Die Geheimnisse der Schwestern Wilde - Paula Wall - E-Book
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Die Geheimnisse der Schwestern Wilde E-Book

Paula Wall

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Beschreibung

Der Zauber der alten Südstaaten und eine außergewöhnliche Lebensgeschichte: »Die Geheimnisse der Schwestern Wilde« von Paula Wall als eBook bei dotbooks. Tennessee in den 30er-Jahren: Die Schwestern Pearl und Kat Wilde gelten als unwiderstehlich. Aber dieser Zauber birgt auch ungeahnte Gefahren, wie Pearl feststellen muss, als sie ihren Verlobten mit Kat in flagranti erwischt … Nach Jahren in der Ferne, in denen sie ein großes Vermögen angesammelt hat, kehrt Pearl nun zurück in ihre Heimatstadt, um dort ein luxuriöses Haus der Sinne zu eröffnen. Und das ausgerechnet in diesen prüden Zeiten – was für ein Skandal! Aber sind Pearls Fantasien und Künste womöglich so exotisch und aufregend, dass sie die Feindseligkeit der »aufrechten« Bürger überwinden werden? Und dann ist da auch noch die eine Person, mit der Pearl glaubt, niemals Frieden schließen zu können: ihre Schwester Kat … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der faszinierende Schwestern- und Familienroman »Die Geheimnisse der Schwestern Wilde« von Paula Wall. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 514

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Über dieses Buch:

Tennessee in den 30er-Jahren: Die Schwestern Pearl und Kat Wilde gelten als unwiderstehlich. Aber dieser Zauber birgt auch ungeahnte Gefahren, wie Pearl feststellen muss, als sie ihren Verlobten mit Kat in flagranti erwischt … Nach Jahren in der Ferne, in denen sie ein großes Vermögen angesammelt hat, kehrt Pearl nun zurück in ihre Heimatstadt, um dort ein luxuriöses Haus der Sinne zu eröffnen. Und das ausgerechnet in diesen prüden Zeiten – was für ein Skandal! Aber sind Pearls Fantasien und Künste womöglich so exotisch und aufregend, dass sie die Feindseligkeit der »aufrechten« Bürger überwinden werden? Und dann ist da auch noch die eine Person, mit der Pearl glaubt, niemals Frieden schließen zu können: ihre Schwester Kat …

Über die Autorin:

Paula Wall wurde in Tennessee geboren und ist in Alaska aufgewachsen. Sie hat in den USA zwei viel beachtete Sammlungen von Essays veröffentlicht und wurde für ihre amüsanten Kolumnen zur »Humor Columnist of the Year« gekürt. Heute lebt sie in der Nähe von Nashville, Tennessee. Mit ihren Romanen feierte sie international große Erfolge.

Paula Wall veröffentlicht bei dotbooks bereits ihren Roman »Die Frauen der Familie Belle«.

Die Autorin im Internet:

http://www.paulawall.com/

***

eBook-Neuausgabe Februar 2019

Dieses Buch erschien bereits 2008 unter dem Titel »Wilde Schwestern« beim Knaur Verlag

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2007 by Paula Wall

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »The Wilde Women« bei Atria Books, New York.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2008 Knaur Verlag

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Helena Ohman, Graphik, Sandra_M und Bonnie WithaB

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-96148-698-4

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Paula Wall

Die Geheimnisse der Schwestern Wilde

Roman

Aus dem Amerikanischen von Gabriela Schönberger

dotbooks.

Für Bill. Für immer und ewig.

Danksagung

Jedes Jahr schauen meine Freundin und ich uns die Oscarverleihung an. Wir schlagen uns die Bäuche voll, ziehen über die Schauspieler her und bewerfen den Bildschirm mit Popcorn, wenn der Oscar für den besten Film an ein sentimentales Machwerk mit moralinsaurer Botschaft geht, das in der Geschichte Hollywoods ebenso wenig Eindruck hinterlassen wird wie ein Aufkleber aus dem letzten Wahlkampf. Und während der Dankesreden schalten wir generell den Ton aus. Wer will sich schon das kriecherische Gestammel einer Schauspielerin anhören, die in der Hoffnung, im nächsten Jahr nicht durch die Provinz tingeln zu müssen, die Namen irgendwelcher Filmbosse herunterrattert?

Doch weil wir gerade beim Thema sind, würde ich gern die Gelegenheit ergreifen und mich bei folgenden Menschen bedanken: Emily Bestler – du bist für deine Autoren wichtiger, als du dir vorstellen kannst. Michael Meller – ohne deine täglichen E-Mails bekäme ich nicht ein Wort zu Papier. Francesca Riverside – danke für deine Geduld und Unterstützung. Sheila Marie Blevins – Freundin und Schwester, danke dafür, dass du mir »Erin« vergibst. Aaron Priest – zu dir will mir einfach nichts Kitschiges einfallen, aber das gefällt mir an einem Agenten.

Prolog

Der Herr gibt, aber die meisten Frauen wissen nicht zu schätzen, was ihnen gegeben wurde. Bei nicht wenigen Männern hingegen überwiegt die Selbstüberschätzung. Während der Jäger im Mann in einseitiger Zielstrebigkeit dem Mammut nachstellt, spazieren die Sammlerinnen scheinbar unentschlossen mal in die eine, mal in die andere Richtung, ohne genau zu wissen, nach welchen Beeren sie eigentlich suchen – aber mit dem festen Ziel vor Augen, mit den schönsten nach Hause zu kommen. Lorna Wilde hatte ihren Töchtern nicht viel mit auf den Weg zu geben, nur die Weisheit, die bereits ihre Mutter an sie vererbt hatte: »Tragt niemals löchrige Unterwäsche.« Da die Schwestern Wilde kreative junge Frauen waren, verzichteten sie vollständig auf Unterwäsche.

Vibrierend vor Lebendigkeit und Erwartung, stürzten die beiden Mädchen sich kopfüber in diese Welt und kreischten vor Vergnügen, als der Arzt ihnen ihre kleinen Hintern versohlte. Das Haar mitternachtsschwarz, die Augen von einem lodernden Blau, schienen die Schwestern quasi unter Strom zu stehen, so sprühten die Funken, wenn man sie berührte. In der Schule wussten sie die Antworten bereits vor den Fragen, brachen reihenweise die Herzen von Jungen, die sie nicht einmal bemerkten, und wurden von reichen Mädchen beneidet, die alles besaßen. Sie hätten jeden Mann haben können, den sie wollten. Sie hätten alles werden können, was sie sich in den Kopf setzten. Aber wie ihre Mutter und die Mutter ihrer Mutter vor ihnen schlugen auch die Schwestern Wilde stets den Pfad des größtmöglichen Widerstands ein. An jedem Scheideweg im Leben gibt es eine rechte Entscheidung. Wilde-Ladys biegen grundsätzlich nach links ab.

Ihren schlechten Orientierungssinn führten die beiden auf den Tag zurück, an dem ihre Urgroßmutter Cyril Rudolph vor dem Altar einfach stehenließ. Während der Organist den Hochzeitsmarsch intonierte, erblickte Fidela beim Ankleiden ihr Konterfei im Spiegel und sah ihre Zukunft vor sich – ein Leben in Müßiggang und Luxus an der Seite eines Gatten, der sie vergötterte. Und prompt sprang sie aus dem Fenster. Fidela fiel in Ungnade und direkt in die Arme von Bodine Wilde, seines Zeichens Teilzeitmusiker auf einem Flussdampfer und Vollzeitschürzenjäger. Als Cyril sich aus dem Kirchenfenster lehnte, erhaschte er gerade noch einen letzten Blick auf seine Liebste, die, nicht mehr am Leib als ein Paar Pumphosen und ein Fischbeinkorsett, in Richtung Fluss rannte, als sei der Teufel hinter ihr her, einen Schweif aus Rosenblüten von ihrem Brautstrauß hinter sich herziehend. Cyril Rudolph war ein anständiger Mann, der Besseres verdiente. Doch ein anständiger Mann fällt stets am tiefsten. Nachdem alle Hochzeitsgäste ihr Beileid bekundet hatten, blieb er allein am Altar zurück, gedemütigt und von einem Schmerz überwältigt, den zu ertragen er für schier unmöglich hielt. Während ihm die Tränen über die Wangen liefen und er die Hände so fest zu Fäusten ballte, dass die Nägel sich ins Fleisch gruben, bis das Blut hervortrat, wandte er das Gesicht gen Himmel und breitete beide Arme aus. »Lass sie leiden, wie ich leide«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »in diesem Leben und im nächsten!«

Der einzige Unterschied zwischen einem Gebet und einem Fluch liegt im Auge des Betroffenen.

Cyrils Worte entwichen wie Wasserdampf durch den geweihten Raum bis hinauf zum Dachgestühl, wo sie als Echo von den eichenen Balken abprallten und als Flüstern vom Balkon zu ihm zurückgeworfen wurden. Dort oben stand Cyrils bildschöne junge Sklavin und wiegte sich im Schatten hin und her. Ihre schlanken, schwarzen Finger flochten einen feinen Zopf aus Cyrils hellblondem Haar, das sie aus seiner Pferdehaarbürste gezupft hatte, während sie in leisem Singsang die Worte hauchte, die ihre Freiheit bedeuten sollten. Eine Wolke schob sich vor die Sonne, und die azurblauen Glasaugen von Cyrils himmlischem Retter schienen sich zu schließen. Das Ewige Licht flackerte erregt in der roten Glaskugel, und die aus Stein erbaute Kirche verdüsterte sich, als wäre das Ende aller Tage gekommen. Cyril wusste, was er getan hatte, aber es bekümmerte ihn nicht. Wenn Fidela ihn nicht liebte – und zwar ausschließlich ihn –, war es nur rechtens, dass sie verdammt sei. Liebe kann sich in Hass verwandeln wie Wein in Essig.

