Die Aventüren der Bonnie Bahookie - Carmen Capiti - E-Book

Die Aventüren der Bonnie Bahookie E-Book

Carmen Capiti

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Beschreibung

Ein sprechendes Tattoo, magischer Whisky und eine jung gebliebene 117-Jährige

»Als sie das Tattoo damals hatte stechen lassen, hätte diesem die Seele des Drachen eingehaucht werden sollen, weise und mächtig. Stattdessen hatte sie die unsterblichen Überreste irgendeines Lümmels abgekriegt.«

Bonnie kann mit magischem Whisky die Wahrnehmung anderer beeinflussen. Nur muss sie dazu stets eine Erinnerung opfern. Ihre wilden Tage als Tänzerin in den goldenen Zwanzigern sind längst vorbei, geblieben davon sind nur zahlreiche Tagebücher und das sprechende Tattoo Jamie. Des Lebens müde sehnt sich die heute 117-Jährige nach der verdienten letzten Ruhe. Als jedoch ihre eigene Tochter stirbt, gilt es plötzlich, deren Seele vor der Anderswelt zu retten. Dabei riskiert Bonnie aber nicht nur, ihre letzten Erinnerungen aufzugeben, sondern auch den Zorn des Feenreichs auf sich zu ziehen ...

»Die Geschichte ist außergewöhnlich, anders und wirklich lesenswert. Eine tolle Atmosphäre, eine fantastische Welt. Das Tattoo ist einfach grandios.« ((Leserstimme auf Netgalley))

»Ich liebe Geschichten, welche in Irland spielen... und ich mag Geschichten, die sich um Tattoos drehen... hinzu kommt die Tatsache, dass eine Fee hier ein Hauptcharakter ist... und zack, hat das Buch mich überzeugt.« ((Leserstimme auf Netgalley))

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Paulina Schaeffer

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Giessel Design

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Alte Schachteln

Schlechte Nachrichten

Bonnie Bahookie

Memento mori

Gute Absichten

Tanzende Sterne

Drei Regeln

Alte Opfer

Flüssiges Gold

Schlechtes Gewissen

Neue Medien

Grüne Hunde

Offene Fenster

Nächtlicher Besuch

Wilde Jagd

Besorgte Gäste

Schwarze Ziegen

Fremde Hände

Dumme Ideen

Harte Verhandlungen

Wertlose Seelen

Dünnes Eis

Bekannte Stimmen

Goldene Augen

Solide Bänke

Frische Magie

Leise Gespräche

Düstere Pläne

Gequälte Schreie

Leiser Abschied

Vier Stühle

Leere Gläser

Neue Verhandlungen

Virale Neuigkeiten

Kaltes Eisen

Roter Wein

Wahre Helden

Schwere Schritte

Ertappte Lügen

Zwei Geständnisse

Gute Gesundheit

Gebrochene Regeln

Neue Erinnerungen

Rezept

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für alle Menschen auf der Suche nach ihren eigenen Aventüren

Alte Schachteln

Glenna öffnete die Tür gekonnt mit ihrem Ellenbogen und trat in das Esszimmer. Der kleine Raum beherbergte sechs Tische, allesamt lieblich dekoriert mit Stickdeckchen und künstlichen Blumen, und gut die Hälfte davon war besetzt.

Glenna setzte die Teller mit Eiern, Speck, gebackenen Bohnen, Black Pudding und was sonst zu einem vollwertigen irischen Frühstück gehörte vor dem norwegischen Pärchen ab.

»Bitte sehr, ihr Lieben. Braucht ihr noch etwas?«, fragte sie und legte mütterlich die Hand auf die Schulter der jungen Frau.

Diese erwiderte die Geste mit einem strahlenden Lächeln.

»Vielen Dank, Frau Alexander. Alles perfekt.«

»1975«, erklang eine etwas raue Frauenstimme vom Nebentisch. »Da haben wir das Stewart-Haus eröffnet, mein Mann und ich. Es war schon immer Edwards Traum gewesen. Ein eigenes Bed and Breakfast – Gott hab ihn selig. Also haben wir es einfach gemacht.«

Glenna drehte sich schmunzelnd um. Die Gäste am runden Tisch hingen an den Lippen der älteren Frau, die unter ihnen saß. Ein junger Mann schien etwas sagen zu wollen, aber sie ließ es nicht so weit kommen.

»So waren wir damals. Eine Idee im Kopf und zack! – waren wir Besitzer dieses kleinen Häuschens.«

Zack von wegen, dachte sich Glenna.

Edward musste erst eine Krebsdiagnose kriegen, bevor sie sich ihren Traum endlich erfüllt hatten.

»1991 ist mein liebster Edward dann von uns gegangen. Genau in dem Jahr ist Glenna in unser schönes Dorf gezogen und glücklicherweise wusste sie, wie man den Kochlöffel schwingt. Ganz im Gegensatz zu mir. Eins führte zum anderen. Seither führen also wir beiden alten Schachteln das Stewart-Haus.«

»He«, warf Glenna ein und stemmte die Hände in die Hüften. »Sprich von dir selbst. Ich bin gerade mal knackige achtzig.«

Die Gäste lachten, und Glenna zwinkerte ihnen zu. Ein warmer Fleck rührte sich auf ihrem Rücken und bewegte sich langsam von der Mitte hin in Richtung ihrer rechten Schulter.

»Untersteh dich«, zischte sie, ohne ihr Lächeln zu unterbrechen.

Sie nahm einen der Teekrüge auf dem Tisch, wog ihn in den Händen und nahm ihn an sich.

»Ich bringe euch mal frischen Tee«, sagte sie und ging damit zurück in die Küche.

Während sie den Kessel mit Wasser füllte, bewegte sich der warme Fleck weiter über ihre Schulter, sodass er auf ihrer Brust zu liegen kam.

