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Nach den Geschehnissen in Genf kehrt Sam nach Zürich zurück. Aber für ihn ist nichts mehr so wie zuvor. Im virtuellen Hacker-Treffpunkt Electric Cat findet er nicht nur unverhoffte Verbündete, sondern auch neue Fragen. Was steckt hinter Yoshis Foto, das er in den gestohlenen Dokumenten entdeckt? Ist es mehr als nur Zufall? Immer weiter verstrickt sich Sam in ein Netz aus mysteriösen Vorfällen und Täuschungen - in der Hoffnung, die Spinne zu finden, die im Hintergrund die Fäden webt. Sie hat sein Leben verpfuscht. Und er hat die Schnauze voll. Das fesselnde Finale der Maschinen-Trilogie!
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Seitenzahl: 432
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Für Pizza und Bier.
Weder ohne das eine noch ohne das andere wäre die Idee zu dieser Trilogie geboren oder hätte ich sie zu Ende gebracht.
»Es ist vorbei«, dachte Sam.
Es war ein seltsames Gefühl. Eine Mischung aus unendlicher Erleichterung, gepaart mit der Müdigkeit, die die Geschehnisse nach sich gezogen hatten, und dem Herzklopfen, das die nun so ungewisse Zukunft verursachte.
Darjas Finger verflochten sich mit den seinen, während sie nebeneinander hergingen. Er drückte ihre Hand und schnaufte tief durch.
»Es tut mir leid«, sagte er.
»Was tut dir leid?«
»Dass ich dir nie die Wahrheit erzählt habe. Damals, als wir uns in Moskau an der Universität kennengelernt haben. Aber auch später, als ich dich aus Zürich angerufen habe.«
Darja zog ihn an sich heran, nur um ihn mit einem freundschaftlichen Schubser wieder von sich zu stoßen.
»Ich weiß auch jetzt immer noch nicht alles, Sam.«
»Stimmt.«
»Ich habe Zeit.«
Sam schmunzelte und ließ den Blick über das in Dunkelheit gehüllte Gelände schweifen. Auch er hatte Zeit. Zum ersten Mal seit Langem.
Er rollte die Schultern.
»Wo soll ich anfangen?«
»Ganz am Anfang vielleicht?«
Sam schnaubte. »Wie du willst. Ich bin in Zürich aufgewachsen, in der Containersiedlung. Die damaligen Slums der Stadt. Meine Sippe bestand aus vielen Eltern und noch mehr Geschwistern. Unsere Zukunftschancen waren mager, wenn nicht sogar inexistent.«
Darja sagte nichts dazu. Als Tochter des Moskauer Polizeichefs war sie in begütertem Haus aufgewachsen und konnte sich so was vermutlich nicht wirklich vorstellen.
»Ich wurde als Jugendlicher aber unerwarteterweise von einem Talentsucher entdeckt. Ein Großkonzern machte mir das Angebot, mich zum Chirurgen auszubilden und anzustellen. Der Jackpot, wie ich damals dachte.«
»Klingt, als hättest du dich getäuscht?«
Sam wippte mit dem Kopf. »Die Ausbildung war gut. Ich lernte insbesondere, Leute mit Cyberware zu modden. Nur leider auch Leute, die sich dazu nicht bereit erklärt hatten. Als ich mitansehen musste, wie einem unkooperativen Mitarbeiter sämtliche Gliedmaßen gebrochen wurden, nur damit er sich modden lassen musste, hatte ich die Schnauze voll. Mithilfe meines besten … nun ja, meines einzigen Freundes Crunch habe ich meinen Tod vorgetäuscht und mir eine neue Identität verschafft.«
»Ah ja«, sagte Darja mit einem Leuchten in den Augen. »Er ist der Typ, dem Boobie gehörte, oder? Die Androide.«
Sam nickte. »Auch meiner Familie sagte ich nichts, weil ich nicht wollte, dass sie in Schwierigkeiten geraten. Und ich wollte, dass sie meine Lebensversicherung einstreichen konnten.«
»Und das hat geklappt?«
»Erstaunlicherweise ja. Nur habe ich mir dabei nicht überlegt, dass ich trotz allem irgendwie meine Brötchen verdienen muss. Ich hab also eine neue Praxis aufgemacht, wo ich Leute modifiziert habe. Illegal.«
Darja schnalzte mit der Zunge. »Du Bad Boy, du.«
»Wie du mich kennst und liebst, oder?«, witzelte Sam.
Darja lachte laut auf. »Weder das eine noch das andere, mein Bester. Dann kam Pures Auftrag?«
Sam überlegte sich, ob er ihr zuerst davon erzählen sollte, dass er sich damals seine eigenen Beine modifiziert hatte. Dass er dabei einen miserablen Job gemacht und ihn die ständigen Schmerzen in die Abhängigkeit getrieben hatten. Als sie in Moskau zusammengekommen waren, hatte er den Entzug schon hinter sich gehabt. Er hatte sich vorgenommen, ihr alles zu erzählen. Aber wenn er ehrlich war, hatte das mit der ganzen Sache nicht viel zu tun. Und die Scham darüber war größer, als er sich eingestehen wollte.
»Genau«, sagte er stattdessen. »Dieser Yoshi trat mit einem Auftrag an mich heran. Du hättest ihn sehen sollen. Irgendwie schräg, in einen dunklen, bodenlangen Mantel gehüllt, das Gesicht entstellt von Verbrühungsnarben und ein Blick, der töten konnte.«
»Verbrühungsnarben? So spezifisch?«
»Gemäß Pure hat er sich diese selber zugefügt, als sie ihn nach einer gemeinsamen Nacht hatte abblitzen lassen.«
Darja hielt inne. »Einer gemeinsamen Nacht?«, fragte sie fast entsetzt.
Sam winkte ab. »Nicht ihr Lieblingsthema. Reden wir nicht davon. Also, dieser Yoshi hat mir die betäubte Pure vorbeigebracht, die ich von Kopf bis Fuß modden sollte. Ich hatte meine Vermutung, dass es gegen ihren Willen geschieht, aber ich stellte keine Fragen. Hätte ich wohl besser.« Er seufzte, als er daran zurückdachte. Der Schock, als das Narkosemittel auf einmal ausfiel und sie während der Operation zu sich kam. »Sie ist abgehauen. Ich konnte sie zwar wiederfinden und das halbfertige künstliche Auge richten. Sie enthüllte mir dabei aber, dass sie eine Killerin im Auftrag von Roth Industries ist und dass mich Yoshi so oder so töten lassen würde, sobald ich meinen Auftrag beendet hätte.«
Darja drückte seine Hand und er war ihr dankbar für die Geste. Aber wenn er damals gewusst hätte, was ihn in der Zukunft noch alles erwarten würde, hätte er die damalige Drohung wohl mit einem müden Lächeln abgetan.
»Ich geriet danach dummerweise diesem Yoshi in die Hände. Er war die rechte Hand von Pures Boss. Crunch holte mich raus, indem er sich in die Systeme von Roth Industries hackte.« Bei der Erinnerung schnürte sich ihm die Kehle zu. »Aber irgendwas im Netzwerk hat ihn angegriffen und getötet.«
So lange war es schon her, seit Sam in Crunchs Wohnung zurückgekehrt war und seinen Freund zusammengesunken in seinem Stuhl gefunden hatte. Noch immer stieg ihm der Geruch nach verbrannter Haut in die Nase, wenn er daran zurückdachte.
»Warum eigentlich? Pure, meine ich. Warum wollten sie sie gegen ihren Willen modifizieren?«, fragte Darja, als spürte sie, dass er nicht zu lange bei dem Gedanken verweilen wollte.
Er räusperte sich. »Dafür hole ich besser etwas aus. Xaver Roth und seine Schwester Chantal Roth – CEO von Byrapharm – haben gemeinsam ein Medikament entwickelt, das einen modifizierten Menschen in einen willenlosen Arbeitsroboter verwandelt und damit die Risiken von übermäßigem Modding für den Arbeitgeber eigentlich eliminiert. Pure sollte einen Mann ausschalten, der unter anderem dafür verantwortlich war, dass solche Medikamente in der Schweiz als illegal gelten. Die Roths planten das Gesetz zu stürzen, das Medikament auf den Markt zu werfen und damit vermutlich Milliarden zu machen.«
Darja schauderte sichtbar. »Ziemlich skrupellos.«
Er nickte grimmig. »Fanden wir auch. Mit Boobies Hilfe konnten Pure und ich bei Roth Industries einsteigen.«
»Das war dann wohl der Moment, wo ihr ihren perfekten Androidenkörper in einen eurer Schweizer Käse verwandelt habt?«
Sam verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Ich befürchte es. Aber wir haben es geschafft, die Beweise zu stehlen. Dabei kam es zu einem Kampf, in dem ich Yoshi tötete.«
Noch vor einigen Monaten hatte sich ihm der Magen verknotet, wenn er an das Blut an seinen Händen dachte. Heute sah die ganze Sache etwas anders. Wie viel in der Zwischenzeit doch geschehen war.