Fidela brachte ihre Tage damit zu, Bodine Wilde aus Bars zu schleifen und aus den Armen anderer Frauen zu zerren. Wenn sie nicht gerade einen plärrenden Säugling stillte, erwartete sie das nächste Kind. Entweder war sie dick und unförmig wie ein Walross, oder sie schuftete für zwei. Doch etwas Seltsames geschah. Statt dass Fidela an diesem Leben zerbrochen wäre, wurde sie nur noch stärker. Ihr Rücken schmerzte, und ihre Finger wurden rissig und bluteten, aber ihre Konstitution verhärtete sich zu Gusseisen. Cyrils Worte hatten sich mit dem geflüsterten Zauberspruch der schwarzen Frau auf dem Sklavenbalkon vermengt. Ihr Leben lang würde Fidela von der Liebe besessen sein, doch nie sollte sie die Sklavin eines Mannes werden.

Was die eine nicht zu schätzen weiß, schätzen die anderen umso mehr. Bald konnte Cyril sich vor den in Scharen herbeiströmenden Frauen nicht mehr retten, die ihn mit neckisch kreiselnden Sonnenschirmen umgurrten. Aber er erhörte keine von ihnen. Cyril Rudolphs Ehegespons hieß Rache. Der Hass bohrte sich in sein Innerstes wie ein Wurm in einen Apfel und ließ seine Seele von innen heraus verfaulen. Sein Haar verfärbte sich weiß, seine Augen verblassten zu einem eisigen Blau, und Boshaftigkeit zirkulierte in seinen Adern wie Gift. Jeden Abend stand er allein am Altar der Kirche und erneuerte seinen Racheschwur. »Nie soll sie ihr Bett mit einem Mann teilen, der sie so liebt wie ich«, betete er mit knirschenden Zähnen. »Bring sie zurück zu mir. Bring sie nach Hause.« Und jeden Tag lief Cyril am Hafen auf und ab und wartete, dass sein Gebet erhört wurde.

Als Beweis seines Glaubens und zum Zeitvertreib machte Cyril sich daran, Fidela ein Haus zu erbauen, in das sie hätte heimkehren können. Ein derartiges Bauwerk hatte man in dieser Gegend noch nie gesehen, eine Art Vorkriegsschloss mit Kaminsimsen, die aus Frankreich mit dem Schiff herbeigeschafft wurden, und mit Mosaikfliesen aus Italien. Es dauerte allein zwei Jahre, bis die Glaskuppel aus Europa eintraf, und sechsundzwanzig Männer mit Maultieren und Flaschenzügen arbeiteten daran, sie auf die Mauern zu setzen.

Ein Haus strahlt stets den Charakter seines Besitzers aus. Trotz der unermesslichen Kosten und der Detailversessenheit wirkte der Tempel der Liebe, den Cyril für seine Angebetete erbaute, so einladend wie ein Peitschenhieb. Die schweren Türen waren sowohl von außen als auch von innen zu verriegeln. Jeder Baum, jeder Busch und jedes Grasbüschel, das hoch genug hätte wachsen können, damit man sich dahinter verstecken könnte, wurden getrimmt oder auf Bodenhöhe geschoren. Und das schmiedeeiserne Stabwerk vor den Fenstern war kaum breit genug, um auch nur einen Zinnteller hindurchzuschieben. Cyrils geliebte Bastille thronte auf dem höchsten Hügel im County, mit freiem Blick über den Fluss. Jeden Abend zündete Cyril eine Laterne im Fenster seines Schlafzimmers an, ein dunkler Stern, der Fidela nach Hause leiten sollte. Bald begannen die Einheimischen dieses rote Brandloch im schwarzen Himmel Devil's Eye – das Auge des Teufels – zu nennen.

Eine geschäftliche Meinungsverschiedenheit, an der fünf Herzdamen und zwei Colt-Revolver beteiligt waren, führte schließlich dazu, dass Bodine Wilde sich unversehens mit dem Gesicht nach unten im Tennessee River treibend wiederfand. Fidela hatte nicht das Geld, ihren toten Gatten zu bestatten. Und so füllte sie seine Taschen mit Steinen, küsste seine erkalteten Lippen und sah zu, wie sein männlich schönes Gesicht im schlammigen Grund versank.

Am Tag von Fidelas Heimkehr wartete Cyril bereits sehnsüchtig am Hafen. Aber als sie den Dampfer verließ, blieb ihm vor Staunen der Mund offen stehen. Fidela Wilde hing am Arm eines noch schlimmeren Hurensohnes, als es derjenige gewesen war, mit dem sie damals durchgebrannt war. Obwohl sie sich im Leben nie etwas geschenkt hatte, war Fidela seit ihrer Flucht kaum einen Tag gealtert. Nichts hielt sich lange bei Fidela, nicht einmal die Zeit. Lachend spazierte sie an Cyril vorbei, vergnügt wie ein Betrunkener auf einem sinkenden Schiff. Ihre Blicke trafen sich, und sie lächelte. Was als Freundlichkeit gedacht war, kam bei Cyril als Mitleid an. Doch um die Wahrheit zu sagen – Fidela erkannte ihn nicht, diesen welken alten Mann, der dort am Hafen stand. Von dem Cyril, den sie einst gekannt hatte, war nichts mehr übrig geblieben.

Letzten Endes holte Fidela sich vier blendend aussehende, aber nichtsnutzige Ehemänner in ihr Bett. Wie viele Kandidaten sie für diese Position getestet hatte, bleibt der Phantasie eines jeden Einzelnen überlassen. Doch Cyril war ihr nicht einmal ein paar Worte wert. Nie würde Fidela ihr Bett mit einem Mann teilen, der sie so liebte wie Cyril. Indem er Fidela verflucht hatte, hatte Cyril sich selbst verdammt.

Die Sünden der Mütter werden die Töchter heimsuchen. Von diesem Tag an wurden alle Frauen der Familie Wilde mit einem Splitter vom Spiegel des Teufels im Auge geboren. Ein sanfter junger Mann mit Liebe im Herzen schlägt sie in die Flucht. Ein geradliniger, hart arbeitender Kirchgänger verwandelt sie in einen frigiden Eiszapfen.

Die Frauen der Familie Wilde fühlen sich zu wilden Männern hingezogen, zu Männern, die sich eher den Arm abhacken würden, als sich einen Ring an den Finger zu stecken. Gefährliche Männer, deren Blick nichts als Ärger verspricht, zaubern ein sehnsuchtsvolles Schmollen auf die Lippen der Wilde-Ladys. Für einen Mann, der keinem Gesetz außer seinem eigenen gehorcht, machen sie die Beine breit wie ein Nussknacker.

Eine Frau, die ihrer Mutter in die Augen schaut, sieht ihre Zukunft, in den Augen ihrer Tochter sieht sie ihre Vergangenheit. Doch blickt sie in die Augen des Mannes, mit dem sie ihr Bett teilt, sieht sie das Leben, für das sie sich entschieden hat. Die Liebe hat die Fähigkeit, eine Frau in höchste Höhen zu katapultieren oder am Boden zu zerschmettern. Für eine Frau der Familie Wilde muss kein Grab geschaufelt werden.

Kapitel 1

Der Börsencrash 1929 war nicht das einzige Ereignis, das den Schwarzen Freitag in Five Points, Tennessee, noch zusätzlich verfinsterte. Das war der Tag, an dem Pearl Wilde ihre kleine Schwester stöhnend im Vorratskeller neben den Butterformen antraf. Es war kühl und dunkel, aber Pearl hatte nicht den geringsten Zweifel, dass es sich um ihre einzige Schwester handelte. Abgesehen davon, dass sie ihre Lieblingsschuhe an den Füßen trug, hatte Kat auch noch ihre Beine um Pearls Verlobten geschlungen.

Selbstverständlich gab Pearl alle Schuld ihrer Schwester. Ein Mann ist wie ein Brunnen: Er hat absolut keine Kontrolle darüber, wer seine Pumpe füllt.

»Das ist nur deine Schuld!«, kreischte Pearl und zeigte mit spitzem Finger auf Kats Beine, die kerzengerade in die Luft ragten.

Langsam warf Bourne Cavanagh einen Blick über seine breite, nackte Schulter zurück, das markante Gesicht trunken vor Whiskey und Verlangen. Pearl versank in seinen wasserblauen Augen wie in einem heidnischen Taufbecken, und ihre Entschlossenheit begann zu bröckeln. Bourne wusste, dass er nur das Zauberwort aussprechen musste, und Pearl würde ihn um Verzeihung bitten.

»Bitte, Schatz«, lallte er, »gib mir nur noch eine Minute.« Pearl dachte in der Tat ganze dreißig Sekunden lang über seine Bitte nach, was nur beweist, wie weit eine Frau zu sinken bereit ist. Doch dann stieg tief aus ihrem Inneren etwas empor, etwas, das so verborgen war, dass nicht einmal sie wusste, dass es in ihr steckte. Sie packte die leere Whiskeyflasche, die auf dem Boden lag, und schleuderte sie mit aller Kraft auf die beiden. Bourne riss die Hand hoch, als die Flasche gegen die Mauer prallte, aber nicht schnell genug, um die Glasscherbe abzuwehren, die ihm von der Augenbraue bis zur Wange das Gesicht aufschnitt. Zögernd betastete er das Malheur und starrte auf seine blutigen Finger. Dann hob er langsam den Kopf und schaute Pearl an. Der Blick zwischen den beiden sprach Bände. Aber ihre bevorzugte Form der Kommunikation war von jeher die Körpersprache gewesen. Nachdem sie Kat ihre Schuhe von den schmutzigen Füßen gerissen hatte, bestieg Pearl den erstbesten Zug, der aus der Stadt hinausfuhr.