Sie stellte den Kessel auf den Herd und schob ihr grünes Seidenfoulard etwas zur Seite, sodass sie sich selbst in das faltenreiche Dekolleté blicken konnte. Quer darüber prangte in schwarzer Farbe die Tätowierung eines thailändischen Drachen. Wer ganz genau hinsah, mochte das leichte Hin- und Herzucken seiner Barthaare erkennen.

»Willst du etwas sagen, Jamie?«, fragte sie spitz.

›Käme mir nicht in den Sinn, Bonnie.‹

Das lange Maul bewegte sich passend, und die Worte waren physikalisch hörbar, aber über eine Mimik verfügte der Drache nicht wirklich. Trotzdem spürte Glenna sein Schmunzeln förmlich.

»Die Achtzig ist nicht so weit weg von der Wahrheit, wie du tust.«

›Ich tue gar nichts‹, protestierte er. ›Achtzig, hundertsiebzehn … Die Menschen machen immer so ein Brimborium um diese paar läppischen Jährchen. Ich sehe da keinen Unterschied.‹

Sie drapierte das Halstuch wieder über ihrem Ausschnitt, sodass niemand die wandernde Tätowierung sehen konnte.

»Na also«, sagte sie und nahm das kochende Wasser vom Herd.

›Ich zweifle nicht an der Achtzig, Bonnie‹, fuhr Jamie fort. ›Das tut hier niemand, immerhin siehst du danach aus. Wovon ich nicht ganz überzeugt bin, ist das knackig.‹

»Elender Charmeur«, brummte Glenna zynisch – konnte ein Schmunzeln ihrerseits aber nicht unterdrücken – und füllte das Wasser in die Teekanne.

Eine Stunde später hatten die Gäste das Haus für ihre Tagesausflüge verlassen oder ausgecheckt, und Glenna kümmerte sich um die Küche, als Dorothy eintrat.

Ihre kleine eingefallene Gestalt war fest eingepackt in mehrere Lagen, und obendrüber trug sie eine hässliche knallgelbe Daunenjacke, dazu ein kariertes Tuch, das sie sich um den Kopf gebunden hatte, und Handschuhe.

»Haben wir September in Irland oder Hochwinter im tiefen Sibirien?«, fragte Glenna und wischte sich die nassen Hände an der Schürze ab.

»Sei froh, dass du noch ein paar Fettreserven hast, Glenna.« Das Halstuch bewegte sich über Dorothys Lippen, und ihre Brille beschlug an den Rändern vom Wasserdampf der Geschirrspülmaschine. »Wenn du mal so alt bist wie ich, bist du dankbar für jedes Gramm Isolation.«

Glenna öffnete das Schränkchen, wo sie den Stoffbeutel mit dem alten Brot verstaut hatte.

»Grüß die Schwäne von mir«, sagte sie und reichte ihn Dorothy.

»Sie sind schon richtig groß. Vor wenigen Wochen waren sie acht pelzige Flauschbällchen, jetzt haben sie ganz lange Hälse.«

Dorothy redete weiter, hatte die Küche aber bereits verlassen, und die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

Glenna schüttelte lächelnd den Kopf.

Dorothy war alles, was man sich für eine Witwe in dem Alter erhoffen konnte. Für eine normalsterbliche Witwe in dem Alter zumindest.

Eine wohlige Wärme breitete sich in Glennas Brust aus. Seit fünfundzwanzig Jahren hatte es keinen Tag gegeben, an dem sie die Energie, die dem dünnen, zerbrechlichen Körper innewohnte, nicht bewunderte.

Glenna betrachtete die langen knochigen Finger ihrer Hand, die durch den Abwasch noch runzliger aussahen als sonst. Dann schnalzte sie mit der Zunge und beeilte sich, den Rest der Arbeit zügig hinter sich zu bringen. Sie hängte die Schürze an ihre Stelle zum Trocknen und verließ die Küche auf der anderen Seite in Richtung Treppenhaus.

Im Dachgeschoss holte sie den Schlüsselbund hervor, den sie an einer Kette um ihren Hals trug, und öffnete mit dem größten der drei Schlüssel die Tür zu ihrer eigenen kleinen Wohnung.

Die nächsten Stunden gehörten ganz ihr.

Zuerst nahm sie sich Zeit, in ihrer kleinen Küche die perfekte Tasse Tee zu kochen. Loser Assam, drei Minuten lang gezogen mit einem Fingerbreit Milch in der Tasse, ohne Zucker oder Honig.

Während sie beobachtete, wie das Wasser langsam die Farbe der Teeblätter annahm, löste sich die Anspannung in ihren Schultern, und Ruhe breitete sich in ihr aus. Sie füllte den Tee in die vorbereitete Tasse, legte zwei selbst gebackene Biskuits auf ein Tellerchen und trug beides auf einem Serviertablett in einen kleinen fensterlosen Raum.

Sie stellte das Tablett auf das Beistelltischchen in der Mitte des Raumes und wandte sich dann nochmals um, um die Tür hinter sich zu schließen. Automatisch berührte sie kurz das ausgeblichene Plakat der rothaarigen Schönheit an der Innenseite der Tür, dann trat sie an das Bücherregal mit den Dutzenden in Leder gebundenen Büchern. Jedes davon trug eine Jahresprägung, angefangen im Jahr 1923 bis hin zum aktuellen Jahr 2017.

Sie fuhr mit ihren Fingern über die Buchrücken und zog aus einem reinen Bauchgefühl das Buch mit der Beschriftung 1928 aus dem Regal.

Damit setzte sie sich in den Sessel, dessen lederne Armlehnen bereits rissig waren, und schlug es irgendwo in der Mitte auf.

»Oh«, sagte sie, als sie den ersten Eintrag sah, und ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer.

›Was? Was ist? In welchem Jahr sind wir?‹, fragte Jamie.

Sie legte die Finger auf ihre Lippen und kicherte leise.

»1928. Der ›Bal des Quat’z’Arts‹ in Paris.«

›Ah, davon habe ich gehört. Muss ganz schön hoch hergegangen sein auf diesen Bällen.‹

»Kann man so sagen«, sagte Glenna und legte den manikürten Nagel ihres Zeigefingers auf das Datum vom 29. Juni 1928.