»Wir haben die Beweise einer Journalistin zugespielt und sind gemeinsam nach Moskau gegangen.«
»Wegen unserer feinen Verteidigungsministerin, was?«, fragte Darja matt.
»Ehemalige Verteidigungsministerin. Wir hatten Vermutungen, dass Sofia Viktorowa an dem Medikament interessiert war.«
In Moskau hatten sie ihre Spur jedoch schnell verloren, da Pure Sam zunächst dabei geholfen hatte, von seiner Medikamentenabhängigkeit loszukommen.
»Dann haben wir beide uns getroffen«, ergänzte Darja. »Und du hast mir das Blaue vom Himmel heruntergelogen, um mich ins Bett zu kriegen.«
Sam japste auf, beruhigte sich aber, als sie ihm schelmisch zuzwinkerte.
»Ich war nicht ganz ehrlich«, lenkte er ein. »Aber ich hätte dich schon auch so rumgekriegt.«
»Wenn du mir ehrlich gesagt hättest, dass du Teil einer kriminellen Untergrundorganisation bist?«, fragte Darja. »Vergisst du, wer mein Vater ist?«
»Ich sagte nicht, dass es einfach geworden wäre.« Er rempelte sie freundschaftlich an und wurde wieder ernst. »Wir schlossen uns No-HAL an, in der Hoffnung, etwas gegen all diese unausgereiften und gefährlichen Produkte der Bioengineering-Industrie zu unternehmen.«
»Ja«, sagte Darja lang gezogen. »Wie Roots.«
Sam rieb die Zähne aufeinander. »No-HAL verfolgte ähnliche Ziele wie Roots, ja. Nur galten sie als sehr viel skrupelloser als wir.«
»Sie machten kein Geheimnis daraus, dass es sie gab, im Gegensatz zu euch. Sie wollten, dass man ihre Agenda kannte. Mein Vater musste mehr als einmal ausrücken, um ihre Sauereien aufzuräumen.«
»Nicht nur ihre«, gestand Sam. »Auch wenn wir versuchten, Menschenleben so gut es ging zu schützen, haben wir ab und zu auch Mist gebaut. Und es Roots in die Schuhe geschoben, damit niemand auf uns aufmerksam wurde.«
Sie hätten damals bereits wissen müssen, dass sie das irgendwann in den Hintern beißen würde. Sie waren alle zu naiv gewesen, zu selbstsicher.
»Roots hat euch also die Bogatyr auf den Hals gehetzt und ...« Sie führte den Satz nicht zu Ende.
Und sie hatten No-HAL ausgelöscht.
»Du greifst vor.«
»Sorry.«
»Wir sind auf das Bogatyr-Projekt gestoßen und haben den Projektleiter entführt, was leider etwas schiefging. Aber er konnte uns immerhin erzählen, dass es sich bei den Bogatyr um Menschen handelt, denen spezielle Nano-Roboter injiziert wurden, die verletztes Gewebe innerhalb von Sekunden reparieren können.«
Sam spürte Darjas Blick auf seinem Hals ruhen, wo die Ansätze der silbernen Masse hervorblitzten. Er löste die Hand von ihrer und zog den Kragen enger.
»Wir erfuhren auch, dass die Entwickler der Nanobots eine Firma in Genf war. LoreTech. Pure wusste zu dem Zeitpunkt bereits, dass ihr totgeglaubter Vater der Chefingenieur des Projekts war. Nur hat sie das mit niemandem von uns geteilt.«
Darja schnaufte hörbar ein und aus. »Und das war der Moment, in dem mir eine ominöse Quelle davon berichtete, was wirklich mit dir abgeht.«
»Und du mich beinahe mit einem Schraubenzieher erschlagen hast.« Er wollte einen Scherz machen, aber Darjas Miene wurde traurig.
»Die Beule hättest du dir verdient gehabt«, sagte sie leise.
Er nickte zustimmend. »Damals wussten wir alle noch nicht, dass unsere Kristyna in Wahrheit für Roots arbeitete und sie über all unsere Tätigkeiten ins Bild setzte. Aber der Reihe nach. Zu sechst gingen wir also nach Genf. Pure und ich, Kristyna, Curie und die beiden Hacker Mischa und Han-jae. In Genf ging dann erst mal alles drunter und drüber. Gewisse Dinge habe ich dir ja bereits erzählt. Wir fanden Pures Vater, Mischa stieg ins Netzwerk von dieser Firma LoreTech ein und erfuhr daraufhin einen heftigen Zusammenbruch. Währenddessen ließ Kristyna Roots immer schön wissen, woran wir waren.«
»Bis die Bogatyr Roots in Moskau gefährlich nahe kamen«, sagte Darja.
Den Teil der Geschichte kannte sie fast besser als Sam. No-HAL hatte die Bogatyr auf eine falsche Fährte in Richtung Roots geschickt. Aus Rache hatten diese ihrerseits die Soldaten zu No-HALs Hauptquartier geführt. Darjas Vater musste später ausrücken, um all die Leichen von Sams Freunden aufzusammeln. Sam und die anderen hatten das Gemetzel hilflos von Genf aus beobachten müssen.
Er presste einmal die Augen zusammen und ließ dann den Blick über das Gelände schweifen, das langsam in das Licht der morgendlichen Dämmerung gehüllt wurde. Am anderen Ende des Areals zeichneten sich die beiden Umrisse der Flugzeuge ab. Im Schatten einer Baracke erkannte er die Silhouetten zweier sich küssender Menschen. Waren das etwa …? Nein, das ging ihn nichts an.
Er wandte sich ab und führte Darja in eine andere Richtung.
»Die Bogatyr verfielen während des Angriffs in eine wilde Raserei und wir waren uns somit sicher, dass sie aufgehalten werden mussten. Nachdem Pures Vater die Videoaufzeichnungen gesehen hatte, sah er dies ebenfalls ein. Das Problem war nur, dass Kristyna Roots inzwischen gesteckt hatte, wo wir uns befanden.«
Er dachte an Mario, den Sadisten, der versucht hatte, Pures Auge herauszureißen, und ihm wurde übel dabei.
»Okay. Wie ich das verstanden habe, seid ihr Roots losgeworden und konntet in das Gelände von LoreTech eindringen. Wie habt ihr das geschafft?«
»Pures Vater hat uns geholfen. Leider hat ihn das das Leben gekostet.«
»Schon unglaublich, wie viele Opfer diese Scheiße schlussendlich gefordert hat.«
Sam erwiderte nichts und sie gingen für einen Moment schweigend nebeneinander her. Irgendwann spürte Sam ihren Blick auf sich.
»Ich glaube, ich weiß, was danach passiert ist. Wenn du nicht weitererzählen willst …«
Er schüttelte den Kopf. »Ist schon okay.«
Er hätte es nicht erwartet, aber irgendwie fühlte es sich gut an, über all das zu reden. Es war, als könne er es selbst somit ad acta legen. Er atmete tief durch.
»Wir haben unseren Code in LoreTechs Systemen platziert, wurden aber entdeckt. Durch einen alten Tunnel konnten wir entkommen. Aber nicht ohne Verluste.« Es schnürte ihm die Kehle zu, als er darüber redete. »Mischa und ich wurden angeschossen. Ich habe es nicht mitbekommen. Ich hatte Angst. Also habe ich mir die eine Dosis Nanobots, die wir dabeihatten, ins Blut gejagt und mein Leben gerettet.«
Automatisch fasste er sich an die Stelle an seiner Schulter.
»Es ist nicht deine Schuld, Sam«, sagte sie sanft. »Niemand hätte in so einem Moment klar denken können.«
»Ja«, sagte er, allerdings ohne große Überzeugung. »Zu viert verließen wir den Tunnel und brachten uns in Sicherheit. Da waren wir also. Pure, die mich hasste, weil ich ihr Auge repariert habe – nochmals eine andere Geschichte –, Han-jae, der mich dafür verurteilte, dass ich mein Leben höher gewichtete als Mischas, und Curie, die mich so oder so aus tiefstem Herzen verachtete.«
Darja verzog das Gesicht. »Rosig.«
»Und wie. Wir trennten uns und ich kehrte nach Zürich zurück.«
»Du hast mich angerufen, mir so etwas wie die Wahrheit erzählt und dir meine Gunst zurückgekauft, indem du mir Boobie gezeigt hast.« Sie versuchte sich an einem Lächeln, aber wirkte zu aufgewühlt, als dass er es ihr abkaufte.
