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Kunststudentin Mika traut ihren Augen nicht, als sie bei einem Besuch der Londoner National Gallery ihren verstorbenen Bruder auf einem der Gemälde sieht. Tief erschüttert verlässt sie das Museum und trifft auf den mysteriösen Nicolas, der mehr zu sein scheint als nur ein gut aussehender Fremder. Er offenbart ihr, sie entstamme einer alten Blutlinie, welche die Gabe besitzt, Gemälde zu bereisen und die wertvollen Werke zu erhalten. In der Hoffnung, ihren Bruder wiederzusehen, schließt sie sich der Geheimgesellschaft der Gemäldespringer an – nichts ahnend, dass sie dadurch in einen Kampf um Macht und Einfluss gerät. Denn der Rat, dem die Gemäldespringer unterstehen, hat viel mehr vor, als bloß Kunstwerke zu bewahren. Und Mika stellt plötzlich die wichtigste Schachfigur in einem Spiel dar, dessen Sieg oder Niederlage über das Schicksal der ganzen Welt entscheiden könnte.
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Seitenzahl: 513
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Informationen zum Buch
Impressum
Widmung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Epilog
Dank
Sarah-Maria Köpf
Die Gemäldespringerin
Fantasy
Die Gemäldespringerin
Kunststudentin Mika traut ihren Augen nicht, als sie bei einem Besuch der Londoner National Gallery ihren verstorbenen Bruder auf einem der Gemälde sieht. Tief erschüttert verlässt sie das Museum und trifft auf den mysteriösen Nicolas, der mehr zu sein scheint als nur ein gut aussehender Fremder. Er offenbart ihr, sie entstamme einer alten Blutlinie, welche die Gabe besitzt, Gemälde zu bereisen und die wertvollen Werke zu erhalten. In der Hoffnung, ihren Bruder wiederzusehen, schließt sie sich der Geheimgesellschaft der Gemäldespringer an – nichts ahnend, dass sie dadurch in einen Kampf um Macht und Einfluss gerät. Denn der Rat, dem die Gemäldespringer unterstehen, hat viel mehr vor, als bloß Kunstwerke zu bewahren. Und Mika stellt plötzlich die wichtigste Schachfigur in einem Spiel dar, dessen Sieg oder Niederlage über das Schicksal der ganzen Welt entscheiden könnte.
Die Autorin
Sarah-Maria Köpf, geboren 1997 in Leipzig, studierte Kommunikations- und Medienwissenschaft sowie Multimedia-Journalismus. Sie arbeitet als freie Journalistin und ist seit vielen Jahren in der Bloggerszene aktiv. Ihre größte Leidenschaft gilt aber schon von klein auf dem Lesen und der Literatur, weshalb sie stets mit einem Buch in der Hand und einem Notizbuch in der Tasche anzutreffen ist.
www.sternensand-verlag.ch
1. Auflage, Juni 2024
© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2024
Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski
Lektorat: Lektorat Laaksonen | Stefan Wilhelms
Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH
Satz: Sternensand Verlag GmbH
ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-319-6
ISBN (epub): 978-3-03896-320-2
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Für Mama
Farben explodierten um mich herum. Eine Wolke aus verschiedenen Rottönen schoss an meinem Kopf vorbei und hinterließ eine Staubschicht auf meiner Kleidung. Ich blinzelte mehrmals, um das Brennen hinter meinen Lidern loszuwerden. Ein Wirbel aus Gelb und Orange türmte sich vor mir auf und zwang mich, einen Schritt zurückzuweichen. Der beißende Geruch war so stark, dass es mir fast die Luft zum Atmen nahm. Schnell zog ich mir den Kragen meines Pullovers über die Nase.
»Verdammter Mist«, murmelte ich.
Die Farben waren jetzt so dicht, dass ich keinen Meter weit sehen konnte. Langsam begann die Panik in mir aufzusteigen. Keuchend schnappte ich nach Luft und schloss für einen Moment die Augen.
Ich fühlte mich, wie aus einem tiefen Schlaf erwacht, der einen normalerweise nur für Sekunden orientierungslos zurückließ. Irgendwann erinnerte man sich, dass man zu Hause in seinem Bett lag und bloß geträumt hatte. Ich hingegen hatte weiterhin keinen Plan, wo ich mich befand oder wie ich hierhergekommen war.
»Einatmen, ausatmen«, flüsterte ich wie ein Mantra vor mich hin, bis mich die nächste Wolke mit voller Wucht traf. Ein Stöhnen entfuhr mir.