›Du warst da? Wie das? Ich dachte, der Ball sei nur für die Studenten der vier Künste?‹

»Ach, Jamie«, sagte Glenna etwas tadelnd. »Fragst du mich das wirklich? Die unwiderstehliche magische Bonnie Bahookie?«

Sie lehnte sich im Sessel zurück und begann vorzulesen.

»Der morgendliche Umzug nach dem Ball hat sein Ende vor der Oper genommen, und wir sind zu Gabriel nach Hause gegangen. Er und Létoile schlafen bereits tief und fest, während ich diesen Eintrag verfasse.«

Es brauchte nicht mehr als das, da war die Erinnerung aufgefrischt. Glenna konnte den Jazz hören, spürte förmlich ihre schmerzenden Füße, und das Salz des Schweißes der Tanzenden kitzelte in ihrer Nase. Nicht auf die eklige Art, auf die aufregende, aphrodisierende Art, die auch heute noch ein Prickeln durch ihren ganzen Körper ziehen ließ.

Sie schloss die Augen, während sie aus ihrer Erinnerung heraus weitererzählte.

~~~

»Bonnie!«, rief Létoile lachend. »Nicht so schnell!«

Bonnie verlangsamte ihren Schritt und streckte die Hand nach Létoile aus.

»Es ist erst elf Uhr, Bonnie«, sagte Gabriel, der an Létoiles anderer Hand hing. »Der Ball dauert noch Stunden, kein Grund zur Eile.«

Sie hatten ja recht. Létoile hängte sich bei ihrem Arm ein und zwang sie dazu, langsamer zu gehen.

Gabriel und Bonnie trugen beide dünne Ledersandalen, Létoile hingegen ging barfuß. Um ihre Knöchel schlangen sich dünne Ketten und Lederbänder, auf die sie ab und zu trat. Diese würden schon bald abreißen, keine Frage. Der Rest ihres Kostüms jedoch war atemberaubend, und Glenna konnte nicht anders, als immer wieder auf den stählernen Spitz-BH zu starren, der direkt auf ihrer nackten blassweißen Haut lag. Dazu trug Létoile einen passenden nietenbesetzten Keuschheitsgürtel. Beides hatte sie sich beim profilierten Lingerie-Hersteller Yva Richard machen lassen für eine ihrer Bühnennummern. Um ihren braunen Bob, der bis zu den Ohren reichte, lag eine Kette mit falschen antiken Münzen, die bei jeder Bewegung klimperten. Dazu trug sie ein Holzschwert bei sich, das sie ebenfalls dem Fundus des Cabarets entwendet hatte.

Das Kostüm war perfekt.

Glenna selbst hatte sich bei dem Thema voll auf Felle gestützt. Diese bedeckten bei ihr aber auch nicht viel mehr, nur untenrum trug sie zusätzlich einen Rock aus Leder, der ihr bis zur Mitte der Oberschenkel reichte. Ihre roten wellenden Haare verpassten dem Bild die unbändige Note, die es brauchte.

Gabriel hingegen hatte sich damit zufriedengegeben, sich ein Stück Leinenstoff um die Hüfte und zwischen die Beine zu wickeln, und hatte sich mit zahlreichen Ketten mit Anhängern aus Glas und falschem Gold behängt, die auf seiner braun gebrannten nackten Brust baumelten. Die schwarzen Krausen hatte er ausnahmsweise nicht geglättet, und sie standen unfrisiert in alle Richtungen ab.

Wenn sie so nicht dem Thema entsprechend aussahen, wusste Bonnie auch nicht weiter.

Sie erreichten den hell beleuchteten Eingang. Glühbirnenbuchstaben auf geschwungenen Tafeln bewarben den Salle Wagram. Das schmiedeeiserne Tor unter dem ausladenden Vordach im Art-déco-Stil war geöffnet, und Leute drängelten sich dahinter auf dem Teppich, vermutlich um sich die heiß gewordenen Köpfe zu kühlen.

Vor dem Tor stand ein in Ziegenfelle gekleideter Mann, und auf seiner Brust prangte die schwere Plakette, die ihn als Angehörigen des Organisationskomitees auswies. In diesem Jahr zeigte sie einen grimmig dreinsehenden Mann mit einem langen dünnen Schnurrbart und eine kopfüber unter ihm liegende Frau. Dabei wurde rein gar nichts der Fantasie überlassen.

Der Wächter fasste die drei sofort in den Blick, als sie sich näherten.

»Bonnie«, flüsterte Létoile und zog an ihrem Arm. »Wie sollen wir da reinkommen?«

Bonnie strich ihren Arm ab und lächelte.

»Lass mich nur machen.«

Leichtfüßig tänzelte sie zu dem Türsteher hinüber und zückte in einer Hand das gefaltete Blatt Papier, in der anderen einen Flachmann, wie sie ihn immer bei sich trug.

Der Blick des jungen Mannes wanderte zuerst zum einen, dann zum anderen, und Bonnie strahlte ihn an.

»Was möchtest du dir zuerst ansehen?«

Er lachte und deutete auf das Papier. »Ich muss die Einladung sehen, Mademoiselle.«

»Natürlich«, sagte Bonnie, drehte aber den Verschluss des Flachmanns auf, ohne ihm das Papier zu zeigen. »Zuerst aber einen Schluck. Für den Mann, mit dem undankbarsten Auftrag des ganzen Abends.«

Sie streckte ihm den Flachmann entgegen, und sein glänzender Blick verriet ihr, dass sie bereits gewonnen hatte.

»Ich werde bald abgelöst«, sagte er, aber seufzte schon fast theatralisch.

Bonnie legte ihm den Arm um seine Hüfte und hielt ihm die Flasche vor die Nase. Er erwiderte die Geste sofort, mit der freien Hand nahm er den Flachmann entgegen und setzte ihn an.

Bonnie schloss die Augen und genoss die Sensation, die sie immer verspürte, wenn jemand von ihrem magischen Whisky trank. Für sie fühlte es sich stets an wie Minuten oder länger, während warme Wogen durch sie hindurchfuhren, begleitet von dem feinen Kribbeln in den Gliedern und den Bildern der Erinnerung, die sie in dem Moment noch ein letztes Mal durchlebte. In Wahrheit war es innerhalb einer Sekunde vorbei.

Der Mann hustete und presste sich den Arm auf den Mund, bevor er ihr den Flachmann zurückreichte.

»Was ist das für ein Gesöff?«, fragte er und lachte und hustete gleichzeitig.

»Whisky«, sagte Bonnie und löste sich aus der Umarmung.

Stattdessen hielt sie ihm das Blatt Papier hin.

Er faltete es auseinander und begutachtete es. Dann reichte er es ihr zurück.

»Viel Spaß beim Ball, Mademoiselle.«

Sie warf ihm eine Kusshand zu, dann winkte sie Létoile und Gabriel heran.

Arm in Arm traten sie unter den überdachten Gang und hielten direkt auf die geöffneten Türen des Gebäudes zu.

»Wie hast du das gemacht?«, fragte Létoile und nahm ihr das gefaltete Papier aus den Händen. »Das ist ein leeres Blatt. Wie konnte er das übersehen?«

Bonnie rollte kokett mit ihrer bloßen Schulter.

»Mein Charme, schönste Létoile. Nur mein Charme.«

Gabriel verpasste ihr einen feuchten Kuss auf die Wange und klatschte dann in die Hände, als sie im Eingangsbereich des Salle Wagram ankamen. Bonnie erhaschte einen Blick auf Marmor und weite Spiegel an den Wänden, dann ließen sie sich von der Masse treiben, bis sie den Ballsaal erreichten.

Bonnie verschlug es für einen Moment den Atem, und sie legte die Hand auf ihre Brust. Die Tanzfläche war gefüllt mit Hunderten von Tanzenden. Sie alle waren kostümiert, wenn auch einige von ihnen sich bereits einiger Lagen entledigt hatten. Vielleicht waren sie aber auch direkt barbusig hergekommen. Bonnie reckte den Hals, konnte die Band aber nicht sehen, welche für die schnellen Takte verantwortlich war. Stattdessen blieb ihr Blick an dem prachtvollen, Stuckatur verzierten Trapezgewölbe hängen, von welchem mehrere protzige Kristallkronleuchter hingen. Die Decke wurde von barocken Säulen getragen und samtrote Ziermarkisen hingen zwischen ihnen.

Für einen langen Moment stand Bonnie wie angewurzelt und ließ die Eindrücke über sich hinwegwallen.

Dann packte Létoile sie am rechten Arm, beinahe gleichzeitig mit Gabriel, der seine Hand auf ihre linke Schulter legte.

»Sie spielen den Charleston!«, rief Létoile aufgeregt.

»Das Buffet«, rief Gabriel und deutete in eine Richtung aus dem Ballsaal hinaus.

Bonnie lachte und legte ihren Arm um Létoiles Hüfte.

»Schlag dir den Bauch voll, Monsieur. Die Damen gehen tanzen.«