»So ist es. Außerdem hab ich mir mal die Dokumente angesehen, die Mischa bei seinem Einbruch ins Netzwerk von LoreTech gestohlen hat. Und dabei stieß ich auf dieses Foto von Yoshi. Mit unvernarbtem Gesicht, wohlgemerkt.«
»Also logischerweise schon älter.«
Sam schnaubte. »Ja. Logischerweise. Und ich habe eine Nachricht erhalten. Eine anonyme Nachricht, in der man mich ›Sammy-Boy‹ nannte.«
»Was ist daran so speziell?«
»Nur einer hat mich in meinem ganzen Leben so genannt. Crunch.«
»Oh«, sagte sie nur, als ihr dämmerte, warum die Nachricht Sam damals aus der Fassung gebracht hatte.
Warum er der Aufforderung, die virtuelle Bar Electric Cat aufzusuchen, ohne Zögern nachgekommen war.
»Und dann?«, fragte sie.
Sam legte den Kopf in den Nacken und starrte in den Himmel.
»Dann ging die ganze Scheiße erst so richtig los.«
Sechs Monate zuvor …
Mit Hochgeschwindigkeit rauschte Sam über etwas, das ihn an eine stark befahrene Straße erinnerte. Farbige Lichter zogen in verschmierten Bahnen unter ihm hinweg. Dann kam alles um ihn herum zu einem abrupten Halt und Schwärze umfasste ihn. Für einen Moment schwankte er, bis sich das Brummen in seinem Kopf legte und er tief durchatmen konnte.
»Ist das jedes Mal so ein Zirkus?«, murmelte er und strich sich über den kahlen Schädel.
Ein Schein legte sich von hinten über ihn. Als Sam sich umdrehte, pfiff er durch die Zähne. Inmitten der Dunkelheit schwebte eine Tür. Eine nackte, abgeschabte Stahltür ohne dazugehörendes Gebäude. Darüber stand in neongrüner Schrift: Electric Cat
Neben der Schrift befand sich das Abbild eines grinsenden Katzenkopfes mit einem geöffneten und einem ausgekreuzten Auge, deren unruhiges Blinken sich stetig abwechselte.
Es erinnerte Sam an die Tätowierung, die Han-jae auf seinen Fingerknöcheln trug. Bevor er die Hand an den Türknauf legte, blickte er noch einmal an sich herab.
Er hatte sich zuerst überlegt, sich einen völlig zufälligen Avatar generieren zu lassen, hielt es dann aber für besser, sein Gesicht beizubehalten. Wer auch immer ihn in dem Schuppen treffen wollte, musste ihn erkennen können.
»Crunch.«
Er verscheuchte den Gedanken. Crunch war tot. Und auch wenn der unbekannte Absender der Nachricht in HALCom ihn Sammy-Boy genannt hatte, wie es nur sein alter Freund getan hatte, hieß das noch gar nichts.
Er strich den bordeauxroten Frack glatt, zupfte die passende Weste zurecht und richtete die venezianische Maske auf seiner Nase. Nichts davon wäre nötig gewesen. Auch wenn der Ritt durch den Cyberspace ruppig gewesen war, so sah man dies seinem Avatar in keiner Weise an.
Er legte die Hand auf den Knauf und drehte.
Er bewegte sich nicht.
Sam drehte mit mehr Kraft und drückte dabei gegen die Tür. Ohne Erfolg.
»Na toll.«
Es genügte nicht, dass er sich mit jemandem traf, von dem er nicht wusste, was er zu erwarten hatte. Nein, es musste auch noch an einem Ort im Cyberspace sein, wo er nur mit einem aufgemotzten ConnectGear hinkam, einen Avatar brauchte und wo offenbar Regeln vorherrschten, die er nicht kannte.
Er machte einen Schritt zurück und betrachtete die Tür, als wäre sie seine persönliche Nemesis.
Auf einmal strich eine kleine Gestalt um den Türrahmen. Die Siamkatze setzte sich mitten vor die Tür und blickte Sam aus leuchtend blauen Augen an. Falsch, es war nur ein Auge, das andere hatte sie verloren. Abgesehen davon war es die gepflegteste Katze mit dem glänzendsten Fell, die Sam je gesehen hatte. Sie trug sogar eine passende hellblaue Fliege.
Für einen Moment starrten sich die beiden an.
»Bist du ein Avatar?«, fragte Sam zögerlich.
Die Katze legte den Kopf schräg und Sam hatte das Gefühl, vermessen und bewertet zu werden.
Wenn die Katze nicht der Avatar eines anderen eingeloggten Menschen war, so musste es sich um ein Computerprogramm handeln. Vielleicht eine Art Wächter des Electric Cat?
»Ich habe eine Einladung«, versuchte es Sam. »Würdest du mich reinlassen?«
Nun erhob sich die Katze, machte ein paar elegante Schritte vorwärts und setzte sich direkt vor Sams Füßen wieder hin. Erwartungsvoll sah sie an ihm hinauf.
»Was denn?«, fragte er und ging in die Knie. »Streicheleinheiten?«
Die einzigen Katzen, die Sam kannte, waren Streuner, die auf der Straße lebten. Keine davon hatte sich je anfassen lassen wollen und Sam hatte nie das Verlangen gespürt, sich bei ihnen etwas einzufangen. Von einer digitalen Katze wäre aber kaum so etwas wie ein Biss zu befürchten, oder?
Er streckte die Hand aus, aber das Tier wich aus. Im nächsten Augenblick schnellte die Pfote hervor und wischte Sam mit einem krallenlosen Schlag die Maske vom Gesicht.
Vor Schreck zuckte Sam zurück und starrte verdattert auf die rote Maske, die nun neben ihm in der Leere schwebte.
Die Katze gab ein zufriedenes Mauzen von sich und wandte sich um. Kurz flackerte der Vierbeiner auf und verschwand. Dann öffnete sich die Tür.
Sam hatte keine Ahnung, wie, aber offenbar hatte er den Test bestanden. Er pflückte die Maske aus dem Nichts, setzte sie jedoch nicht auf. Er trat durch die Tür und materialisierte sich inmitten eines düsteren Raumes. Im Gegensatz zu der absoluten Stille, die vorher geherrscht hatte, dröhnten hier das Stimmengewirr und der Bass der Musik geradezu in seinen Ohren. Die Luft schmeckte abgestanden und schwer und ein leichter Nebel hüllte alles ein.
Sam drehte sich um sich selbst, doch in keiner Richtung erkannte er die Tür, durch die er soeben getreten war. Stattdessen standen lauter Tische um ihn herum. Einige davon waren Stehtische aus deren Mitte Kabel ragten, welche gewisse Besucher mit dem ConnectGear ihres Avatars verbunden hatten. An den Wänden standen Sofas, und in einer Ecke befand sich eine altmodische Bar mit aufgereihten Flaschen hinter der Theke.
Sam brauchte einen Moment, bis er all das aufgenommen hatte und sich auf die Besucher konzentrieren konnte.
Die Bar war gut besucht, andererseits war sie auch nicht sonderlich groß. Sie bot Platz für vielleicht dreißig Leute, wenn sie dicht gedrängt standen. An den Tischen saß eine bunte Mischung von Avataren. Einige ähnelten wohl ihrem realen Ego, bei anderen fiel es Sam eher schwer, sich dies vorzustellen. Auf einem der Sofas räkelte sich das Ebenbild von Marilyn Monroe, an einem der Tische hockte eine Person mit einem Stierkopf, und eines der Kabel an den Stehtischen verschwand in einer undefinierten glitzernden Schleimkugel. Die meisten Besucher waren zumindest humanoid, aber bunt waren sie alle. Sam fiel in keiner Weise aus dem Raster mit seinem roten Frack.
Unschlüssig steuerte er fürs Erste die Bar an. Gerade materialisierte sich die Siamkatze auf dem Tresen. Die elektronische Musik setzte aus und wurde von schwerem Jazz abgelöst.
Ein empörtes Raunen ging durch die Menge und jemand schmiss sein Glas in Richtung der Katze. Diese flackerte kurz auf und das Glas krachte gegen die rückwärtige Wand.
Hinter der Theke warf ein Mann die Arme in die Höhe und hastete zu einer alten Jukebox aus dem letzten Jahrhundert hinüber. Kaum wechselte die Musik wieder zum Altbekannten, sträubte die Katze ihr Fell und fauchte. Dann fügte sie sich dem Schicksal und rollte sich an Ort und Stelle zusammen.
Sam beäugte das Tier misstrauisch, als er an den Tresen trat.
»Sorry dafür«, sagte der Mann hinter der Bar mit einem dicken russischen Akzent. »Keine Ahnung, wie er das jedes Mal wieder schafft.«
Der Mann grinste breit. Inmitten seiner krausen dunklen Haare steckte eine alte Fliegerbrille, und er trug eine abgewetzte Lederweste über einem Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Sein linker Arm war eine rustikale, mechanische Prothese und sein Körper von altmodischem Gear übersät, von dem Sam nicht einmal erahnte, wozu es dienen sollte.
»Was gibt’s?«, fragte der Mann.
