Die Geister von Ure - Carmen Capiti - E-Book

Die Geister von Ure E-Book

Carmen Capiti

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Beschreibung

Glaubst du die Geschichten, die man sich in den Bergdörfern erzählt? Über die Geister und die Pakte, die sie mit den Menschen schliessen? Sie beschützen die Bauern, ihr Zuhause und ihr Vieh. Man sagt sogar, sie würden Herzenswünsche erfüllen. Sofern man bereit ist, ihren Preis zu bezahlen. Von seinem Dorf zum Sündenbock gemacht und vom eigenen Vater abgewiesen, verlässt Oldarn sein Zuhause, um seine begangenen Fehler gutzumachen. Für ihn beginnt eine Reise durch das Tal von Ure, die sich als gefährlicher herausstellt, als er angenommen hat. Hilfe erhält er unerwartet vom schweigsamen Jäger Exer, doch dieser verlangt eine Gegenleistung, die Oldarn auf eine blutige Spur lockt. Dabei erfährt er vieles über die Menschen und sich selbst - und über die Geister, die ihr ganz eigenes Spiel spielen. Ein phantastischer Roman basierend auf Innerschweizer Sagen.

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Die Geister von Ure

Die Geister von UreWidmungVorwortKarte von UreBerglied - Friedrich Schiller 1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. KapitelGlossarUrner Sagen und BräucheQuellenDanksagungMehr von Carmen Capiti?Mehr Legenden und Sagen?Carmen CapitiImpressum

Die Geister von Ure

Dem schönsten Berg

Vorwort

Ich bin aufgewachsen im Kanton Uri, einem wunderschönen Flecken Welt im Herzen der Schweiz. Wer den Bergkanton einmal gesehen hat, kann sich vorstellen, dass sich die ersten Siedler die eine oder andere Geschichte über die mystischen Berge, Seen und Schluchten zu erzählen wussten. Doch nicht nur sie. Später ließen sich Größen wie Goethe von Uri inspirieren und Schiller brachte Wilhelm Tell gar in die Klassenzimmer kommender Generationen. 2013 sah ich mir in Andermatt das Freilichtschauspiel »Tyyfelsbrigg« an – inmitten von hohen Felswänden. Es erzählte die Geschichte, wie der Teufel die Brücke über die Schöllenenschlucht errichtet haben soll. Dabei gab es eine Szene, in der der Zuschauer auf diverse Gestalten der Urner Sagenwelt traf. Obschon ich das eine oder andere wiedererkannte, wurde mir klar, dass wir über weit mehr traditionelle Erzählungen verfügen, als mir bewusst war. So begann ich zu lesen und es dauerte nicht allzu lange, bis sich die Geschichten in meinem Kopf neu arrangierten. Die Idee zu diesem Roman war geboren. »Die Geister von Ure« basiert auf Urner Sagen, welche ich miteinander verknüpfte, neu erzählte und denen ich ein frisches Ende gab. Wobei viele dieser Sagen in der ganzen Alpenregion auftauchen, wenn auch nicht immer auf die gleiche Weise erzählt. Meine Geschichte spielt in Ure, einer Gegend nicht unähnlich dem Kanton Uri um das Jahr 1200. Nicht unähnlich, jedoch nicht genauso. Die Orte, Berge und Täler sind dem Original nachempfunden, erheben jedoch nicht den Anspruch, historisch und geographisch korrekt zu sein. Im Glossar am Ende des Romans befindet sich für den interessierten Leser eine Liste von Namen mit ihren dazugehörigen Vorbildern und einigen Erklärungen dazu. Nun wünsche ich gute Unterhaltung mit den Geistern von Ure.

Karte von Ure

Am Abgrund leitet der schwindligte Steg,

Er führt zwischen Leben und Sterben,

Es sperren die Riesen den einsamen Weg

Und drohen dir ewig Verderben,

Und willst du die schlafende Löwin nicht wecken,

So wandle still durch die Straße der Schrecken.

Es schwebt eine Brücke, hoch über den Rand

Der furchtbaren Tiefe gebogen,

Sie ward nicht erbauet von Menschenhand,

Es hätte sichs keines verwogen,

Der Strom braust unter ihr spat und früh,

Speit ewig hinauf und zertrümmert sie nie.

Es öffnet sich schwarz ein schauriges Tor,

Du glaubst dich im Reiche der Schatten,

Da tut sich ein lachend Gelände hervor,

Wo der Herbst und der Frühling sich gatten,

Aus des Lebens Mühen und ewiger Qual

Möcht ich fliehen in dieses glückselige Tal.

Friedrich Schiller - Berglied (1804, Auszug)

1. Kapitel

Die schallende Ohrfeige versetzte Oldarn zurück in seine Vergangenheit als ungezogenes Kind. Er schwieg verbissen und rieb sich die brennende Stelle, blickte aber nicht auf.

»Wird es von nun an so laufen, Junge?«, donnerte sein Vater. »Du versteckst dich hier drin vor allem und jedem, um ihren Blicken aus dem Weg zu gehen?« Als Oldarn keine Antwort gab, sprach Anbert weiter. »Du bist ein Feigling. Du hattest weder den Mumm, die Dokumente zu fälschen noch getraust du dich jetzt, dazu zu stehen.«

»Es wäre falsch gewesen zu lügen«, protestierte Oldarn.

»Falsch?« Anberts Stimme wurde lauter und nahm einen schrillen Unterton an. »Weißt du, was es bedeutet, wenn wir die Weide verlieren?«

Er wusste es. Keine Dokumente bedeutete kein offizieller Besitzanspruch. Kein Besitzanspruch hieß, die Forderungen Lemthals waren gerechtfertigt.

»Lemthal kann Anspruch auf die Weide Hohenmarch erheben«, murmelte er als Antwort.

»Das ganze Tal ist damit gefährdet«, ereiferte sich Anbert. »Ohne unsere Erzeugnisse von der Weide müssen die Weiler des Schachtals diese in Altenmatt am Markt erwerben. Die Preise dort sind horrend!«

Nun begann sein Vater, zu gestikulieren. Oldarn hatte ihn selten so aufgebracht erlebt. Er beschloss, ihn ohne Unterbrechung weiterreden zu lassen.

»Spirosgrund hätte keine Existenzgrundlage mehr. Wir müssten alle fort.«

 Oldarn spürte ein Stechen in seiner Brust. Er wollte nicht fort von Spirosgrund. Das Dorf war alles, was er kannte.

»Wie hätte ich wissen sollen …«, begann er, wurde aber sogleich von Anbert unterbrochen.

»Du musst es wissen! Du bist mein Sohn. Du solltest einst Ammann von Spirosgrund werden. Das wird nun nie geschehen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte Anbert zur Tür. Bevor er den Gasthofsaal verließ, wandte er sich noch einmal zu Oldarn um.

»Vermutlich ist es auch besser so.«

Diese letzten Worte verstärkten den Schmerz in Oldarns Herz, sodass er kurz nach Luft rang. Alleine saß er im Saal des Widders, wandte den Blick zum Kopfende des Tisches, wo zuvor sein Vater gesessen und die Ratsversammlung geleitet hatte. Wo er eigentlich bestimmt war, irgendwann einmal zu sitzen.

Für den ältesten Sohn des Dorfvorstehers war etwas anderes nie infrage gekommen. Was, wenn es nicht so weit kommen würde? Was, wenn Spirosgrund unterging und er sich an einem anderen Ort niederlassen müsste? Was sollte er dort tun?

Mit einem Gefühl, als hätte er Steine im Magen, wurde sich Oldarn einmal mehr bewusst, dass er zu nichts anderem taugte, als zu dem, was sein Vater ihm bisher beigebracht hatte.

Als die Wirtstochter eintrat, um die aufgetischten Becher einzusammeln, erhob sich Oldarn und bewegte sich auf schwachen Beinen zum Ausgang. Den vorwurfsvollen Blick des Mädchens auf sich spürend, nahm er den Hinterausgang des Gasthauses, um den Leuten auf dem Dorfplatz nicht begegnen zu müssen.

Draußen atmete er die feuchte Herbstluft ein und ließ den kühlen Wind durch sein schwarzes, kurzes Haar fahren. In der Ferne spielte jemand den Pichel. Die tiefen, weichen Klänge, die durch den langen Hals des Horns mit gebogenem Fuß drangen, dröhnten kilometerweit durch das Tal und ließen Oldarn angenehm schaudern. Eine Weile stand er einfach nur da und genoss es, denn diese Musik interessierte sich nicht dafür, welche Probleme die Menschen plagten.

