Die Geheimnisse von Ravenstorm Island - Der schlafende Drache - Gillian Philip - E-Book

Die Geheimnisse von Ravenstorm Island - Der schlafende Drache E-Book

Gillian Philip

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Beschreibung

Die kleine Insel Ravenstorm Island liegt umtost von Wind und Wellen weit draußen im Ozean. Ein perfekter Ort für Abenteuer und jede Menge ungelöster Geheimnisse! Die Freunde Molly und Arthur müssen Arthurs kleine Schwester davor bewahren, ein bösartiger Finsterflink zu werden. Doch sie entfesseln stattdessen unabsichtlich einen großen und bedrohlichen Drachen! Nicht nur Schloss Ravenstorm, die ganze Insel und all ihre Bewohner schweben nun in höchster Gefahr. Die Freunde brauchen einen cleveren Plan und mächtige Verbündete, um den Drachen zu bezwingen. Der fünfte Band der aufregenden neuen Serie um die Insel Ravenstorm – gruselig und mit einem Hauch Magie! Für alle Fans von Enid Blyton und »Die Spiderwick Geheimnisse«. Alle Bücher der Serie: Band 1: Die verschwundenen Kinder Band 2: Das Geisterschiff Band 3: Der Mondsteinturm Band 4: Der Schattenwald Band 5: Der schlafende Drache

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Gillian Philip

Die Geheimnisse von Ravenstorm Island

Der schlafende Drache

Aus dem Englischen von Katrin Segerer

FISCHER E-Books

Inhalt

Widmung 1234567891011121314151617

Für Amy und Sophie Philip

1

»Sie hat es getan, Molly. Die Königin hat meine Schwester in eine Finsterflink verwandelt!«

Molly Cornell legte ihrem Cousin Arthur tröstend den Arm um die Schultern, und gemeinsam starrten sie nach oben. Auf dem Bücherregal hockte ein geflügeltes Ungeheuer.

Es kniff die hellorangefarbenen Katzenaugen zusammen und grinste völlig unbabyhaft. Dann breitete es die Flügel aus und ließ sie angriffslustig durch die Luft peitschen.

Wenn die Flinks Harriet schon in eine von ihnen verwandeln mussten, hätten sie ihr auch Libellenflügel geben können, dachte Molly traurig. Stattdessen waren die neuen Schwingen von Arthurs kleiner Schwester zwar durchscheinend, aber ledrig und mit Fledermausklauen an den Spitzen versehen.

Molly drückte ihren Cousin noch fester. »Wir bringen das wieder in Ordnung, Arthur. Ich weiß noch nicht, wie, aber wir kriegen es hin, versprochen.«

»Es ist zu spät!«, rief Arthur verzweifelt. »Wir suchen seit Wochen nach einem Heilmittel und haben bisher nichts, aber auch gar nichts gefunden. Was können wir denn jetzt noch ausrichten? Sie ist eine Finsterflink!« Er drehte sich weg, doch Molly hatte die Tränen in seinen Augen gesehen. »Meinst du, Harriet hat Miss Badcrumble verletzt?«

»Vielleicht ist es nicht so schlimm«, versuchte Molly ihren Cousin zu beruhigen. »Du behältst Harriet im Auge!« Sie kniete sich neben Miss Badcrumble, die alte Finsterflink, die als Kind mit einem Menschenbaby vertauscht worden war und den Teeladen und das Dorfmuseum der Insel Ravenstorm führte. Trotz des Schocks waren Molly und Arthur so geistesgegenwärtig gewesen, sie in die stabile Seitenlage zu bringen, als sie sie bewusstlos auf dem Boden ihres kleinen Ladens entdeckt hatten.

Arthur beobachtete Harriet nervös, während er sich neben Molly sinken ließ, die das knochige Handgelenk der alten Frau befühlte. »Geht es ihr gut? Soll ich einen Arzt holen?«

»Ich glaube, es ist alles okay. Ihr Puls ist normal, und sie atmet. Sie ist nur ohnmächtig geworden.« Molly setzte sich auf die Fersen. »Wir können Harriet nicht allein lassen. Sobald wir sie eingefangen haben, laufen wir rüber zur Hauptstraße und holen Dr. Barnard, nur zur Sicherheit.« In Wahrheit machte Molly sich viel mehr Sorgen um Arthur. Der Arme war außer sich vor Angst um seine kleine Schwester.