Sam ließ den Blick über die Flaschen wandern und fragte sich, ob er den Alkohol hier im Cyberspace überhaupt spüren würde. Vermutlich schon. Für so etwas brauchte es ein Advanced ConnectGear, um sich hierhin zu verbinden.
»Eine Cola.«
Der Barkeeper nickte und füllte ihm ein Glas aus dem ersten Zapfhahn. Das Getränk verströmte einen seltsam vertrauten Duft. Es war nicht die Art Cola, die er gewohnt war, weder vom Geruch noch von der Farbe her. Erst als er einen Schluck genommen hatte, überkam ihn auf einmal die Erinnerung an Crunch und daran, was dieser immer in seinem kleinen Kühlschrank aufbewahrt hatte. Irgendwas Aufputschendes mit einer Menge Elektrolyten.
Sam schob die Wehmut von sich und nahm einen großen Schluck.
»Du bist neu hier«, sagte der Barkeeper.
Er hatte die Arme auf dem Tresen verschränkt und musterte Sam. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, die Maske aufzubehalten. Zumindest so lange, bis er sich einen Überblick über die Lage verschafft hatte.
»So offensichtlich, hm?«
Der Barkeeper winkte ab. »Ich kenn meine Leute.« Er streckte die mechanische Hand aus. »Rasko.«
Sam erfasste sie. »Sam.«
Die Katze ließ ein lautes Miauen hören. Mit ihrem einen Auge blickte sie zu ihnen herüber.
»Ah«, sagte Rasko und seine Miene erhellte sich. »Sam. Sammy Meyer. Alles klar.«
Sams Körper spannte sich. »Dann hast du mich angeschrieben?«
Erneut winkte Rasko ab. »Njet, das hat Mister Pat da drüben übernommen.«
Sam blickte überrascht zu der Katze hinüber, die das Auge wieder geschlossen hatte.
»Mister Pat? Er ist ein Avatar?«
»Meine Güte, nein. Das wäre ja was, wenn hinter dem Spinner ein echter Mensch sitzen würde.« Rasko lachte. »Er ist ein Virus.«
Wie aufs Stichwort sprang Mister Pat auf und landete mit einem Fauchen zwischen Sam und dem Barkeeper auf dem Tresen. Dann setzte er sich hin, leckte sich über die Pfote und strich sich das Fell glatt.
»Ich bin kein Virus«, sagte die Katze mit dem tiefsten Bass, den Sam je gehört hatte.
Mit aufgerissenen Augen starrte er auf das sprechende Tier.
»Ich bin ein Intrusionsprogramm erster Klasse. Mit hervorragendem Stammbaum, wohlgemerkt.«
»Ja ja«, sagte Rasko und fuhr der Katze entgegen dem Fellverlauf über den Körper, wobei er sich einen Hieb mit der Tatze einfing. »Aber ich hab dich geschrieben, Mister. Also nenne ich dich, wie ich will.«
Sam drehte sein Glas in den Händen. »Hast du etwas weniger Starkes? Ich glaub, das Zeug vertrage ich nicht.«
Rasko lachte laut. »Ich mag dich, Junge. Du treibst dich nicht oft als Avatar im Cyberspace rum, was?«
»Das erste Mal«, gestand Sam.
»Hat Crunch so erzählt.«
Sam stellte das Glas geräuschvoll ab. »Du kanntest Crunch?«
Rasko nickte in Richtung einer Tür neben der Jukebox. »Ich zeig dir was.«
Sam ging um den Tresen herum und folgte Rasko durch die Tür.
Dahinter hatte Sam entweder eine Abstellkammer oder aber einen abgetrennten Schankraum erwartet. Nicht jedoch einen apokalyptischen Hinterhof.
Sie standen unter einem freien Himmel, an dem sich grellblaue und dumpf-grüne Wolken kräuselten. Ab und zu zuckte in der Ferne ein roter Blitz auf. Der Boden war versengt, gleichzeitig überwuchert von schwach lumineszierenden Ranken.
»Was ist das für ein Ort?«, fragte Sam.
»Old Spices Domäne«, sagte Rasko. »Er hat einen Sinn fürs Dramatische.«
Sam ließ den Blick schweifen und blieb an einer Figur in der Nähe hängen.
»Crunch«, keuchte Sam und lief auf seinen Freund zu.
»Warte!«, rief Rasko ihm hinterher, doch Sam dachte nicht daran.
Die ferne Figur kam schnell näher. Physik schien im Cyberspace keinen Regeln zu folgen.
»Crunch!«, rief er im Laufen, doch der Hacker reagierte nicht.
Erst als Sam bis auf einige Schritte an ihn herangekommen war, erkannte er, weshalb. Es traf ihn wie eine Faust in den Magen.
Es war nicht Crunch. Es war nur sein Abbild. Eine Statue, eingefroren in einer absurden Position. Sie stand breitbeinig da, die eine Hand ausgestreckt und mit einem überraschten Ausdruck auf dem Gesicht.
»Sorry«, sagte Rasko, als er ihn eingeholt hatte. »Wollte dich vorwarnen, aber da warst du schon weg.«
Sams Kehle zog sich zusammen. Erst jetzt begriff er auch, was ihm hätte zeigen sollen, dass es sich nicht um Crunch handelte. Die Figur vor ihm trug einen eleganten Anzug und ihre Haut war noch eine Spur dunkler, als es die von Crunch gewesen war.
»Warum wirkt er so … eingefallen?«, fragte Sam.
Crunch war immer dünner gewesen, als es gesund sein konnte, aber das Abbild hier war geradezu mager.
Rasko kratzte sich am Dreitagebart. »Wir kennen ihn nicht anders.« Er warf Sam einen forschenden Blick zu. »Dass du ihn erkannt hast, heißt wohl, dass sein Avatar sich nicht allzu stark von seinem echten Körper unterscheidet, wie?« Er schnaubte amüsiert.
»Sieht ihm ähnlich, dem Spinner«, erklang eine tiefe Stimme.
Neben sie trat ein Mann, der mindestens drei Köpfe größer war als Sam und sicher doppelt so breit. Seine blonden Haare ähnelten einem Topfschnitt mit Fransen, und obenherum trug er nur eine Jeansweste auf nacktem Oberkörper.
»Old Spice«, erklärte Rasko.
Der Muskelmann streckte Sam die Hand entgegen. »Sammy-Boy, schätze ich?«
Sam nickte zu dem Abbild von Crunch. »Das ist also sein Avatar?«
»Ja«, seufzte Old Spice. »Eines Tages ist er in Raskos Bar aufgetaucht, hat deinen Namen geschrien und ist daraufhin eingefroren. Hat keinen Mucks mehr gemacht.«
Ein Stich fuhr Sam durchs Herz. Er wusste genau, wann das gewesen sein musste. Damals, als sich Crunch in das System von Roth Industries gehackt hatte, um ihn aus dem Prime Tower zu befreien.
»Wisst ihr, was passiert ist?«
Old Spice zögerte. »So ungefähr. Rasko?«
Der Russe strich sich wieder durch den Bart. »Ich denke, er ist okay. Wir haben nicht so lange nach ihm gesucht, um jetzt einen Rückzieher zu machen.«
»Einen Rückzieher wovon?«, wollte Sam wissen.
»Erklären wir dir, wenn die anderen da sind. Rasko, besorgst du uns einen Space?«
»Schon erledigt.«
Eine Tür erschien auf einmal vor ihnen und Rasko trat hindurch. Old Spice ließ Sam den Vortritt, der nach einem letzten bedauernden Blick auf Crunchs Avatar Rasko folgte.
Die Tür führte dieses Mal in einen abgetrennten Schankraum im selben Stil wie der Rest des Electric Cat mit einem runden Tisch in der Mitte. Daran saß bereits eine groß gewachsene Frau mit neonblauem schulterlangem Haar und leuchtend grünen Augen. Sie hatte etwas alienartiges an sich.
»Vortex«, begrüßte Rasko sie und die Ankömmlinge setzten sich an den Tisch.
»Hey«, sagte Vortex mit einer schnarrenden, synthetischen Stimme und ließ Sam nicht aus den Augen. »Du bist also Sammy-Boy?«
»Sam«, insistierte er.
»Klar. Wo bleib NULL?«
»Wie immer zu spät«, murrte Old Spice.
Bei den Worten landete etwas Kleines auf Old Spices Kopf. Er schrie erschrocken auf, fasste sich in die Haare und zupfte das Etwas heraus.
Ein knallgelbes Äffchen zappelte in seinen Pranken und streckte ihm die Zunge heraus. Auf dem Rücken des Affen war eine grüne Doppelhelix ins Fell gezeichnet.
Old Spice setzte den Affen in der Mitte des Tisches ab, wo dieser hocken blieb.
»Zu spät, dass ich nicht lache. Ich warte schon seit Ewigkeiten hier«, fiepte das Äffchen.
»Ich hab Sammy hier noch kurz Crunch gezeigt. Dass er auch weiß, wo wir stehen«, erklärte Rasko.