Die folgenden drei Jahre im Leben von Pearl Wilde verlieren sich im Ungewissen. Frank Merrill, der Apotheker, wollte sie irgendwann einmal gesehen haben, als sie in Chicago in eine glänzende schwarze Limousine stieg. Doch der Mann in ihrer Begleitung versicherte Frank unsanft, dass er sich irre. Wie Pearl es aus den Niederungen von Five Points in eine Limousine in Chicago geschafft haben sollte, war zwar ein Mysterium, aber alle waren sich einig, dass diese Frau zu Höherem geboren war.

Wieder einige Zeit später sprang Eddie McGowan nach der Hälfte des Films Grand Hotel auf und deutete auf die flimmernde Leinwand. »Das ist Pearl Wilde!«, rief er laut in das dunkle Lichtspielhaus. Dickie Deason, der am Wochenende als Vorführer im Roxy arbeitete, ließ den Projektor zurücklaufen und führte die Szene immer und immer wieder vor, bis der Filmstreifen sich schließlich verhakte und hängen blieb. Stumm sahen sie zu, wie Pearls Zelluloidgesicht zusammenschmolz, aber ihr Anblick, wie sie, von Kopf bis Fuß in schimmernden Strass gehüllt, Champagner aus einem langstieligen Glas schlürfte, war für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Weitere Hinweise auf Pearls Aufenthaltsorte lieferten sonst nur noch die Postkarten, die monatlich eintrafen, abgestempelt in New Orleans, Chicago, New York, Paris, Rom, Berlin und in einer Stadt im Orient, von der auf dem Postamt noch nie jemand etwas gehört hatte. Ungeachtet der Herkunft der Karte, lautete die Botschaft stets gleich.

»Kat Wilde, ich hoffe, Du schmorst in der Hölle!«

»Pearl hatte schon immer eine schöne Handschrift«, meinte Miss Mabel Hilliard seufzend und strich sehnsüchtig mit dem Finger über die exotische Briefmarke. »Und sie war schon als Kind sehr hartnäckig. Wenn sie sich mal in etwas verbissen hatte, war sie nicht mehr davon abzubringen.«

Über vierzig Jahre lang hatte Miss Mabel sich in der Zwergschule oben auf dem Hügel abgemüht, die Aufgeweckten und die weniger Wachen gleichermaßen mit Bildung zu beglücken. Sie kannte jedes Kind in Five Points, das irgendwann das Erwachsenenalter erreicht hatte, und jedes Jahr im Herbst pflanzte sie Chrysanthemen auf die vernachlässigten Gräber derjenigen, die es nicht geschafft hatten.

»Diese Pearl Wilde war ein echter Hingucker.« Sogar der Postamtsvorsteher verstieg sich zu einem ungebetenen Kommentar, während er den Stempel zwischen Stempelkissen und einem Stapel Umschläge rhythmisch hin- und herbewegte.

»Ihre Schwester Kathryn ist genauso hübsch«, erwiderte Miss Mabel beherzt.

Als progressive Lehrerin behandelte Miss Mabel alle ihre Schüler gleich, auch wenn sie es nicht waren. Sie hatte beide Wilde-Mädchen unterrichtet und wusste, aus welchem Holz sie geschnitzt waren. Mit kaum einem Jahr Altersunterschied geboren, waren die beiden Schwestern so unterschiedlich wie die Sonne und der Mond und ebenso unwillig, sich in den Schatten stellen zu lassen.

Der Herr hatte jedes der Wilde-Mädchen mit einem guten Blatt gesegnet – mit Schönheit, Glück, Verstand. Und sie hatten einander. Doch wie die meisten Glücksritter waren sie entschlossen, nicht die Karten, sondern die Spieler zu beherrschen. Als Pearl aus dem Mutterleib glitt, streckte sie dem Arzt galant die Hand hin, während Kat den alten Quacksalber beiseite schubste und sich aus eigenem Antrieb auf den Weg in die Welt hinaus machte.

Pearl vertrieb sich die Zeit am liebsten mit dem Make-up und dem Schmuck ihrer Mutter. Kat warf die Puppen in die Ecke zugunsten eines verrosteten Werkzeugkastens, den der letzte Liebhaber ihrer Mutter vor der Schlafzimmertür hatte stehen lassen. In der Schule wusste Kat die Antwort, bevor die Frage gestellt war. Pearl hingegen wusste beizeiten, dass ihr alles, was sie in einer Dorfschule lernte, nur wenig nützen würde. Kat konnte bei einer Rangelei jeden Jungen niederringen, selbst wenn man ihr dabei eine Hand auf den Rücken band. Pearl lagen die Jungen bereitwillig zu Füßen, doch normalerweise waren es deren Hände, die gefesselt waren. Kat war eine Wildkatze, Pearl so verwöhnt und lasziv wie eine Perserkatze mit strassbesetztem Halsband.

»Alle haben Pearl immer überbewertet und Kathryn unterbewertet«, meinte Miss Mabel gedankenverloren, während sie die Postkarte umdrehte, um auf der Vorderseite das Bild eines sich windenden roten Drachen zu betrachten. »Die Ernsten werden immer ernster genommen als die Unbekümmerten. Man geht einfach davon aus, dass glückliche Menschen zu beschränkt sind, um zu wissen, dass sie eigentlich unglücklich sind.«

Pearl hatte einen diamantenförmigen Schönheitsfleck am Mundwinkel, und das zeigte, wo es bei ihr im Leben langging. Keiner zweifelte daran, dass sie etwas aus sich machen würde. Ebenso wie keiner daran zweifelte, dass Kat als Ebenbild ihrer Mutter ihr Leben vergeuden würde. Doch Miss Mabel beurteilte einen Menschen nicht nach seinem Aussehen oder ein Kind nach der Mutter, die es geboren hatte.

»Kathryn war ein kluges Kind. Im Rechnen war sie besser als alle meine Jungen.«

Miss Annabelle, die Telefonistin von Five Points, schnaubte empört. »Kat Wilde ist doch schon als kleiner Klugscheißer auf die Welt gekommen.«

»Sie war ein fröhliches Kind«, stellte Miss Mabel klar.

»Kat hat die Fröhlichkeit ihrer Mutter geerbt«, erklärte Annabelle dem Postamtsvorsteher, als wüsste der das nicht selbst. »Lorna Wilde hätte noch auf der Titanic einen Stepptanz aufs Parkett gelegt. Meine streunende Katze ist eine bessere Mutter, als Lorna Wilde es ihren Mädchen war.«

Daraufhin wusste Miss Mabel nichts zu erwidern. Sie konnte weder Lorna Wildes Mutterinstinkte noch deren Fehlen verteidigen. Lorna Wilde hatte etwas von einer Akrobatin auf Flugzeugflügeln an sich. Erst wenn sie den nächsten Mann fest am Haken hatte, ließ sie seinen Vorgänger ziehen. Damit war sie vollauf beschäftigt und hatte deshalb nicht viel Zeit, sich als Mutter zu engagieren. Die beiden Schwestern bemutterten einander und taten ihr Bestes, auch Lorna zu erziehen. Doch trotz all ihrer Bemühungen endete Lornas geistiger Horizont auf Höhe der Matratze.

»Lorna Wilde.« Seufzend stieß Bürgermeister Hardin Wallace ihren Namen hervor, als er die Ankündigung zur Stadtratsversammlung an das Anschlagbrett der Post nagelte. »Wenn eine schön war in der Familie, dann sie. Die Frau hatte Beine wie eine Giraffe.«

Sofort bedauerte Hardin seine Bemerkung. Eine Aussage wie diese sollte ein Politiker sich in gemischter Runde besser verkneifen, vor allem, wenn seine Frau anwesend war.

June Wallace schnappte kurz und heftig nach Luft, und ein bekümmerter Ausdruck trat auf ihr ohnehin ständig in Sorgenfalten gelegtes Gesicht. Hardin wappnete sich gegen die Szene, die sicher folgen würde. Es gab nur eines, das noch schlimmer war, als mit einer eifersüchtigen Frau verheiratet zu sein – die Ehe mit einer verrückten eifersüchtigen Frau. June Bug Wallace hatte in beiden Kategorien einen Ruf zu verteidigen. Nicht unbedingt die beste Ausgangssituation für einen Mann, der mit einem Auge nach dem Gouverneurspalast schielte, während er mit dem anderen die Beine jeder Frau in der Stadt taxierte.

Die Handtasche an die Brust gedrückt, lief June aus dem Postamt, Hardin hinter ihr.