Als Molly mit ihrem Bruder Jack am Anfang der Ferien auf Ravenstorm angekommen war, waren sie und Arthur nicht gerade ein Herz und eine Seele gewesen. Ihre Abenteuer mit Trollen, Zwergen, Geisterpiraten, einer Hexe und der durch und durch bösen Königin der Finsterflinks hatten sich allerdings als großartige Gelegenheit erwiesen, um Freundschaft zu schließen. Dieser Sommer war bis jetzt der beste in Mollys Leben gewesen – und definitiv der aufregendste. Doch die Sache mit Harriet versetzte ihrer Freude darüber, dass sie hier auf der Insel echte Magie entdeckt hatte, einen gewaltigen Dämpfer. Echte Magie war eindeutig sehr viel gefährlicher als die Zaubertricks, die ihre Eltern auf der Bühne vorführten.

Die Unglaublichen Cornells tourten wie jeden Sommer mit ihrer Zaubershow durchs Land, und plötzlich vermisste Molly sie ganz schrecklich. Harriets Zustand war schlimmer als alles, mit dem sie und Arthur es bisher zu tun bekommen hatten, und Molly hatte Panik, dass ihre Verwandlung sich am Ende als das eine magische Problem herausstellen würde, das sie nicht lösen konnten.

Arthur tätschelte unbeholfen den wirren Wust grauer Locken auf Miss Badcrumbles Kopf. »Ich weiß nicht, Molly. Sollte ich nicht doch lieber gleich –«

Ein Fauchen vom Bücherregal ließ sie herumwirbeln. Es gefiel Harriet anscheinend ganz und gar nicht, dass sie nicht länger ihre volle Aufmerksamkeit hatte. Sie klang wie eine wütende Katze.

Arthur raufte sich die Haare. »Sie ist ein richtiges Biest. Genau wie diese gemeine Königin. Wir werden es nie schaffen, sie zurückzuverwandeln, Molly! Wie soll ich das bloß meinen Eltern erklären?«

»Nicht aufgeben, Arthur! Die Finsterflinks sind schließlich nicht die Einzigen hier auf Ravenstorm mit Zauberkräften«, sagte Molly so zuversichtlich wie möglich und drückte seine Hand. »Wir haben schon zwei nette Trolle und ein unglaublich hilfsbereites Einhorn getroffen, und ich wette, da draußen gibt es noch mehr magische Wesen, die uns beistehen können. Wir müssen sie nur finden!«

»Hm … noch mehr Magie ist vielleicht das Letzte, was wir brauchen«, erwiderte Arthur hoffnungslos.

Molly schüttelte den Kopf. »Die Magie ist schuld an dem ganzen Schlamassel, also kann sie es auch wieder auflösen. Aber eins nach dem anderen. Miss Badcrumble geht es im Moment so weit gut. Wir holen gleich Dr. Barnard, aber zuallererst müssen wir Harriet erwischen und irgendwo anders hinbringen.«

»Du hast recht.« Arthur rieb sich die Nase. »Ich schau nach, ob alle Fenster und Türen geschlossen sind. Nicht, dass der kleine Teufel uns noch davonfliegt.«

»Okay. Dann suche ich inzwischen was, um sie einzufangen.« Mit eingezogenem Kopf eilte Molly los. Halb rechnete sie damit, dass sich das Finsterflinkbaby auf sie stürzen würde, doch sie erreichte den Museumsteil des alten Hauses ohne Zwischenfälle. Bald gesellte sich ihr Cousin zu ihr und half mit, die wild zusammengewürfelten Artefakte zu durchwühlen. Sie hörten Harriets Krallen über das Holz des antiken Bücherregals kratzen. Arthurs Schwester war nicht glücklich darüber, schon wieder ignoriert zu werden. Zumindest bleibt sie, wo sie ist, dachte Molly.