»Aha.« Das Äffchen blickte Sam schräg an. »Mein Beileid. Du warst ein guter Kumpel von unserem Crunch.«
Sam rieb sich die Stirn. »Könnt ihr mir erklären, was hier läuft?«
»Klar«, sagte Old Spice, blickte dann aber erwartungsvoll zu Rasko.
Dieser seufzte. »Ich schätze, du weißt, was es bedeutet, wenn ein Avatar einfriert, oder?«
»Du meinst, ob ich weiß, dass Crunch tot ist? Ja, ich hab ihn kurz darauf gefunden.«
Das Äffchen blickte mitleidig drein.
»Das haben wir befürchtet«, sagte Vortex. »Eingefrorene Avatare kennen wir von Leuten, die abnibbeln, während sie eingeloggt sind. Auch hier im Electric Cat.«
»Normalerweise verblassen sie aber nach und nach, wenn die Memory neu geschrieben wird. Aber Crunch ist persistent«, fügte Rasko hinzu. »Das ist neu.«
»Irgendwie haben sich seine Daten in den Code des Electric Cat gebrannt. Wir konnten ihn in meinen privaten Space verschieben, aber verschwinden tut er nicht«, sagte Old Spice.
Sam hörte zu, während sich in seinem Innern der letzte Hoffnungsschimmer auflöste. Er hatte gewusst, dass Crunch tot war. Aber seit der Nachricht, die an ›Sammy-Boy‹ gerichtet war, hatte er sich an eine vage Hoffnung geklammert.
»Irgendwas an seinem Tod ist anders«, sagte Rasko.
»Leute«, unterbrach ihn Sam. Er blickte in die Runde und hoffte, nicht allzu verloren dreinzusehen. »Tut mir leid, wenn ich frage, aber … wer in aller Welt seid ihr überhaupt?«
Stille legte sich über die Runde und sie warfen sich überraschte Blicke zu. Dann lehnte sich Vortex zu ihm hinüber. »Wir sind Crunchs Crew. Seine Leute. Er war einer von uns.«
»Und was heißt das genau?«
Old Spice reckte das Kinn. »Er hat dir nie von uns erzählt?«
Sam schüttelte den Kopf. »Er hat das Electric Cat erwähnt.«
Rasko schnaubte und lehnte sich mit überschlagenen Armen zurück. »So ein Dreckskerl. Kann kaum aufhören, von Sammy zu labern, aber verliert ihm gegenüber kein Sterbenswort über uns.«
»Regt euch ab«, beschwichtigte Vortex. »Die beiden hatten bestimmt anderes zu reden.«
Es war, als würde erneut ein Dolch durch Sams Herz fahren. Kurz nachdem Crunch gestorben war, hatte Sam bemerkt, dass der Hacker von sich aus nur wenig erzählt hatte. Meistens war es Sam gewesen, der sein Leid geklagt hatte.
»Wir haben uns im Electric Cat kennengelernt«, führte Vortex aus. »Seither haben wir gemeinsam ein paar Dinge durchgezogen. Wenn jemand von uns an was dran war und es alleine nicht stemmen konnte, hat er die anderen an Bord geholt.«
»So ist Crunch auch an seine Süße gekommen«, sagte Old Spice mit einem Augenzwinkern.
»Boobie?«, fragte Sam.
NULL verzog das Affengesicht. »Ich dachte, er macht Witze, als er sie so nennen wollte.«
»Wie auch immer. Wenn Crunch angehängt und nicht am Arbeiten war, hing er mit uns ab«, schloss Vortex den Exkurs. »Das sind wir. Seine Kumpels aus Einsen und Nullen.«
»Okay«, meinte Sam. »Und ihr habt mich angeschrieben, weil …?«
»Wir suchen dich schon ’ne ganze Weile, Sammy«, sagte Rasko. »Aber du bist kurz nach Crunchs Tod von der Bildfläche verschwunden.«
»Ich war … unterwegs«, meinte er unpräzise.
»Ja, mit diesen No-HAL-Leuten«, sagte NULL.
Sam wollte etwas erwidern, dann winkte er jedoch ab. Wenn sie gleich drauf waren wie Crunch, brauchte er nicht zu fragen, woher sie das wussten.
»Mister Pat ist an dir dran geblieben. Er streift querbeet durchs Netz und steckt seine Nase in alles, was ihn nichts angeht«, sagte Rasko mit einem Grinsen. »Auf einmal tauchte da dein Name auf in diesem HALCom-Programm.«
»Okay, ihr habt mich gesucht und gefunden. Aber warum?«
Die vier tauschten vielsagende Blicke. Dann seufzte Old Spice. »Wir wollen rausfinden, was Crunch zugestoßen ist. Irgendwas an der Sache ist seltsam und du bist unsere einzige Spur.«
NULL umfasste seinen – oder ihren? – Schwanz und zupfte daran herum. »Wir gehen davon aus, dass Crunch dir seinen Schatz überlassen hat.«
Sam blinzelte. »Seinen Schatz?«
»Seinen Loot. Seinen Stash«, warf Old Spice wenig hilfreich ein.
»Seine Daten, Herrgott noch mal«, fuhr Vortex dazwischen. »Jeder von uns hat eine Ansammlung von Daten, die er oder sie nach dem Tod irgendwohin schickt. Zur Absicherung.«
»Oh«, machte Sam. Crunch hatte diese Daten tatsächlich an Sam weitergeschickt. »Und ihr glaubt, dass ihr anhand der Daten herausfindet, wer ihn getötet hat?«
»Eher was. Aber ja«, antwortete Rasko.
Sam verzog verbittert das Gesicht. »Das kann ich euch auch so sagen. Roth Industries.«
»Eine Technologiefirma aus Zürich«, murmelte Old Spice und blinzelte mehrmals, während er die Infos las, die virtuell nur vor seinen eigenen Augen auftauchten.
Sam nickte. »Crunch hat sich in ihr System gehackt und …« Seine Kehle zog sich schmerzhaft zusammen.
»Und?«
»Und irgendwas hat ihm das Gehirn gebraten«, brachte Sam hervor. »Mehr weiß ich auch nicht.«
»Du meinst, etwas im System von Roth Industries hat ihn getötet? Während er angehängt war?«
Sam hob die Schultern. »Ich schätze, ja.«
Blicke wurden ausgetauscht, doch dieses Mal las Sam Besorgnis in ihnen.
»Dann ist es wahr?«, flüsterte Vortex.
»Was?«, fragte Sam alarmiert. »Was ist wahr?«
Rasko schnalzte mit der Zunge. »Die Geschichten, die man sich erzählt. Wir hielten es für Schauermärchen.«
NULL schob den Affenkörper näher an Sam heran. »Du bist dir ganz sicher, dass es das ist, was geschehen ist?«
»Ich hab die Logfiles gesehen.« Sam atmete tief durch. »Und dasselbe ist später vermutlich noch einmal passiert mit jemandem, den ich kenne.«
»Vermutlich?«, fragte Rasko.
»Ich hatte damals eine Vermutung, weil es ähnlich wirkte wie bei Crunch. Aber ich war mir nicht sicher. Er hat es überlebt.«
»Überlebt?«, sagte Old Spice interessiert. »Wie?«
»Wer war das? Können wir mit ihm reden?«, fragte Vortex, während NULL einmal aufgeregt im Kreis herumsprang.
Sam hob beschwichtigend die Hände. »Sorry, Leute.« Er schluckte schwer. »Er … Inzwischen ist er tot.«
Rasko pfiff durch die Zähne. »Echt eine Achterbahnfahrt mit dir.«
»Zu viele Hacker, die in deiner Gegenwart sterben, Mann«, fügte Old Spice hinzu, knuffte ihn aber freundschaftlich in die Seite.
Sam verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln.
Crunch und Mischa. Beide hatten sich also mit derselben Firewall – oder worum es sich auch immer handelte – in die Haare gekriegt. Anscheinend nicht als Einzige.
»Glaubt ihr, es gibt einen Zusammenhang zwischen diesen Geschichten?«, fragte er zögerlich.
Rasko hob die Schultern. »Vielleicht. Gut möglich, dass jemand herausgefunden hat, wie man Hacker über das Netz röstet und andere nach und nach den Trick abgeschaut haben.«
»Du hast etwas von Logfiles gesagt?«, fragte Vortex. »Wenn die auch in Crunchs Schatz sind, können wir vielleicht mehr rausfinden.«
»Spannender wären die Logfiles desjenigen, der überlebt hat. Du warst nicht zufälligerweise auch sein Confidant?«
Die Welt drehte sich um Sam. So langsam wurde ihm das Gespräch zu viel.
»Falls er so etwas wie einen ›Confidant‹ hatte, dann ist dieser auch tot.«
Mischa hätte solche Daten niemand anderem als C anvertraut. Und es war unrealistisch, dass Mischa daran gedacht hatte, dies zu ändern, nach dem Angriff der Bogatyr auf No-HAL.