»Ich bitte dich, June Bug«, flehte er auf dem Weg durch die Tür, »du weißt doch, dass du die große Liebe meines Lebens bist.«

Alle in dem Postamt blickten ohne großes Interesse durch das Fenster auf die Straße hinaus. Die ehelichen Streitereien der Wallace' waren schließlich abgestanden wie kalter Kaffee. Dann reichte Miss Mabel die Postkarte an Annabelle weiter, und die beiden alten Jungfern setzten ihre Debatte über die Wilde-Frauen fort. Da die Regierung Klatsch noch nicht mit Steuern belegt hatte, kursierte er in Five Points noch frei und ungehindert. Als der Tag sich dem Ende zuneigte, hatte jeder in der Stadt die neueste Postkarte eingehend studiert und wieder einmal seine vorgefasste Meinung bestätigt gesehen. Die Optimisten beharrten weiterhin auf ihrer Überzeugung, dass Pearl einen reichen Mann geheiratet hatte, vielleicht sogar eine Hoheit, und ein Leben in Müßiggang und Luxus führte. Die Pessimisten, deren Ansehen im Leben nur durch das Versagen anderer eine Aufwertung erfährt, rückten keinen Zoll von ihrer Ansicht ab, dass außer der Gattin eines Missionars keine Frau ihren Fuß auf den Boden des gottlosen Orients setzen würde. Nur in einem waren sich alle einig: Was immer Pearl Wilde zweifellos auch verbreiten mochte, das Wort Gottes war es mit Sicherheit nicht. Überflüssig, zu sagen, dass das Bild des exotischen roten Drachen bereits reichlich abgegriffen war, als Kat endlich ihre Post abholte.

Im Dezember 1932 traf keine Postkarte ein. Das und die Weltwirtschaftskrise warfen einen düsteren Schatten über die bereits niedergedrückte kleine Stadt. Es gab keine Arbeit, kein Geld und keine Hoffnung. Um der allgemeinen Verzweiflung noch die Krone aufzusetzen, braute sich am Weihnachtsabend ein Eissturm zusammen. Die Temperatur fiel so rasend schnell, dass die Quecksilbersäule nicht Schritt halten konnte. Bald war jede Oberfläche mit rußigem Eis überzogen, und der Stadtplatz schien aus schwarzem Glas zu bestehen. Nicht nur die Wirtschaft, auch Mutter Natur hatte sich gegen sie gewandt.

Während die Frauen altes Zeitungspapier in die Ritzen um die Fenster stopften, um den pfeifenden Wind und die beißende Kälte abzuhalten, saßen die Männer zusammengesunken am Küchentisch. Sie stierten in ihre Kaffeetassen und versuchten, ihren ganzen Mut zusammenzunehmen, das Haus zu verlassen und in Richtung Norden zu den Stahlwalzwerken aufzubrechen. Natürlich wollte kein Mann wie eine rotäugige Ratte in einer Industriestadt hausen, sechs Tage die Woche im Schichtdienst schmoren, Ruß einatmen und sich Löcher in die Haut brennen lassen von dem geschmolzenen Metall, das aus den gigantischen Schmelztiegeln spritzte. Da konnte man genauso gut gleich das Leben überspringen und schnurstracks in die Hölle wandern. Aber sie zahlten sechsunddreißig Cent die Stunde. Und so stellte sich irgendwann die Frage: Zu welchem Preis war man bereit, seine Seele zu verkaufen?

Draußen bogen sich die elektrischen Leitungen unter der Last, und eisüberzogene Bäume knickten ein wie Mikadohölzchen. Der Wein im Abendmahlskelch in der Kirche St. Jerome verwandelte sich in blutroten Matsch, und an dem schiefergedeckten Dachgesims hingen Eiszapfen, so spitz wie Katzenzähne aus Kristall. Als die Truthahngeier, die in der verwitterten alten Eiche auf dem Kirchfriedhof ihre Schlafplätze hatten, davonzufliegen versuchten, waren ihre Flügel so starr und schwer vor Eis, dass sie zu Boden stürzten und dort festfroren.

Ein kaltes, graues Schweigen legte sich auf Five Points. Eisschicht um Eisschicht umhüllte die hölzernen Krippenfiguren, bis deren Gesichtszüge unkenntlich geworden waren und die Mitternachtsmesse ausfiel. Diejenigen, die ihr wertvolles Geld nicht für Licht ausgeben wollten, und ebenso jene, die überhaupt kein Geld zum Ausgeben hatten, krochen bei Anbruch der Dämmerung in die Betten.

Und deshalb lag die Stadt in tiefstem Schlummer, als Pearl Wilde am Bahnhof von Five Points aus dem Zug stieg.

»Pearl Wilde?«, fragte Pewitt, der Gepäckträger, als erblicke er ein Gespenst. »Bist du es wirklich?«

Pearl war schon immer ein flottes Mädchen gewesen. Ihrem Aussehen nach zu schließen – nachtblauer Bubikopf, blutrote Lippen, kohlrabenschwarz umrandete Augen –, war sie jetzt mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs. Unter einem wadenlangen, weißen Chinchillamantel trug sie ein weißes Kleid aus Kaschmir. Sogar Pewitt wusste, dass eine Frau nach dem Tag der Arbeit im September kein Weiß mehr tragen sollte. Ihrem Aussehen nach sollte Pearl Wilde überhaupt kein Weiß tragen.

»Die Leute haben sich Gedanken über dich gemacht«, sagte er, als wäre es ein Vorwurf.

Jede Entscheidung, die eine Frau trifft, bereichert ihr Bild um eine neue Nuance. Dies erklärt zumindest zum Teil die Wirkung, die Pearls Anblick auf einen Mann hatte. Sofort sah er ein ungemachtes Bett vor sich, halb geschlossene Schlafzimmeraugen und eine Ausstrahlung, so kühl wie Baumwolllaken. Pewitt rechnete kurz nach und kam zu dem Schluss, dass Pearl mittlerweile siebenundzwanzig Jahre alt sein musste. Siebenundzwanzig war ziemlich alt, gemessen am Standard von Five Points. Hart war Pearl geworden in der Zeit ihrer Abwesenheit, aber gealtert war sie nicht. Das Eis in ihren Adern hatte sie frisch gehalten.

Sie war nach wie vor distanziert wie eine Katze. Und arrogant, wie Pewitt fand, wenn sie aus dem Hintergrund die Welt mit ausdruckslosen Augen beobachtete. Als sie beide noch jung gewesen waren, hatte er nie den Mut aufgebracht, sie anzusprechen. Doch jetzt war er ein erwachsener Mann, verheiratet, mit zwei Kindern, und Angestellter der L&N-Eisenbahngesellschaft. Und hier in der Dunkelheit standen nur er und sie auf dem Bahnsteig.

»Mensch«, sagte er mit einer Stimme, so anzüglich, dass seine eigene Frau sie nicht erkannt hätte, »Mensch, siehst du gut aus.«

Während er mit den Füßen stampfte und in die behandschuhten Hände klatschte, um nicht zu frieren, schien Pearl die Kälte nicht wahrzunehmen. Ihr Mantel stand offen, und der Schlitz in ihrem Kleid flatterte im Wind. Pewitts Augen saugten sich an ihrem Bein fest, und er betete darum, einen Blick auf mehr zu erhaschen.

Pearl nahm langsam einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und sah sich desinteressiert um. Pewitt hatte es sich zur Regel gemacht, sich nirgendwo einzumischen, nicht einmal in sein eigenes Leben. Doch in dieser Nacht folgte er Pearls starrem Blick: zu dem zerfetzten Zeitungspapier, das über die Straße geweht wurde, zu der verblichenen Farbe, die vom Bahnhofsgebäude abblätterte, zu den mit Brettern vernagelten Schaufenstern, denen Ruß und Apathie anhafteten. Dann fiel Pearls Blick auf ihn. Pewitt zog die Ärmel seines Mantels über die Handgelenke, um seine zerschlissenen Manschetten zu verbergen.

»Die Zeiten sind hart, seit du weg bist«, sagte er, als wollte er sich für den gegenwärtigen Zustand der Stadt entschuldigen. Eine Entschuldigung ist kein Schuldeingeständnis. Pewitt war schließlich nur Gepäckträger am Bahnhof. Was kann ein einzelner Mann schon ausrichten? Auf Pearls Gesicht zeigte sich keine Regung.

»Bist du für immer nach Hause gekommen«, fragte er, um das Schweigen zu füllen, »oder bist du nur auf der Durchreise?«

Nach einem letzten Zug von ihrer Zigarette ließ Pearl die erloschene Kippe auf den kiesigen Bahnsteig fallen und rammte sie mit der Spitze ihres hochhackigen Schuhs in den Boden. Ein Rest von weißem Rauch umspielte ihre leicht geöffneten Lippen, während sie an Pewitt vorbeistarrte. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, so kalt, dass er sicher war, ein Mann müsste an ihren Lippen festfrieren, sollte er versuchen, sie zu küssen.

»Ich habe beschlossen, ein Bordell zu eröffnen.«

Kapitel 2

Die meisten angehenden Puffmütter fangen klein an: in einer besseren Hundehütte, mit einer Handvoll Mädchen, deren einzige vermarktbare Fähigkeit darin besteht, gleichzeitig Kaugummi zu kauen und zu stöhnen. Doch Pearl betrieb alles im großen Stil. Keiner wusste, woher sie das viele Geld hatte, aber alle malten sich lustvoll diverse Möglichkeiten aus, wie sie dazu gekommen war.

Das Haus auf dem Dog Leg Hill war exakt der Ort, der Pearl vorschwebte, eine viktorianische Villa mit sieben Schlafzimmern auf der falschen Seite der Bahngleise und mit einem skandalösen Ruf. Dabei nahe genug an der Stadt, um zu Fuß dorthin gelangen zu können, aber weit genug entfernt, damit die Diskretion gewahrt blieb.