»Ich bin bloß froh, dass meine Eltern gestern aufs Festland gefahren sind«, murmelte Arthur mit einem besorgten Blick zurück in Richtung Teestube.

»Auf der Suche nach dem geheimnisvollen Wandteppich-Interessenten, den du erfunden hast«, erinnerte Molly ihren Cousin, um ihn aufzuheitern. »Siehst du? Du hast tolle Ideen!«

»Ja, vielleicht«, erwiderte Arthur düster. »Aber Mum und Dad sind bestimmt nicht ewig weg. Was, wenn sie zurückkommen, bevor wir das mit Harriet geregelt haben?«

»Das wird nicht passieren«, versicherte Molly. »Hey, was ist damit?« Sie schob ein paar Angelruten von einem Haufen zerrissener Fischernetze. »Das ist ein Kescher!« Sie zerrte an dem Stab. Die restliche Angelausrüstung fiel klappernd zu Boden, doch schließlich gelang es ihr, den Kescher zu befreien. Triumphierend hielt sie ihn hoch und lächelte ihren Cousin durch den aufgewirbelten Staub hindurch an.

»Gute Größe«, meinte Arthur mit einem verdrossenen Seufzer und nahm den Kescher entgegen. »Um ein Finsterflinkbaby zu fangen.«

Zusammen schlichen sie vorsichtig zurück. Harriet fauchte wieder, als sie sie bemerkte. Molly überlief es eiskalt, und zwar nicht nur wegen des Luftzugs, den Harriets Flügel verursachten. Arthur schluckte.

»Harriet«, gurrte er. »Komm runter zu deinem Bruderherz.«

Harriet funkelte ihn finster an.

»Ich such dir auch deine Kuschelspinne«, versprach Arthur, während er sich ihr in Zeitlupe näherte. Behutsam bewegte er das Netz auf seine Schwester zu. Er hat es fast geschafft, dachte Molly. Nur noch ein kleines Stück …

»Bitte, Harriet.«

Mit einem spöttischen Kreischen hob Harriet ab und schoss dicht über ihre Köpfe hinweg in Richtung Museumsräume. Arthur schrie erschrocken auf und ließ den Kescher fallen. Molly schnappte ihn sich, und als Harriet auf einer Vitrine mit einem ausgestopften Eichhörnchen darin landete, stülpte sie ihn schnell über sie.

»Hab ich dich!«

Harriet knurrte, und ihr Gesicht wurde zornesrot. Arthur rannte zu ihr und riss sie mitsamt dem Netz in seine Arme. Der Stab des Keschers schwang wild herum. Molly umklammerte ihn, als hinge ihr Leben davon ab, während Arthur zum Kinderwagen stolperte und versuchte, seine Schwester hineinzustecken, die mit den Fledermausflügeln wild um sich schlug.

»Wir müssen dafür sorgen, dass sie da drin bleibt!« Molly half Arthur, Harriet in ihre Decke zu wickeln, als ihr plötzlich etwas Schwarzes und Haariges über die Hand krabbelte. Sie quiekte vor Schreck beim Anblick der Spinne, hielt jedoch die Decke weiter fest. Arthur drückte seine Schwester so sanft wie möglich in den Kinderwagenkorb.

»Der Regenschutz, Molly!«, rief er. »Schnell – Autsch!«

Harriet hatte ihren Bruder in die Hand gebissen. Vor Schmerz ließ er das fauchende Baby los, doch Molly hatte es inzwischen geschafft, den Regenschutz über den Korb zu zerren, und zog den Reißverschluss zu. Harriet kreischte und trommelte mit den kleinen Fäusten dagegen. Molly und Arthur traten schwer atmend zurück.

»Arthur, deine Hand«, keuchte Molly. »Du blutest!«

Ungläubig starrte Arthur auf seine Finger. Tatsächlich quoll es rot aus zwei winzigen Bisswunden. »Woher zum Teufel hat sie solche Zähne?«, fragte er. »Sie ist doch erst ein paar Wochen alt!«

»Molly? Arthur?« Miss Badcrumbles zittrige Stimme ließ sie herumfahren.

