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Rotkäppchen. Drei große böse Wölfe. Eine giftige Verschwörung. Scarlet, eine Heilerin, lebt im Wald zurückgezogen umgeben von Menschen zur einen Seite und von Wölfen zur anderen. Aber als sie ein wildgewordener Wolf angreift, wird sie von einem anderen Rudelmitglied gerettet, welches sie tief in seinen Bau mitnimmt, um Scarlet ihre Heilkräfte an einem verletzten Alphawolf wirken zu lassen. Die Wölfe des Waldes werden von einer mysteriösen Krankheit befallen und Scarlet ist ihre letzte Hoffnung. Einem Rudel unterschiedlichster Charaktere ausgeliefert, muss Scarlet ihren Verstand und ihre Magie einsetzen, um zu überleben und die Wölfe von diesen seltsamen Krankheitserscheinungen zu heilen… Alles während sie gegen eine überwältigende Anziehungskraft zu nicht nur einem, sondern drei Alphawölfen kämpft. Hexen, Wölfe, Magie und Liebe verflechten sich in einem aufregenden Mysteryroman, der sein eigenes, einzigartiges ‘Wenn sie nicht gestorben sind…’-Ende findet
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Seitenzahl: 386
Die Gejagte Von Terra © Urheberrecht 2018 Mila Young
Einbandkunst von Covers by Christian
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KAPITEL EINS
KAPITEL ZWEI
KAPITEL DREI
KAPITEL VIER
KAPITEL FÜNF
KAPITEL SECHS
KAPITEL SIEBEN
KAPITEL ACHT
KAPITEL NEUN
KAPITEL ZEHN
KAPITEL ELF
KAPITEL ZWÖLF
KAPITEL DREIZEHN
KAPITEL VIERZEHN
KAPITEL FÜNFZEHN
KAPITEL SECHZEHN
KAPITEL SIEBZEHN
KAPITEL ACHTZEHN
KAPITEL NEUNZEHN
KAPITEL ZWANZIG
KAPITEL EINUNDZWANZIG
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
KAPITEL DREIUNDZWANZIG
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
Die Verfluchten von White Peak
Über Mila Young
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An all meine wundervollen Leser, die mich seit meinem ersten Buch der Königreiche von Haven Serie unterstützt haben. Dies ist für euch...
Die Gejagte Von Terra - Rotkäppchen
Die Verfluchten von White Peak - Die Schöne und das Biest
Die Diebestochter von Wildfire - Rapunzel
Die Gejagte Von Terra
Ein Märchen neu erzählt. Königreiche von Haven.
Rotkäppchen. Drei große böse Wölfe. Eine giftige Verschwörung.
Scarlet, eine Heilerin, lebt im Wald zurückgezogen umgeben von Menschen zur einen Seite und von Wölfen zur anderen. Aber als sie ein wildgewordener Wolf angreift, wird sie von einem anderen Rudelmitglied gerettet, welches sie tief in seinen Bau mitnimmt, um Scarlet ihre Heilkräfte an einem verletzten Alphawolf wirken zu lassen.
Die Wölfe des Waldes werden von einer mysteriösen Krankheit befallen und Scarlet ist ihre letzte Hoffnung. Einem Rudel unterschiedlichster Charaktere ausgeliefert, muss Scarlet ihren Verstand und ihre Magie einsetzen, um zu überleben und die Wölfe von diesen seltsamen Krankheitserscheinungen zu heilen… Alles während sie gegen eine überwältigende Anziehungskraft zu nicht nur einem, sondern drei Alphawölfen kämpft.
Hexen, Wölfe, Magie und Liebe verflechten sich in einem aufregenden Mysteryroman, der sein eigenes, einzigartiges ‘Wenn sie nicht gestorben sind…’-Ende findet
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Jedes neu erzählte Märchen ist ein eigenständiges Buch mit einem glücklichen Ende!
Die Königreiche von Haven lagen über Jahre hinweg im Krieg. Verzweiflung herrschte über das Land sowie auch seine Bewohner. Um dem Töten und der Zerstörung ein Ende zu bereiten wurde das Reich in sieben Königreiche aufgeteilt, eines für jede Rasse, beherrscht vom Adel, der damit betraut wurde die Waffenruhe zu wahren. Über Jahrhunderte hinweg erhoben sich Königreiche und fielen, die Mächte der Regierenden nahmen zu und schwanden. Und der Frieden zwischen den Ländern bestand. Aber die Korruption wuchs, brachte Dunkelheit über die Königreiche und es drohte die Rückkehr von Krieg und Leiden nach Haven.
„Scarlet, schau ihn dir an.” Bee stieß mir in die Rippen.
Ich biss die Zähne zusammen, während ich das Vorratsglas mit Kamille vom Regal nahm und von der einen in die andere Hand gleiten ließ. „Verdammt nochmal.”
Bee hatte wahrlich die spitzesten Ellbogen in allen sieben Königreichen von Haven. Ganz gleich, wie oft ich auch protestierte, sie bestand darauf, mir jedes Mal in die Seite zu stoßen, wenn sie etwas zu sagen hatte. Es war nicht ihre Art, meine Aufmerksamkeit zu erlangen, indem sie mir einfach auf die Schulter tippte, nein, sie musste mir wehtun. Ich wirbelte herum und mein Blick fiel durch die Bogenfenster meines Ladens nach draußen. Reiß dich zusammen, Scarlet!
Ein hochgewachsener Mann stapfte aus den Wäldern, seine Arme wippten überschwänglich auf und ab. Seine Brust stand kraftvoll heraus, er hielt sein Kinn hoch und so dauerte es keine zwei Sekunden, bis ich ihn durchschaut hatte. Schon so viele seinesgleichen hatte ich beim Verlassen des Palasts der Priesterin beobachtet. Wachmänner, eingebildet und auf Streit aus, die sich, ohne dafür zu bezahlen, alles nahmen, was sie wollten.
Aber trotz allem trug er keine Uniform, sondern war eher seltsam gekleidet. Eine knielange graue Tunika, weder Hose noch Stiefel. Meine Güte, seine Beine waren so stark wie Baumstämme.
„Wer möchte darauf wetten, dass seine Muskeln nicht echt sind?”, sagte ich. Ich hatte von Menschen gehört, die sich der Magie bedienten, um ihre Statur zu stärken. In den Territorien war dies der letzte Schrei.