Die tanzenden Farben um mich herum erinnerten an Feuer, das alles, was sich ihm in den Weg stellte, aufzufressen drohte.
Feuer. Irgendetwas regte sich in meinen Gedanken, die Antwort entglitt mir aber, als würde ich sie mit seifigen Fingern zu fassen versuchen. Alles in mir schrie »Gefahr!« und instinktiv war mir klar, dass ich mich schnellstens verdrücken musste. Etwas stimmte hier nicht.
So gut es ging, versuchte ich, meine Umgebung zu überblicken, doch alles, was ich sah, waren Farben. Nichts als bunte Wolken, die überall aufzutauchen schienen.
In der Hoffnung, einen Ausweg zu finden, wandte ich mich nach rechts.
Nach wenigen Schritten blieb ich jedoch wie versteinert stehen und kniff die Augen zusammen.
Etwas Schleierartiges waberte auf mich zu. Dunkle Schlieren, die das Farbspektakel nach und nach verschluckten.
Das Herz schlug mir bis zum Hals und meine Hände wurden feucht. Ich konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen, als wären mir die Farbwolken direkt ins Gehirn gewandert.
Die Hände ausgestreckt, bewegte ich mich langsam vorwärts, um möglichen Hindernissen ausweichen zu können. Kurz darauf spürte ich einen Widerstand vor mir. Meine Finger fuhren über eine kalte Wand und ertasteten winzige Einkerbungen.
War das Tapete? Ich musste mich in einem Gebäude befinden und dann gab es hier auch einen Ausgang.
»Okay, weiter geht’s«, murmelte ich. Der Klang meiner Stimme half mir, mich zu fokussieren und den Nebel in meinem Kopf zu vertreiben.
Vorsichtig ließ ich die Hände über die rauen Wände gleiten. Ich entschied mich für die entgegengesetzte Richtung, weg von den Schlieren, und lief weiter, so schnell es mir bei der schlechten Sicht möglich war.
Ich zwang mich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, doch schon nach ein paar Sekunden griff ich ins Leere.
Die Wand war fort.
Scheiße.
Wohin als nächstes?
Verunsichert warf ich einen Blick zurück, wofür ich mich direkt verfluchte. Die schwarzen Schlieren waren nicht länger formlose Wolken. Sie hatten Gestalt angenommen und sahen aus wie Schattenwesen. Mit jedem Meter, den sie vorrückten, konnte ich ihre Konturen besser erkennen. Sie wirkten fast menschlich.
Für einen Moment war ich der Überzeugung, meine Eltern würden durch den Rauch auf mich zukommen, doch je länger ich in die Wirbel starrte, desto mehr Gestalten lösten sich daraus.
Eine Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen, denn noch immer herrschte eine gespenstische Stille. Ich konnte nichts hören, außer mein eigenes lautes Keuchen. Meine Kehle fühlte sich ausgetrocknet an.
Mir würde nicht viel Zeit bleiben, bis sie mich erreicht hatten.
Ich holte tief Luft und bog um die Ecke.
Endlich lichteten sich die Farben und ich konnte etwas besser sehen. Vor mir tat sich ein Raum auf, an dessen anderem Ende eine Tür lag. Das war meine Chance.
Ich sprintete los. Meine Boots erzeugten ein Quietschen, das in meinen Ohren widerhallte. Eine lautlose Flucht war das nicht gerade.
Auf dem Weg stolperte ich fast über eine Sitzbank, die ich in der Eile übersehen hatte. Gut dreißig Meter trennten mich noch von meinem Ziel, als hinter mir ein ohrenbetäubender Lärm die Stille zerriss. Es klang wie Hunderte Füße, die auf dem Boden trampelten, während laute Stimmen wild durcheinander riefen.
Der Gedanke an die Gestalten ließ sich jetzt nur noch schwer verdrängen. Trotzdem versuchte ich, die Panik zurückzuschieben. Ich musste es schaffen.
Ich hatte die Tür beinahe erreicht und betete, dass sie nicht verschlossen war. Das dunkle Holz war mit Ornamenten verziert, um mehr zu erkennen, blieb mir allerdings keine Zeit.
Meine Finger umgriffen die Klinke und drückten das Metall mit aller Kraft nach unten.
Doch nichts passierte. Die Tür war verschlossen.
Ich war geliefert.
Langsam drehte ich mich um und blickte in einen Pulk aus Gestalten, der wenige Meter von mir entfernt stoppte.