Die alte Villa war von einem gewissen Mr. C. W. McCauley erbaut worden, ein Eisenbahner, der seine Zeit zwischen Louisville, Kentucky, und dem Umsteigebahnhof von Five Points aufteilte. C. W. lebte sein Leben auf der Überholspur. Er hatte eine Uhr in jeder Jackentasche, ein Haus in jeder Stadt und eine Frau in jedem Haus. Das Leben ist kurz für einen Mann, dessen Docht an beiden Seiten brennt. C. W. starb in seinem eigenen Bett – zumindest in einem von beiden. Und wenn schon nicht friedlich, dann immerhin vollständig erschlafft. Der Herr nahm ihn schnell zu sich, jedoch nicht schnell genug, um C. W. daran zu hindern, den Namen seiner Frau in Tennessee zu rufen, als sein kleiner Puffpuff zu seiner letzten Fahrt in den Tunnel von Louisville ansetzte.

»LuLa, ich komme!«, rief er, kurz bevor seine Maschine für immer erstarb.

Als derjenigen mit den älteren Rechten fiel der Ehefrau aus Louisville sein ganzer Besitz zu. Und während das Männerquartett »I've Been Workin' on the Railroad« intonierte und die Sargträger C. W. das letzte Geleit gaben, machte sich die erste Mrs. McCauley daran, die »Angelegenheiten« ihres Mannes zu regeln. Als die zweite Mrs. McCauley und ihre sechs Kinder von der Beisetzung nach Hause zurückkehrten, fanden sie die Türen ihres Hauses mit Vorhängeschlössern versehen. Im Vorgarten prangte ein Schild: ZU VERKAUFEN, während ihre Habseligkeiten auf einem Haufen draußen vor dem Tor lagen.

Das Haus stand zwei Jahre leer. Sobald potenzielle Käufer die Geschichte erfuhren, schienen die Ehemänner immer eine Spur zu viel Interesse für die Details an den Tag zu legen.

»Zwei Ehefrauen?«, fragte der staunende Mann. »Wie schafft ein einzelner Mann das nur?« Woraufhin die Frau ungehalten erwiderte: »Für eine anständige Frau ist das kein Ort, um ihre Kinder großzuziehen!« Weder finanzielle Erwägungen noch ein felsenfestes Fundament konnten ihre Meinung ändern.

Der Ruf der alten viktorianischen Villa war für immer ruiniert, und keine noch so große Menge an englischer Möbelpolitur konnte ihren jungfräulichen Schmelz wiederherstellen. Pearl fühlte sich jedoch sofort zu Hause. Sie gab ein beleidigend niedriges Angebot ab, woraufhin der Immobilienmakler indigniert die Hände über dem Kopf zusammenschlug. »Sagen Sie der Eigentümerin, dass ich ein Bordell eröffnen will«, befahl ihm Pearl. Und zur Überraschung des Maklers überließ ihr die erste Mrs. McCauley aus Louisville das Anwesen für einen Apfel und ein Ei.

Es ist schon schwierig genug, einen Mann dazu zu bringen, ein Haus in Schuss zu halten, geschweige denn zwei. Nachdem die Villa auf dem Dog Leg Hill jahrelang leer gestanden hatte, sah sie nicht nur heruntergekommen aus wie zu den Zeiten von C. W., sondern wirkte geradezu verwahrlost. Die altrosa Tünche war zu einem schmutzigen Grauton verwittert, die kunstvoll gearbeiteten Kreuzversatzleisten der rundum verlaufenden Veranda waren verrottet und teilweise abgebrochen, und die Schaukel baumelte schief an einer einzigen verrosteten Kette. Gurrende Tauben hatten die Glaskuppel erobert, zu der sie sich durch eine fehlende Scheibe flatternd Zugang verschafften und dabei den Boden mit Federn und Exkrementen übersäten. In den Schlafzimmern hausten Wildkatzen, die sich von Mäusen und Taubeneiern ernährten, während Strumpfbandnattern durch die Ritzen im steinernen Fundament, aus denen der Mörtel bröckelte, im kühlen Keller ein und aus krochen. Efeu wucherte durch die zerbrochenen Fensterscheiben bis ins Wohnzimmer hinein und rankte sich dort die abstehende Tapete hinauf, als wäre die Kletterpflanze Teil des Dekors aus Gartenpforten. Die Dachschindeln aus Schiefer waren auf den Rasen vor dem Haus gefallen und erinnerten an umgestürzte Grabsteine.

Eine Hand in die Hüfte gestemmt, während sie mit der anderen Hand die neuen Schlüssel schwenkte, stand Pearl vor diesem Wrack von Haus und taxierte es. Die alten viktorianischen Fenster schienen ihrem Blick ausweichen zu wollen und sich dessen zu schämen, was aus der Villa geworden war.

»Keine Bange, altes Mädchen«, sagte Pearl gelassen, »wir werden dich bald wieder auf Vordermann bringen.«

Annabelle Boyd war nicht nur das Fräulein vom Amt in Five Points, sondern fungierte darüber hinaus auch als städtisches Sprachrohr. Hatte eine Frau keinen Telefonanschluss, war Annabelle überglücklich, die Neuigkeit persönlich überbringen zu dürfen – ob sie diese Nachricht etwas anging oder nicht. Gegen Ende der Woche war Pearl Wilde die einzige Person in Five Points, der Annabelle noch nicht mitgeteilt hatte, dass Pearl Wilde ein Bordell eröffnete.

Doch bevor Pearl ihr Gewerbe eröffnen konnte, musste noch jede Menge Arbeit in das alte Haus investiert werden. Ein Mann mit Eigeninitiative hätte einfach an Pearls Tür geklopft und um Arbeit nachgesucht. Doch da alle Männer dieses Kalibers in Five Points ihr Heil längst außerhalb der Stadt gesucht hatten, musste Pearl sich selbst nach Handwerkern umsehen.

Ein Mann, der keine Arbeit hat, um seine Zeit sinnvoll auszufüllen, neigt dazu, in seinen natürlichen Zustand zurückzuverfallen – in Five Points ein Zustand der Lethargie. Im Sommer waren die Jungs auf der Veranda von Witwe Greens Gemischtwarenladen anzutreffen, wo sie träge herumsaßen, an einem Hickorystock herumschnitzten und dem Gras beim Wachsen zusahen. Beim ersten Frost zogen sie in Bud Marshalls Haushaltswarenhandlung um, wo sie bis zum Frühjahr gemütlich vor dem dickbäuchigen Ofen überwinterten.

Bud Marshall hasste den Sommer. Im Sommer brachte er die meiste Zeit damit zu, mit einem Schraubenzieher der Marke Phillips Ohrenschmalz aus seinen Ohren zu pulen und zuzuschauen, wie die Küchenschaben über den schmutzigen Holzfußboden flitzten. Als noch sein alter Herr das Geschäft geführt hatte, hatten hier sechs festangestellte Verkäufer gearbeitet. Bud und die Wirtschaftslage hatten es geschafft, Personal und Umsatz um einiges zu reduzieren. Außer dass er hin und wieder eine Schachtel Nägel und ein paar zwei auf vier Zoll starke Holzbalken verkaufte, beschränkte sich sein Geschäft auf den Handel mit Produkten aus Colonel Cavanaghs illegaler Whiskeybrennerei. Da die meisten dieser Transaktionen nach Ladenschluss stattfanden, verbrachte Bud fast alle Tage mutterseelenallein in seinem Laden. Sollte er mal Hilfe beim Abladen von Bauholz benötigen, genügte ein lauter Ruf über die Straße, und einer der Jungs, die auf der Veranda des Gemischtwarenladens schaukelten, kam zu ihm herübergeschlendert. Als Entlohnung zerriss Bud normalerweise ein paar Schuldscheine, ausgestellt in Ermangelung anderer Möglichkeiten, an das Geld zu kommen, das sie ihm schuldeten. Aus Sicht der Jungs stellte dies allerdings nicht unbedingt einen großen Anreiz dar, sich ins Zeug zu legen.

Den ganzen lieben langen Tag lehnte Bud hinter seiner Ladentheke und sah zu, wie die Jungs Dame spielten und ab und an einen Strahl Kautabak in den Staub spien. Bud wusste, dass sie dabei heftig diskutierten, aber er würde nie erfahren, worüber, weil er nicht drüben war. Man kann eine Geschichte kein zweites Mal auf dieselbe Weise erzählen. Einzelheiten gehen verloren, die Begeisterung verpufft. Sobald ein Vorfall in Worte gefasst ist, ist er für immer erledigt. Bud starrte durch das Schaufenster der väterlichen Haushaltswarenhandlung und sah mit blutendem Herzen zu, wie die Jungs die Zeit totschlugen.

Er versuchte alles Mögliche, sie auch im Sommer in den Laden zu locken. Er drehte das Radio auf volle Lautstärke und hängte an die rückwärtige Wand Kalender mit den Fotos kurvenreicher Frauen, die kurze Hosen und unter dem Busen geknotete Hemden trugen, dabei neckisch in den Hüften einknickten und eine Schraubzwinge küssten. Er besorgte Kissen für die harten Stühle und stellte leere Nagelfässer hin, damit die Jungs etwas hatten, worauf sie ihre Füße legen konnten. Er ließ einen Deckenventilator installieren, erweiterte seinen Vorrat an Royal Crown Cola und befestigte an der Wand einen Ständer mit gesalzenen Erdnüssen und Marshmallowkeksen. Doch wenn die Jungs im Sommer tatsächlich einmal Buds Lockrufen in seinen Laden folgten, dann nur aus zwei Gründen: Entweder um bei ihm auf den Lokus zu gehen, oder um sich mit Vorräten einzudecken.