Bee sah mich mit steifer, ungläubiger Miene an. Sicher lag es an ihren geflochtenen, roten Zöpfen und ihrer elfenbeinfarbenen Haut, dass die meisten Menschen sie als eine Schönheit bezeichneten und dabei immer ihre großen, grünen Augen betonten. Aber die wahre Bee war auch zäh. Einmal konnte ich mitansehen, wie sie einen Bären mit nur einem einzigen Blick vertrieb. Es gab einen Grund dafür, warum die meisten Dorfbewohner von ihr Abstand hielten. Ja, es mochte vielleicht etwas damit zu tun haben, dass Bee vehement darauf bestand, dass ein Großteil der Leute ungebildete Schweinezüchter waren—ihre Worte, nicht meine—aber nunja, sie gehörte meinem engsten Freundeskreis an und schaute oft in meinem Laden vorbei. Ich genoss ihre Gesellschaft, auch wenn sie manchmal nicht wusste, wann sie besser ihren Mund halten sollte.
„Wie können die nicht echt sein?” Ihr Blick wandte sich von dem Mann ab und schweifte zurück zu mir. „Er trägt keine Hose. Wie könnte er da was aufpolstern—?” Dann wurden ihre Augen immer größer und ihre Lippen spitzten sich zu einem verschmitzten Grinsen. „Du unanständiges Mädchen, Scarlet. Ich hätte nie gedacht, dass so was in dir steckt.” Sie haute mir auf den Arm, ihre Stärke machte mir Angst, besonders da sie mir mit ihren nur knapp eins sechzig gerade an die Nasenspitze reichte.
„Worüber sprichst du?” Ich lehnte mich lässig gegen die Theke und schob einige Schüsseln mit Teeblättern neben meine Keramiktassen, die ich mit den verschiedenen Mondphasen bemalt hatte. Ich nannte sie meine Mitternachtskollektion und Stammkunden kauften gerne jedes Mal eine weitere Tasse, wenn sie ihre üblichen Heilkräuter bei mir erworben. Wenn ich doch bloß mehr Zeit hätte, ich würde am liebsten die ganze Zeit malen.
„Du redest von seinem Schwanz oder etwa nicht? Und ja…” Bee blickte nach draußen. „Wenn der Wind so gegen seine Kleidung steht, deutet es dort definitiv auf eine anständige Ladung in seinem Magazin hin.” Bee wackelte mit ihren Augenbrauen und brach in Gelächter aus.
Blut schoss in meine Wangen. Man sollte denken, dass ich mich an Bees Wortwahl gewöhnt hatte, schließlich war das normal bei ihr. „Ich habe nicht über seinen… Schritt… gesprochen.”
Bee stemmte ihre Arme in die Hüften und vergrub ihre Finger in dem Stoff ihres langen, blauen Tunikakleids. Ihr Gewand hatte einen V-Ausschnitt und kleine, feine Knöpfe zierten die Vorderseite. Ich war neidisch auf ihre wehenden Ärmel und musste mir wirklich mal Gedanken über meine Garderobe machen. Meine schwarze Hose und die seegrasgrüne Bluse unter einer Lederweste und einem Gürtel ließen mehr an einen Räuber erinnern. Bei der Auswahl meiner Kleidung hatte ich aber eher dem Tragekomfort den Vorzug gegeben. An den meisten Tagen schleppte ich Kisten bei der Arbeit und ein Rock würde da nur störend sein.
„Nun sag es schon, Scarlet.” Bee ließ nicht locker. „Schwanz. Prügel.”
Ich rollte mit den Augen, solche Worte machten mir doch nichts aus… Zumindest, solange ich sie nicht laut aussprechen musste. Daran gab ich meiner Großmutter die Schuld, die mich dazu erzogen hatte, weder zu fluchen noch mich vulgär auszudrücken. Gott hab sie selig.
„Penis.” Bee leckte sich über ihre Lippen. „Blasen.”
Eine quietschende männliche Stimme meldete sich hinter Bee. „Igitt.” Santos kam mit mehreren Kisten aus der Vorratskammer. „Ich kann euch da hinten hören. Das nennt man sexuelle Belästigung von Männern.”
Ich stöhnte, angewidert weil Santos unser Gespräch mitgehört hatte und Bee drehte sich zu meinem achtzehnjährigen Lehrling um. Er hätte mit seiner zarten Statur, den rasierten Haaren und seiner fehlenden Reife aber auch als vierzehn durchgehen können. Aber ganz ehrlich, waren Bee und ich da nur einen Deut besser?
„Hey, Männer reden doch die ganze Zeit so über Mädchen”, sagte Bee. „Wo ist da der Unterschied?”
Santos stellte die drei Kisten mit Tabakblättern auf dem Ende der Theke ab. „Ihr zwei seid zu alt, um über so etwas zu reden und außerdem ist das widerlich.”
„Alt?” Bees Stimme erhöhte sich. „Wir sind nur ein Jahr älter als du.” Sie drehte sich mit einer hochgezogenen Augenbraue zu mir um und wartete darauf, dass ich etwas sagte. Ich zuckte mit den Schultern.
„Das ist schon okay, Santos”, sagte ich. „Wir beißen uns auf die Zungen, wenn dir das unangenehm ist.” Er arbeitete so hart und ich durfte ihn keinesfalls verlieren. Seit einem Jahr arbeitete er nun schon für mich und hatte gerade all die Namen der getrockneten Pflanzen gelernt, die wir verkauften.
„Ist schon in Ordnung.“ Er schaute nicht in unsere Richtung, stattdessen öffnete er die erste Kiste und füllte Hände voller Tabak in kleine Beutel um.
Ich ging zum gegenüber liegenden Ende der Theke. Bee folgte mir und hatte wahrscheinlich schon einen ihrer schlauen Kommentare über Santos auf den Lippen, aber ich kam ihr zuvor, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. „Wie kommt es, dass du nicht deine neuen Stiefel trägst, die ich dir zur Weihnachten geschenkt habe?“
Bee rümpfte die Nase. „Ich möchte sie nicht schmutzig machen, da ich sie zum Dorffest tragen werde. Vielleicht lerne ich einen getarnten Prinzen kennen. Außerdem lebst du im Wald, überall ist Schlamm und—”.
Das Klingeln der Glocke an der Vordertür unterbrach sie.
Wir schauten alle auf, als Herr Hosenlos eilig und völlig außer Atem mit roten Wangen in das Geschäft stürmte.
„Ich brauche Hilfe“, keuchte er.