Sein Blick schweifte über die Berggipfel und blieb am umstrittenen Berghang hängen. Dort oben lag Hohenmarch, die Weide, von der Spirosgrund so abhängig war wie die Ziege vom Klee.

Wie kann ein ganzes Tal derart an einen solch kleinen Fleck Erde gebunden sein?

Doch die eigentliche Frage lautete, wie es ihnen gelingen würde, diesen zu behalten.

Oldarn schüttelte unwirsch den Kopf, spazierte vom Gasthaus und dem Dorf weg. Er setzte sich an den klaren Bach, welcher in Richtung Westen floss.

Automatisch holte er das Messer hervor und griff nach einem Stück Holz, das in der Nähe lag.

Während er zusah, wie Laub und seine abgeschnitzten Späne auf dem eiskalten Wasser aus dem Tal getragen wurden, fragte er sich, was aus ihm werden würde, falls Spirosgrund die Weide verlöre.

Er war ein scheuer, zurückhaltender Mann, der es mit seinen knapp dreiundzwanzig Jahren noch nicht einmal geschafft hatte, eine Frau zu finden. Er mochte nicht das sein, was die Mädchen als begehrenswert bezeichneten, doch er war auch kein Scheusal. Seine Mutter hatte immer gesagt, wie sonderbar seine kristallblauen Augen zu seinem schwarzen, struppigen Haar wirkten, doch sie hatte es nie böse gemeint. Er war kein Arbeiter. Dafür war er zu dünn und zu schwächlich gebaut. Seine drei Brüder waren alle untersetzt und stark, wie ihr Vater. Oldarn selbst kam eher nach seiner Mutter.

Bisher war klar gewesen, dass er sich in den nächsten Jahren eine Frau suchen würde. Seit fünf Generationen war das Amt des Ammanns in den Händen ihrer Familie, immer weitergegeben an den Ältesten. Nicht vererbt, sondern gerecht und in im Vertrauen vergeben durch den Rat.

Wenn sie Hohenmarch verlören, so müsste er sich immerhin um seine Nachfolge keine Sorgen mehr machen.

»Darf ich?«, erklang eine Mädchenstimme hinter ihm und zauberte ein Lächeln auf Oldarns Gesicht.

»Natürlich, Pedra«, sagte er und rutschte zur Seite.

Eine zierliche Frau mit rotblondem, strohgleichem Haar und Sommersprossen setzte sich neben ihn. Ihre Augen leuchteten in demselben Blau, wie seine es taten.

»Ist alles in Ordnung, Oldarn? Vater war ziemlich aufgebracht, als er nach Hause kam.«

Er atmete tief durch.

»Wir hatten eine Auseinandersetzung.«

Pedra betrachtete ihn auf ihre Art, von der sie wusste, dass sie ihm alles entlocken konnte.

Oldarns Lächeln hielt an. Seine kleine Schwester. Der Mensch, der ihn vollkommen in den Händen hielt und immer ganz genau erkannte, was in ihm vorging.

Er räusperte sich, während er den Blick wieder auf das Wasser richtete.

»Er sagte, dass ich niemals Ammann werden würde. Und dass dies auch gut sei so.«

Pedra blickte schweigend geradeaus zu den Berghängen. Es war ein lautes, wertendes Schweigen, das Oldarn nur allzu gut kannte.

»Was ist?«

Sie hob die Schultern, ohne ihn anzublicken.

»Was hast du erwartet?«

Empört holte Oldarn Luft, doch Pedra unterbrach ihn mit einer Handbewegung.

»Im Ernst, Oldarn. Du hast Mist gebaut und du kannst nicht davon ausgehen, dass Vater das einfach so verzeiht.«

»Mist gebaut?«, stieß Oldarn hervor. »Ich habe die Wahrheit gesagt, als der Bote aus Lemthal hier war. Es gibt keine Besitzurkunde für Hohenmarch!«

Pedra wiegte den Kopf hin und her und bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick.

»Hättest du die Urkunde etwa gefälscht?«

»Oldarn. Dies hier ist Spirosgrund, unser Zuhause. Ohne Hohenmarch haben wir nichts. Und das setzt du aufs Spiel.«

Die Worte fühlten sich an, als hätte er eine Faust in den Magen bekommen. Pedra legte ihre Hand auf die seine.

»Ist dir die Wahrheit so viel wert?«

Eine beklemmende Kälte breitete sich in seinem Körper aus. Die eigentliche Wahrheit, die niemand sonst kannte, verbiss sich in seinem Verstand. Die Wahrheit, dass er gar nicht erst daran gedacht hatte, zu lügen. Es war ihm schlichtweg nicht in den Sinn gekommen, dass er Spirosgrund mit einem simplen, gefälschten Dokument all diese Probleme ersparen konnte. Nun tat er so, als sei ihm viel an der Ehrlichkeit gelegen und dass ihm sein Gewissen verbot, zu lügen. Dass sein Gewissen ihm jetzt erst recht keine Ruhe ließ, behielt er für sich.

Was ihn noch schwerer traf, war die Tatsache, dass sogar Pedra dachte, er hätte einen Fehler gemacht. Seine Schwester war das friedliebendste Wesen, das er kannte. Auch wenn sie als zweitältestes Kind mit vier Brüdern einiges ertragen musste, so war sie immer die Erste, die darauf pochte, ehrlich miteinander zu reden.

Pedra, deren Meinung er derart hoch gewichtete und die bisher immer hinter ihm gestanden hatte, worum es auch ging.

Oldarns Hals wurde trocken und er spürte, dass er mit den Tränen kämpfte.

Er hatte alles falsch gemacht. Seinetwegen würde Spirosgrund untergehen und das Leben der Bewohner des Schachtals so viel komplizierter werden.

»Dann hatte Vater recht«, meinte er mit belegter Stimme. »Es ist gut, wenn ich nie Ammann werde.«

Nun lachte Pedra und Oldarn drehte sich überrascht zu ihr um.

»Schwachsinn. Du wärst ein guter Ammann.«

»Ach ja? Warum habe ich dann nicht die richtige Entscheidung getroffen?«

Pedra schüttelte den Kopf.

»Jeder macht Fehler.«

»Ja«, meinte Oldarn verbittert. »Aber wenn Vater der Meinung wäre, dass ich für den Posten geeignet bin, dann hätte ich ihn schon längst von ihm übernommen.«

Diesen Gedanken trug Oldarn schon seit einiger Zeit mit sich herum. Er erledigte viele Dinge, die früher sein Vater getan hatte. Er verwaltete die Viehbestände und teilte das Land auf die einzelnen Sennen auf. Er unterhielt das Archiv und hatte den Überblick darüber, was mit welchem Nachbardorf gehandelt wurde. Jedoch ließ ihn sein Vater weder die Ratsversammlungen leiten noch die Steuern abrechnen. Wenn die Eintreiber ins Dorf kamen, so hielt sich Oldarn stets im Hintergrund und Anbert regelte die Sache. Beweis genug, dass der Ammann seinem Sohn diese Dinge nicht zutraute.

»Du solltest dich hören, Bruderherz. In deinem Selbstmitleid bist du blind«, rief Pedra aus und warf einen Stein in den Bach. Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, während er das aufspritzende Wasser beobachtete.

»Du glaubst wirklich, dass Vater dir den Posten nicht abtritt, weil er dich für ungeeignet hält?«, fuhr sie fort. »Du kennst den alten Mann. Der wird sich noch an seinem Stuhl festkrallen, wenn er auf dem Sterbebett liegt. Er hat Angst.«

Nun horchte Oldarn auf.

»Angst? Wovor?«

»Unnütz zu sein.« Pedra blickte ihm tief in die Augen. »Genau wie du.«

Eine Weile lang herrschte Schweigen und Oldarn hörte die Worte einige Male in seinem Geist widerhallen. Seine größte Furcht war es tatsächlich, keinen Wert für das Dorf zu besitzen. Wenn er schon keine schweren Säcke tragen konnte oder Kühe schlachten wollte, so musste er immerhin als Verwalter etwas taugen. Den Menschen das Leben einfacher machen.

Und sein Vater? Wenn Oldarn seinen Posten heute übernehmen würde, was würde Anbert dann tun?

»Wenn du den Sitz nicht einforderst, wird er die Arbeit so lange machen, wie er nur irgendwie kann.«

Pedra erhob sich und strich ihren Rock glatt. Dann legte sie ihre Hand auf seine Schulter und drückte sie leicht, bevor sie davonging.