~~~

›Dafür hast du deine Magie damals eingesetzt?‹, fragte Jamie und klang beinahe etwas empört. ›Um dir Zutritt zu einer Party zu verschaffen?‹

Glenna blinzelte, als sie aus ihrer Erinnerung gerissen wurde.

»Das war nicht irgendeine Party«, verteidigte sie sich. »Es gab kein berüchtigteres Fest als den Ball der Hochschule der Künste.«

›Kein skandalöseres, meinst du wohl.‹

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Auch das.«

Jamie hatte sie später noch in ihrer wilden Zeit erlebt, aber nichts war jemals wieder an die Leichtherzigkeit und Freizügigkeit von Paris in den Zwanzigern herangekommen. Nie hatte sie sich freier und unbekümmerter in ihrem weiblichen Körper gefühlt als zu dieser Zeit.

Zugegeben, gerade wenn sie an den Bal des Quat’z’Arts zurückdachte, schauderte sie nicht nur aus wohliger Erregung. Bei der jährlichen Wahl eines Mottos und der Umsetzung desselben waren fehlender Respekt gegenüber fernen und teilweise vergangenen Kulturen und die unangemessene Aneignung derselben nie kritisch hinterfragt worden. Weder beim Organisationskomitee noch bei den Gästen, wie sich Glenna selber reumütig eingestehen musste.

Kopfschüttelnd benetzte Glenna Zeigefinger und Daumen und blätterte um. Sie überflog den Bericht zum Ball, lächelte hie und da und runzelte plötzlich die Stirn.

»Hm«, machte sie überrascht.

›Was ist?‹

»Nichts«, murmelte sie und las ein paar Zeilen weiter. »Gabriel hat sich während des Umzugs in den Morgenstunden das Handgelenk gebrochen.«

›Und?‹

Glenna schloss das Buch und blickte gedankenverloren auf den ledernen Einband.

»Das hatte ich vergessen. Es hat sogar eine kleine Narbe hinterlassen.«

Jamie schwieg, und Glenna war ihm dankbar.

Ihr Erinnerungsvermögen war gut. Die Fähigkeit, nur ein, zwei Zeilen eines Tagebucheintrags lesen zu müssen, um sofort wieder an Ort und Stelle zurückversetzt zu werden, hatte sie sich vor langer Zeit angeeignet.

Trotzdem gab es Details, die ihr ab und zu entfielen.

In letzter Zeit immer öfter.

Dorothy vergaß ständig Dinge. Das gehörte zum Älterwerden dazu, sagte sie immer. Nur dass Glenna dieses Älterwerden nicht gewohnt war. Auch mit hundertsiebzehn Jahren nicht.

›Ich glaube, das Telefon klingelt, Bonnie.‹

Glenna runzelte die Stirn. Es war unmöglich, dass Jamie das Telefon von der Rezeption im Erdgeschoss bis hier hoch hören konnte.