Die Aufmerksamkeit des Neuankömmlings konzentrierte sich nun auf die drei Augenpaare, die ihre Blicke auf ihn richteten… meiner senkte sich auf seine Beine und obwohl ihn die Tunika bekleidete, konnte ich seine gute Ausstattung erahnen. Ich versuchte mich aber auf die rote Blutung zu konzentrieren, die an seiner Hüfte durch die Tunika quoll. Wie hatte er sich verletzt? Hat ihn ein Tier angegriffen?
Herr Hosenlos korrigierte sofort seine Haltung und warf sein rabenschwarzes Haar über die Schulter, sein Blick schweifte von mir zu Bee und blieb an ihren weiblichen Rundungen kleben.
Okay, er war wirklich ein Frauenschwarm. Das war ein weiterer Punkt für Bee gegen Santos in diesem chauvinistischen Wettkampf Frauen gegen Männer. Der Neuankömmling hätte zumindest so viel Anstand an den Tag legen können, seinen Blick auf Augenhöhe zu halten.
Bee öffnete ihren geflochtenen Zopf und entwirrte lasziv ihr Haar. Ich stupste sie an und hob meine Augenbraue.
„Komm schon Scarlet, fange mal an ein wenig zu leben“, flüsterte sie mir zu. „Du bist viel zu behütet.“
Ich schob eine meiner Locken hinter mein Ohr. Als ‚Braun wie ein Reh‘ hatte meine Großmutter mein Haar mal beschrieben. Daran war nichts Begehrenswertes. Vielleicht war der Grund dafür, dass ich nie die Aufmerksamkeit eines Mannes erlangt hatte ja, dass ich immer auf der sicheren Seite blieb.
Mein Blick fiel wieder auf das Blut des Neuankömmlings. Hatte ein Mensch mit Pfeil und Bogen auf ihn geschossen? Ich kam hinter der Theke hervor. „Geht es Ihnen gut?“
Er war mindestens eins achtzig groß, mit einem markanten Kiefer und musterte mich, als wäre ich ein Tier, dem er im Wald begegnen könnte.
„Sie sind verletzt“, fuhr ich fort.
Er sagte kein Wort, sein Blick schweifte durch das Zimmer und kam auf dem Fenster hinter ihm zur Ruhe. „Es geht mir gut.“ Während er so dastand, quollen Bluttropfen unter seiner Tunika hervor und rollten an seinem Bein herunter.
„Das glaube ich nicht“, platzte es aus Bee heraus. „Wenn Sie also kein Mutant sind, der blutet anstatt zu schwitzen, dann versauen Sie gerade Scarlets Fußboden.“
Er starrte mich an und ich konnte diesen Hauch von Verzweiflung in seinen Augen erkennen. Es war dieser Ausdruck, den ich damals auch in den Augen von Santos gesehen hatte, als ich ihn vor weit über einem Jahr kennenlernte. Er hatte in den Straßen geschlafen, war blass und abgemagert gewesen. Nach Hilfe zu fragen war manchmal eins der schwersten Dinge überhaupt.
„Kommen Sie“, sagte ich. „Lassen Sie uns ins Hinterzimmer gehen und ich bringe Ihnen zur Beruhigung Ihrer Nerven einen heißen Tee.“ Ich behielt den Feldweg draußen und die Wälder in der Ferne im Blick, sollte irgendwas Verdächtiges auftauchen. Mein Laden befand sich tief im Wald, am Rande der Zivilisation, daher konnte ich sehr oft seltsame Dinge beobachten. Jetzt aber war alles ruhig.
Es war erst wenige Wochen her, als mitten in der Nacht ein gut gebauter Mann mit freiem Oberkörper vor meiner Tür stand und nach ganz besonderen Kräutern zur Heilung eines Schwerkranken fragte. Vor diesem Ereignis gab es einen weiteren Vorfall, bei dem noch ein Mann mit zerrissener Kleidung und blankem Hintern an meiner Tür klopfte.
Einer der Bewohner von Terra hatte meine Kräuter-Schatztruhe mit nur einem Stern am schwarzen Brett unseres Dorfes bewertet. Die Priesterin, die über das Terra Königreich in Haven herrscht, hatte dieses neue System eingeführt. Sie nannte es die Kundenzufriedenheitstafel und bestand darauf, dass es den Bewohnern dabei helfen sollte, das beste Geschäft für ihre Bedürfnisse auszusuchen.
So befand sich jetzt also diese Rangliste öffentlich für jeden zugänglich in der Dorfmitte und irgendein Neider bewertete mein Geschäft immer wieder mit nur einem Stern. Beobachtete mich diese Person und fielen ihr die unbekleideten Männer an meiner Türschwelle auf? Kein Wunder, dass meine Umsätze in der letzten Zeit zurückgegangen waren!
Herr Hosenlos spottete und verschränkte seine Arme vor seiner starken Brust, bevor er zuckte und sie dann senkte.
„Möchten Sie also etwas kaufen oder—?“
Ich warf Bee einen Blick zu, als ich ihr ins Wort fiel, und drehte mich dann zu dem Fremden um. Ich konnte die Verzweiflung förmlich spüren. Jemand musste das Eis brechen und ihm Hilfe anbieten. Als meine Großmutter in hohem Alter starb, hatte ich alles verloren. Sie war mein Fels in der Brandung, meine Familie und ohne ihre Unterstützung, ihre wärmenden Suppen oder ihre Umarmungen wusste ich nicht, wie es weitergehen würde. Sie zog mich groß, nachdem meine Eltern von einem Rudel Wölfe überfallen wurden. Bee bot mir damals ihre helfende Hand an, unterstützte mich dabei wieder einen Sinn im Leben zu finden und jetzt würde ich genau das für diesen Mann auch tun.
„Kommen Sie mit mir“, sagte ich. Seine Schritte hallten hinter mir, während er mir in Richtung Hinterzimmer folgte. „Hol dem Herrn einen Stuhl, Santos. Ich werde ihm etwas Tee bringen.“ Dieser sollte ihn beruhigen und seine Schmerzen lindern. Vielleicht würde er so auch auftauen und uns verraten, wie er verletzt wurde.
Ohne auch nur eine Miene zu verziehen, verschwanden die beiden Männer im Hinterzimmer. Bee schüttelte den Kopf und warf mir einen Blick zu.
„Sei still“, sagte ich.
Ich eilte zum Kessel mit dem kochenden Wasser, den Santos für Kostproben aufgesetzt hatte. Vom Regal an der Wand hinter mir nahm ich eine Dose Baldrian und eine mit Pfeilwurz. Das Regal war bestückt mit Teetassen, Kerzen und weiteren Teedosen. Zwischen die aromatischen Düfte mischte sich ein Hauch von Kamille und meine Schultern begannen sich zu entspannen.