Die Schattenwesen hatten endgültig Form und Farbe angenommen, die Gesichter der Männer und Frauen waren wutverzerrt. Sie trugen merkwürdige Gewänder und einige von ihnen schwenkten Speere, andere teils historisch anmutende Waffen. Nur ein leichter Graustich ließ erahnen, dass sie eben noch Schlieren in der Luft gewesen waren.
Nun begann ich, auch den Rest meiner Umgebung wahrzunehmen. Die Wände des Raumes waren über und über mit Gemälden behangen. Der Ort kam mir seltsam bekannt vor, aber ich kam einfach nicht drauf, wo ich ihn schon einmal gesehen hatte.
Die Gestalten näherten sich.
Ich spürte das Holz der Tür unter meinen Fingerspitzen und den breiten Griff der Metallklinke, der sich schmerzhaft in meinen Rücken bohrte.
Es gab keinen Ausweg.
Panik ergriff vollends Besitz von mir und löschte jeden weiteren Gedanken aus.
Jedes Gemälde hatte seine eigene Geschichte. Was wir auf der Leinwand sahen, war nur ein Ausschnitt eines großen Ganzen. Die Gedanken eines Künstlers eingefroren im Augenblick. Die exakte Kopie einer Szene oder die Verfremdung eines Moments, der so flüchtig war, dass man ihn nicht konservieren konnte.
Seit meiner Kindheit begleitete mich die Kunst, die Liebe zur Malerei, für Galerien und Museen. Doch wie tief diese Leidenschaft in meinem Blut verwurzelt war, hatte ich erst vor Kurzem erfahren. Als alles, an das ich zu glauben dachte, unweigerlich auf den Kopf gestellt wurde.
Meine Geschichte begann vor achtzehn Jahren, als ich in einer verschneiten Londoner Winternacht geboren wurde. Behütet von meinen Eltern und regelmäßig genervt von meinem großen Bruder Jasper, verband ich bis zu meinem zehnten Lebensjahr die schönsten Erinnerungen mit unserem Haus im Stadtteil East Twickenham.
Aber so richtig zu leben fing ich erst mit meiner Rückkehr nach London an. Und seitdem war so vieles anders geworden.
Die Stadt war lauter und dreckiger, als ich sie in Erinnerung hatte. Die Leute hektischer und die Straßen überfüllter. Doch auch ich hatte mich verändert. Seit dem Tag, an dem meine Welt aus den Fugen geraten war, war ich nicht mehr dieselbe.
Und nun war ich zurück in London. In der Stadt, wo alles seinen Anfang genommen hatte.
Der süße Duft von Neuanfängen umfing mich bereits, als ich im Zug in Richtung King’s Cross saß. Das bekannte Kribbeln im Bauch, das mich die Nächte davor wachgehalten hatte, war wieder da. Ich konnte es kaum erwarten, mein Studium zu beginnen.
Die fünf Stunden Fahrt, die mich die letzten Jahre von London getrennt hatten, vergingen wie im Flug. Immer schneller kamen wir den Vororten näher und das warme Gefühl von Heimat machte sich in mir breit.
Gleichzeitig begannen die Erinnerungen an meine Familie zu pochen und eine Sehnsucht stieg in mir auf, die ich mir selbst schon lange nicht mehr erlaubt hatte.
Ich vermisste sie jeden Tag. Mum, Dad und meinen Bruder Jasper. Und vielleicht tat ich das hier ebenso wegen ihnen. Um zu beweisen, dass ich es schaffen konnte. Dass ich stark genug war.
Die letzten Sonnenstrahlen des Sommers wurden von einer grauen Wolkendecke verschluckt. Die Äste der vorbeirauschenden Bäume wiegten sich im Wind, als führten sie einen einstudierten Tanz auf – im Einklang miteinander und doch jeder für sich allein. Der Herbst kündigte sich an und ich bereitete mich auf das Ende der brütenden Sommerhitze vor. Endlich.
Auch jetzt schaffte es die Klimaanlage des Zuges nur mit Ach und Krach, das Abteil mit lauwarmer Luft zu versorgen. Es störte mich nicht. Ich war so gut wie in London.
Die Vorstadthäuser hatten sich mittlerweile in immer größere Gebäude verwandelt.
Als die Durchsage über unsere Ankunft ertönte, stopfte ich das Buch, in dem ich gelesen hatte, in meine Tasche und sammelte meine restlichen Sachen zusammen. Der schwarze Rucksack, der schon mit etlichen Flicken versehen war, und die Lederreisetasche meiner Tante Rose waren alles, was ich für den Start in mein neues Leben bei mir hatte.
Ich schob meine Sonnenbrille in die Seitentasche und reihte mich in die Schlange an der Tür ein.
