwei tote Pferde ausmachen – die armen Tiere hatten das Schlimmste geschafft, konnten aber keinen Schritt mehr weitergehen –, aber im Großen und Ganzen kamen die Goldgräber jetzt gut voran.

»Wir sollten uns aber beeilen«, stellte er fest.

Das schien den schweigsamen, trübsinnigen Goodman aufzurütteln. »Uns beeilen? Ich bin froh, überhaupt am Leben zu sein.«

Vor ihm waren zwei Männer, die dem Akzent nach Deutsche waren. Soweit Jack das mitgekriegt hatte, hatten sie ihren Schritt verlangsamt, als ob sie lauschen wollten. Jack packte die Pferde fest am Zügel und verlangsamte ebenfalls sein Tempo. Sloper und Goodman taten es ihm nach.

»Vielleicht gibt’s ja genug Gold für alle«, meinte Jack. »Vielleicht ist der ganze Klondike das wahre El Dorado. Aber ich betrachte hier jeden Menschen auf dem Weg als Konkurrenten, und das solltet ihr besser auch.«

Merritt Sloper kratzte sich seinen buschigen roten Bart. Sein sonst so fröhlicher Gesichtsausdruck war einer fast kindlichen Traurigkeit gewichen. »Gilt das auch für uns, Jack? Sind wir auch Konkurrenten?«

Jack grinste. »Na klar seid ihr das, Jungs. Aber bei uns ist es ein freundschaftlicher Wettbewerb. Außerdem gibt es einen anderen Grund zur Eile. Der Winter kommt bald.«

Goodman schob sich die Brille auf der Nase hoch und höhnte: »Winter! Ha! Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, Jack, hier oben ist immer Winter.«

»Du weißt schon, was ich meine. Das wird bald alles vereist sein. Wenn wir es nicht nach Dawson schaffen, ehe die Flüsse zugefroren sind, schaffen wir’s vielleicht nie.«

»Es ist doch gerade erst September«, gab Sloper zu bedenken.

»Ich habe mich beim Aufstieg mit einem Kerl unterhalten, einem Tlingit-Indianer, der meinte, die Zeichen stehen auf einen frühen Frost. Er sagte, als sein Großvater klein war, sind die Flüsse einmal mitten im August zugefroren.«

Goodman schüttelte den Kopf, packte die Zügel seines müden Pferdes und legte wieder etwas Tempo zu. »Unmöglich.«

Sloper jedoch warf Jack einen besorgten Blick zu. »Ist das wahr?«

Jack ließ die Zügel wieder locker und folgte Goodman mit Sloper an seiner Seite, die Pferde hinterher. »Ich werde dieses Abenteuer überleben, Merritt, das schwöre ich dir. Überleben und mit einem großen Haufen Gold nach Kalifornien zurückkehren. Wenn man ein menschenfeindliches Land bereist, sollte man auf den Rat der Einheimischen hören, die dort leben. Außerdem, spürst du’s nicht? Der Wind lässt meine Zähne klappern.«

Sloper nickte. Als der Weg breiter wurde, gingen sie nebeneinander und die Pferde dahinter. Sie unterhielten sich über zu Hause und über ihre Träume, über Bücher und Abenteuer. Jack erzählte Geschichten von seiner Zeit als Austernpirat, von Eisenbahnfahrten mit Landstreichern und von Prügeleien am Hafen. Seine dreißig Tage Haft ließ er lieber unerwähnt.

Seine beiden Gefährten überraschten ihn dann aber, als er feststellte, dass keiner von beiden viel älter war als er selbst. Sloper war Steinmetz und fünfundzwanzig, zehn Jahre jünger als Jack vermutet hatte, während Goodman – tatsächlich ein Lehrer – vor kurzem zweiundzwanzig geworden war. Die beiden waren aus Illinois, in der Nähe von Chicago, und kannten sich über ihre Familien, die eine lange Freundschaft verband. Sie hätten vom Charakter nicht unterschiedlicher sein können, doch Sloper und Goodman hatten ein Verhältnis wie alte Freunde und schlossen Jack problemlos in die Beziehung ein.

Sie übernachteten im Schutz einiger Bäume und bauten mit ihrem Gepäck auf drei Seiten eine Mauer, um sich so gut wie möglich vor dem Wind zu schützen. Nachdem er sich um seine Pferde gekümmert hatte, saß Jack mit seinen beiden neuen Freunden am Lagerfeuer. Sie tranken zusammen Kaffee, aßen getrocknetes Obst und kochten eine wässrige Fleischbrühe, die viel besser schmeckte als vermutet. Dann spürte Jack, wie ihn allmählich die Erschöpfung überkam. Er blinzelte beim Einschlafen die Sterne an und stellte sich vor, bald den ganzen Tag nach Gold zu schürfen.

Irgendwann wich dieser Tagtraum, und er trieb schlafend durchs eigene Unterbewusstsein. Seine relativ friedliche Vorstellung vom Goldsuchen wich ebenfalls. Bald wurden in seinem Traum Menschen wegen der besten Schürfrechte ermordet, wilde Tiere aus den Wäldern schnappten sich die Unvorsichtigen und hinterließen nur rote Blutspuren im Schnee. Doch es war nicht solch ein belangloser Traum-Tod, der Jack verfolgte.

Da war etwas anderes.

Er träumte davon, etwas flussaufwärts vom Hauptfund im Rabbit Creek zu suchen, mit wenig mehr als einem Lagerfeuer und einem zerrissenen, zerschlissenen Zelt vor sich hin zu existieren. Tagsüber schürfte er und nachts las er, doch stets lauerte etwas am Rande des Feuerscheins und beobachtete ihn. Es folgte ihm durch die Landschaft: Heute beobachtete es ihn von hoch oben aus den Bergen, morgen aus dem dunklen Unterholz des Waldes. Er konnte nie erkennen, was es war, doch das Gefühl des drohenden Unheils war furchtbar.

Er sah es immer nur nachts. Augen wie Sternschnuppen starrten ihn aus dem Schatten an und warteten auf die richtige Gelegenheit zuzuschlagen.