Bee lag mir in den Ohren und die Verspannung kam zurück. „Was ist, wenn er ein Wachmann ist? Du willst doch nicht die Aufmerksamkeit der Priesterin auf dein Geschäft ziehen? Du weißt doch, dass sie Magie verabscheut. Das ist auch der Grund dafür, weshalb ich meine Zaubersprüche nur im Keller meines Hauses spreche, damit mich nie jemand verdächtigen kann.“
„Ich betreibe einen ganz gewöhnlichen Teeladen“, flüsterte ich, während ich meine Handfläche über den Teebeutel senkte.
Bee ergriff mein Handgelenk und riss meine Hand in die Höhe. Funken weißer Energie tanzten zwischen meinen Fingerspitzen. „Natürlich, das soll also ganz gewöhnlich sein?“
Ich hatte schon immer die Gabe, Pflanzenwirkstoffe zu verstärken und meine Großmutter lehrte mich, wie ich die Kräfte nutzen konnte, die mich ihrer Aussage nach mit der Natur verbanden.
„Es ist gar nichts“, log ich sie an, wohl wissend, dass die über die menschlichen Distrikte herrschende Priesterin alles Übermenschliche verbot. Verstöße wurden mit lebenslanger Gefangenschaft bestraft. Jedes der sieben Territorien von Haven beherbergte eine Spezies, von Wolfswandlern in einem benachbarten Territorium, bis hin zu Meerjungfrauen. Es ging sogar ein Gerücht von einem Mädchen mit magischem Haar umher. Ja, eines Tages würde ich Haven erkunden, aber bis dahin blieb ich mit den anderen Menschen in Terra, den Anschein erweckend, wir wären die Reinen und alle anderen die Seltsamen… Jedenfalls laut unserer herrschenden Priesterin. Außerdem war es verboten, Terra zu verlassen oder Fremde einzulassen. Gestaltenwandler oder Eindringlinge, die von Wachen innerhalb der Grenzen von Terra festgenommen wurden, verschwanden auf mysteriöse Weise nach ihren Vernehmungen.
„Scarlet, mach dir doch nichts vor. Ich habe gehört, dass die Priesterin sogar Geschäfte wie die Bäckerei infiltriert hat, mit der Überzeugung, etwas könnte nicht mit rechten Dingen zugehen, da die Brote so schmackhaft seien. Die Bäckerei müsse sicher Zauberei betreiben.“
Nervös klangen ihre Worte in meinen Ohren nach, aber ich glaubte fest daran, dass die Hilfsbedürftigen von meinem Tun profitierten. Ich vertraute auf meine Gabe, die Wirkung der Kräuter verstärken zu können, sodass sie bei Anwendung ihre volle Kraft entfalten konnten. Wenn Kamille jemanden beruhigen sollte, versetzte ich sie in einen tief entspannten Zustand, damit sich ihre Ängste in Luft auflösten. Was sollte daran falsch sein?
„Wir werden vorsichtig sein“, lenkte ich ein.
Bee nickte. „Eine kluge Idee. Ich spiele die böse Vollstreckerin und du die sanfte Richterin.”
„Wie bitte? Nein, warte.”
Bee war bereits flinken Fußes auf dem Weg nach hinten. Ich wandte mich schnell vom Tee ab und eilte ihr hinterher.
Santos betrat den Verkaufsraum und konzentrierte sich direkt auf die Kiste mit den getrockneten Tabakblättern.
„Wir werden für eine Weile im Hinterzimmer sein”, sagte ich.
Er nickte. „Ich habe alles im Griff.“ Er war nicht im Geringsten beunruhigt. Aber schließlich gab es für ihn keinen Anlass anzunehmen, dass es sich hier um etwas anderes als einen Mann in Gefahr handelte und er wusste auch nichts von meinen Kräften.
Als ich das Hinterzimmer betrat, fand ich Bee vor, wie sie sich über Herrn Hosenlos beugte und ihren Zeigefinger in seine Brust bohrte. „Wo ist Ihre Hose? Dies hier ist ein anständiges Geschäft.“
„Bee. Gib dem Herrn etwas Raum zum Atmen.“ Ohne auch nur auf eine Antwort zu warten, griff ich nach meiner Medizinkiste im Regal und klappte den Deckel auf. „Jetzt untersuchen wir zuerst Ihre Wunden.“
„Wie haben Sie sich verletzt, hmm?“ Bee stand noch immer mit in die Hüften gestützten Händen über ihn gebeugt. Meine Güte, dieses Mädchen sollte wirklich eine Ausbildung beim Wachschutz machen.
„Ich bin nicht gekommen, um Ihnen Schaden zuzufügen. Sie können sich entspannen.“ Er hob die Tunika und stopfte den Stoff unter seine Achsel.
Mein Blick traf seinen Unterkörper wie eine rollige Katze. Zu meiner Überraschung aber trug er eine schwarze Unterhose.
Bee stöhnte.
Er zog unter Schmerzen den Hosenbund, der sich in die Wunde schnürte, auf die Seite und ich zuckte bei dem Gedanken daran zusammen, welche Qualen er verspüren musste.
Über seine Rippen verliefen drei tiefe Kratzer, die durch Krallen verursacht wurden und überall war Blut.
„Du heiliger Pilz“, rief ich aus. „Welche Kreatur hat Ihnen das angetan?“
Er warf mir mit erhobener Augenbraue einen seltsamen Blick zu, so als würde er vor mir zurückweichen, wenn ich auch nur versuchte, ihn zu berühren.
“Verdammt nochmal, Scarlet. Da braucht man schon heilige Scheiße und keinen heiligen Pilz“, sprudelte es aus Bee heraus. „Aber ganz im Ernst, Fremder.“ Sie drehte sich wieder zu ihm um. „Das ist schlimm. Die Art von schlimm, an der Sie sterben können. Reden Sie, wenn Sie möchten, dass meine Freundin Ihnen hilft.“
Bee war die Königin der Übertreibung. Der Mann hatte lediglich ein paar Kratzer und würde es überleben. „Bring mir eine Schale kochendes Wasser“, bat ich sie, denn Taktgefühl war keine ihrer Stärken. Ich nahm ein altes Handtuch aus dem Schrank und fing an, die Gegend um seine Wunden herum zu säubern. Sie mussten nicht genäht werden.