Doch sie stutzte, als sie es selber ebenfalls hörte.

Sie legte das Tagebuch auf den Beistelltisch und stemmte sich aus dem Sessel.

»Das kann doch nicht sein«, murmelte sie und öffnete die Tür der Bibliothek.

Erst da realisierte sie, dass das Klingeln nicht vom Telefon des Stewart-Hauses stammte, sondern von ihrem Mobiltelefon.

Sie hastete in ihre kleine Küche und zog sämtliche Schubladen auf, bis sie das Gerät fand.

Sie kannte die Nummer auf dem Display nicht, aber das wunderte sie nicht. Sie hatte nicht viele Kontakte gespeichert. Und nicht viele Leute hatten überhaupt ihre Nummer.

Perplex starrte sie auf das vibrierende Gerät in ihren Händen, bevor sie die Überraschung endlich abstreifte und den Anruf entgegennahm.

Schlechte Nachrichten

»Stewart-Haus, Southbridge. Hallo?«, sagte Glenna automatisch, obschon sie nicht an der Rezeption saß, sondern den Anruf auf ihrem Mobiltelefon entgegengenommen hatte.

»Frau Glenna Alexander?«

»Ja. Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie und runzelte die Stirn.

Sie versuchte, die Stimme zuzuordnen, glaubte aber nicht, dass sie sie kannte.

»Frau Alexander. Hier sprich Dr. Boyle. Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten.«

Glennas Schultern verspannten sich sofort.

»Oh«, sagte sie bloß, weil sie nicht wusste, wie man standesgemäß auf so eine Ankündigung reagieren sollte.

»Es ist Frau Dorothy Stewart. Sie ist vor gut einer Stunde verstorben. Mein herzliches Beileid.«

Glenna blinzelte.

Sie wiederholte die Worte des Arztes in ihrem Kopf, aber ihre Bedeutung drang nur träge zu ihr vor, als müsste sie sich zuerst durch tiefes Dickicht kämpfen.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber irgendwann fragte der Mann am anderen Ende der Leitung: »Frau Alexander, sind Sie noch da?«

Sie legte die Hand auf ihre Brust und räusperte sich.

»Ja, natürlich. Verzeihen Sie.«

»Nicht nötig, Frau Alexander. Frau Stewart ist friedlich entschwunden. Eine Spaziergängerin hat sie auf einer Bank am Ufer gefunden. Sie sagte, dass sie oft dort gewesen sei, um die Enten zu füttern.«

Ein dicker Pfropfen wuchs in Glennas Hals, und es fiel ihr schwer zu atmen.

Natürlich hatte Dorothy am Shannon River gesessen. Sie hatten sich ja erst gerade verabschiedet und sich über die jungen Schwäne unterhalten.

Glenna blickte auf die Uhr an der Wand. Drei Stunden war das bereits her? Hatte sie dermaßen in Erinnerungen geschwelgt, dass sie nicht einmal bemerkt hatte, dass Dorothy gar nicht zurückgekommen war für ihr Mittagsnickerchen?

»Danke«, krächzte sie in den Telefonhörer und räusperte sich abermals. »Danke für die Nachricht.«

»Frau Alexander, wie es scheint, hat Frau Stewart keine nahestehenden lebenden Verwandten mehr, und sie sind hier bei uns als Kontaktperson eingetragen. Ich fürchte, ich muss sie herbitten, um mit uns einige Dokumente durchzugehen.«

Glenna nickte, schalt sich dann aber für die nutzlose Geste.

»In Ordnung, Dr. Boyle. Ich komme sofort.«

Sie legte das Telefon vor sich auf die Küchenablage und beobachtete, wie das grüne Hörersymbol rot wurde. Erst als die Luft ihre Augen austrocknete und das Bild vor ihr zu verschwimmen begann, blinzelte sie und sog scharf Luft ein.

Sie legte die freie Hand auf ihre Brust, als könnte sie das schmerzhafte Ziehen darin dadurch lindern.

»Oh, oh«, flüsterte sie.

›Bonnie, wer war das? Was ist passiert?‹, fragte Jamie alarmiert.

Versteckt unter ihren Kleidern kriegte Jamie meistens nur im Ansatz mit, was um sie herum geschah. Aber ihre Gemütsregungen erkannte er immer sofort.

Sie wollte ihm antworten, die Worte wollten ihre Kehle aber nicht verlassen.

Dorothy war tot.

Der Klumpen in ihrem Hals wuchs, und ein unmenschliches Geräusch drang aus ihrer Kehle, sodass sie die Hand vor den Mund schlug, um es zu ersticken.

Tot.

Sie hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Aber doch nicht heute. Nicht einfach so, ohne Vorwarnung.

›Bonnie, sprich mit mir.‹

Sie benetzte ihre trockenen Lippen und schmeckte salzige Tränen.

»Es ist Dorothy«, sagte sie stockend. »Sie ist gestorben.«

›Oh, Bonnie.‹

Glenna starrte weiterhin auf das Telefon, als erwarte sie, dass ein Anruf reinkam, der ein Missverständnis aufdeckte.

Aber er kam nicht.

Sie schluckte schwer, und es schmerzte ihr in der Kehle.

»Meine Tochter ist tot, Jamie.«

Der warme Fleck wanderte von ihrem Rücken hoch und legte sich wie ein wärmendes Kissen um ihren Nacken.

›Es tut mir sehr leid.‹

Glenna nickte und schaffte es, sich von dem Telefon zu lösen. Sie setzte sich an den kleinen Tisch, faltete die Hände vor ihrem Mund und blickte nach draußen.

All diejenigen, die in einen frühen Mittag gingen, wanderten bereits durch die Straßen, und niemand von ihnen war sich bewusst, dass heute Morgen das Lebenslicht von Dorothy Stewart ausgegangen war.

›Was nun?‹, fragte Jamie sanft.

Glenna räusperte das Kratzen in ihrem Hals weg und legte die Hände auf den Tisch.