Oldarn blickte ihr nach. Menschen einzuschätzen war schon immer eine von Pedras Stärken gewesen. Es war ihr stets gelungen, ihre jüngeren Brüder so zu manipulieren, dass diese machten, was ihre Schwester wollte. Es war nur wahrscheinlich, dass sie dies auch mit ihm selbst oder ihrem Vater tat.

Seufzend nahm Oldarn Messer und Holz wieder zur Hand.

Er müsste den Ammannssitz nur einfordern. Tief in seinem Innern wusste er, dass dies der Wahrheit entsprach. Jedoch gab es jemanden, der dieser Sache im Weg stand, und das war Oldarn selbst.

Die Arbeiten, welche sein Vater übernahm, waren diejenigen, die er verabscheute. Er wollte sich nicht mit den Soldaten des Kaisers herumschlagen und über die Steuern verhandeln. Außerdem wusste er genau, dass die Räte ihm noch nicht zuhören würden, sollte er an der Stelle seines Vaters sitzen. Er wollte, dass Anbert diese Dinge weiterhin erledigte.

Mit einem bitteren Lächeln drehte er das hölzerne Schaf in seinen Finger, das er geschnitzt hatte.

Vielleicht war er das. Das einfältige, naive Tier, das ohne die leitende Hand seines Hirten nicht einmal den Heimweg fand. Das Lamm, das gerne der Leithammel wäre, dem der Mumm dazu jedoch fehlte.

Oldarn steckte Messer und Schaf in seine Taschen und erhob sich. Während er die Späne von der Hose klopfte, warf er einen letzten Blick zu den Berggipfeln, dann machte er sich auf den Rückweg ins Dorf.

2. Kapitel

Es vergingen zwei Tage, in denen Oldarn die Worte von Pedra und seinem Vater immer wieder durch den Kopf gingen. Er hatte kein Auge zugemacht, kaum etwas gegessen, denn je näher die Ankunft des Boten aus Lemthal rückte, desto unruhiger wurde das ganze Dorf. Und desto mehr wütende Blicke erntete er.

Am späteren Nachmittag betrat Oldarn den Saal des Widders, wo die restlichen Ratsmitglieder versammelt saßen. Er nahm seinen gewohnten Platz ein und bedachte den Gesandten aus Lemthal mit maßnehmenden Blicken. Der Fremde war groß und schlaksig mit kantigem Gesicht. Er schien etwas älter zu sein als Oldarn und strahlte eine aufdringliche Präsenz aus, bevor er auch nur ein Wort gesagt hatte.

Als alle Platz genommen hatten, läutete der Ammann die Glocke.

»Willkommen in Spirosgrund, Conrat. Ich hoffe, deine Reise verlief angenehm.«

Der Fremde nickte lächelnd und strich sein dunkles Haar aus dem Gesicht.

»Ich denke, wir wollen uns nicht mit Höflichkeiten aufhalten, also kommen wir zur Sache«, fuhr Anbert fort. »Wie du weißt, existieren keine Dokumente bezüglich der Eigentümerschaft der Weide, jedoch nutzen wir sie schon seit vielen Generationen und berufen uns somit auf das Recht der Gewohnheit.«

Conrat nickte kurz und schüttelte sogleich den Kopf.

»Wie du sagst, gibt es keine Dokumente. Und genau aus diesem Grund erheben wir Anspruch auf Hohenmarch. Die Lage lässt keinesfalls den Rückschluss zu, dass die Weide euch anstelle von uns gehört. Ihr habt sie lange genug genutzt ohne das offizielle Recht dazu.«

Oldarns Sitznachbar erhob die Stimme.

»So holen wir uns dieses Recht eben ein. Sprechen wir unserem Schirmherrn vor und lassen ihn entscheiden.«

Conrat schüttelte abermals den Kopf.

»Es ist Herbst. Bis man sich am Hof um eine solche Lappalie kümmert, ist der nächste Sommer längst vorüber. Außerdem …« Nun blickte er die Runde. »Wollen wir wirklich Kaiser Fridrek über eine solche Sache urteilen lassen?«

Ein zustimmendes Gemurmel erhob sich. Ures Schirmherr, Kaiser Fridrek von Trinakria, hielt sich bisher auf angenehme Weise aus den Angelegenheiten der Bauern heraus und keiner wollte, dass sich dies änderte. Bis auf die vermaledeiten Steuern ließ er die Bevölkerung in den Seitentälern weitgehend unbehelligt. Einzig in die Geschäfte von Altenmatt, Ures Hauptort, mischte er sich ein. Was den Kaiser wirklich interessierte, war so oder so der Gebirgspass im Süden von Ure.

»Was schlägt Lemthal vor?«, warf der Ammann in den Raum, nachdem das Gemurmel erstorben war.

Conrat erhob und reckte das Kinn.

»Einen Wettkampf. Mit Debattieren werden wir keine Lösung erzielen. Bei einem redlichen Wettstreit kann man sich wegen des Resultats nicht uneins sein.«

Die Stimmen erhoben sich wieder. Oldarn machte in dem Gemunkel unterschiedliche Meinungen aus, während er versuchte, sich eine eigene zu bilden.

Ein Wettkampf um Hohenmarch? Würde sein Vater dem zustimmen? Anbert war ebenfalls glücklich darüber, dass das Gesetz des Kaisers hier nicht viel Gewicht hatte und die Bauern ihre Angelegenheiten unter sich regeln konnten. Doch wäre ein offizieller Entscheid des Kaisers nicht handfester und langfristiger?

Nach einer Weile verstummten die Stimmen. Alle Blicke richteten sich wie gebannt auf den Ammann. Dieser war in sich gekehrt in seinem Stuhl zurückgesunken. Oldarn kannte seinen Vater und las die Unschlüssigkeit in seinem Gesicht.

»Wie soll dieser Wettkampf aussehen?«, fragte Anbert.

Conrat breitete die Hände aus.

»Dies bleibt auszumachen. Da von uns der Vorschlag stammte, sind wir bereit, eure Ideen zur genauen Umsetzung zu hören.«

Der Ammann nickte.

»Gut. Wir werden uns besprechen. In der Zwischenzeit ist für dich ein Bett hier im Widder bereitet worden.«

Er läutete die Glocke.

»Ein Wettkampf? Du willst es wirklich riskieren, unsere Weide bei einem Wettkampf zu verlieren?«

Acher war nicht der Einzige, der aufgebracht gestikulierte.

»Was bleibt uns anderes übrig? Irgendwie müssen wir uns einigen und mit Reden sind wir bisher nicht weitergekommen«, meinte der Ammann seufzend.

Insgeheim gab ihm Oldarn recht. Nur durch Palavern würden sie zu keiner Übereinkunft gelangen.

Etwas lustlos schob er das Gemüse mit Siedfleisch auf seinem Teller hin und her und ließ sich verschiedene Disziplinen durch den Kopf gehen.

»Also, was steht zur Auswahl?«

»Schwingen.«

»Faustkampf?«

»Steinwerfen.«

»Bockmist!«, erklang es von der unteren Tischhälfte. »Merkt ihr denn nicht, wie wir mit diesem Wettkampf über den Tisch gezogen werden?«

Oldarn hob den Kopf und sah, wie Darion, ein enger Freund seines Vaters, aufgestanden war.

»Kennt ihr die Brüder von Lemthal nicht? Die Glaris-Brüder?«

Schweigen erfüllte den Raum und Darion fuhr fort.

»Die drei Brüder sind die kräftigsten Burschen, die ihr je gesehen habt, das sage ich euch. Da können wir hinstellen, wen wir wollen.«

»Aber unser Lunz ist auch ein starker Junge.«

»Wenn ich es euch doch sage. Gegen die drei Brüder kommt keiner an.«

Oldarn erkannte, wie sein Vater innerlich zusammensank.

»Dann sind wir verloren.«

»Nicht unbedingt.« Oldarn zog die Blicke aller Anwesenden auf sich. Es war das erste Wort, das er in der Sache hervorbrachte. »Es gibt Wettkämpfe, die keine Stärke erfordern. Laufen zum Beispiel.«

Er erntete zustimmendes Murmeln.

»Wohl wahr. Aber wen stellen wir für unser Dorf auf? Wir dürfen keine Niederlage riskieren.«

Wieder Murmeln.

»Starke Männer haben auch starke Beine«, warf einer in die Runde.