„Hören Sie nicht auf sie“, sagte ich zu Herrn Hosenlos. „Wie heißen Sie?“
„Es ist besser, wenn Sie dies nicht wissen.“ Er sah mir nicht in die Augen, sondern schaute sich im Zimmer um, fast so als bemühte er sich, beschäftigt auszusehen. Ja, genau das waren die Warnzeichen, die Bee erwähnt hatte.
„Hören Sie zu“, fing ich an. „Ich helfe Ihnen gerne, aber bringen wir uns damit in Gefahr? Stehen Sie im Dienste der Priesterin?“
Er runzelte die Nase. „Um Himmels Willen.“
Bee kam mit der Schüssel Wasser zurück, stellte sie auf dem Tisch ab und ich wusch darin das mit Blut durchtränkte Tuch aus, bevor ich damit weiter seine Wunden reinigte.
„Wo kommen Sie her?“, fragte ich ihn. „Aus den Bergen? Den Wolfshöhlen? Oh, sind Sie vielleicht einer dieser Wüstenbewohner?“ All diese Gedanken schossen mir durch den Kopf. Die menschliche Welt bestand aus einem riesigen Dorf mit einigen hunderttausend Menschen, umrandet von einzelnen Bauernhöfen. Doch dieser Mann war kein Einheimischer. Ihn umgab ein Dunst, den jedes Mädchen aus Terra bereits erschnüffelt hätte, insbesondere wenn er Single war. Daher hätte ich sicher auf den monatlichen Dorftreffen von ihm gehört. Jene Versammlungen, auf denen die Priesterin uns an unser Streben nach Reinheit erinnerte, gefolgt von den Berichten über die jüngsten Infiltrationsversuche unseres Territoriums von anderen Gruppen. Besonders zu betonen wären hier die Wölfe östlich von uns, Terras Todfeinde. „Barbaren, die alles angreifen, was sich bewegt“, so nannte die Priesterin sie.
„Ich komme nicht aus Terra.“ Er saß erhobenen Hauptes vor mir, als hätte er nichts zu verbergen. Sein Geständnis überraschte mich ganz und gar nicht, denn es war nicht das erste Mal, dass sich jemand hilfesuchend nach Terra schlich. Andersrum taten die Menschen hier genau das Gleiche. Sie ließen unser Land für andere Welten zurück, aus unterschiedlichen Gründen, wie sich in einen Löwenwandler zu verlieben. Jedenfalls war es einer Buchhändlerin aus dem Dorf so ergangen.
„Sind die Wachen hinter Ihnen her?“, fragte ich weiter.
Bee warf mir diesen Blick zu, ich habe es dir doch gesagt. Wenn man sich jedoch an die Regeln hielt, war Terra ein größtenteils sicherer Ort.
„Nein. Da war ein Wolf. Eigentlich hat mich sogar ein ganzes Rudel gejagt.“
„Hier in Terra?“, fragte ich erstaunt, während ich das Handtuch auswringte und mich wieder seinen Wunden widmete. Ich verteilte eine Mixtur aus vorbereiteten Antiseptika auf seinen Verletzungen und er verzog nicht eine einzige Mine dabei.
„Nein. Es war im Wolfsterritorium, im Bau. Ich war auf der Durchreise und nahm eine Abkürzung durch das Wolfsland und das Ihre.“ Er legte eine Pause ein und wischte sich über den Mund. „Aber ein bösartiges Rudel spürte mich auf und begann mich zu jagen. Ich kam kaum mit meinem Leben davon, bevor sie mir die Hose vom Hintern gerissen haben.“
Bee brach in Gelächter aus und sie musste ihren Bauch vor Lachen halten. „Sind Sie sicher, dass es nicht ein Rudel Wölfinnen war?“
Er setzte sich gerade auf. „Mädchen werfen sich mir ständig an den Hals, daher vermute ich, da ich angegriffen und nicht vernascht wurde, dass es sich um männliche Exemplare gehandelt haben muss.“
Während ich versuchte das Kichern in meinem Hals zu unterdrücken, versorgte ich seine Wunden mit einer sauberen Kompresse, wickelte den Verband um seinen Oberkörper und verknotete die Enden. „So—.”
Der schrille Klang eines Horns durchstieß die Luft draußen und ich blieb wie angewurzelt stehen.
„Scheiße“, fluchte Bee. „Das sind die Wachen.“ Sie packte Herrn Hosenlos an der Schulter. „Sie sagten doch, dass Sie nicht verfolgt werden.“
Sein Gesicht lief kreidebleich an und er sprang auf seine Füße. So stand er über uns und sein Gewand fiel über seine Hüften. „Das werde ich auch nicht. Aber ich muss jetzt gehen.“
„Warten Sie, Sie sind doch verletzt, und—”.
Er legte seine Hand auf meinen Mund. „Ruhig.“
Ich stieß seinen Arm weg. „Entschuldigung, aber für wen halten Sie sich eigentlich?“
„Gibt es einen Hinterausgang?“, fragte er mit tiefer Stimme, in der die Panik mitschwang.
Bee stand im Türdurchgang. „Nun sagen Sie uns was los ist und wir werden Sie gehen lassen.“
Der Mann lachte tief und rau, es war nahezu angsteinflößend. „Mädels, ihr könnt mir den Weg nicht versperren. Ich gebe euch aber diese Vorwarnung, da ihr mir geholfen habt. Es ist ein Krieg unter den Wölfen ausgebrochen. Ein jeder Kampf durchbricht zwangsläufig die Grenzen zu anderen Ländern. Ich wurde genau an der Grenze zu Terra angegriffen.“
„Aber an unseren Grenzen wächst doch Wolfseisenhut. Das sollte die Rudel fernhalten“, rief ich ihm hinterher, als er an mir vorbei stürmte und Bee aus dem Türdurchgang hob, als wäre sie eine Puppe. Dann rannte er davon, schneller als es jemandem seiner Größe möglich sein sollte.
Santos betrat den Verkaufsraum. „Wo will er in solch einer Eile hin?“
Bee und ich tauschten Blicke aus und Furcht durchdrang meinen Körper. Ich sah durch die beiden vorderen Fenster und konnte zwei Wachen in Uniform erspähen, die nach links abbogen. Ich hoffte inständig, dass Herr Hosenlos entkommen konnte. Es war schon öfter vorgekommen, dass ich mitansehen musste, wie sie Eindringlinge in Terra jagten. Wenn ich mich bemühte nicht weiter aufzufallen, würden sie mich und mein Geschäft in Ruhe lassen. „Er war also nicht aus Terra“, stellte ich fest. „Kein Wunder, dass die Wachen hinter ihm her sind.“
„Er ist verrückt.“ Bee klinkte sich bei mir ein und führte mich zurück in den Verkaufsraum. „Du solltest mal ernsthaft über ein Schloss an deiner Tür nachdenken und nur Leute hereinlassen, nachdem du sie dir gründlich durch das Fenster angesehen hast.”