»Schade«, sagte NULL.
Sam wollte ihnen helfen. Immerhin ging es hier um Crunch, verdammt noch mal! Aber Mischa zum Leben zu erwecken, war etwas, das er nicht auf die Reihe kriegte.
Ein Fleck in der Mitte des Tisches flackerte auf und die Gestalt von Mister Pat materialisierte sich.
Die Katze fasste sofort das Äffchen in den Blick, woraufhin NULL sich auf Old Spices Schulter schwang und sich in dessen blonder Haarpracht versteckte.
»Es gibt eine Schlägerei. Ich weiß, dass dich das interessiert«, sprach der Kater zu Rasko und verschwand daraufhin wieder.
Old Spice rieb die Hände. »Fein. Etwas Aufmunterung wird uns gut tun.«
Rasko schnippte mit dem Finger und der Raum um sie herum verschwamm. Im nächsten Augenblick klärte sich die Umgebung und der runde Tisch befand sich auf einmal inmitten des öffentlichen Schankraums des Electric Cat.
Geschrei drang an Sams Ohren und er hatte Mühe, sich zu orientieren. Rasko und seine Leute waren von ihren Stühlen aufgesprungen und drängten sich durch die Meute. Sam folgte ihnen. In der ersten Reihe der Schaulustigen sah er, dass sich die Leute zu einem Kreis formiert hatten, in dessen Mitte sich zwei Gestalten gegenüberstanden. Die eine sah aus wie ein mittelalterlicher Krieger, schwer bewaffnet mit Axt und Schild, die andere war ein kleines Mädchen mit schwarzen Zöpfen in einem schwarzen Kleid und mit bleicher Haut.
»Was wird das?«, fragte Sam.
»Eine Schlägerei«, erklärte Old Spice neben ihm. »Endlich mal wieder. «
Sam wies auf die beiden Kontrahenten. »Ich nehme an, die Sache ist ausgeglichener, als es den Anschein macht?«
Rasko neben ihm lachte laut auf. »So ausgeglichen, wie es nur sein kann, Sammy.«
Vortex legte ihm von hinten die Hand auf die Schuler und beugte sich zu ihm herab. »Hier geht es nicht um Muskelmasse. Nur um Skills.«
»Es ist ein Hacker-Duell. Eine von Raskos kleinen Spielereien«, fiepte das Äffchen, das auf einmal auf seiner Schulter saß.
Der Krieger hob die Axt und stürmte auf das Mädchen los. Kaum hatte er den ersten Angriff geführt, blinkte auf einmal eine Zeile über ihnen auf. Sam verstand die Worte nicht und sofort waren sie wieder verblasst, aber ein Raunen ging durch die Menge.
»Stell es dir vor wie eine Art Capture the Flag. Oder eine Belagerung. Zwei Hacker fordern einander zum Duell heraus. Einer verteidigt seine Systeme, der andere attackiert. Oder sie kämpfen um dasselbe gesicherte Token.« Rasko deutete auf die Schrift, die immer wieder aufblinkte. »Wir sehen, worauf ihre Attacken oder die Verteidigung basieren. Meine Simulation übersetzt das in visuelle Attacken, sodass das Ganze das Flair eines Arenakampfes kriegt. Nicht übel, was?«
Sam verstand nur die Hälfte.
Das Mädchen war dem Axtangriff elegant ausgewichen und hielt jetzt einen Schild aus Feuer in den Händen.
Sam spürte die Hitze auf seinem Gesicht und wollte zurückweichen, doch Vortex drängte sich von hinten gegen ihn. Es folgte ein rasanter Schlagabtausch, immer begleitet von Erläuterungen in Maschinencode oder durch abstrakte Symbole. Das Publikum schien genau verfolgen zu können, was vor sich ging, doch Sam konzentrierte sich nur auf die visuelle Darstellung.
Zu Beginn behielt der Krieger die Oberhand, aber dem Mädchen gelang es immer wieder, seine Angriffe abzuwehren. Nach einer Weile bemerkte Sam, wie eine zuerst kaum sichtbare Wand aus flimmerndem Licht sich um das Kind aufbaute. Nach und nach nahm diese mehr Substanz an und die Angriffe des Kriegers wurden immer nutzloser dagegen. Er führe einen gewaltigen Hieb gegen sein Ziel und auf einmal war der gesamte Schankraum erfüllt von grellem Licht.
Geschrei und Jubel dröhnten in Sams Ohren, bevor er das Augenlicht zurückerlangte. Der Krieger war verschwunden, das Mädchen stand mit zerzausten Haaren inmitten der Gesellschaft, und Raskos Lachen schallte dumpf zu Sam herüber. Das Gedränge wurde immer dichter und Sam ertrug das Geschrei nicht länger.
»Ich hau ab«, sagte er zu niemand Bestimmtem.
Rasko legte ihm väterlich die Hand auf die Schulter.
»Wir hören uns, Sammy.«
Stöhnend befühlte Sam seine Schläfe und entfernte das Kabel, das ein Magnet an Ort und Stelle hielt. Dann presste er sich die Handballen auf die Augen und wartete, bis alles aufgehört hatte, sich zu drehen.
Er tastete nach dem Kühlschrank neben dem Sofa und öffnete eine Flasche mit Wasser, die er in einem Zug leerte. Danach schluckte er eine seiner Schmerztabletten und ließ den Blick durch Crunchs praktisch leere Wohnung schweifen, bis er wieder klar sehen konnte. Schließlich kramte er seinen Handcomputer hervor. Er rief den Ordner auf, in den er einen Teil von Crunchs Daten kopiert hatte. Unter anderem lagen da die Logfiles von Crunchs Angriff auf Roth Industries.
Die ganze Sache war verrückt und weckte Erinnerungen, die Sam lieber hinter sich lassen würde. Dass Crunch tot war, war seine Schuld. Er hatte ihn in den Schlamassel mit Melanie und Roth Industries hineingezogen, und wenn der Hacker nicht versucht hätte, Sam zu befreien, würde er noch leben.
Unter den Dokumenten, die Mischa von LoreTech gestohlen hatte, waren Fotos von Yoshi gewesen, Xaver Roths rechter Hand, die Sam ebenfalls auf dem Gewissen hatte. Nun stellte sich heraus, dass irgendwas in beiden Netzwerken dazu fähig war, Eindringlinge zu töten. Ein Zufall? Wohl eher nicht.
Ein Blinken auf seinem Handcomputer sagte ihm, dass ein Telefonanruf reinkam. Sam nahm ihn entgegen.
»Hey, Darja.«
Das Gesicht der Russin mit den dichten schwarzen Haarfransen erschien auf dem Bildschirm.
»Hey, Sam«, sagte sie mit einem Grinsen, das sofort einfror. »Ist alles okay? Du siehst mitgenommen aus.«
Sam wollte sich bereits den roten Frack glatt streichen, als er sich daran erinnerte, dass er nur ein fleckiges Shirt trug.
»Ja«, sagte er lang gezogen. »Ich hab mich heute zum ersten Mal mit dem Advanced ConnectGear eingeloggt. Interessante Erfahrung.«
Darja lachte. »Ja, der erste Trip fährt ganz schön ein. Was hast du dort getrieben?«
Sam seufzte. Darja war die Einzige, mit der er sich austauschen konnte, da Melanie und die anderen auf keine seiner Nachrichten in HALCom reagierten. Dennoch hatte er ihr nicht alles erzählt, was vor und nach seiner Zeit in Moskau geschehen war. Er wusste nicht, ob er sie vor all den Sorgen bewahren wollte oder ob er Angst hatte, dass sie auf einmal anders von ihm dachte.
»Nichts Interessantes«, sagte er. »Warum rufst du an?«
Darjas Gesicht erhellte sich. »Sieh mal, wer da um die Ecke kommt.« Sie schwenkte die Kamera von ihrem Gesicht weg, damit Sam die Werkstatt sehen konnte, in der sie gemeinsam an dem Androiden Boris gearbeitet hatten. Boris, der in dem Moment hinter einem Schrank hervorgewankt kam.
»Du hast es geschafft?«, entfuhr es Sam.
»Hast du daran gezweifelt?«, frage Darja tadelnd.
Boris war nichts Schönes. Sein Körper bestand aus Stahl und Kabeln und er hatte noch keine Hülle. Zuoberst thronte ein Schädel aus Metall mit blau leuchtenden Augen. Er sah unheimlich aus. Aber er stand auf eigenen Beinen und bewegte sich vorwärts.
»Hallo, Samuel«, sprach die mechanische Stimme.
»Das ist unglaublich«, sagte Sam atemlos.
»Unser Baby, Sam«, sagte Darja. »Ein hässliches Baby, aber wen überrascht das, wenn man den Vater ansieht.«
»Hey!«, protestierte Sam. »Einzig die Frisur hat er von mir.«
Er lehnte sich im Sofa zurück und beobachtete, wie Boris einmal das Zimmer durchquerte und am Arbeitstisch nach Werkzeugen griff.