»Vielleicht können wir einen von außerhalb finden«, meinte Darion mehr zu sich selbst. »Wir brauchen den schnellsten Läufer, den Ure zu bieten hat.«

»Das heißt, jemand von uns muss so einen suchen«, folgerte der Dorfammann. »Und das bald.«

Vor Oldarns Augen erschein das Bild der Holzspäne, wie sie auf dem Bach fortgetragen wurden. Fort von diesem Ort in Richtung des Haupttals von Ure. In seiner Tasche fühlte er das hölzerne, einfältige Schaf.

»Ich gehe.«

Die Worte bildeten sich wie von alleine in Oldarns Mund. Wieder setzte für kurze Zeit Schweigen ein.

»Du?« Das Wort seines Vaters triefte vor Skepsis. »Du hast unser Tal noch kein einziges Mal verlassen, Oldarn.«

»Ich werde gehen. Ich finde einen Läufer.«

Selten war er von einer Idee überzeugter gewesen als heute. Er musste weg von diesem Ort, wo ihn die Anschuldigungen und das schlechte Gewissen langsam erdrückten. Er musste fort und dafür sorgen, dass Spirosgrund seine Weide nicht verlor. Wenn er das vollbrachte, dann wäre seine Schuld getilgt und er konnte sein bisheriges Leben weiterführen. Vielleicht endlich eine Frau finden. Eine Familie gründen.

Außerdem würde er Ure sehen. Wenn Anbert mit den anderen nach Altenmatt zog, blieb Oldarn immer als sein Stellvertreter zurück.

Die Gemeinschaft war verstummt. Jeder schien sich seinen Teil zu denken. Oldarn konnte den Zweifel offen in ihren Gesichtern lesen.

»Was ist?«, warf er mit lauter Stimme in die Runde. Sein Herz begann schneller zu pochen. »Jemand wird gehen müssen. Und ich bin offenbar mehr als nur entbehrlich.«

Eine Art der Bedrückung machte sich breit, die Oldarns Vater nach einer Weile zähneknirschend durchbrach.

»Das bist du nicht. Ich bin auf deine Hilfe hier angewiesen.« Er fasste nach der Glocke, um weitere Diskussionen abzuwürgen. »Ich denke darüber nach. Außerdem werde ich die genauen Details mit Conrat aushandeln. Wir treffen morgen Abend erneut zusammen.«

Oldarn war wütend und erkannte sich fast nicht wieder. Normalerweise war er ein ausgeglichener Mann. Einige sagten, er sei beinahe teilnahmslos, was allerdings nicht stimmte. Er war nur der Meinung, dass man seine Gedanken nicht jedem mitteilen musste, wenn es genügend andere Leute gab, die das taten.

In den letzten Tagen hatten sich jedoch mehr Frustration und Verzweiflung angestaut, als er zugeben wollte. Das Gespräch mit seinem Vater war der berüchtigte letzte Tropfen gewesen.

»Keiner von uns kennt sich außerhalb unseres Tales genauer aus, also bin ich gut wie jeder andere.«

Sein Vater schob sich langsam ein Stück Käse in den Mund, während die Mutter heißes Wasser aufkochte. Schon auf dem Weg nach Hause hatte der Ammann beharrlich geschwiegen und erst in ihren vier Wänden zugelassen, dass dieses Thema zur Sprache kam. Auch wenn Oldarn eher einen Monolog führte denn eine Diskussion.

Vor Erregung zitternd stützte er sich auf der Tischkante ab.

»Du glaubst, dass ich es nicht schaffe.« Er trat einen Schritt auf seinen Vater zu. »Du glaubst, dass ich versage und dass dein Sohn endgültig dafür verantwortlich sein wird, dass wir Hohenmarch verlieren.«

»Unsinn«, murmelte sein Vater. Es hörte sich in Oldarns Ohren keinesfalls überzeugend an.

»Aber du siehst das so«, antwortete er nüchtern.

Ohne ein weiteres Wort suchte er sein Schlafzimmer auf. Die Geschwister waren alle verheiratet und wohnten im Dorf verstreut oder hatten eigene Zimmer angebaut, sodass Oldarns Strohmatte das Einzige war, das auf einen Bewohner schließen ließ. Der Rest des Raumes wurde von Regalen mit kleinen und großen Holzschnitzereien eingenommen. Bald würde hier wieder Platz geschaffen, sobald der Winter mehr Brennholz forderte.

Oldarn setze sich auf das Stroh und ließ den Blick über seine Werke schweifen. Ein großer Teil davon war in den letzten Tagen und Wochen entstanden, fiel ihm auf. Die meisten Schnitzereien stellten Tiere dar, doch es gab auch Blumen oder Bäume. Ab und zu hatte er sich an der Nachbildung eines Berges versucht, scheiterte jedoch immer daran, dass er nicht wusste, wie er die Rückseite formen sollte.

Wenn er fortginge, würde er vielleicht erfahren, wie die Berge von hinten aussahen.

Es klopfte an der Tür, welche sich sogleich öffnete. Schweigend setzte sich seine Mutter neben ihn. Wenn man sie anschaute, war es offensichtlich, dass Pedra ihre Tochter war.

»Du willst wirklich gehen?«, fragte sie nach einer Weile zaghaft.

Oldarn nickte, jedoch nicht so überzeugt, wie er es wollte. Aus dieser einfachen Frage konnte er so viel herauslesen. Er würde seiner Mutter viel Leid bereiten, wenn er das Dorf verließ.

»Jemand muss es tun. Und ich bin schuld an der Sache.«

Seine Mutter legte ihren Arm um seine Schultern und er ließ es geschehen.

»Es ist niemandes Schuld.«

Er setzte bereits zu einer Antwort an, als sie weitersprach.

»Du hast deinen Großvater nie gekannt. Er ging fort, noch bevor ich deinen Vater heiratete.«

Oldarn nickte, denn sie hatte ihm schon von ihm erzählt.

»Er ging, als Großmutter starb.«

»Er ging fort, wohin, weiß ich nicht, um sein Glück zu versuchen. Gefunden hat er es nicht, also kam er zurück.«

Oldarn beobachtete seine Mutter, während sie sprach. Sie hatte den Blick auf einen Punkt an der Wand gerichtet und schien Erinnerungen nachzuhängen.

»Ich habe ihn nicht wiedererkannt. Er war in sich gekehrt und es war ihm anzusehen, dass er jeden Tag litt. Ich konnte nicht zu ihm durchdringen, um herauszufinden, was geschehen war. Ure hat ihn verändert.«

Ihre Stimme klang bitter und Oldarn wurde allmählich bewusst, weshalb seine Mutter stets so große Abneigung gegenüber allem Fremden hegte.

»Schlussendlich ist er wieder gegangen. Es dauerte fast neun Monate, bis ich erfuhr, dass er gestorben war. Neun Monate! Keinen hat es interessiert, dass er Verwandtschaft besitzt hier hinten.«

Sie schluckte schwer, um ihre Tränen zurückzuhalten. Oldarn legte nun seinerseits den Arm um sie, wusste aber nicht, was er sagen sollte. Sie ließ sich trösten, löste sich dann von ihm und blickte ihm in die Augen.

»Die Welt da draußen verändert einen, Oldarn. Ich will nicht, dass du gehst.«

Ohne zu antworten, atmete er tief durch. Seine Mutter erhob sich schließlich und ließ ihn mit seinen Gedanken alleine.

Die Bedenken seiner Mutter waren gerechtfertigt. Es hatte eine Zeit gegeben, in der einige junge Leute ins Rusatal, das Haupttal von Ure, gezogen waren, da sie sich dort eine bessere Zukunft erhofften. Wenige waren glücklich geworden, so sagte man. Wie anders jedoch konnte es sein? Dort lebten auch Menschen, die arbeiteten, um zu essen.

Natürlich hatte sich die Situation in den letzten Jahren verändert. Als das Gebiet von Ure unter die direkte Schirmherrschaft Kaiser Fridreks gefallen war, dachten viele Bauern, dass sich der Einfluss des Adels verringern würde. Das Gegenteil trat ein. Die Soldaten des Kaisers markierten seither eine spürbare Präsenz in Ure. Spirosgrund erfuhr von diesen Dingen vor allem durch die Steuereintreiber.

Oldarn schüttelte den Gedanken ab. Was kümmerte ihn der Einfluss des Kaisers? Er wollte nur einen Läufer suchen und keinen Krieg beginnen.