»Der Arzt will, dass ich vorbeikomme, damit ich mich um den Papierkram kümmere.«

›Du? Warum? Niemand weiß, dass ihr verwandt seid.‹

»Nein, aber ich bin die Einzige, die sie noch hat. Hatte. Edward ist tot, und sie hatten keine Kinder.«

Glenna hatte sich nie erkundigt, weshalb, hatte sich aber ab und zu gefragt, ob es an ihren Genen lag, dass sich weder sie selbst noch ihre biologische Tochter zum Muttersein berufen gefühlt hatten.

Plötzlich kam ihr ein Gedanke, und das Herz sackte ihr in den Magen. Sie warf einen Blick auf den Kalender, der an der Wand hing.

»Samhain ist in sieben Tagen.«

›Das ist weit genug weg, Bonnie. Ihre Seele hat unsere Welt bis dahin längst verlassen.‹

Glenna nickte und hoffte, dass er recht hatte.

Das keltische Totenfest war die Zeit, in der sich alle möglichen Wesen der Anderswelt in die Welt der Menschen verirrten und ihren Schabernack trieben. Neben den üblichen Kobolden und dem Feenvolk gab es darunter auch den einen oder anderen Seelensammler.

Ausgerechnet um diese Zeit herum zu sterben, erhöhte die Chancen, einem dieser Elenden in die Hände zu fallen. Aber Glenna würde nicht zulassen, dass dies mit Dorothys Seele geschah.

Sie erhob sich träge und machte einen kurzen Abstecher ins Badezimmer, um sich zu versichern, dass sie ansehnlicher aussah, als sie sich fühlte. Dann machte sie sich auf den Weg zu Dr. Boyles Praxis.

Bonnie Bahookie

~~~

Die Stimme drang nur gedämpft durch den schweren Samtvorhang an Bonnies Ohren.

»Und nun meine Damen und Herren, zum Höhepunkt dieses Abends!«

Bonnie konnte nicht anders. Sie teilte den Vorhang mit ihren Fingern, gerade so weit, um einen Blick auf das Publikum erhaschen zu können. Die Whiskyflaschen hatten die erste Reihe Tische hinter sich gelassen und zirkulierten in den hinteren Rängen.

»Das Temperament der Highlands!«

Ein Schatten stellte sich zwischen sie und das Publikum. Jean-Luc wirbelte mit seinem Gehstock, und der Frack flatterte mit seinen hektisch-eleganten Bewegungen.

Sie ließ den Vorhang zufallen und atmete mehrere Male tief durch.

»Der Star, weswegen Sie heute Abend hier sind. Insbesondere Sie, wenn ich mir Ihre heraushängende Zunge so ansehe, der Herr. Aber keine falsche Scheu!«

Es kribbelte in ihrem ganzen Körper, als immer mehr Leute aus den Whiskyflaschen tranken.

»Heute Abend dürfen Sie gaffen, so viel Sie alle wollen. Deswegen sind Sie hier!«

Sie drehte sich mit dem Rücken zum Publikum, stützte eine behandschuhte Hand an ihrer Taille ab, die andere hob sie elegant in die Luft.

Die heutige Farbe war Rot. Rot wie ihr Haar, rot wie ihr Kostüm, aber insbesondere rot wie das Feuer.

Und das würde sie das Publikum heute spüren lassen.

»Nun habe ich Sie lange genug auf die Folter gespannt. Sie sind nicht meinetwegen hier. Auch wenn ich Ihnen sagen kann, dass mein Hinterteil sich ebenfalls sehen lassen kann.«

Das Kreischen der Frauen drang durch den Vorhang.

Sie schmunzelte und sah Jean-Luc vor sich, wie er dem Publikum den Rücken zudrehte, den Frack anhob und die Hüfte kreisen ließ.

»Aber nichts geht über das, was Sie jetzt gleich zu sehen kriegen werden. Ihr Name bedeutet nicht umsonst ›jolie cul‹ – schöner Hintern. Denn nichts ist vergleichbar mit dem Hüftschwung der unvergleichlichen, der umwerfenden …«

Sie straffte den Rücken. Noch wenige Sekunden, bis der Vorhang gezogen würde.

»Der magischen …«

Sie schmunzelte.

Magischer, als sich jeder da draußen bewusst ist.

»Booooooonnie Bahookie!«

Applaus, Pfiffe, Jubel.

Die Band spielte den ersten Schlag, der Vorhang wurde gezogen, und Licht, das von den Tausenden Pailletten auf ihrem Kleid zurückgeworfen wurde, flutete die Bühne.

Die anfeuernden Rufe wurden lauter, dann schwollen sie ab, als die Musik zu den nächsten, langsamen Takten ausholte.

Bonnie wippte im Takt mit den Hüften, was anzügliche Pfiffe mit sich zog.

Jedes Mal dasselbe. Am Anfang brauchte es nicht viel, um das Publikum in Fahrt zu bringen. Dabei wussten sie noch gar nicht, was sie sich heute für sie überlegt hatte.

Sie ließ die rot-orange Federboa anzüglich von ihren Schultern gleiten, nur ein bisschen, bevor sie ihre nackte Haut wieder darunter verbarg. Die Musik gewann an Fahrt, und auf den nächsten Schlag vollführte sie eine Drehung. Das hochgeschlitzte Kleid flatterte und ermöglichte einen ersten Blick auf das gefiederte Strumpfband, das sie trug.

Die Menge tobte, und sie bedankte sich bei jedem von ihnen mit einem innigen Blick. Sie tanzte nicht für die Meute. Sie tanzte für jeden und jede von ihnen ganz allein.

Jede frivole Bewegung, jeder Wimpernaufschlag, jedes Schulterrollen fühlte sich für die Gäste an, als wäre es eine ganz persönliche Geste. Das war das Geheimnis einer guten Show. Das bannte das Publikum an dem Auftritt einer Tänzerin. Das war Cabaret.

Und doch. Heute Abend saß ein Gentleman in der ersten Reihe, dessen Augen besonders hell strahlten. Eine einzelne unbändige blonde Locke fiel ihm über die Stirn, und das aufgeknöpfte Hemd entblößte seine scharfen Schulterknochen.

Er war ihr bereits durch den Vorhang aufgefallen.

In ihrem Kopf tanzte sie heute insbesondere für ihn.

Sie freute sich auf den Moment, wenn das rote Seidenkleid vor seinen Augen und der Augen aller in Flammen aufging und sich im scheinbaren Nichts verlor. Sie alle würden von den Stühlen fallen. Und dann ginge die Show richtig los.