»Miss Badcrumble!« Molly eilte zu der Finsterflink hinüber. Arthur griff nach einer Papierserviette von der Ladentheke und presste sie auf seine blutende Hand, bevor auch er sich neben Miss Badcrumble kniete und ihr half, sich aufzusetzen.

Die alte Frau wiegte leicht den Kopf. »Uh.«

»Miss Badcrumble, wir holen Dr. Barnard«, sagte Molly und legte ihr die Hand auf den spindeldürren Arm. »Bleiben Sie sitzen. Wir mussten nur erst Harriet einfangen –«

»Harriet!« Miss Badcrumble riss die Augen auf. »Ach du liebe Zeit, das Baby!«

»Es ist alles in Ordnung«, beruhigte Molly sie. »Harriet liegt sicher in ihrem Kinderwagen.«

Miss Badcrumble rappelte sich schwankend auf. »Ich brauche keinen Arzt«, sagte sie bestimmt. »Es geht mir gut. Wirklich!« Sie schüttelte Mollys Hand ab. »Ich bin nur in Ohnmacht gefallen, sonst nichts. Herrje. Herrjemine. Das Baby!«

»Sie ist eine Finsterflink«, platzte Arthur heraus. »Ich habe gehofft, wir könnten es noch aufhalten, aber sie hat sich vollständig verwandelt!«

Molly musterte Harriet bedrückt. Arthurs Schwester war eindeutig eine Finsterflink. Allerdings sah sie kein bisschen aus wie der kleine, verschmitzte Sohn der Königin, Prinz Dorne, den Jacks Freundin Melody zu Beginn des Sommers entführt hatte. Das Mädchen hatte nur spielen wollen, aber natürlich hatte die Königin die Sache nicht sonderlich gut aufgenommen und alle Kinder auf der Insel versteinert, bis Molly und Arthur den Prinzen zurückgebracht hatten. Auch Jack war versteinert gewesen, und Molly war unendlich froh, dass er sich nicht daran erinnerte.

»Haben Sie so was schon mal gesehen, Miss Badcrumble?«, fragte sie. »Einen Menschen, der sich in einen Finsterflink verwandelt? Ist das irgendein Fluch?«

»Und noch wichtiger: Was können wir dagegen tun?«, warf Arthur ein.

Miss Badcrumble stützte sich auf die Theke, blass und zittrig, aber entschlossen. »O nein, meine Lieben, nein. Es ist ganz sicher ein Fluch, aber gesehen habe ich so was noch nie.«

»Aber Sie sind doch selbst verwandelt worden, Miss Badcrumble«, meinte Arthur.

»Nicht sehr erfolgreich«, bemerkte die alte Frau traurig und betrachtete ihre Klauenfinger. »Außerdem war das andersherum. Ich war eine Finsterflink, und sie haben mich in einen Menschen verwandelt.«

Molly legte Arthur eine Hand auf den Unterarm. »Komm, Arthur, bringen wir Harriet zurück ins Schloss. Nicht dass noch jemand aus dem Dorf hier hereinschneit.«

»Da hast du recht.« Plötzlich durchschnitt ein reißendes Geräusch die Luft. Arthur wirbelte herum. »Was war das?«

»O nein!«, stöhnte Molly. Miss Badcrumble presste sich die Klauen vor den Mund.

Harriet kauerte auf dem Verdeck des Kinderwagens, krümmte die scharfen kleinen Krallen und grinste sie an. Im Regenschutz gähnte ein großes Loch.

»Sie hat ihn einfach aufgeschlitzt!«, rief Arthur entsetzt.

Er stürzte auf seine Schwester zu. Gerade als er nach ihr greifen wollte, sprang ein haariges schwarzes Etwas mit rudernden Beinen aus dem Kinderwagenkorb und landete mitten in seinem Gesicht. Arthur schrie auf und stolperte rückwärts gegen die Wand. Während er blind nach der Spinne schlug, erhob sich Harriet kreischend in die Luft. Miss Badcrumble stieß einen spitzen Schrei aus.

»Arthur!« Molly eilte zu ihrem Cousin, doch bevor sie das grässliche Vieh zu fassen bekam, ließ es von selbst los. Es sprang an die Wand, und ehe Molly sich’s versah, hatte es den dicken Körper durch einen winzigen Riss gezwängt und war verschwunden.