Die Welt da draußen verändert einen.

Was war, wenn er sich verändern wollte? Vielleicht war es an der Zeit, jemand Neues zu werden. Jemand, der den Mumm hatte, seinen Vater auf seinem Posten abzulösen und seine Meinung durchzusetzen.

In Oldarns Bauch kribbelte es und seine Beine wurden unruhig. An Schlaf war nicht zu denken, also stand er auf und ging zum Fenster. Während er hinauskletterte, versuchte er sich daran zu erinnern, wann er das das letzte Mal getan hatte. Irgendwann, als er sich von seinen jüngeren Brüdern noch zu solchen Dingen hatte anstiften lassen, vermutete er.

Draußen umrundete er das Haus, wanderte eine Weile ziellos durch das Dorf. Es war kein Mensch unterwegs, jeder genehmigte sich sein Abendbrot. Als er den Widder passierte, streifte sein Blick das offene Fenster in der oberen Etage. Dort also logierte Conrat. Der Kerl, der die Existenz ihres Dorfes bedrohte. Oldarn war sich bewusst, dass der Bote noch weniger Verantwortung an der Sache trug als Oldarn selbst. Dennoch war sein Groll auf ihn groß.

Entnervt schüttelte er den Gedanken ab. Die Sonne versank hinter den Gipfeln, tauchte sie in ein rotoranges Licht. Oldarn kannte jeden dieser Berge. Das große Scherenhorn mit dem charakteristischen Doppelgipfel im Süden, der Weidstock und der Chinzerberg im Norden, der Balmhang und alle anderen Gipfel, Weiden und Gebirgsflanken. Er wollte sich nicht vorstellen, wie es ohne sie wäre. Die Soldaten des Kaisers, die zweimal im Jahr herkamen, verabscheuten die mächtigen Riesen. Sie fühlten sich von ihnen bedrängt und konnten nicht schnell genug wieder in ihr Flachland im Norden zurückkehren. Oldarn hingegen würde sich dort wohl schutzlos und nackt vorkommen. Die Berge waren seine Gefährten, seine Hüter, seine Heimat. Auch wenn er nicht zu den Sennen gehörte, die die Sommer auf ihren Bergweiden verbrachten, so liebte er sie dennoch innig.

Ohne es zu bemerken, hatte Oldarn das Ende des Dorfes erreicht, wo er reflexartig stehen blieb. Hinter einer Biegung um einen Felsen verschwand die Straße, die nach Altenmatt führte. Ure selbst war ein großes Tal, links und rechts von Bergen eingekesselt, im Norden von einem See und im Süden von einer unüberwindbaren Schlucht begrenzt. Unzählige Seitentäler, wie das Schachtal, zweigten davon ab. Zumindest hatte man dies Oldarn so erklärt. Unbewusst fühlte er das Holzschaf in seiner Tasche und fasste einen Entschluss.

3. Kapitel

Es war so weit.

Sein Herz schlug schneller, als Oldarn einen Blick zurückwarf und erkannte, dass auch das letzte Haus hinter den Felsen verschwunden war. Nun gab es nur noch eine Richtung: hinaus aus dem Tal. Obschon Oldarn nicht daran zweifelte, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, breitete sich ein mulmiges Gefühl in seiner Magengegend aus. Der Beutel auf seinem Rücken schien auf einmal das Doppelte zu wiegen.

Trotzig setzte er seinen Weg fort und mit der Zeit fiel ihm jeder Schritt etwas leichter. Das Wetter war typisch für den Herbst. Feuchter Nebel umgab ihn und netzte sein Gesicht. Im Gegensatz zu den letzten Tagen war es absolut windstill und seine Füße waren das Einzige, was das Laub rascheln ließ.

Noch am Vormittag, während seiner Vorbereitungen, war sein Kopf voll gewesen mit Plänen für seine Suche und seinen Zweifeln daran. Doch diese Skepsis hatte sich gelegt, kaum war Spirosgrund außer Sichtweite geraten. Jetzt fühlte sich Oldarn so entspannt wie lange nicht mehr. Das erste Mal seit Tagen hatte er seine Ruhe, ohne dass er sich Gedanken darüber machte, wie er den Leuten am besten aus dem Weg gehen könnte.

Als er aufgebrochen war, hatten ihn einige beobachtet, aber nur wenige waren an ihn herangetreten, um ihm Glück zu wünschen. Seine Mutter hatte Tränen vergossen, seine Brüder und vor allem Pedra wirkten etwas beeindruckt. Anbert hatte geschwiegen und ihn mit einem kräftigen Händedruck verabschiedet. Oldarn konnte sich denken, dass er nicht an seinen Erfolg glaubte. Doch ihm war es egal. Er zog nach Altenmatt und machte den schnellsten Läufer von Ure ausfindig.

Am Vorabend war festgelegt worden, wie der Wettkampf ablaufen sollte. In einem Monat, beim ersten Schrei des heimischen Hahnes, würde aus beiden Dörfern ein Läufer das Rennen beginnen. An der Stelle, an der sie aufeinandertrafen, würde eine neue Grenze gezogen, welche die Besitzansprüche ein für alle Mal regelte.

»Spirosgrund kann es nicht riskieren, auch nur ein Stück von Hohenmarch zu verlieren«, hatte sein Vater gesagt.

Oldarn straffte den Rücken und beschleunigte seine Schritte. Es galt, keine Zeit zu vergeuden, denn er wollte bis am Abend mindestens Burgellon erreichen. Entweder er übernachtete dort oder wanderte direkt weiter nach Altenmatt.

Obschon er stur geradeaus wandern wollte, schweifte Oldarns Blick immer wieder zu den Hängen der Berge, deren Gipfel er von leicht anderer Perspektive her kannte. Im Nebel sahen sie düster und trostlos aus. Die Zungenfarne, die überall wuchsen, hatten ihre herbstlichen Braun- und Rottöne angenommen und ließen die einzelnen Blätter hängen. Sie bedeckten ganze Bergflanken und waren das dominierende Gewächs bis zu der Höhe, in der die dunkelgrünen Tannen keine Konkurrenz mehr duldeten. Zwischendurch gelang es einer karminroten Steinrose oder dem blauvioletten Wolfskraut etwas Abwechslung in die Farbgebung zu schmuggeln.

Auf eine Art verstand Oldarn die Abneigung der Soldaten gegenüber dieser Landschaft. Sie war rau und unwirtlich, besonders im Herbst. Doch gleichzeitig war sie auch wunderschön und ließ Einblick nehmen in die unbeugsame Natur der hiesigen Pflanzenwelt.

 Während er die Eindrücke in sich aufnahm, dachte er darüber nach, was seine Mutter ihm vor der Abreise gesagt hatte. Die Leute da draußen sind anders als wir, Oldarn. Denke daran!

Es war ein eindringlicher Rat gewesen und Oldarn würde ihn nicht vergessen. Auch wenn er nicht ganz genau wusste, was sie damit meinte.

Der Weg aus dem Tal zog sich länger hin als erwartet. Schon von Weitem konnte Oldarn erkennen, wie sich die Bergflanken auseinanderbewegten und sich ein größerer Talkessel ausbreitete. Als er sein Ziel Burgellon endlich erreichte, war bereits die Dämmerung angebrochen. Nur wenige Schritte weiter würde er schon in das Tal hinuntersehen können, wo der Schachbach und die Rusa bei Altenmatt zusammenflossen. Müde und erschlagen von den Gedanken, welche er sich auf seiner bisherigen Reise gemacht hatte, suchte er ohne zu zögern eine Wirtsstube auf. Ein brauner Messingbär spazierte über dem goldenen Schriftzug Gasthaus zum Bären und machte einen einladenden Eindruck. Obwohl in diesem Augenblick jedes Wirtshaus einladend auf Oldarn gewirkt hätte.

Neugierig trat er ein. Eine wohlige Wärme schlug ihm entgegen, zusammen mit dem Duft von Suppe und dem würzigen Geruch von Tabak. Die Schankstube war größer als die des Widders und auch besser gefüllt. Kein Kopf, der sich nicht nach ihm umdrehte, als er die Tür hinter sich zufallen ließ. Für einen kurzen Moment fühlte sich Oldarn wie zur Schau gestellt und ihn überkam ein plötzliches Unwohlsein.