»Na, was erzählt ihr euch denn heute so?«, erkundigte Bud sich dann sofort übereifrig.

»Ach, immer denselben alten Scheiß«, erwiderte Woody, während er aus der Toilette kam, den Reißverschluss hochzog und das Bein schüttelte, um sein Gemächte zurechtzurücken.

»Im Bauernalmanach steht, dass es heuer früh Frost geben soll.« Bemüht, nicht allzu verzweifelt zu klingen, versuchte Bud, die Konversation am Laufen zu halten.

»Was du nicht sagst«, lautete die Antwort von Woody, der sich ungeniert sechs Flaschen Royal Crown aus dem Waschzuber voller Eis nahm.

Ein weiterer Griff ins Regal, und Woody stopfte sich die Taschen mit Keksen und Erdnüssen voll. Dann ließ er einen Schuldschein in die Büchse fallen und schlenderte zurück in den Gemischtwarenladen.

Je verzweifelter Bud versuchte, sie im Sommer zu umwerben, desto gnadenloser ließen ihn die Jungs abblitzen.

Doch sofort beim ersten Frost, wenn Bud die Glut in seinem Holzofen entfachte, sah er, wie sich ihm ihre Gesichter zuwandten. Im Keller gab es eine Kohlenheizung, die den Haushaltswarenladen bestens wärmte, aber nichts zieht einen Mann mehr an als ein prasselndes Feuer. Kaum pendelte das Thermometer sich bei vier, fünf Grad ein, fingen die Jungs an, in Buds Laden überzusiedeln. Bud hielt sich zurück, bis sie sich auf ihren Stühlen niedergelassen hatten und auf das Feuer starrten. Doch dann legte er los. Nach einem halben Jahr Einzelhaft hatte Bud eine Menge loszuwerden.

»Ich musste doch glatt den Snackständer an die Wand schrauben«, erzählte er, überschwänglich wie ein junger Hund. »Die Mäuse haben die Salzkräcker in der untersten Reihe angeknabbert. Ich hab sogar Dübel hernehmen müssen für die Ziegel. Klar, um den Rauchabzug herum ist der alte Backstein weich wie Butter. Aber wenn ich den Ständer dorthin hänge, werden nur die Kräcker trocken. Hier«, fügte er hinzu und schob ein Fass unter Roy Lesters Stiefel, »leg deine Füße hier drauf.«

Je mehr Bud plapperte, desto ruhiger wurden die Jungs. Je ruhiger sie wurden, desto mehr legte Bud sich ins Zeug.

»Hab mir überlegt, mir einen Eisschrank zuzulegen. Dann gibt's Käse und Mortadella. Da käme dann mal echt Geld rein. Vielleicht stell ich auch noch 'nen Topf mit Wiener Würstchen hin. Was haltet ihr Jungs von Soleiern –«

»Herr im Himmel!«, bellte Roy Lester schließlich. »Wenn ich auf Krach scharf wäre, würde ich daheim in meinem Wohnzimmer hocken und mir das Geschwätz von meiner Alten anhören!«

Natürlich wusste jeder, dass Roy Lester keine Chance hatte, sich in seinem eigenen Wohnzimmer aufzuhalten, selbst wenn er gewollt hätte. Seine Frau Joy (die ihrem Namen – Freude – keine Ehre machte) ließ keine Menschenseele je einen Fuß in ihr Allerheiligstes setzen. Nur an Weihnachten und bei Beerdigungen machte sie eine Ausnahme. Aber die Jungs verstanden, was Roy damit ausdrücken wollte.

Daraufhin war Bud eine Weile eingeschnappt, zog einen Schmollmund und tat so, als hätte er an der Registrierkasse zu tun. Aber wenn die Jungs einmal in seinem Laden saßen, konnte ihn nichts lange bremsen.

»Habt ihr Jungs vielleicht Lust auf Bohnen und Maisbrot?«, fragte er nach einer Weile. »Ich dachte, ich könnte zum Mittagessen einen Topf mit Pintobohnen auf den Herd stellen. Peperoni hab ich auch noch, und ich könnte noch 'ne Zwiebel ...«

Im Winter musste Bud den Snackständer und den Zuber mit Royal Crown doppelt so oft nachfüllen. Gelegentlich lieh sich einer der Jungs auch einen Schraubenzieher oder eine Zange aus – für immer, versteht sich. Aber das war ein niedriger Preis für ihre Gesellschaft. Und aus Sicht der Jungs gab es nicht viele, die bereit waren, sich für diese Almosen mit Bud abzugeben.

Die Jungs wussten, dass Pearl Wilde auf sie zukommen würde, doch zwei Wochen lang warteten sie vergebens. Sie überlegten gerade, ob sie beleidigt sein sollten, als Bud Pearl endlich draußen auf dem Gehsteig entdeckte.

»Da kommt sie!«, rief er und eilte zurück, um seinen Platz auf dem Stuhl vor dem Bullerofen bei den anderen einzunehmen. Pearl sei noch immer eine heiße Braut, hieß es. Doch da ihre Meinung so ungefähr das Einzige war, das sie noch nicht in Mendelsons Pfandleihe versetzt hatten, wollten die Jungs sich lieber selbst ein Bild von ihr machen.

Als eine über Gebühr lange Zeit verstrich und sich nichts tat, drehte Bud sich auf seinem Stuhl um und reckte den Hals, um nachzuschauen, was sie so lange aufhielt. Pearl stand vor seiner Auslage. Da sie die Sonne im Rücken hatte, konnte Bud nicht mehr erkennen als ihre Silhouette, aber er hätte sie so oder so erkannt. Es war die Art, wie sie dastand – eine Hand auf der Hüfte, das Gewicht auf ein Bein verlagert. Seit sie zusammen in der Schule gewesen waren, hatte sie diese Ausstrahlung an sich, so als wäre ihr nicht bewusst, dass alle Welt sie beobachtete. Oder vielleicht war es ihr auch vollkommen egal. Pearl Wilde hatte noch nie mehr tun müssen, als irgendwo aufzutauchen, um sich der ungeteilten Aufmerksamkeit eines jeden Mannes sicher zu sein.

Als Bud versuchte, Pearls Gesicht zu erkennen, wurde ihm plötzlich schwindlig, und eine Welle der Übelkeit überrollte ihn, als wäre er seekrank. Er hatte zwar noch nie den Ozean gesehen, war aber ziemlich sicher, dass es sich so anfühlen musste. Das Zimmer schwankte, ihm drehte sich der Magen um, und ihm wurde heiß, als hätte er Fieber. Zuerst dachte Bud, er bekäme die Grippe. Doch während er Pearl betrachtete, deren Blick auf seinem staubigen Schaufenster ruhte, in dem gerade mal zwei ausgeblichene Levis-Latzhosen schlaff über einem Ständer hingen, wurde ihm klar, was mit ihm nicht stimmte: Er schämte sich.

Langsam wanderte Buds Blick durch den Haushaltswarenladen, und sein Magen verkrampfte sich. Plötzlich sah er das väterliche Geschäft mit Pearls Augen: stapelweise aufgerissene Schachteln, aus denen die Ware auf den Boden quoll, ein verrosteter Eimer, in dem das Regenwasser faulte, das von der Decke tropfte, alle Regale mit zentimeterdickem Staub bedeckt, während auf der Ladentheke uralte, vergilbte Kassenbelege herumlagen, die sich bereits an den Ecken aufrollten.

Fiel etwas von einem Regal herunter, ließ Bud es auf dem Boden liegen. War etwas auf dem falschen Platz eingeräumt, ließ er es dort. Sein Vater hatte sein Leben damit zugebracht, das Geschäft aufzubauen, und Bud hatte darin gearbeitet, seit er alt genug gewesen war, einen Besen zu schwingen. Jetzt schaute er sich um und fragte sich, wann er aufgehört hatte, sich dafür einzusetzen.

Endlich ertönte die Türglocke, und ein Stromstoß durchzuckte die Jungs. Pearl kam hereingeschlendert, blieb eine volle Minute lang vor der Ladentheke stehen und sah sich beiläufig um. Sie zögerte immer, wenn sie einen Raum betrat, wie eine Stripperin, die kurz innehält, ehe sie ihren Handschuh auszieht. So als wäre sie noch unsicher, ob sie es tun sollte. Die meisten Frauen haben kein Gespür für das richtige Timing. Entweder legen sie los wie der Teufel oder kommen erst gar nicht in die Gänge. Bei Pearl war jeder Atemzug eine Aufforderung und jede Bewegung eine Herausforderung. Ihre Ausstrahlung war ihr durchaus bewusst, aber sie war einfach so verdammt gut, dass sie nicht darüber nachdenken musste.

Schließlich hörte man sie den dunklen Korridor zwischen den Behältern mit den Beilagscheiben und den Schrauben entlanggehen. Ihr Gang sagt viel über eine Frau aus. Die Absätze mancher Frauen trommeln auf den Fußboden, als trieben sie Nägel in das Holz. Manche trippeln wie verhuschte Mäuse. Pearl setzte locker und lässig einen Fuß vor den anderen, was auf die Jungs den Eindruck machte, als hätte sie alle Zeit dieser Welt. Doch diese Zeit hatte ihren Preis.