»Wo ist der Kescher?«, rief Arthur. »Schnell, fang Harriet wieder ein!«

Hastig packte Molly den langen Stab, aber es war zu spät. Freudetaumelnd schoss Harriet zu den Museumsräumen hinüber. Molly und Arthur rannten ihr nach und sahen gerade noch, wie das Baby erstaunlich geschickt ein Fenster hochschob und durch einen kleinen Spalt hindurchschlüpfte.

»Genau wie diese Mistspinne!«, schrie Arthur und schickte seiner Schwester einen weiteren Ausruf hinterher, bei dem Molly ihn erstaunt von der Seite anschaute.

»’tschuldigung«, murmelte er, während sie zur Eingangstür sprinteten.

»Nicht dafür«, keuchte Molly. »Ich finde, du hast allen Grund, zu fluchen.«

»Beeilt euch!«, drängte Miss Badcrumble, die hinter ihnen hertrippelte. Arthur stieß die Tür auf, und sie stolperten nach draußen und blickten sich hektisch um.

»Da!« Arthur deutete auf einen Schatten, der sich mit unglaublicher Geschwindigkeit in den Himmel schraubte.

Sie hasteten hinterher. Arthur und Molly hatten Miss Badcrumble bald abgehängt. Die untergehende Sonne fiel durch Harriets Fledermausflügel und ließ die Venen darin gespenstisch leuchten. Mittlerweile flatterte Arthurs kleine Schwester nicht mehr ziellos umher, sondern flog entschlossen geradeaus, so als wüsste sie genau, wo sie hinwollte.

»Zumindest fliegt sie weg von Crowsnest«, rief Molly, während sie über die Wiesen und Felder am Dorfrand rannten. »Ich meine, wie sollten wir das hier jemals erklären?«

»Aber sie hält genau auf die Klippen zu. Was hat sie bloß vor?«

Der ausgetretene Pfad zur Steilküste erschien Molly länger als je zuvor. Ihr Herz hämmerte, und ihre Lunge schmerzte, doch sie ließ das Baby nicht aus den Augen.

Endlich tauchte das Kliff vor ihnen auf, und dahinter das endlose Blau des Meers. »Da ist die alte Eiche«, stieß Arthur schwer atmend hervor. »Wo Jack damals verschwunden ist.«

Schlitternd kam Molly zum Stehen. »Ja. Und das Reich der Finsterflinkkönigin befindet sich direkt darunter!«

Harriet war hinter dem Rand des Kliffs verschwunden. So schnell sie es wagten, kletterten und rutschten die Kinder den versteckten Klippenpfad hinunter. Die Schatten wurden allmählich länger, und die Sonne schwebte wie ein Feuerball über dem Horizont.

»Sie will bestimmt zur Flinkhöhle«, keuchte Arthur und klammerte sich an einen Felsvorsprung, um nicht hinzufallen.

»Okay, dann nichts wie hin.« Molly deutete zum Strand, der am Fuß der Klippen entlang verlief. Plötzlich schnappte sie überrascht nach Luft und packte Arthur am Arm.

»Was ist da denn los?«

Schwankend hielt Arthur an und folgte Mollys Zeigefinger.

Unweit des Eingangs zur Finsterflinkhöhle lag die flache Felsbank mit den seichten Gezeitentümpeln, an denen sie schon oft mit Jack gespielt hatten. Jetzt wogte das Wasser in einem der Becken, als würde ein Miniseesturm darin wüten. Gischtfontänen spritzten in die Luft und regneten prasselnd wieder herab, und Molly entdeckte eine Traube vertrauter kleiner Gestalten.

»Sind das Finsterflinks?«, fragte Arthur verblüfft.

Molly nickte mit offenem Mund. Dort unten tobte eine Schlacht. Winzige Speere blitzten, und sie hörten das wutentbrannte Gebrüll der Wesen, die erbittert aufeinander eindroschen.