~~~

Die Tänzerin vor Glennas innerem Auge drehte sich in ihrem flammenden Kleid, bis es sich komplett aufgelöst hatte, dann verlangsamten sich ihre Bewegungen, und sie kam gänzlich zum Stillstand. Die Tänzerin befand sich nicht mehr auf der Bühne des kleinen Cabarets von Paris. Sie schmiegte sich lasziv an eine übergroße Flasche Whisky auf dem Plakat an der Zimmertür. Große Lettern verkündeten Ein Abendmit der magischen und auf der Etikette der Flasche stand ihr Bühnenname Bonnie Bahookie.

Aber Glenna tanzte nicht mehr in Paris während der Années folles – der goldenen Zwanziger. Sie saß in ihrem Häuschen in einem kleinen Kaff namens Southbridge am Shannon River. Und der Auftritt war einundneunzig Jahre her.

Einundneunzig. Das wusste sie ganz genau, weil sie das Jahr in das geöffnete Dokument auf ihrem Laptop geschrieben hatte, der in der Ecke der Bibliothek auf dem antiken Sekretär stand.

Todesanzeige: Dorothy (geborene Murphy) Stewart, 13.09.1926–24.10.2017

Glennas knochiger Finger zeigte auf die Stelle im Tagebuch, an der sie mit dem Lesen aufgehört hatte. Der Eintrag war datiert auf den ersten Januar 1926. Es war das erste Mal gewesen, dass sie mit Feuer experimentiert hatte. Der Grundstein für eine ganze Soloshow basierend auf den vier Elementen. Natürlich hatten sich ihre Kleider nicht wirklich in Rauch und Asche aufgelöst. Es hatte genügt, es die Leute glauben zu lassen. Die Leute, die ihren Whisky getrunken hatten zumindest. Alle anderen fanden ihre Show zwar ebenfalls ganz gut, waren aber weit von dem Erlebnis entfernt, wie es die Trinkenden erlebten.

Glennas Mundwinkel zuckten leicht, als sie ihren Blick weiter über die Seiten schweifen ließ. Dieser Abend war nicht nur die Geburt ihres Solo-Acts gewesen, sondern auch der Abend, an dem sie den galanten und unverfänglichen jungen Nordländer kennengelernt hatte, mit dem sie sich nur ein einziges Mal die Nacht versüßen sollte.

Während diesem einem Mal war Dorothy entstanden, keine geborene Murphy, sondern eine geborene Alexander. Aber das hatte Dorothy selbst nie erfahren.

Einundneunzig Jahre war all das her.

Glenna stemmte sich aus dem Sessel hoch und trug das Buch zum Bücherregal, wo sie es am richtigen Ort einreihte.

›Wie fühlst du dich?‹, fragte Jamie sanft.

Sie stellte sich vor den Laptop und starrte auf die erste Zeile der Todesanzeige, die sie schreiben sollte.

»Alt«, gestand sie.

›Du bist nicht alt, Bonnie.‹

Sie schnaubte aus, aber es lag keine Energie hinter der Geste.

»Ich bin hundertsiebzehn Jahre alt, Jamie.«

Sie wandte den Kopf in Richtung Tür, wo das Poster hing, und ihr Herz zog sich krampfhaft zusammen. Es war nur eine Zeichnung, aber genau so straff war ihre Haut damals gewesen, genau so leuchtend ihre Augen und so voll ihre Lippen. Sie mochte bei Weitem nicht so schnell altern wie ein normaler Mensch, trotzdem ging die Zeit nicht spurlos an ihr vorüber.

Automatisch berührte sie ihr hochgestecktes, noch immer rotes Haar, um zu sehen, ob alles saß. Immerhin daran hatte sich nichts geändert.

›Du bist nach wie vor wunderschön, Bonnie‹, raunte die Stimme des Tattoos beinahe unhörbar, und Glenna verharrte in ihrer Bewegung.

»Wie bitte?«

Jamie schwieg.

Er verstand es nicht. Es war nicht Eitelkeit oder Sehnsucht nach ihrem jüngeren Selbst.

Es war das Vermissen der alten Zeit.

Das Vermissen vergangener Menschen. Von Létoile. Auch Gabriel, der heißblütige Spanier musste inzwischen tot sein, wohin ihn sein Weg nach ihrer Trennung auch immer geführt haben mochte.

Sie schloss die Augen und schluckte den aufwallenden Frust hinunter.

»Es ist nicht richtig, dass eine Mutter ihre Tochter beerdigen muss.«

Kaum hatte sie die Worte gesagt, fuhr ein Stich durch ihre Brust, als hätte jemand eine Lanze aus Eis hindurchgestoßen. Sie fasste sich ans Herz und presste die Augen zusammen. Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln, und sie stöhnte leise auf.

Der warme Fleck fuhr direkt an die Stelle unter ihrer Hand, und der Schmerz ließ etwas nach.

Diese Worte. Ihre eigenen Worte. Sie hatte sie schon einmal gehört. Vor langer Zeit. Nicht genau so, aber so ähnlich.

Es ist nicht richtig, dass ein Vater seinen Sohn beerdigen muss.

Es war die Stimme ihres Vaters. Vor Glennas geschlossenen Augen tauchte das Bild auf, wie er am Grab stand. Es war der Moment, von dem an eine düstere Wolke über Glennas Leben zu schweben begonnen hatte. Der Moment, an dem ihr Vater innerlich zerbrach und erst Jahre später einen neuen Sinn im Leben fand. Der Sinn eines Soldaten, der in einem fremden Land sein Leben für sein Vaterland ließ.