»Guten Abend«, nuschelte er und setzte sich rasch an den ersten leeren Tisch. Dort legte er sein Bündel neben sich auf die Bank und versuchte sich so klein zu machen wie nur möglich. Es dauerte noch einen langen Augenblick, bis die Gespräche wieder ins Laufen kamen. Geduldig wartete Oldarn, bis die Wirtin des Hauses sich zu ihm gesellte. Ein abgekautes Stück Holz hing in ihrem Mundwinkel und ihr Haar fiel in fettigen Strähnen in das aufgedunsene Gesicht.

»Was willst?«

Noch etwas eingeschüchtert von den Reaktionen der anderen Gäste, wusste Oldarn nicht wirklich, was er bestellen sollte.

»Etwas zu essen und ein Bett für die Nacht.«

Die Frau schob das Holz von einem Mundwinkel in den anderen.

»Käsesuppe? Plättli? Spatz?«

Oldarn zögerte und ein breites Grinsen erschien auf dem Gesicht der Wirtin.

»Keiner von hier, was?«

»Das ist einer von denen von da hinten«, spottete es von einem Tisch herüber.

»Halt die Klappe, Hainz«, schnauzte die Wirtin.

Kleinlaut antwortete Oldarn: »Ich nehme den Spatz.«

Die Frau nickte zufrieden. »Einen Stotzen dazu?«

»Gern«, meinte Oldarn und wurde ein Stück kleiner.

Langsam wurde ihm klar, was seine Mutter gemeint hatte. Er würde künftig darauf achten müssen, was und wie er etwas sagte.

Es dauerte nicht lange, da standen die Schüssel mit dünnem Eintopf sowie ein großes Bier vor ihm.

»Ich hoffe, du hast auch den Stutz dazu.«

Oldarn fasste nach seinem Beutel und holte ein paar Münzen hervor. Ein Verziehen ihrer Mundwinkel verriet, dass die Wirtin damit zufrieden war.

»Doch nicht so ein Bajass, wie du scheinst.«

Ein zweifelhaftes Kompliment, aber Oldarn erwiderte es mit einem müden Lächeln. Dann widmete er sich seinem Abendessen.

Der Eintopf wärmte und nährte, viel mehr aber auch nicht. Das Bier war wässrig und schon ein bisschen schal. Er zweifelte nicht daran, dass die Qualität damit zu tun hatte, dass er nicht von hier, sondern von da hinten stammte.

Während er sich Löffel um Löffel des Eintopfs einverleibte, beobachtete er die anderen Gäste. Die meisten waren wohl Bauern aus der Gegend, die sich gegenseitig kannten. Ab und zu rief jemand quer durch die Stube zu einem anderen hinüber. Vier waren mit einem gemeinsamen Kartenspiel beschäftigt. Sie schienen hoch konzentriert und sprachen kein Wort, bis alle ihre Karten gespielt hatten. Dann hämmerten sie mit den Fäusten auf den Tisch und schrien sich gegenseitig an.

»Du hättest die Sau spielen müssen!«

»Jetzt hast du den Bock aber geschossen.«

Oldarn zuckte zusammen, als ein Tonbecher scheppernd zu Boden fiel und zerbrach.

»Gydo!«, donnerte die Wirtin.

»Tut mir leid, Lenda«, rief der Gescholtene. »Es war nicht meine Schuld.«

In dem Moment öffnete sich die Tür des Wirtshauses und ein eisiger Wind strömte herein. Dies lag nur teilweise an den Temperaturen draußen, sondern vielmehr an jenen, die nun in die Schankstube traten. Das schwarz-goldene Wappen mit dem aufgerichteten Löwen auf den Bannerröcken sowie die Spitzen ihrer langen Hellebarden genügten als Erklärung, wer sie waren.

In der Wirtsstube verstummte es auf einen Schlag und keiner wagte es dieses Mal, einen Scherz über die Herkunft der Neuankömmlinge zu reißen.

Mit grimmigem Blick blieben die sechs Männer im Eingang stehen und ließen ihr Auftreten wirken, bevor einer von ihnen sprach.

»Fleisch und Bier für meine Trabanten.«

Es dauerte keinen Lidschlag, da hatten die Kartenspieler ihren Tisch geräumt, da es der einzige war, der genügend Platz für die Soldaten des Kaisers bot.

Die Gespräche kamen nur schleppend wieder in Gang und die Hälfte der Gäste verließ die Taverne umgehend.

Auch die Wirtin schien leicht nervös, während sie auftischte, was sie im Haus hatte. Dann trat sie an Oldarn heran.

»Pech für dich, Jungchen, aber unsere Betten sind alle besetzt.«

Oldarn konnte keine Antwort abgeben, so schnell war sie wieder abgerauscht. Dass er vor den Soldaten nach einem Bett verlangt hatte, war offenbar nicht von Belang. Aber es lag ihm fern, sich mit den Soldaten anzulegen. Er würde sehen müssen, wo er blieb.

Die Stimmung litt spürbar unter den neuen Gästen und hätte Oldarn nicht noch sein Bier vor sich und zusätzlich keine Ahnung, wo er hingehen sollte, wäre auch er nicht geblieben.

Nur einige Minuten später bereute er es, Burgellon nicht einfach passiert zu haben.

»He, Weib!«

Lenda erschien abermals hinter dem Tresen.

»Wir müssen morgen weiter ins Tal hinein. Irgendein Drecksloch hat das letzte Mal zu wenig Steuern bezahlt.«

»Drecksloch«, doppelten die anderen Soldaten nach.

Ihre Laune schien deswegen nicht die beste zu sein.

»Wir brauchen jemanden, der uns nach Jägerklus führt.«

Oldarn zuckte zusammen. Jägerklus war ein kleiner Weiler, ein wenig weiter hinten im Tal als Spirosgrund, kaum mehr als ein paar Häuser. Die würden auch heute die Steuern nicht bezahlen können.

Wie gelähmt erkannte er den Finger der Wirtin, der sich auf ihn richtete und sich in seinen Brustkorb zu bohren schien.

»Der stammt von da hinten. Der kennt den Weg.«

Sechs Augenpaare wandten sich zu ihm um. Eine behandschuhte Hand winkte ihn herbei. Oldarn brauchte ein paar Augenblicke, um seine Starre zu durchbrechen und mit schwankenden Beinen an den Tisch der Soldaten hinüberzuschleichen.

»Du kennst dich da hinten im Tal aus?«

Oldarn nickte.

»Gut, dann zeigst du uns morgen den Weg.«

Mit etwas Kraftaufwand gelang es Oldarn, seine Kiefer auseinanderzuzwängen.

»Es gibt nur einen einzigen Pfad …«

»Du wirst uns führen, hast du verstanden? Sei ein guter Bauer und lass uns jetzt in Ruhe essen.«

Wie ein geprügelter Hund schleppte sich Oldarn wieder an seinen Tisch, wo er seinen Bierkrug in einem Zug leerte.

4. Kapitel

Die sechs prächtigen Pferde, mit denen Oldarn letzte Nacht den viel zu kleinen Stall geteilt hatte, standen nun gesattelt und aufgezäumt bereit zur Abreise. Ihm war übel und schwindlig, doch das lag nur begrenzt an den drei Stotzen vom Vorabend.

Er konnte nicht mit den Soldaten mitgehen. Seine Reise führte ihn in die andere Richtung. Wie würde er dastehen, wenn er bereits am Tag nach seiner Abreise wieder in Spirosgrund sein würde? Noch dazu mit den verhassten Soldaten des Schirmherrn im Schlepptau?

»Du siehst nicht gut aus, Bauer«, sprach ihn einer der Soldaten an und warf ihm einen halben Laib Brot zu. »Iss etwas, du musst heute schnell laufen können.«

Schnell laufen.

Das würde nicht genügen. Er brauchte keinen schnellen Läufer, er brauchte den schnellsten. Und das war nicht er.

Lustlos riss er einen Teil des Brots ab und steckte es sich in den Mund. Er hatte den Männern noch einmal zu erklären versucht, dass der Weg einfach sei, doch sie hatten nicht hören wollen. Es blieb ihm keine andere Wahl, als ihren Führer zu spielen.

Nur wenig später saßen die Soldaten in den Sätteln und ließen ihre Reittiere hinter Oldarn hertrotten. Auch wenn er schnell ging, gelang es ihm nicht, auch nur wenige Schritte zwischen sich und die Männer des Kaisers zu bringen. Schon kurz nach ihrem Aufbruch wanderte er inmitten der hochgewachsenen Tiere. Er mochte Pferde nicht sonderlich, konnte ihre Arroganz und Unberechenbarkeit nicht leiden. Kühe waren da anders. Bei ihnen fand sich Oldarn viel mehr auf Augenhöhe und wusste mit ihnen umzugehen. Bei Pferden musste man mit allem rechnen. Plötzlich hatte man einen ihrer Hufe an der Kniescheibe oder sie beschlossen, dir die Haare vom Kopf zu mampfen.