»Ja«, hauchte sie. »Und ich glaube, sie kämpfen auf Leben und Tod!«

2

»Worum geht’s da bloß? Das sieht richtig ernst aus!«

Arthur schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Aber meine Schwester gerät gleich zwischen die Fronten. Schau!« Er deutete in den Himmel. Harriet kreiste freudig kreischend über dem Strand. »Wir müssen da runter!«

Molly war schon weitergeklettert und trat in ihrer Hast Sand und Kieselsteine los.

Es wurde so schnell dunkel, dass es schwierig war, auf dem schmalen Pfad Halt zu finden. Sie kamen nur quälend langsam voran. Als Molly eine kurze Atempause einlegte, schob sie sich das Haar aus dem Gesicht und spähte noch einmal hinunter. Waren das wirklich zwei Finsterflinkgruppen, die da gegeneinander kämpften?

Die Wesen, die auf der Felsbank standen und auf die im Tümpel einstachen, waren eindeutig Finsterflinks – Molly erkannte die spindeldürren Beine und die schillernden Flügel von ihren früheren Begegnungen mit der Königin und ihren Artgenossen wieder –, aber die Kreaturen im Wasser sahen irgendwie anders aus. Außerdem wunderte es Molly, dass so viele von den kleinen Geschöpfen hier draußen waren, unter freiem Himmel. Jeder Dorfbewohner, der zum Strand kam, würde sie bemerken. Normalerweise verbargen sie sich in den Höhlen und Gängen ihres unterirdischen Reichs. Baldrian, der Flink, den sie und Arthur vor ein paar Wochen mit Hilfe eines Schälchens Milch in eine Falle gelockt hatten, hatte ihnen verraten, dass die Königin strikt dagegen war, dass ihre Untertanen sich im »Obergeschoss« herumtrieben.

Was war da nur los?

Mit einem Ächzen sprang Arthur vom Klippenpfad auf den Strand. Molly folgte ihm. Schnell schlichen sie über den festen, von der Flut feuchten Sand. Glücklicherweise kreiste Harriet noch immer in der Luft und beobachtete das Scharmützel aus der Ferne. Molly und Arthur versteckten sich hinter einem Felsen.

Ja, das waren die Soldaten der Königin. Sie waren zu viert: klein, anmutig und grimmig, mit Dornenspeeren und stachelgespickten Schilden aus Kastanienschalen bewaffnet. Einer bückte sich gerade nach einem scharfen Muschelstück, das er wie ein Messer auf eine der Kreaturen im Wasser schleuderte. Die musste sich hastig zur Seite werfen, um nicht getroffen zu werden. Als sie wieder auftauchte, überschüttete sie ihren Angreifer mit wilden Drohungen.

Molly starrte das Geschöpf an. Das konnte doch kein Finsterflink sein, oder? Statt Blättern und Moos trugen das Wesen und seine drei Kameraden zerlumpte Togas aus Seegras. Ihre Hände und Füße waren denen der Flinks nicht unähnlich, hatten aber durchscheinende Schwimmhäute zwischen den Fingern und Zehen. Ihre Köpfe waren kahl, und ihre Haut war kränklich grau. Fischartige grüne Glubschaugen funkelten in den hässlichen Gesichtern, und aus den lippenlosen Mündern ragten spitze weiße Zähne. Sie hatten keine Flügel. Stattdessen saßen Flossen auf ihren Rücken und Schultern. Jetzt erkannte Molly auch, warum sie nur flache Schlitze anstelle von Nasen hatten: Von Nahem konnte sie die sich hebenden und senkenden Kiemen an den Hälsen ausmachen.

»Die sehen ja gruselig aus«, flüsterte Arthur. »Wenn die Flinks nicht meine Schwester verflucht hätten, wäre ich glatt auf deren Seite.« Besorgt warf er noch einen Blick in den Himmel.