Ich nickte. Sie hatte ja Recht, aber die Warnung von Herrn Hosenlos hallte in meinem Hinterkopf wider und ich konnte sie nicht ignorieren. Es war nicht das erste Mal, dass die Wölfe versucht hatten, ein Territorium für sich zu beanspruchen. Schon vor meiner Zeit sind sie in unser Land eingefallen und auf beiden Seiten verloren hunderte Unschuldige ihr Leben.
„Denkst du, die Priesterin weiß von dem Wolfskrieg?“, fragte ich.
„Mit Sicherheit. Es ist schließlich ihre Aufgabe. Ach, richtig.“ Ihre Augenbraue spitzte sich. „Die Kontrolle über uns alle scheint wichtiger zu sein. Wie auch immer, ich sollte mich auf den Heimweg machen, bevor die Sonne untergeht. Hast du noch Wolfseisenhut?“
Es dauerte einige Sekunden, bis Bees Worte bei mir Anklang fanden, da ich in Gedanken noch bei den sich bekriegenden Wölfen und dem halbnackten Fremden in meinem Geschäft schwebte, der uns nicht mal seinen Namen genannt hatte. Vielleicht war das Schloss an der Tür doch kein so schlechter Rat, um uns vor den verrückten Kunden zu schützen.
Bee stocherte mit ihrem Finger in meinem Arm herum. „Hallo, Scarlet, hörst du mir zu?“
Noch zitternd eilte ich zur Theke und schob den Vorhang zur Seite, der die gefährlichen Zutaten verbarg. Wolfseisenhut war giftig und daher bewahrte ich ihn außer Sichtweite auf. Ich knallte den Vorratsbehälter auf den Tisch, aber er war leer. Nur ein paar Staubkrümel tummelten sich auf dem Boden des Behältnisses. „Ich würde sagen, wir haben ein Problem.“
Bee fasste sich an die Hüften. „Ich dachte, nur ich kaufe das Zeug?“
Ich kratzte mich am Kopf und dann fiel mir wieder ein, was damit geschehen war. Santos kam mir aber zuvor und während er zum Hinterzimmer lief, rief er: „Letzte Woche hast du es dieser Mixtur hinzugefügt, mit der du die Vogelkacke von den Fenstern geputzt hast.“
„Kacke?“ Bee schritt zur Tür und wieder zurück an meine Seite. „Aber ich brauche es diese Woche. Ich wandere hoch in die Berge um einen Kunden zu sehen und ich nahm an, du hättest noch genug.“ Sie kam näher und flüsterte. „Mein Kunde gibt an, man hätte ihn mit einem Fluch belegt und ich benötige Wolfseisenhut, um ihn zu brechen.“
Bee praktizierte nur im Geheimen Magie und war lediglich außerhalb Terras für ihre Fähigkeiten bekannt. Hier in Terra würde die Priesterin sie sofort einsperren, wenn dies bekannt werden würde und daher nahm Bee meistens Aufträge in anderen Territorien an.
„Es tut mir leid, ich wollte meine Bestände ja auffüllen. Einige andere Vorräte neigen sich auch dem Ende zu. Wann sagtest du, brauchst du es?“
Santos kam mit der Schüssel mit dem heißen Wasser und dem blutigen Handtuch zurück und war damit auf dem Weg zur Vordertür, um den Inhalt draußen zu auszukippen.
„Morgen.“ Bee spielte mit einer ihrer roten Locken, die ihr auf die Schulter hingen.
„Zum Kuckuck, das ist bald.“ Ich eilte zur Vordertür, um sie für Santos aufzuhalten.
„Es tut mir sehr leid, Scarlet. Ich habe den Auftrag erst heute Morgen angenommen.”
Santos unterbrach uns. „Ich kann etwas davon sammeln gehen.“ Er hatte diesen bittenden Hundeblick, als wollte er schon immer unbedingt auf eine Exkursion gehen.
Sein Angebot schmeichelte mir sehr, aber ich konnte ihn nicht gehen lassen. „Nein, es ist schon in Ordnung. Diese Pflanze ist gefährlich und ich möchte nicht, dass dir etwas geschieht.“ Außerdem hatte ich festgestellt, dass die Intensität der Pflanzen wahre Wunder wirkte, wenn ich meine Magie an ihnen anwendete, solange sie noch frisch waren.
„Wenn dir das zu viele Umstände bereitet, kann ich meinen Kunden fragen, ob wir den Termin auch verschieben können“, sagte Bee, während sie eine Haarsträhne um ihren Finger wickelte. Das tat sie immer, wenn sie nervös war. Sie und ihr Vater hatten finanzielle Probleme und ihre Aufträge trugen dazu bei, dass sie nicht völlig untergingen. Ich wollte ihnen nicht noch mehr Kummer zumuten.
„Du weißt, ich würde alles für dich tun“, ermutigte ich sie.
Sie kam angerannt, erdrückte mich nahezu mit einer festen Umarmung und ihr Parfüm aus Zitrus und Vanille umgab mich. „Danke, und ich werde auch immer für dich da sein.“
„Aber sicher!“ Ich kicherte und Bee lockerte ihre Umarmung.
„Okay, ich muss gehen. Papa stellt heute eine seiner Erfindungen fertig und ich habe ihm versprochen, zu assistieren. Sehen wir uns morgen? Soll ich morgens vorbeikommen?“, fragte sie mich.
„Ach was, ich komme bei euch vorbei“, schlug ich vor. „Du sagst doch immer, ich verbringe zu viel Zeit in den Wäldern und zu wenig in Gesellschaft.“ In den letzten Wochen arbeitete ich an dem Rezept einer Salbe für ihren Vater, der an Gelenkschmerzen litt, und plante sie heute Abend fertig zu stellen, um ihn morgen damit zu überraschen.
Bee umarmte mich ein weiteres Mal und küsste mich auf die Wange. Sie flüsterte in mein Ohr: „Penis.“ Kichernd nahm sie ihr Päckchen von der Theke, spazierte nach draußen und winkte Santos zum Abschied zu, bevor sie über den Feldweg durch die Wälder verschwand.