»He Bauer! Wir wollen heute noch ankommen. Kannst du schneller traben?«

Gelächter folgte. Oldarn antwortete nicht, sondern versuchte seine Beine dazu zu bringen, länger zu werden, weitere Schritte zu machen. Leider war dieses Vorhaben nicht von Erfolg gekrönt und seine Bemühungen wurden mit einem Krampf in der Wade belohnt. Ächzend taumelte er voran. Nach einer geschätzten Ewigkeit gönnten die Soldaten ihm eine Verschnaufpause, während deren sie selbst von den Pferden stiegen.

»Sag mal, Bauer. Kletterst du auch jeden Abend auf einen Hügel und heulst den Mond an?«

Mit dieser Frage führten sie ihre Beschäftigung vom Vorabend fort, sich über die hiesigen Gebräuche lustig zu machen.

»Nein«, lautete Oldarns zerknirschte Antwort, während er sich an einen Felsen lehnte und um Atem rang.

»Wirklich nicht? Ich dachte, das tun alle hier.« Wieder erntete der Sprecher Gelächter.

»Nur die Viehhirten auf den Sennböden tun dies.«

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, machte er instinktiv einen Schritt von den Soldaten weg.

Sei still!, befahl ihm eine vernünftige Stimme in seinem Kopf. Lass sie einfach reden.

Oldarn hörte auf den Rat und ging nicht weiter darauf ein. Er selbst war ja nicht einmal ein Senn, der diesem Brauch zu folgen pflegte. Dennoch kratzte es an seinem Stolz, die Soldaten so sprechen zu hören.

Wie zur Bestätigung seiner inneren Stimme machte einer der Männer einen Schritt auf ihn zu. Er beugte sich bedrohlich zu ihm hinunter und setzte ein dreckiges Grinsen auf.

»Dann klär uns doch mal darüber auf, kleiner Bauer.«

Oldarn schluckte leer, presste sich an den Felsen, während sein Blick in alle Richtungen schweifte, nur um dem Soldaten nicht in die Augen zu sehen. Dieser richtete sich wieder auf und wartete erwartungsvoll ab.

»Ja, erzähl von euren Ammenmärchen«, stimmte ein anderer mit ein.

In Oldarn zog ein Sturm auf und er spürte, wie verzweifelt er sich in dessen Auge verlor. Zum einen fürchtete er sich vor den Soldaten, über deren Skrupellosigkeit er schon viel gehört hatte. Zum anderen schnürte es ihm vor Wut die Kehle zu, wenn sie glaubten, sie könnten die Bräuche der Einheimischen derart mit Füßen treten.

»Wir heulen nicht den Mond an«, begann er zögerlich.

Das Lachen kündigte sich bereits auf den Gesichtern des Soldaten an. Sie hatten diese Geschichte bestimmt schon dutzendfach gehört und amüsierten sich jedes Mal aufs Neue darüber.

»Es ist eine Danksagung an die Geister. Sie sollen alles Übel von den Sennen und dem Vieh fernhalten, während sie auf den Weiden sind.«

Zu diesen Übeln gehörten normalerweise Dinge wie Wölfe, Felsstürze, Lawinen oder die Geister selbst. Oldarn fragte sich, ob die Sennen auch die Soldaten des Kaisers mit einschlossen.

»Die Geister.« Einer der Soldaten kicherte.

Oldarn war kein abergläubischer Mensch, doch auch er wusste, dass man solche Bräuche nicht einfach ignorierte oder Witze darüber riss. Außerdem waren die Geister da, das wusste er wie jeder andere. Er hatte noch nie mit ihnen zu tun gehabt, aber er spürte sie. Sie steckten in den Bergen und den Wipfeln der Bäume. Sie ließen die Bäche fließen und den warmen Bergwind blasen. Sie standen den Menschen bei, die sie um ihre Hilfe baten und sie bestraften diejenigen, die ihren Beistand nicht würdigten. Es rankten sich zu viele Geschichten darum, als dass jemand sie anzweifeln würde.

»Schon klar, kleiner Bauer«, meinte einer der Soldaten gönnerhaft und schlug ihm auf die Schultern, sodass es Oldarn fast von den Füßen riss.

»Ihr solltet nicht über die Geister spotten«, entfuhr es Oldarn nun. »Sie bestrafen Menschen, die das tun.«

Dann, bevor die Soldaten reagierten, hörte man das Grollen. Zu Beginn leise, durch das Gelächter der Soldaten beinahe nicht zu hören. Als es lauter wurde, hielten die Männer in ihren Bewegungen inne. Es dauerte keine drei Atemzüge, da war es zu einem bedrohlichen Tosen angeschwollen, welches vom Splittern von Holz und dem Rauschen von Wasser begleitet wurde. Nur wenig später bemerkte Oldarn, wie der Boden sacht bebte und wie feiner Steinstaub sich auf seine Zunge legte. Dann rollten die ersten faustgroßen Kiesel vor seine Füße.

»Steinschlag!«, schrie einer der Männer und sie alle lösten sich aus ihrer Starre.

Während die Soldaten ihre scheuenden Pferde unter Kontrolle zu bringen versuchten, war es Oldarn noch nicht wieder möglich, sich zu bewegen. Sein Blick war bewegungslos auf den Hang neben ihnen gerichtet, wo immer mehr Geschiebe in Bewegung kam. Dann erkannte er etwas, was ihn aus seinem Dämmerzustand riss. Im Hang bewegte sich noch etwas. Wie eine Gämse sprang ein Mann zwischen den Felsen und Wurzeln umher und lieferte sich ein Rennen mit der Steinlawine hinter ihm.

Die Soldaten versuchten weiterhin, sich auf ihre Reittiere zu hieven. Einer hatte es bereits aufgegeben und sich für die Flucht zu Fuß entschieden. Nur wenige Schritte weiter wurde er von einem herabfallenden Stein am Kopf getroffen, fiel hin und blieb reglos liegen.

Nun setzte sich auch Oldarn in Bewegung. Er rannte in die andere Richtung den Weg entlang, während immer größere Steine vor seine Füße rollten. Einer davon schlug gegen sein Schienbein und ließ ihn kurz straucheln. Das Dröhnen schwoll indes an und überdeckte die Schreie der Soldaten hinter ihm. Auf einmal riss es ihn schwungvoll zu Boden. Hilflos rollte er den grasigen Abhang zur anderen Seite des Weges hinunter. Schmerzen fuhren durch seinen Brustkorb und Schlamm in den Augen versagte ihm einen genauen Blick. Er spürte, wie er grob angepackt und gegen einen harten Untergrund gedonnert wurde. Dann umgab ihn nur noch das Donnergrollen des Bergsturzes, bis er langsam in die Bewusstlosigkeit hinüberglitt.

»Junge, wach auf.«

Oldarn hörte die Worte von weit weg. Aber irgendwie wusste er, dass sie für ihn bestimmt waren. Zaghaft wurden seine Gedanken klarer und er spürte, wie jemand an ihm zerrte. Kühles Wasser spülte die letzten Schatten fort, die über seinem Bewusstsein lagen.

Das Wasser lief über sein Gesicht in seinen Mund, wo es den falschen Weg nahm. Ein Hustenanfall weckte den Schmerz in seiner Brust. Erst da bemerkte er, wie eingeschränkt seine Beweglichkeit war.

»Lieg still«, lautete die nächste Anweisung.

Blinzelnd erkannte Oldarn, dass gelegentlich Licht zu ihm durchdrang, er jedoch unter Schutt und Geröll begraben lag. Für einen Moment vergaß er den Schmerz, um tief durchatmend die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Hinter sich spürte er Bewegung und hörte das Schleifen von Steinen. Er wusste nicht, wie lange er reglos dalag, während immer mehr Licht zum Vorschein kam. Irgendwann wurde er unter den Schultern gepackt.