»Ein ausgeglichener Kampf«, wisperte Molly. »Vier gegen vier. Ich frage mich, wer wohl gewinnt.«

»Nein, die Fischviecher sind zu fünft.« Arthur nickte in Richtung des aufgewühlten Gezeitentümpels. »Guck, da in der Mitte ist noch ein ganz winziges.«

»Ist das ein Kind? Sieht aus, als würden die anderen es beschützen!« Die Meereswesen hatten einen Halbkreis um ihren kleinen Artgenossen gebildet und wehrten die brutalen Hiebe der Flinks auf den Felsen ab. Hin und wieder stieg ein Finsterflink in die Luft und stach von oben auf die Meereswesen ein, die zur Verteidigung nur wild um sich schlagen konnten. Plötzlich packte ein Flinksoldat eins der Fischgeschöpfe am Arm und versuchte, es aus dem Wasser zu ziehen. Das Wesen kreischte ängstlich, und seine Kameraden zerrten es hastig zurück in den Tümpel.

Anscheinend können die Fischgeschöpfe das Wasser nicht verlassen, dachte Molly. Da haben die Finsterflinks einen ziemlich unfairen Vorteil!

»Ich bin mir nicht so sicher, ob wir für die Flinks sein sollten«, sagte sie grimmig. »Die wirken wie die Angreifer, wenn du mich fragst.«

Arthur schaute nach oben. »Harriet!«, rief er. »Sie landet!«

»Schnell!« Molly und Arthur wandten sich vom Kampfgetümmel ab und rannten los, um das Baby einzufangen. Doch kaum hatte Harriet auf dem Strand aufgesetzt, krabbelte sie mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf die gähnende Öffnung am Fuß des Kliffs zu – den Eingang zum Reich der Finsterflinkkönigin.

»Wir müssen sie aufhalten«, schrie Arthur. »Harriet!«

Harriet warf einen Blick über die Schulter und legte noch einen Zahn zu. Ihre kleinen Arme und Beine flogen regelrecht über den Sand. Sie bewegte sich fast so schnell wie ihre Kuschelspinne. Als sie ihren großen Bruder hinter sich erkannte, stieß sie ein unmenschlich schrilles Kreischlachen aus.

Das grässliche Geräusch wurde von einem tiefen, widerhallenden Hornsignal übertönt, das ebenso klagend wie gebieterisch vom Gezeitentümpel her erklang. Schwer atmend wirbelte Molly herum und sah, dass die Finsterflinks ihren Kampf gegen die Meereswesen unterbrochen hatten. Alle vier hatten sich umgedreht und starrten Harriet an.

»Das Kind!«, rief eine Flinksoldatin, die ein wenig größer als die anderen schien und wütend das aus einer Nussschale gefertigte Horn schwang. »Mission abbrechen! Beschützt das Kind!«

Beschützt das Kind?, dachte Molly panisch. Vor wem denn?

Die Erkenntnis traf sie wie ein Faustschlag. Die meinen Arthur und mich!

Arthur sprintete weiter hinter Harriet her, aber die Flinks waren schneller. Die Soldaten stiegen sofort in die Luft und schwirrten los. Arthur schlug wild nach ihnen, als sie in Formation an ihm vorbeiflogen, doch sie ignorierten ihn einfach. Kaum hatten sie das Baby erreicht, packten sie es an Armen und Beinen und hoben es hoch.

»Nein!«, schrie Arthur.

Harriet schrie nicht. Sie weinte nicht einmal. Sie stieß nur noch ein grässliches Kreischlachen aus und flatterte mit den Fledermausflügeln, um den Flinks zu helfen. Schon schossen sie auf den Höhleneingang zu. Ein letzter Verzweiflungsschrei von Arthur, während er über den Sand stolperte, dann waren die Flinks mit seiner Schwester verschwunden.

Plötzlich fielen Molly die Meereswesen wieder ein, und sie fuhr herum für den Fall, dass die es ebenfalls auf Harriet abgesehen hatten. Doch die kleinen Wesen standen reglos im Gezeitentümpel in ihrem schützenden Ring um den jungen Artgenossen. Schließlich gab ihr Anführer einen wütenden Befehl und machte eine energische Geste mit einem dünnen, schuppenbesetzten Arm. Ohne einen Spritzer tauchten die fünf Meeresgeschöpfe geschlossen unter.

Zurück blieb eine unerträgliche Stille. Sogar der Wind hatte sich gelegt. Die Sonne war mittlerweile fast vollkommen untergegangen, was die Küste mit unheilvollen blauen Schatten überzog. Die Felsen, die links und rechts den Strand begrenzten, ragten bedrohlich schwarz in den Himmel.