»Er ist ein Ingenieur«, erklärte Darja. »Ich hoffe, das ist auch in deinem Sinn.«
»Aber sicher. Eine KI hat er nicht, oder?«
»Das ist mir noch eine Nummer zu groß. Zurzeit verfügt er über eine Vielzahl an Routinen und über ein kleines KI-Modul, das sich aktivieren und deaktivieren lässt. Aber damit ist er vielleicht auf der Stufe eines Kleinkindes und ich habe nicht die Zeit, ihn mit genug Stimuli zu füttern, damit er effizient selbst lernt.«
»Wahnsinn«, murmelte Sam.
Darja wandte die Kamera von Boris ab und sich selber wieder zu. »Wie läuft es mit Boobie?«
»Keine Ahnung wie lange es noch dauern wird, aber ich glaube, wir kriegen sie wieder hin.«
»Hab ich doch gesagt.« Ihr Blick fiel auf die Uhrzeitsanzeige in der oberen Ecke ihres Bildschirms. »Ich muss los, Sam. Halt mich auf dem Laufenden, ja?«
»Klar«, sagte Sam und winkte in die Kamera, bis die Verbindung abbrach.
Sams Finger über dem Computer blieb kurz in der Schwebe. Dann paketierte er Crunchs Daten und änderte seinen öffentlich einsehbaren Status in HALCom auf Der Schatz liegt bereit.
»Na schön, Boobie. Wir haben etwas aufzuholen.«
»Miau«, begrüßte Mister Pat ihn vor dem Eingang zum Electric Cat. Er mauzte nicht. Er sagte das Wort ›Miau‹, begleitet von einem wölfischen Grinsen.
»Lach nur«, murrte Sam. »Lässt du mich rein?«
Der Kater mustere ihn von oben bis unten. »Ich mag deinen Aufzug, weißt du. Hat Klasse. Crunch hat auch immer Klasse gezeigt.«
Sam wusste nicht recht, ob das seine Frage beantwortete, doch kurz darauf befand er sich im Schankraum der Bar. Dass ausgerechnet er und Crunch irgendwann einmal mit dem Wort ›Klasse‹ beschrieben würden, hätte er sich nicht träumen lassen.
»Sam!«
Er drehte sich zu der Stimme um und entdeckte Old Spice an einem der Stehtische. Sam trat zu ihm hin und nahm das angebotene Kabel aus seiner Hand.
»Was ist das?«
»Stimuli«, meinte Old Spice.
Sam runzelte die Stirn. »Was für Stimuli?«
»DigiDrugs«, fuhr Vortex dazwischen und nahm Sam das Kabel aus den Fingern. »Geben dir den Kick ohne einen Großteil der Nebenwirkungen anderer Substanzen.«
»Du meinst echter Substanzen?«, fragte Sam misstrauisch.
Old Spice zuckte mit den Schultern. »Der Trip ist genauso echt. Abhängig macht er auch. Aber es macht deine Organe nicht kaputt. Rein nervliche Stimulation.«
»Das ist es also, was Crunch meinte, er ginge auf ein paar Streams ins Electric Cat.«
Old Spice zwinkerte und klopfte ihm auf die Schulter.
»Setzen wir uns«, sagte Vortex. »Rasko wird gleich bei uns sein.«
Sie suchten sich einen Platz in der Sofaecke. Sams Blick blieb an der grünen Neonschrift an der Decke hängen, wo mit großen Lettern der Name der Bar geschrieben stand, zusammen mit dem Logo der einäugigen Katze.
»Was habt ihr Hacker mit einäugigen Katzen?«, fragte Sam.
Old Spice lachte kurz auf. »Gute Frage. Kennst du Schrödinger?«
»Du meinst das Experiment mit der toten Katze in der Kiste?«
Der Hacker wiegte den Kopf. »Fast.«
Vortex sprang für ihn ein. »Es war kein Experiment und die Katze ist auch nicht tot. Oder vielleicht schon. Darum geht es nicht.«
»Quantenbits, darum geht’s«, erklärte Old Spice. »Ein Bit hat zwei Zustände, klar? Eins oder null. Ja oder nein. Strom oder kein Strom. Bei einem Quantenbit läuft das etwas anders.« Er machte eine vage Handbewegung in der Luft. »Ein Quantenbit erhält erst einen stabilen Zustand, wenn man diesen überprüft. Kapiert?«
»Wie die Katze, von der man erst weiß, ob sie lebt oder tot ist, wenn man in die Kiste schaut«, beendete Sam den Gedankengang. »Klar.«
»Genau. Simpel erklärt. Darum die ›einäugige‹ Katze. In Wahrheit soll es eine Katze sein, die gleichzeitig lebt und tot ist.«
Vortex nickte in Richtung Bar. »Rasko hat das Logo ausgewählt. Als Hommage.«
»Eine Hommage an Schrödinger?«, fragte Sam verdutzt. »War das so ein großer Durchbruch in der Computertechnik?«
Old Spice lachte. »Nicht an Schrödinger, Mann.«
Da fiel es Sam wie Schuppen von den Augen. »Quantenbits … werden die abgekürzt als Qubit?«
Vortex schenkte ihm ein Grinsen. »Bingo. Du hast also von ihm gehört?«
Sam lehnte sich in seinem Stuhl zurück und seufzte schwer.
»Rasko hat einen Narren an diesem Kerl gefressen. Wie viele andere auch«, erklärte Old Spice.
»Ah«, sagte Sam nur.
»Irgendwann ist der Kerl einfach von der Bildfläche verschwunden«, sagte Rasko, der sich soeben zu ihnen setzte. »Niemand weiß, was passiert ist. Der größte Hacker aller Zeiten und puff!«
Old Spice schnaubte aus. »Jemand hat rausgekriegt, wer er ist und hat ihn um die Ecke gebracht.«
»Quatsch«, sagte Rasko. »Dafür war er zu gut.«
»Wie auch immer. Die Geschichten schreiben sich von selbst über den Typen«, sagte Old Spice.
»Du glaubst nicht, was man über ihn sagt?«, fragte Sam.
Old Spice hob die Schultern. »Ich glaub einfach, dass viel geredet wird. Was denkst du, was mit ihm passiert ist?«
»Ich glaube, er hatte die Schnauze voll und wollte sich irgendwo ein ruhigeres Leben gönnen.«
Die ganze Gruppe lachte auf.
»Nicht Qubit«, sagte Rasko.
»Hacker werden nicht so alt, dass sie ›müde‹ werden, Junge«, sagte Vortex.
»Besonders nicht, wenn so ein Scheiß wie Kankra im Netz unterwegs ist.« Eine vielleicht kopfgroße silberne Kugel schwebte über ihren Tisch. Die helle Stimme ging definitiv von ihr aus, doch es gab keinen Mund und Sam erkannte keine Lautsprecher.
»Was ist das für ein Ding?«, fragte er.
Die Kugel drehte sich um sich selbst, bis Sam die rot leuchtende Doppelhelix sah, die auf ihr prangte.
»NULL?«, fragte er.
»Ja«, sagte Rasko lang gezogen. »Du gewöhnst dich daran. NULL braucht die Abwechslung. Hab ihn noch nie zweimal im selben Avatar gesehen.«
»Sie«, korrigierte Old Spice und Vortex verdrehte die Augen.
»Wie dem auch sei«, sagte Rasko. »NULL hat recht. Wir sind nicht wegen Qubit hier.«
»Kankra?«, wiederholte Sam das Wort, das die sprechende Kugel vorhin gesagt hatte. »Was hat es damit auf sich?«
»Es ist der Name, den wir diesem … Konstrukt gegeben haben. Das Crunch und die anderen getötet hat«, sagte Vortex. »Wie die fette Spinne bei Tolkien, die diesen Pass bewacht.«
Sam horchte auf. »Ihr habt also herausgefunden, was es ist?«
Rasko hob zweiflerisch die Augenbrauen. »Nicht wirklich. Aber wir haben anhand der Logfiles eine Art Signatur erstellen können und sie mit ein paar Daten abgeglichen. War nicht gerade einfach.«
»Bei den meisten anderen Hackern, die umgebracht worden sind, kamen wir nicht an die Logfiles ran. Aber wir haben ein, zwei gefunden«, sagte NULL.
»Umgebracht?«, sagte Sam. »Denkt ihr also, es war gewollt?«
Die drei sahen ihn an, während die Kugel emotionslos über dem Tisch schwebte.
»Was sonst?«, fragte Rasko.