Santos kam zurück nach drinnen. „Ja, ich passe auf das Haus auf, während du unterwegs bist. Und ich verspreche dir, keine Teebeutel zu mischen und nur Bestellungen anzunehmen, wenn jemand wirklich etwas benötigt.“
„Du kennst mich einfach zu gut.“ Ich holte meinen Mantel und meinen Beutel von hinten. Es schien, als würde ich in letzter Minute noch einen Ausflug in die Wälder machen. Beklemmung begleitete mich und sie erinnerte mich an die Worte von Herrn Hosenlos über die Wölfe, die einen Krieg führten. Also nahm ich mir eine frische Flasche Zitrusfluch, gemischt mit Wasser, mit. Das Spray würde alle Angreifer von mir fernhalten und, wenn ich es ihnen in die Augen sprühte, sie zeitweise erblinden lassen, was mir ausreichend Zeit zur Flucht verschaffte.
Ich trat über die Schwelle nach draußen, schloss die Ladentür hinter mir und warf mir meinen roten Umhang um die Schultern. Ein Blick nach rechts, ein Blick nach links. Mein Haar kitzelte im Nacken, als ich den Kopf drehte. Keine Spur der Wachmänner. Es wurde jetzt wirklich Zeit, den Wolfseisenhut zu sammeln. Da es bereits später Nachmittag war, würde ich, wenn ich mich beeilte, zurück sein, bevor die Sonne unterging. Warum aber konnte ich mich nicht bewegen? Noch immer spukten die Worte von Herrn Hosenlos in meinem Kopf umher. Ich hatte die Flinte nicht ins Korn geworfen, als meine Großmutter verstorben war. Weder hatte ich Angst, noch bin ich geflohen, als die Dorfbewohner darauf bestanden, dass ich das Werk des Teufels vollbrachte. All das nur, weil ich darauf beharrte, dass Kräutertees manche Krankheiten heilen konnten. Glücklicherweise hatte die Priesterin weder eine Untersuchung noch einen Prozess gefordert. In Anbetracht dessen also würde mir ein Mann, der seine Hose an Wölfe verloren hatte, keine Angst einjagen.
Meine Großmutter sagte immer, wer ein sanftes Herz in einer grausamen Welt hat, beweist Mut, nicht etwa Schwäche. Dieses Motto hatte mich durch die harten Monate nach ihrem Tod und dem Erben ihres Geschäfts begleitet.
Vor mir küsste das Sonnenlicht die Wipfel der riesigen Buchen, deren Stämme mit saftigem Moos bewachsen waren. Ich rieb meine Arme und kämpfte gegen den Schauer, der sich in meine Knochen geschlichen hatte, an. Die Felder schimmerten in Braun und Grün. Ein Trampelpfad schlängelte sich in Richtung des Waldes, der nur noch knapp zehn Meter vor mir lag.
Mein Blick schweifte nochmal zurück und ich winkte Santos durch das Fenster zu, während er fleißig weiter den Tabak abpackte. Mein Rucksack wippte im Takt meines Schritts.
Die Bäume nahmen mich in ihrer Mitte auf, als ich den Wald betrat. Der Himmel verschwand und ein Rotkopfspecht jagte zwischen den Ästen nach Insekten. Ein Eichhörnchen hielt auf seinem Weg den Baum hinauf inne und starrte mich an. Niedlich. Einige Blätter fielen tanzend von den Baumkronen zu Boden und alles an dieser Landschaft erinnerte mich an Zuhause. Sicherheit. Gewohnte Umgebung. In der Ferne konnte ich einen gurgelnden Fluss hören, was in meinen Ohren wie ein Flüstern klang. Als Kind nahm meine Großmutter mich zum Wandern und Jagen mit, sie brachte mir das Überleben in der Wildnis bei und zeigte mir die Freiheiten, die ein solches Leben bot.
Trotz allem lag mir diese nagende Sorge bezüglich der Wölfe in unseren Wäldern immer noch schwer im Magen. Ich zog meinen Umhang fester um meine Schultern und legte einen Zahn zu. Die Luft um mich herum wurde still, lediglich ein Vogel sang noch hier und da. Der hölzerne Geruch beruhigte mich, aber die quälende Unsicherheit blieb und verlangte, dass ich nach Hause zurückkehrte.
Aber was war mit Bee? Wenn das Pflücken von Wolfseisenhut für sie Bezahlung bedeutete, mit der sie aushelfen konnte, Essen für sich und ihren Vater auf den Tisch zu zaubern, konnte mich nichts davon abhalten.
Als der Boden unter meinen Füßen abfiel, wurde auch mein Schritt langsamer. Der trockene Waldboden unter meinen Stiefeln gab nach und ich ruderte nach hinten. Ich bekam einen tiefhängenden Zweig zu fassen und zog mich wieder auf die Beine. „Scheiße!“ Schon einmal war ich diesen Hügel heruntergerutscht und lief wochenlang mit blauen Flecken herum.
Ein kleiner Bach sprudelte im Tal und die Strahlen der Sonne wärmten meine Schultern. Verzaubert vom Duft der Tannennadeln hüpfte ich von Stein zu Stein über den Bach.
Vor mir erstreckte sich ein üppiger Teppich aus Kräutern, der den Wald durchzog und von Sonnenlicht durchflutet war. Eine Reihe Wolfseisenhut verlief entlang der kompletten Grenze von Terra zum Bau, in dem die Wölfe lebten. Bereits vor Jahrzehnten hatten Menschen die Pflanzen ausgesät, um die Wolfsartigen davon abzuhalten, unser Land zu betreten. Dieser Pflanzengürtel reichte mir bis zu den Achseln und war mit langen, dunkelvioletten Blüten übersät, jede einzelne geformt wie ein Helm. Vereinzelt gab es auch gelben Wolfseisenhut, der viel kraftvoller war.
Das Brechen eines Zweigs zu meiner Linken weckte meine Aufmerksamkeit.
Ich zuckte zusammen und wirbelte in Erwartung eines Rehs herum, aber dort war nichts. „Hör auf so ein Feigling zu sein.“ Im Wald bewegte sich alles, von Tieren bis hin zur Vegetation. Ob die Wölfe wohl über den Wolfseisenhut gesprungen sind, als Herr Hosenlos vor ihnen geflohen ist und sie ihm folgten? Unwahrscheinlich, das hatten sie seit Jahren nicht getan, warum sollten sie also jetzt riskieren, davon krank zu werden? Es ergab keinen Sinn, außerdem waren Wölfe nachtaktiv. Sie jagten bei Nacht, nicht über Tag. Meine Güte, entspann dich.