Ein Gewicht legte sich auf Glennas Schultern. Wie hatte sie es vor zwei Tagen noch so einfach geschafft, die Einkäufe nach Hause zu tragen? Im Moment wäre sie mit einem Pack Mehl überfordert.

Das Rascheln von Gefieder ließ Glennas ganzen Körper auf einen Schlag steif werden.

»Nein«, stöhnte sie. »Nicht du.«

Sie gab sich eine halbe Minute, um ihren Puls zu beruhigen, dann drehte sie sich um.

Memento mori

Auf dem Sekretär über dem Laptop saß eine Saatkrähe, wie sie sie früher als Kind ständig auf den Feldern in Schottland aufgescheucht hatte, nur war diese hier vielmehr so groß wie ein Adler.

Ihre Knopfaugen folgten jeder von Glennas Bewegungen aufmerksam, und ihr grauweißer Schnabel war halb geöffnet.

Die Bibliothek hatte kein Fenster, und Glenna musste nicht überprüfen, ob sie die Tür offen gelassen hatte. Das tat sie nie.

»War ja klar, dass du auftauchen würdest«, sagte Glenna bitter.

Der warme Fleck verschob sich von ihrem Rücken zu ihrer Schulter und auf ihre Brust.

›Ist es die Krähe?‹, flüsterte Jamie, als hätte er Angst davor, das Tier aufzuscheuchen, obschon er es selbst nicht würde sehen können, auch wenn ihr Halstuch seinen Blick nicht verdecken würde.

Der Vogel plusterte sein metallisch glänzendes Gefieder auf und präsentierte die artentypische kahle Stelle an seiner Kehle.

»Ja«, sagte Glenna und ließ das Tier nicht aus den Augen, während sie einen Schritt zurück machte und sich am Sessel abstützte.

Täuschte sie sich, oder war die Krähe noch größer, als sie sie in Erinnerung gehabt hatte?

›Ignorier sie einfach‹, riet Jamie.

Glenna hielt dem eindringlichen Blick des Vogels für eine Weile stand, dann wandte sie sich mit geballten Fäusten ab.

»Du weißt, dass ich das nicht kann«, sagte sie mit fester Stimme.

Alle sterben. Du lebst, hallte es in ihrem Kopf, und Glenna konnte nicht sagen, ob es nach ihrer eigenen Stimme klang oder nach der der nicht existierenden Krähe auf dem Pult.

Früher hatte sie die Krähe ihr persönliches Memento mori genannt. Eine Mahnung an die Vergänglichkeit der Menschen.

Eine heiße Hand umfasste ihr Herz, und Wut wallte in ihr auf.

Ein Memento mori vielleicht. Aber nicht ihres eigenen Todes.

Alle sterben. Du lebst.

Sie presste die Augen zusammen. Verscheuchte die Bilder, die nach und nach in ihr aufwallten. Menschen in schwarzen Kleidern an regnerischen Tagen. Dunkle Schleier, die tränenreiche Augen verbargen. Protzige Steine, schlichte Kreuze, alle verziert mit Namen und Daten.

Und immer war da die Krähe. Gaffend. Verachtend. Verhöhnend.

Die Namen und Daten verschwanden, und das wärmste Lächeln der Welt nahm ihren Platz ein, doch nur kurz, dann wurde es zu eiskaltem Stein und verblasste langsam im Jenseits.

Seit Létoiles Tod besuchte der verdammte Vogel Glenna immer wieder und brannte die Bilder ihrer vergangenen Liebsten auf ihre Netzhaut.

»Als ob ich eine Erinnerung daran bräuchte«, spie sie verbittert aus.

›Bonnie‹, sagte Jamie eindringlich. ›Damit erreichst du nichts.‹

Wie auf Kommando erschallte das helle Kreischen des Vogels im Raum und ließ Glenna vor Schreck herumfahren. Wie aus dem Nichts schnellte das Tier vor, die Flügel schlugen Glenna ins Gesicht, und sie japste auf. Sie hob die Hände, doch da hatte sich die Krähe bereits in Luft aufgelöst.

›Bonnie!‹, rief Jamie, und der warme Fleck bewegte sich schneller als gewohnt hin zu ihrem Nacken.

Mit zittrigen Fingern fuhr Glenna zu ihrem Gesicht, da, wo sie sich sicher war, dass Federn und Krallen sie gestreift hatten. Aber sie spürte nichts als ihre trockene angespannte Haut.

›Meine Güte, Bonnie. So hat sie dich noch nie aus der Fassung gebracht. Ist alles in Ordnung?‹

Eine lächerliche Frage.

Sie räusperte sich und betastete ihre Haare, rückte hie und da eine Strähne zurecht, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatte.

›Bonnie, sprich mit mir.‹

Sie straffte die Schultern und ging zurück in die Küche.

»Es ist alles in Ordnung, Jamie.«

›Alles in Ordnung? Die Krähe kommt zurück, oder etwa nicht?‹

Sie öffnete den Kühlschrank und studierte dessen Innenleben.

»Nicht wenn ich mich abzulenken weiß«, sagte sie im Wissen, dass auch das nur eine Übergangslösung sein würde.

›Verstehe. Du backst.‹

Glenna griff nach der Butter.

»Ich backe.«

Als sie alle Zutaten zusammengemixt hatte und den Teig knetete, fragte Jamie auf einmal: ›Bereust du es?‹

»Was soll ich bereuen?«

›Dass du damals das Reisen aufgegeben hast, um nach Irland zurückzukehren.‹

Nur einen kurzen Moment hielt sie in ihrer Bewegung inne.

»Wie kommst du darauf?«, murrte sie und fügte dem Teig ein klein wenig mehr Zucker hinzu.

›Du weißt, dass ich dich durchschaue, Bonnie. Wir kleben seit siebzig Jahren aneinander.‹

Ende der Leseprobe