Sam strich sich über die Glatze. »Keine Ahnung. Ein Fehler in der Firewall oder so?«
»Eine Firewall, die aus Versehen Leute killt?« Eine steile Falte zeichnete sich zwischen Old Spices Augenbrauen. »Glaub nicht, dass die es auf den Markt schaffen würde.«
Sam lachte verzweifelt auf. »Ja. Das wäre zu verrückt.«
Vortex runzelte die Stirn. »Was meinst du?«
Sam atmete durch und wägte ab. Sollte er ihnen von all dem erzählen, was in den letzten beiden Jahren geschehen war?
»In der letzten Zeit gab es immer wieder Fälle, in denen sich Technologie nicht so verhielt, wie sie es sollte«, sagte er vage. »Diese Technologie hat immer auch Opfer gefordert.«
»Stimmt«, pflichtete Rasko ihm bei. »Aber ich glaube nicht, dass wir es mit so was zu tun haben. Diese Software handelt viel zu präzise. Wenn es ein Fehler wäre, würde es auch Leute brutzeln, die sich sonst im Netz bewegen, nicht nur Angreifer.«
Rasko machte eine Handbewegung und in der Luft inmitten des Tisches tauchte ein Bild auf. Es zeigte das Logo einer Firma namens Lioupan Inc., welches an einer Hausfassade prangte.
»Wir sind uns ziemlich sicher, dass die Firma dasselbe Ding in ihrem Netzwerk sitzen hat wie Roth Industries.«
Sam nickte, während Rasko mit einem Wischen das nächste Bild anzeigte, eine Aufnahme des ganzen Gebäudes.
»Der Sitz der Firma ist in Südafrika. Sie handelt mit Datenchips«, erklärte er weiter. »Bisher konnten wir keine Verbindungen ausmachen zwischen den beiden Firmen.«
»Falls sie Roth Industries mit Chips beliefern, weiß man zumindest nichts davon«, ergänzte Vortex.
Die nächsten Bilder zeigen Fotos der Firmenchefin in unterschiedlichen Situationen, gemischt mit Produktaufnahmen und Namen von Handelspartnern.
»Warte!«, rief Sam auf einmal und sprang auf die Beine.
Rasko verharrte.
»Zurück«, sagte Sam und starrte auf die Fotos.
Das Bild zeigte die Firmenchefin in ein Gespräch vertieft mit zwei Männern, von denen der eine aussah wie der Chef des Sicherheitspersonals. Der andere hingegen …
»Yoshi«, hauchte Sam.
»Du kennst ihn?«, fragte die NULL-Kugel.
Sam konzentrierte sich auf das Gesicht des Japaners, um alle Zweifel aus dem Weg zu räumen. Yoshi trug seine Haare in einem Millimeterschnitt und hatte einen schwarzen Rollkragenpullover und hautenge Jeans an. Auf dem Bild war sein Gesicht nicht vernarbt, wie Sam es kannte, was hieß, dass es schon älter sein musste.
»Scheiße«, murmelte Sam, als er sich klar zu werden versuchte, was dies bedeuten konnte.
»Was ist los, Sammy?«, fragte Rasko.
Sam deutete auf das Foto. »Er war Xaver Roths rechte Hand bei Roth Industries. Kurz bevor die Roths verhaftet wurden.«
»Ha«, machte Vortex und studierte das Bild. »Und wo steckt er jetzt?«
»Er ist tot«, sagte Sam.
»Wie sicher bist du dir da?«, fragte NULL.
Sam warf der Kugel einen missbilligenden Blick zu. »So sicher, wie seine Innereien auf meinen Kleidern verteilt wurden.«
Old Spice hob abwehrend die Hände. »Mann, irgendwie schnellt der Body Count in deiner Nähe ganz schön rasant in die Höhe.«
Sam rieb die Zähne aufeinander, damit ihm kein bissiger Kommentar entfuhr. Auch wenn er dem Hacker recht geben musste. Im Gegensatz zu Crunch und Mischa war er bei Yoshi sogar nicht nur indirekt für den Tod verantwortlich. Er hatte ihn in die Düse von Roths Jet gestoßen.
»Das ist auffallend«, sagte Rasko nachdenklich. »Meinst du, dass er etwas mit Kankra zu tun hatte?«
Sam hob die Schultern. »Keine Ahnung. Scheint mir nicht seine Art zu töten zu sein.« Da erinnerte sich Sam. »Ich habe noch ein weiteres Bild von ihm. Wartet.«
Er zog sich zurück, so dass die Umgebung verblasste, während er die Ordnerstruktur seines Computers vor sich visualisierte. Er brauchte einen Moment, dann hatte er das Bild gefunden. Es zeigte zwei Geschäftsleute bei einem öffentlichen Auftritt, die sich lachend die Hände schüttelten. Im Hintergrund stand Yoshi, gekleidet in einen piekfeinen Anzug und mit schulterlangen Haaren mit Seitenscheitel.
»Das ist derselbe Typ?«, hörte er eine entfernte Stimme. Er verließ den visualisierten Browser und fand sich wieder im Electric Cat, wo das Foto bereits in der Mitte des Tisches aufgetaucht war.
»Ja«, sagte Sam. »Andere Klamotten, andere Frisur, aber es ist derselbe.«
»Ich hab einen kurzen Abgleich betreffend der anderen beiden Personen laufen lassen«, sagte Vortex. »Links Jane Kurzweil, Chefingenieurin beim Innovationskonzern lookforward. Rechts Akeno Tanaka, Bereichsleiter von AjaTo Inc.«
»Die sind querbeet tätig. Vom Fachbereich her wie auch geografisch«, meinte Old Spice. »Keine Ahnung, was die miteinander zu tun haben sollen und was dieser Yoshi auf dem Bild zu suchen hat.«
»Setzt LoreTech ebenfalls auf eure Liste«, sagte Sam aus einem Bauchgefühl heraus.
»LoreTech?« Rasko ließ eine Luftaufnahme vom alten CERN-Gelände auftauchen, wo sich LoreTech heute befand. »Was haben die damit zu tun?«
Sams Miene verfinsterte sich. »Das System, das den anderen meiner Freunde beinahe erwischt hat. Aber es ist vermutlich eine Scheinfirma. Ich weiß nicht, wer wirklich dahintersteckt.«
»Möglicherweise sind alle anderen auch Scheinfirmen?«, stellte Vortex in den Raum.
»Das glaube ich nicht«, sagte NULL. »Sie sind zu alt und zu inhomogen gewachsen. AjaTo wurde bereits 2021 gegründet.«
»Okay«, sagte Rasko und ließ die Bilder verschwinden. »Irgendwas stinkt hier und dieser Yoshi scheint seine Finger im Spiel zu haben. Leider ist der Kerl tot. Aber wir suchen weiter.«
»Also«, sagte Old Spice an Sam gewandt. »Bist du dabei?«
Sam blickte ihn überrascht an und sah dann in die Runde. »Wo dabei?«
»Hier. Bei uns.« Vortex machte eine einladende Geste.
»Ich bin kein Hacker«, sagte Sam.
Die Kugel senkte sich etwas, sodass sie direkt von seinem Gesicht schwebte.
»Du sollst nicht Crunch ersetzen«, sagte sie. »Aber du hast noch mehr von seinen Daten.«
»Und du bist vermutlich der Einzige, der die Person finden kann, die uns weiterhelfen kann«, setzte Old Spice hinzu und fing sich einen tadelnden Blick von Vortex ein.
Ein eisernes Band legte sich um Sams Brust. Natürlich wollte er sie unterstützen. Immerhin ging es um Crunchs Tod. Aber wenn sie von Qubit sprachen, wie Sam vermutete, konnte er ihnen nicht weiterhelfen. Han-jae, wie Qubit in Wirklichkeit hieß, wechselte kein Wort mehr mit ihm. Sam war für Mischas Tod verantwortlich und Han-jae würde ihm dies nie verzeihen. Sam selbst würde sich nie verzeihen.
»Ich«, sagte er mit trockenem Hals, »ich will helfen. Aber ich weiß auch nicht, wo Qubit steckt.«
»Qubit?«, stieß Rasko hervor. »Was wollen wir von Qubit? Den findest du nicht wieder.«
»Wovon redet ihr dann?«, fragte Sam verwirrt.
»Boobie«, sagte Vortex. »Wir brauchen sie. Aber wir können sie nicht finden.«
Sam sank im Stuhl zurück und schnaufte durch die Nase aus.
»Boobie ist defekt«, sagte er. »Sie wurde zerstört. Sieht aus wie ein Emmentaler Käse.«
Die Gruppe beugte sich zu ihm herüber. »Du weißt also, wo sie ist?«, raunte Rasko.
Sam nickte. »Ja. Ich lebe in Crunchs Wohnung. Sie ist da und ich versuch, sie zu reparieren.«
Old Spice klatschte in die Hände. »Ha! Ich hab euch gesagt, der Junge ist zu was zu gebrauchen.«
Vortex streckte den Zeigefinger in seine Richtung aus. »Kriegst du sie wieder hin?«
»Vielleicht«, sagte Sam. »Aber was wollt ihr mit ihr?«