»Jetzt musst du mithelfen mit den Beinen, Junge. Sonst kriege ich dich hier nicht raus.«

Oldarn stöhnte und kniff die Augen zusammen, als peinvolle Blitze durch seinen Körper fuhren. Mit aller Kraft zog er seine Beine zuerst unter kleineren Felsbrocken hervor und stieß sich ab. Es schien schmerzvolle Stunden zu dauern, aber auf einmal spürte er den frischen Regen auf seinem Gesicht, dessen Prasseln bisher nicht bis zu ihm vorgedrungen war. Draußen wurde er weiter über das lose Gestein gezogen. Die scharfen Schiefer schnitten sich in seine Haut, doch das dadurch verursachte Brennen bemerkte Oldarn nur am Rande. Irgendwann spürte er, wie er auf weiches Gras gelegt wurde und das Zerren aufhörte. Wieder drohten seine Sinne zu schwinden, als das Klatschen einer Hand auf seiner Wange ihn zurückbrachte.

»So viel Zeit bleibt uns nicht. Wer weiß, was da noch alles hinterherkommt.«

Stöhnend öffnete Oldarn wieder die Augen und versuchte sich aufzurichten. Hatte er nur das Gefühl oder war es bereits Nacht? Als er sich intensiver auf seine Umgebung konzentrierte, bemerkte er, dass es die dichten Gewitterwolken waren, die den Tag verdunkelten. Dennoch, wie lange hatte er unter den Steinen gelegen?

Ein Gesicht schob sich in sein Blickfeld. Über ihm kniete ein bärtiger Mann mit dichtem Haar, vielleicht zwanzig Jahre älter als Oldarn. Er trug ein einfaches Hirtenhemd, das genauso verschlissen war wie Oldarns Kleider. Blut floss aus einer Platzwunde an seinem Kopf.

Er streckte Oldarn seine Hand entgegen, die dieser ergriff. Dann verlor der Mann keine Zeit und kletterte den sanften Hang zur Straße hinauf. Oldarn folgte ihm etwas unbeholfen. Auf den letzten Schritten musste er abermals die Hilfe des Fremden in Anspruch nehmen, denn Konzentration und Schmerz kämpften in seinem Schädel um die Oberhand. Der Schmerz siegte.

Erst als sie auf dem Pfad standen, erkannte Oldarn das Ausmaß der Zerstörung. Eine gewaltige Steinlawine war an der Stelle niedergegangen, an der er und die Soldaten pausiert hatten.

Als könnte der Fremde seine Gedanken lesen, erklärte er: »Von ihnen hat es keiner geschafft.«

In seiner Stimme lag keinerlei Emotion, weder Mitleid noch Schadenfreude. Oldarn schauderte bei dem Gedanken, wie knapp er mit dem Leben davongekommen war.

»Wie konnten wir das überleben?«

Der Mann wandte sich ab und nahm den Weg, der aus dem Tal hinausführte.

»Ich habe dich rechtzeitig unter einen Felsvorsprung auf der abfallenden Seite gezogen. Die gröbste Masse ist über uns hinweggegangen.«

Oldarn verharrte noch einige Zeit, stierte auf den verschütteten Pfad. Dann beeilte er sich, mit den Schritten des Mannes mitzuhalten.

»Danke«, keuchte er, als er aufgeholt hatte und ein erneuter Schmerzstoß trieb ihm die Tränen in die Augen. Reflexartig fasste er den anderen an der Schulter, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dieser blieb stehen.

»Komm«, sagte er knapp und führte ihn eine Weile abseits des Weges, bis sie beide in einer kleinen Höhle standen, die nicht viel mehr war als ein Felsvorsprung.

Erleichtert ließ sich Oldarn zu Boden sinken und lehnte sich an die Steinwand. Er wollte sich eigentlich mit dem hilfsbereiten Fremden unterhalten, doch es dauerte nicht lange und er war eingedöst.

Als er erwachte, hatte der Regen nachgelassen und der Tag war zurückgekehrt. Vermutlich war Mittag schon eine Weile vorbei. Vor dem Vorsprung glimmte heiße Kohle, in der eine tönerne Schale mit dampfendem Wasser lag.

»Hast du Hunger?«, fragte der Fremde ohne Umschweife.

Oldarn nickte und nahm etwas Brot sowie gedörrtes Fleisch entgegen. Erst jetzt bemerkte er, dass er seinen Beutel während des Felssturzes verloren hatte und absolut mittellos dastand.

»Danke.«

Nun kam er dazu, sein Gegenüber genauer zu mustern. Der Fremde war untersetzt mit krausem Haar und ebenso krausem, orangerotem Bart. Seine Kleidung schien einfach und zweckmäßig. Die wettergegerbte Haut ließ ihn älter aussehen, als er vermutlich war, doch in seinen dunklen Augen stand eine tiefgehende Müdigkeit wie bei einem Greis.

»Mein Name ist Oldarn. Ich stamme aus einem Dorf weiter hinten im Tal, Spirosgrund.«

Der Fremde wirkte im ersten Moment überrascht, nickte dann langsam, während er ein Stück Trockenfleisch in den Mund schob. Als ihm auffiel, dass Oldarn ihn erwartungsvoll musterte, wandte er den Blick in die Ferne und kaute langsamer.

»Du kannst mich Exer nennen.«

»Exer? Dein Familienname?«

»Einfach nur Exer.«

Er akzeptierte die Antwort, die keine war.

»Danke. Dass du mich gerettet hast.«

Exer machte ein zustimmendes Geräusch, aß aber weiter. Offenbar war Oldarns Retter nicht sehr gesprächig.

Als Oldarn sich aufrichten wollte, spürte er erneut den Schmerz in seinen Rippen. Er schob das zerrissene Hemd zur Seite und erschrak, als er die dunkle Verfärbung seiner Haut entdeckte. Als wüsste er nicht, was es auslösen würde, betastete er den blutunterlaufenen Fleck und zuckte sogleich zusammen.

»Nur gequetscht«, schätzte Exer mit einem musternden Blick.

»Ah. Immerhin«, bestätigte Oldarn bitter. »So was kann ich gerade schlecht gebrauchen.«

»Kann man so etwas jemals besser gebrauchen?«

Oldarn wiegte den Kopf und lachte gerade so stark, dass es nicht schmerzte. Irritiert stellte er fest, dass Exer dies offenbar nicht im Scherz gemeint hatte, sondern ohne eine Regung weiteraß.

Vorsichtig drapierte Oldarn die Überreste seiner Kleidung so, dass sie seine nackte Haut einigermaßen bedeckten. Exers Kleider waren in keinem besseren Zustand, doch dieser schien sich weniger an den kühlen Temperaturen zu stören.

Erst jetzt bemerkte Oldarn die Armbrust, die neben seinem Gefährten an der Felswand lehnte.

»Du bist Jäger?«, fragte er.

Exer ließ seine dunklen Augen über die Waffe gleiten und Oldarn hatte das Gefühl, die erste, herzliche Regung in dem Gesicht zu erkennen.

»Ja«, lautete die knappe Antwort nach einer Weile.

»Sollten wir die Soldaten ausgraben und bestatten?«, meinte Oldarn anschließend etwas abwesend. Irgendwie waren die Geschehnisse noch nicht ganz zu ihm vorgedrungen, dennoch konnte er die Toten nicht einfach vergessen.

»Was glaubst du, unter wie viel Tonnen Geröll die da liegen? Die haben die Bestattung, die sie verdienen.«

Oldarn nickte und kam sich dumm vor. Dann wies Exer auf eine Stelle vor der Höhle.

»Dort hat sich etwas Wasser gesammelt und auch die Farne sind feucht. Du solltest das Blut abwaschen, um zu sehen, wie viele offene Wunden du hast.«

Die Idee klang vernünftig. Vorsichtig kroch Oldarn unter dem Vorsprung hervor und schalt sich für seine Angst, gleich von herunterfallenden Steinen getroffen zu werden. Als er die Hände in die einigermaßen saubere Pfütze tauchte, jagte es ihm einen Schauer durch den Körper. Das Wasser war eiskalt. Immerhin brachte es den Vorteil, seine brennenden Wunden etwas zu kühlen. Es brauchte eine Weile, bis er sauber war. Dann erst sah er, wie viele kleine Schnitte und Schürfungen er davongetragen hatte. Sein Körper war davon übersät, doch so schlimm wie seine rechte Seite hatte es nichts getroffen.

Etwas benommen strich er über die verletzten Stellen und ging zurück zu Exer, der in seiner Tasche kramte. Frisch gepflückte Blumen lagen neben ihm. Oldarn erkannte Silberkraut und Muttergras, den Rest konnte er nicht benennen. Kurz darauf gesellten sich getrocknete Blüten und Pulver aus Exers Beutel dazu.