Ein Ruf vom Klippenpfad durchbrach die Stille. Miss Badcrumble kam den steilen Abhang heruntergeeilt, so schnell ihre Vogelfüße sie trugen.

»Molly! Arthur! Was ist passiert?«

»Die Finsterflinks haben Harriet entführt!«, antwortete Arthur verzweifelt.

Er und Molly rannten zu Miss Badcrumble hinüber und halfen ihr, die letzten gefährlichen Meter zu überwinden und auf den Strand zu springen. Mit zitternden Beinen richtete sich die alte Frau auf und schaute besorgt von einem zum anderen.

»Was sagst du da?«

»Sie haben gekämpft!« Molly deutete auf die Felsbank. »Da drüben im Gezeitentümpel, mit irgendwelchen anderen Wesen.«

Miss Badcrumble nickte. »Ja, ja, das habe ich gesehen. Garstige kleine Dinger, keine Ahnung, was die waren!«

»Und als Harriet aufgetaucht ist, haben die Flinks alles stehen und liegen lassen und sie sich geschnappt«, erklärte Molly weiter.

»Sie haben sie gepackt und sind mit ihr in die Höhle geflogen«, rief Arthur. »Sie ist weg!«

»Als hätten sie nur auf sie gewartet.« Verwirrt warf Molly die Hände in die Luft. »Aber was haben sie mit ihr vor? Und was ist das für eine Mission, von der sie geredet haben? Sie haben gesagt, sie müssten Harriet vor uns beschützen!«

»Pah, von wegen beschützen«, schnaubte Arthur, bevor er auf dem Absatz kehrtmachte und entschlossen auf die Öffnung am Fuß der Klippen zumarschierte, die jetzt im düsteren Dämmergrau kaum noch zu sehen war. »Ich finde raus, was diese fiesen kleinen Biester von meiner Schwester wollen, und dann verklickere ich ihnen, warum sie es nicht kriegen!«

»Herrjemine«, jammerte Miss Badcrumble. »Sei vorsichtig, mein Lieber!«

»Arthur, warte!« Molly rannte ihrem Cousin hinterher. »Du kommst doch gar nicht durch den Tunnel.«

Frustriert hielt Arthur an. »Stimmt ja. Das hatte ich ganz vergessen. Der Tunnel wird immer niedriger, je weiter man hineingeht.«

»Wir brauchen einen Finsterflink, der uns schrumpft, so wie Baldrian damals.« Molly spähte in die Höhle und schauderte, als ein kalter Luftzug ihr Gesicht streifte. »Miss Badcrumble«, rief sie über die Schulter der alten Frau entgegen, die ihre Röcke gerafft hatte und auf sie zugehastet kam. »Können Sie uns klein genug für den Tunnel machen?«

Außer Atem schüttelte die Flink den Kopf. »O nein, meine Lieben. Tut mir schrecklich leid, aber seit ich verbannt worden bin, habe ich diese Macht nicht mehr. Herrje, herrjemine!«

»Wie soll ich meine Schwester dann zurückholen?«, fragte Arthur mit hängenden Schultern. »Was soll ich bloß tun, Molly?«

Molly drückte ihm den Arm. »Uns fällt schon was ein, Arthur. Ganz bestimmt! Wir müssen einfach ruhig bleiben und nachdenken.«

Arthurs Miene hellte sich plötzlich auf. »Was ist mit deinen magischen Kräften?«, fragte er. »Die hast du doch auch gegen diese Schreischlingerin eingesetzt, und das, obwohl du gar nicht wusstest, dass du sie hast! Vielleicht bringen die uns weiter.«

Molly zuckte hilflos mit den Achseln. »Aber da habe ich nur einen Zauberspruch gelesen. Und ich habe nicht einmal verstanden, was die Worte bedeuten. Keine Ahnung, wie man jemanden schrumpft.«

»Oh! Oh!« Miss Badcrumble hüpfte freudestrahlend auf und ab. Sie platzte fast vor Aufregung. »Damit kann ich euch helfen. Ich kenne den Zauber – ich kann ihn bloß nicht selbst ausführen!«