Alle Anwesenden hatten Pearl ihr Leben lang gekannt, mit Ausnahme von Eddie McGowan, der in mehr als einer Hinsicht der Benjamin der Gruppe war. Aber man kann eine Frau so und so kennen. Alle hatten sie mit Pearl zusammen die Schulbank in Miss Mabels Klassenzimmer gedrückt und mehr Zeit in der Kirche von St. Jerome damit verbracht, Pearls Profil statt das vor ihnen hängende Kruzifix anzubeten. Und dennoch war Pearl ein Mysterium für sie wie der Mond. Und ebenso unerreichbar. Kurz nachdem sie voll erblüht war, hatte Bourne Cavanagh Besitzansprüche auf Pearl angemeldet. Und jeder hütete sich davor, Cavanagh in die Quere zu kommen.

Nachdem sie den Laden zur Hälfte durchquert hatte, verstummte das klackende Geräusch von Pearls hohen Absätzen auf dem schmutzigen Fußboden. Die Jungs wurden allmählich ungeduldig. Vorsichtig den Kopf hebend, warfen sie einen raschen Blick nach vorn, um zu sehen, was Pearl dort so lange aufhielt. Sie hatte ihnen den Rücken zugewandt und stand vor dem Schaukasten mit den Türklopfern aus Messing. Natürlich riskierten die Jungs einen zweiten Blick. Die meisten Frauen in der Stadt malten sich mit Tinte einen schwarzen Strich auf die Waden, damit es aussah, als trügen sie Seidenstrümpfe. Pearls Seidenstrümpfe waren echt. Die Augen der Jungs verharrten kurz auf Pearls Fußknöcheln, ehe sie der Strumpfnaht vom Absatz bis zum Saum ihres weißen Chinchillamantels folgten. Von dort an übernahm ihre Phantasie, und sie stellten sich den Seidenstrumpf vor, der an ihrem spitzenbesetzten Strapsgürtel befestigt war, und dazwischen den weichen, blassen Streifen Fleisch, der so gut duftete. Roy Lester stieß einen stummen Pfiff aus. Und plötzlich wurde es sehr warm in dem Raum.

Mit einem Ruck drehte Pearl sich vor dem Schaukasten um und kam auf sie zu. Schlagartig ließen die Jungs sich auf ihre Stühle zurücksinken. Bis Pearl den Bullerofen erreichte, hatten die Männer – die Arme vor der Brust verschränkt, die Beine lässig ausgestreckt, den Mund voller Kautabak – ihr bestes Pokerface aufgesetzt.

Vor dem Ofen blieb Pearl stehen und streckte die Hände aus, um sie zu wärmen, hauptsächlich aber, um den Jungs Gelegenheit zu geben, sich für sie zu erwärmen. Die Hälfte der Glühbirnen im hinteren Teil des Ladens war ausgebrannt. Bud war zu geizig und zu faul, um neue einzuschrauben. Verstohlene Blicke und angestrengtes Schielen bestätigten den Jungs, dass ihnen deswegen eine Menge Details entgingen. Roy Lester warf einen Blick hinauf zu der ausgebrannten Glühbirne über Pearls Kopf, ehe er Bud böse anstarrte. Bud zog den Kopf ein. Er wusste, dass er sie enttäuscht hatte.

»Hallo, Jungs.«

Pearls heiseres, rauchiges Südstaatentimbre fuhr einem Mann weniger ins Gehör als direkt unter die Haut. Ihre Stimme zielte unter die Gürtellinie und veranlasste den Adressaten, sich nach vorn zu beugen und den Atem anzuhalten, aus Angst, ein Wort oder eine Gelegenheit zu verpassen.

»Ich weiß nicht, ob ihr es schon alle gehört habt, aber ich habe die alte McCauley-Villa oben auf dem Dog Leg Hill gekauft.«

Natürlich wusste sie, dass sie es wussten, und sie wussten, dass sie es wusste. Aber ein Mann lässt sich nicht gern sagen, was er weiß oder nicht weiß. Und wenn es etwas gab, womit Pearl sich auskannte, dann waren das Männer.

»Der alte Kasten ist in einem wirklich traurigen Zustand.« Pearl seufzte traurig.

Mit eingezogenem Kopf starrten die Jungs auf ihre abgetragenen Arbeitsschuhe. Inky Mott ließ einen Zahnstocher von einem Mundwinkel zum anderen wandern, und Dickie Deason tat so, als würde er in einer Wochen alten Zeitung lesen.

»Hey, Buck Darnell«, fuhr Pearl fort, als wäre ihr der Gedanke gerade eben gekommen, »dein Vater hat doch früher die feinsten Schränke geschreinert. Ich werde eine Menge Schränke und Einbauten brauchen. Und hinter dem Haus müsste Platz gemacht werden, damit dort ein paar Autos parken können. Und du, Roy Lester, ich hoffe, du weißt noch, wie man Rohre verlegt. Einen Haufen Badezimmer brauche ich nämlich auch.«

Roy Lester spie einen langen, braunen Strahl Kautabak in die rostige Kaffeedose neben seinem Stuhl.

Mit dem sicheren Instinkt, ihnen ausreichend Vorspiel geboten zu haben, kam Pearl schließlich zur Sache. Sie drehte sich um und sah jedem einzelnen der Männer in die Augen, gerade lang genug, um ihre erloschenen Lebensgeister zu wecken. Hoffnung machte sich breit in dem Raum, vielleicht war es aber auch Testosteron. Für die meisten Männer ist das ohnehin ein und dasselbe. Ein schiefes Lächeln trat auf Dickies Gesicht, und Inky Mott wirbelte den Zahnstocher in seinem grinsenden Mund hin und her wie einen Taktstock. Sie fühlten sich wieder frech und selbstsicher wie damals in der Schule, als das Leben noch vor ihnen lag. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlten sie sich wieder als Männer. Doch ihre Muskeln waren mangels Einsatz schwach geworden. Praktisch sofort begann ihr Selbstvertrauen wieder zu schwinden. Sie senkten den Blick und ließen die Schultern hängen. Beinahe hätten sie Pearl leidgetan, wäre sie nicht so empört gewesen. Viel zu leichtfertig hatten sie ihr Leben aufgegeben. Die Jungs hatten nicht einmal mehr genug Mumm in den Knochen, um ihrem Blick standzuhalten.

»Ich zahle fünfzig Cent die Stunde, plus Mittagessen und Kaffee, so viel ihr trinken könnt«, sagte sie gleichmütig.

Nun, das trieb die Stimmung in die Höhe. Fünfzig Cent die Stunde war mehr, als sie in Nashville bezahlten, um das neue Postamt zu bauen. Die Jungs starrten noch immer auf ihre Schuhe, atmeten mittlerweile aber schwer.

Pearls Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, als keiner ein Wort sagte. Aber keine andere als Pearl wusste besser, dass die Stimmung rasch im Eimer ist, wenn man einen Mann bedrängt.

»Tja«, meinte sie nach einer Weile, »wenn ihr vielleicht jemanden kennt, der Arbeit sucht ...«

Mit einem raschen Blick nach rechts und nach links erhob Eddie McGowan sich langsam von seinem Stuhl. Der Erste Weltkrieg hatte Five Points die Tapferen, die Weltwirtschaftskrise die Ehrgeizigen gekostet. Die Männer, die jetzt noch übrig waren, waren diejenigen, die immer das Nachsehen hatten. Doch von allen Zurückgebliebenen war Eddie McGowan der Letzte, den Pearl sich ausgesucht hätte, damit er für sie arbeitete. Eddie war ein schöner junger Mann mit hellen Augen und einem Schopf goldener Locken. Mit einem kleinen Bogen und einem Pfeil in der Hand wäre er glatt als Amor durchgegangen. Nicht nur ein Mädchen hatte versucht, ihn in den Hafen der Ehe zu lotsen. Aber es ist praktisch unmöglich, einen Mann abzuschleppen, der noch im Fruchtwasser schwimmt. Eddie war ein neunzehn Jahre altes Muttersöhnchen und noch lange nicht abgenabelt.

Pearl öffnete ihr silbernes Zigarettenetui, nahm eine Zigarette heraus und klopfte damit nachdenklich auf ihre eingravierten Initialen. Dabei starrte sie Eddie so intensiv an, dass ein normaler Mann klein und kleiner geworden wäre. Eddie, der sein Leben lang angestarrt worden war, zuckte mit keiner Wimper.

Pearl klappte ihr silbernes Feuerzeug auf und zündete sich die Zigarette an. »Wie geht's deiner Mama, Eddie?«, fragte sie und nahm einen tiefen Zug.

»Der geht's prächtig, Ma'am. Danke der Nachfrage.«

Der Art und Weise nach zu schließen, wie Pearl den Rauch aus dem Mundwinkel stieß, war dies nicht die Antwort, die sie sich erhofft hatte.

»Eddie, weißt du, wie man ein Bad installiert?«

»Miss Pearl, meine Mama sagt, dass ich alles kann, was ich mir in den Kopf setze«, versicherte ihr Eddie.

Die Jungs ließen Pearl nicht aus den Augen, sondern fixierten sie wie Jagdhunde, die wissen wollen, welchen Weg das Kaninchen einschlägt. Pearl mochte schamlos genug sein, in ihrer Heimatstadt ein Bordell zu eröffnen, aber es grenzte schon an Todessehnsucht, der Mutter eines der Ihren zu widersprechen. Die Jungs wussten, dass Pearl wusste, dass Eddie ein Muttersöhnchen war. Und Pearl wusste, dass sie es wussten. Und Eddie hatte nicht nur irgendeine Mutter: Maysie McGowan war eine Naturgewalt.