Tief atmete ich aus und widmete mich wieder den Sträuchern. An ihnen vorbei blickte ich auf die Bäume in der Umgebung des sogenannten Baus, der Heimat der Wölfe. Der Wald war dicht, die Bäume standen wie Soldaten, bereit für den Krieg, und die Sonne durchbrach kaum ihre Kronen. Jedes Mal, wenn ich hier war, könnte ich schwören, dass mich jemand beobachtete. Schließlich schlich ich auch nahe der Grenze zwischen unseren beiden Territorien umher. Der Wolfseisenhut hielt sie zurück… Trotzdem pochte der Puls in meinen Venen, als hätte ich einen Fehler begangen.
Ich weigerte mich, an irgendwas anderes als die Pflanzen zu denken und kramte in meinem Rucksack nach den Stoffhandschuhen, die ich überzog, um zu verhindern, dass Wolfseisenhut meine Haut berührte. Rissige Haut oder kleine Wunden bei Mensch oder Wolf absorbierten das Gift des Wolfseisenhuts, welches Wölfe tötete und Menschen sehr krank machte. Außerdem kramte ich das Säckchen hervor, in dem ich den Wolfseisenhut verstaute, um ihn getrennt von meinen anderen Kräutern aufzubewahren.
Okay, es ist an der Zeit anzufangen. Ich rupfte die erste Pflanze aus dem Boden und klopfte die Erde aus den Wurzeln. Ein Schnitt an der Basis, den Rest der Pflanze schmiss ich weg, da ich nur die Wurzel benötigte. Mit einem einzigen Gedanken konzentrierte ich meine Kräfte und sanfte Energie strömte durch meine Arme. Weiße Funken hüpften von meinen Fingerspitzen, durch meine Handschuhe hindurch, und wirbelten um die Knolle. Ich legte die Wurzel in das Säckchen und sammelte weitere drei an verschiedenen Stellen, um eine Ausdünnung der Barriere zu verhindern. Noch zwei Stück. Bee bestand immer auf sechs Stück für ihre Zaubersprüche, da ich aber sowieso schon hier war, konnte ich direkt meine Vorräte auffüllen. Ich kletterte zwischen den Sträuchern umher, auf der Suche nach den gelben Exemplaren inmitten hunderter violetter Blüten, als ein lautes Krachen in der Nähe ertönte.
Ich erstarrte.
Dann kreischte jemand.
Wie festgefroren blieb ich auf der Stelle stehen und klammerte mich an den Rucksack in meinen Händen. Was war das?
Zweige und Blätter zitterten im Wind, knirschten und raschelten.
Noch ein Aufschrei. Lauter. Ein Tier in Not? Ich packte meine Sachen zusammen, fädelte meine Arme durch beide Träger des Rucksacks und bahnte mir den Weg in Richtung des Geräusches. Ja, genau das Gegenteil von dem, was ich tun sollte, aber das Geräusch würde mich noch wochenlang verfolgen, wenn ich nichts dagegen tun würde. Vor meinem inneren Auge sah ich ein verletztes Reh mit einem gebrochenen Bein in der Falle eines Jägers. Ich ertrug es nicht, ein verletztes Tier zu sehen und würde es wenn möglich heilen.
Oder wurde es vielleicht von einem Wolf angegriffen?
Auf meiner Wange kauend hielt ich inne und entledigte mich meiner Handschuhe, die ich in meinen Rucksack stopfte. Was sollte ich tun? Ich lief los und blieb wieder stehen, mein Blick schwankte von einer Seite zur anderen. Aus welcher Richtung kam es? Mein Zuhause befand sich zu meiner Linken.
Ein weiterer Aufschrei, definitiv ein menschlicher Ausruf. Ich hielt mich rechts, zielstrebig in Richtung jener Person, die in Schwierigkeiten steckte. Hatten Wölfe jemanden eingekesselt?
Als ich näherkam, konnte ich in der Ferne Bewegung zwischen den Bäumen erkennen. Ein Mann war auf seinen Knien und eine weitere Person peitschte ihn aus. Das Opfer schrie und mein Atem stockte.
Was ging hier vor sich? Ich fischte das Messer aus meinem Stiefel und kroch näher heran. Ich nutzte die massiven Baumstämme, um meinen Annäherungsversuch zu verbergen.
Das Schluchzen hallte wider und mein ganzer Körper war von Gänsehaut bedeckt. Ich presste meinen Rücken gegen einen Baum, der doppelt so breit wie ich war, und mein Herz pochte, als ich jedem einzelnen dumpfen Schlag lauschte. Jedem Winseln, jedem Kreischen.
Aus meinem sicheren Versteck lugte ich heraus. Mindestens viereinhalb Meter von mir entfernt stand eine dünne, schlaksige Gestalt, von Kopf bis Fuß und mit Handschuhen komplett in Schwarz gekleidet. In ihrer Hand hielt sie einen von Blättern befreiten Zweig, der bereits ausgetrieben hatte. Ich kniff die Augen zusammen um einen besseren Blick auf ihr Gesicht zu bekommen: eine lange spitze Nase, schroffe Wangenknochen und dünne Lippen, die sich zu einem Grinsen verzogen.
Die Priesterin?
Haare so schwarz wie die Nacht, zu einem strengen Pferdeschwanz zurückgebunden. Ich erschauderte, als sie lächelte und das Foltergerät über den Rücken des armen Mannes zog. Sie präsentierte sich vor den Dorfbewohnern als eine Lady, die mit sechzig Jahren bereits eine helfende Hand beim Erklimmen der Stufen ihres Podiums benötigte. Nichts desto trotz hatte ich schon von den Gerüchten gehört, dass sie gerne Menschen quälte. Aber schließlich kursierten alle möglichen Lügen über sie, von Geschlechtsverkehr mit Aliens, bis hin zum allabendlichen Baden in Milch. Okay, vielleicht war Letzteres nicht so weit hergeholt, aber auf jeder Dorfversammlung machten weitere Gerüchte die Runde. Daher schenkte ich ihnen keine Beachtung mehr. Aber… was, wenn die Gerüchte in Bezug auf die Priesterin stimmten? Wenn über jemanden unangenehme Dinge verbreitet wurden, pflegte Großmutter immer zu sagen, dass es keinen Rauch ohne Feuer gäbe.
Hinter der Priesterin standen mindestens zehn weitere, über Sträucher gebeugte Personen. Was ging hier vor sich?