Wenn Pearl Eddie einstellte, würde Maysie sie ans Kreuz dafür nageln, dass sie ihren Jungen verdarb. Stellte sie ihn nicht ein, würde Maysie das als Beleidigung auffassen und dafür sorgen, dass kein Sohn einer anderen Mutter in Five Points für sie arbeitete.

Pearl hatte also die Wahl zwischen Pest und Cholera. Und alle im Raum wussten das. Mit einem tiefen Zug von ihrer Zigarette, der einen Fingerbreit Asche hinterließ, starrte Pearl Eddie so auffordernd an, dass die Jungs den Atem anhielten.

»Miss Pearl«, sagte Eddie, »ich schwöre Ihnen, ich schaufle Scheiße für Sie, wenn Sie das wollen.«

In seiner Stimme lag so viel Aufrichtigkeit, wie kein Mann sie je an den Tag legen sollte. Pearl machte auf dem Absatz kehrt und stieß dabei einen Seufzer aus weißem Rauch aus.

»Mach deine Arbeit gut«, erwiderte sie trocken, »dann können wir uns das hoffentlich sparen.«

Eddie machte sich noch am selben Tag an die Arbeit, das heißt, wenn man es Arbeit nennen kann, an Pearls Küchentisch zu sitzen und ihr den gesamten Klatsch der Stadt zu erzählen. Pearl saß Eddie gegenüber, rauchte und sah ihm dabei zu, wie er seinen Kuchen aß.

»Erzähl mir von meiner Schwester«, bat Pearl schließlich.

Eddie schaute zu ihr hoch und kaute ungerührt weiter.

»Kat? Was wollen Sie wissen?«

Pearl nahm einen langen Zug und hielt die Luft an.

»Alles«, erwiderte sie beim Ausatmen.

Kapitel 3

Um fünf Uhr schickte Pearl Eddie nach Hause. In seiner Tasche steckten der Lohn für vier Stunden Arbeit und eine handschriftliche Nachricht auf weißem Büttenpapier mit einem verschlungenen W im Briefkopf. Während Eddie sich ein Nickerchen auf der Couch gönnte, um sich von seinem anstrengenden Arbeitsnachmittag bei Kaffee und Kuchen zu erholen, stand Maysie McGowan an der Küchenspüle und las Pearls Nachricht bereits das zweite Mal.

Sehr geehrte Maysie McGowan, hier im Umschlag finden Sie Eddies Lohn für die exzellente Arbeit, die er heute geleistet hat. Sie müssen über alle Maßen stolz auf Ihren Eddie sein. Sie haben wirklich einen feinen Sohn mit einer untadeligen Arbeitsauffassung großgezogen.

Mit freundlichen Grüßen, Ihre Pearl Wilde

Maysie blickte auf und schnaubte. Ihr »feiner« Sohn hatte sein Lebtag noch keine richtige Arbeit gehabt. Bevor das Frühstück nicht auf dem Tisch stand, bequemte Eddie sich nicht aus dem Bett, und wenn er nachmittags nicht zu seinem Nickerchen kam, schlief er im Stehen ein. Die einzige Arbeit im Haus, die sie ihm jemals abverlangt hatte, war die, sein Wasserglas auszuspülen und es umgedreht neben das ihre in die Spüle zu stellen. Maysie hatte Eddie für immer verdorben, und das wusste sie. Er war das schönste Baby gewesen, das sie oder ein anderer in der Stadt jemals gesehen hatte. Maysie hatte ihn stundenlang geschaukelt, nur um ihn betrachten zu können. Mit strampelnden Füßchen und fuchtelnden Ärmchen hatte er sie angelacht und gegluckst, bis ihr Herz dahingeschmolzen war. Aber das tat er für jede Frau, die ihn im Arm hielt.

Wenn es um die Verteidigung ihrer Jungen geht, verhalten sich Wölfe weitaus weniger grimmig als Maysie McGowan bei ihrem Eddie. Sie umsorgte und verwöhnte ihn, hielt ihn von allem Bösen fern, bis er zum Mann herangewachsen war, und beschützte ihn mit gefletschten Zähnen. Kein Junge wagte es, sich mit Eddie zu prügeln. Kein Erwachsener wies ihn in der Kirche zurecht. Und kein Mädchen konnte seine Aufmerksamkeit über längere Zeit erregen. Bisher hatte Eddie sein Leben in der Luftblase der mütterlichen Liebe verbracht, von allem hermetisch abgeschottet. Jetzt war er so nutzlos wie gebrauchtes Toilettenpapier.

Maysie starrte aus dem Küchenfenster. Eine schwarzblaue Krähe hockte auf der Wäscheleine, das regenbogenfarben schillernde Gefieder gesträubt, den Kopf gesenkt, während ihre schwarzen Knopfaugen sie fixierten. Maysie klopfte mit ihren rissigen Knöcheln an die Fensterscheibe, aber die Krähe starrte sie weiterhin an. Das war ein Zeichen. Tod oder Veränderung lag in der Luft. Für manche ist das ein und dasselbe.

Maysie wusste genau, dass Eddie nicht imstande war, einen Hammer in einer Werkzeugkiste zu finden, und sie wusste auch, dass Pearl Wilde das wusste. Sie bezweifelte sogar ernsthaft, ob der Junge überhaupt eine Ahnung hatte, wie ein Werkzeugkasten aussah. Aber bei seiner Arbeit für Pearl Wilde war es das erste Mal, dass Eddie jemals im Leben so etwas wie Begeisterung an den Tag gelegt hatte. Maysie McGowan war hin- und hergerissen. Wenn sie sich stur stellte und Eddie verbot, für Pearl Wilde zu arbeiten, war nicht abzusehen, ob er seinen faulen Arsch jemals wieder in die Höhe bekommen würde. Aber andererseits warf es ein schlechtes Licht auf ihre Fähigkeiten als Mutter, wenn Eddie alles vermasselte. Maysie hatte also ebenfalls die Wahl zwischen Pest und Cholera. Sie machte den Umschlag auf und zählte die knisternden Dollarnoten. Und dann war da natürlich noch das Geld.

Maysie nahm die Jacke ihres verstorbenen Mannes vom Kleiderbügel im Garderobenschrank und zog sie über ihre Latzhose. Dann öffnete sie die Tür einen Spalt und spähte auf den schlummernden Eddie im Wohnzimmer. Er hatte sich auf der Couch zusammengerollt, die Hände unter sein schönes Gesicht geschoben, und lächelte im Schlaf. Seit dem Tag, an dem Eddie das Laufen gelernt hatte, hatte Maysie nur um eines gebetet – um eine reiche Frau, die ihn ihr abnehmen würde. Sie hätte sich vielleicht genauer ausdrücken sollen. Eine Arbeit im Puff hatte sie für ihren einzigen Sohn dabei nicht im Sinn gehabt, aber man muss sich mit dem bescheiden, was Gott einem gibt.

Maysie blieb noch einen Moment auf der Veranda stehen, nachdem sie die Haustür leise hinter sich zugezogen hatte. Im Winter wurde es in Five Points früh dunkel. Die Gaslaternen warfen einen dunstigen, gelben Schein auf die anderen Häuser in der Straße. Durch die Fenster konnte Maysie sehen, wie ihre Nachbarn ihrem Alltag nachgingen wie Schauspieler auf einer Bühne: Buck Darnell, rot im Gesicht und wütend, weil das Abendessen so mager ausfiel; seine Frau Luella, die ihn und die drei Jungen wegen irgendwelcher Lappalien anschrie. Pewitt, der Gepäckträger, und seine Frau Addie, die wie zwei Fremde im Zug schweigend in ihrem Wohnzimmer saßen. Annabelle, die Stadttelefonistin, war über die Bibel gebeugt und fuhr mit den Fingern an den Zeilen entlang, die sie gerade las. In Roy und Joy Lesters Haus waren die Vorhänge stets zugezogen, doch das konnte ihre Unzufriedenheit auch nicht verbergen. Das Leben zeigt Flagge, so oder so.

Maysie zog ihre Kappe tief ins Gesicht, klappte den Kragen der Jacke hoch und schob die Hände in die zerschlissenen Taschen. Dann reckte sie entschlossen das Kinn und marschierte in Richtung Dog Leg Hill.

Wie üblich fand Eddie sich auch am nächsten Tag im Haushaltswarenladen ein. Doch kaum war er durch die Tür getreten, blieb er abrupt stehen. Einen Moment lang dachte er, er sei am falschen Ort. Inky Mott schwang einen Besen, Woody stand auf einer Leiter und schraubte neue Glühbirnen in die Fassungen, Dickie Deason klopfte die Spinnweben von der Auslage im Schaufenster, und Buck nagelte ein kaputtes Regal zusammen.

»Was ist denn hier los?«, fragte Eddie.

»Ach, immer derselbe alte Scheiß«, knurrte Bud, ohne von der Ladentheke aufzublicken, die er gerade polierte.

Das Sonnenlicht ergoss sich in voller Pracht in den Laden. Das Schaufenster war so sauber, dass es aussah, als hätte jemand die Scheibe herausgeschlagen. In den Ecken stapelten sich nicht länger leere Kartons, keine verstaubten Spinnweben überzogen die Regalbretter, und auf dem Fußboden lag kein Sand mehr. Es roch nach Scheuerpulver und Möbelpolitur. Neben den Stühlen der Jungs stand anstelle der rostigen Kaffeedose von Maxwell House ein nagelneuer Spucknapf aus Messing, und der alte Schürhaken, der gewöhnlich neben dem Ofen lehnte, war durch ein Kaminbesteck aus Messing ersetzt worden.