»Sorry«, murmelte ich, als ich versehentlichen einen Mann anrempelte.
Der Zug war an diesem Tag besonders voll und jeder wollte zuerst aussteigen. Der Mann nickte jedoch nur abwesend und widmete sich wieder seiner Zeitschrift.
Während ich wartete und der Zug nach und nach langsamer wurde, wanderten meine Gedanken zurück zum Morgen, als ich mich am Bahnhof in Warkworth von meiner Tante verabschiedet hatte. Ihr besorgter Blick hatte mich durchbohrt, als ich mit Sack und Pack beladen am Gleis stand.
»Bist du dir ganz sicher, dass das die richtige Entscheidung ist, Baby?«, hatte sie gefragt. Ihr langer brauner Wollmantel war vom Wind hin und her gewirbelt worden, bis sie ihn zusammengebunden und sich die umherfliegenden blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht gestrichen hatte.
»Du musst dir keine Sorgen machen, Tante Rose. Wir haben das doch besprochen. Das Studium in London ist eine einmalige Chance für mich. Das, was ich immer machen wollte.« Ich hatte versucht, so viel Nachdruck wie möglich in meine Stimme zu legen und meine Tante in eine Umarmung gezogen. »Aber ich werde dich unheimlich vermissen. Du kommst mich ganz bald besuchen, in Ordnung?«
Grinsend hatte sich Tante Rose wieder von mir gelöst und die Tränen weggeblinzelt. »Du wirst dich noch wundern, wie oft ich auf dieses Angebot zurückkommen werde.«
Und dann war ich in den Zug gestiegen, der mich nun auf einem überfüllten Gleis mitten in London ausspuckte.
Ich ließ meinen Blick über den Bahnsteig schweifen, während die anderen Reisenden an mir vorbeiströmten und mich ohne Entschuldigung anrempelten.
Endlich erblickte ich den blonden Lockenschopf, nach dem ich gesucht hatte. Francesca. Die einzige Person, die ich bisher in der britischen Hauptstadt kannte.
Die Anzeige für das freie Zimmer in ihrer Wohnung hatte ich über eine Unigruppe auf Social Media entdeckt. Francesca lebte schon eine Weile in London und hatte sich bisher mit verschiedenen Jobs über Wasser gehalten, um Geld für die Uni zu sparen. Nach einem ersten Videoanruf war mir klar gewesen, dass unsere Begegnung kein Zufall sein konnte. Wir würden nicht nur zusammen ins Studium starten, sondern waren auch sonst auf einer Wellenlänge.
»Schön, dich endlich persönlich zu treffen, Mika. Irgendwie dachte ich, du wärst größer«, begrüßte mich meine neue Mitbewohnerin lachend. Ihre dunkelbraunen Augen, die mit einem schwarzen Lidstrich betont waren, strahlten dabei förmlich. Ein leichter italienischer Akzent schwang in ihrer Stimme mit.
»Das bekomme ich oft zu hören«, erzählte ich mit einem theatralischen Seufzer. Mit meinen 1,60 m war ich schon immer überall die Kleinste gewesen.
Wir umarmten uns und sofort war meine Aufregung wie weggewischt.
Was sollte jetzt noch schiefgehen?
»Danke fürs Abholen! Ich bin so gespannt auf die WG«, fügte ich hinzu, als Francesca mir bereits die Reisetasche aus der Hand genommen hatte und wir gemeinsam auf den Ausgang zusteuerten.
Meine neue Mitbewohnerin trug einen langen schwarzen Rock, der ihr beim Laufen sanft um die Beine tanzte. Mit ihrem ausgefallenen Style fügte sie sich nahtlos in die Londoner Kulisse ein.
»Keine Ursache. Ich weiß noch genau, wie ich mich gefühlt habe, als ich vor einem Jahr von Italien nach England kam. Es ist schön zu wissen, dass man in so einer großen Stadt nicht allein ist.«
Wir erreichten die weitläufige Eingangshalle, deren Glaskuppel den Blick auf den sich dunkel verfärbten Nachthimmel eröffnete. Scheinwerfer tauchten die weißen Streben in violettes Licht. Ich musste stehen bleiben, um den wilden Trubel in mich aufzusaugen.
Wie hatte ich das Stadtleben doch vermisst!
Reisende eilten von einem Ende zum anderen, zogen Koffer hinter sich her oder hingen am Telefon. Kinderwagen wurden durch die Massen geschoben und Hunde auf den Arm genommen, um sie vor dem hektischen Gedränge zu schützen. Auf der oberen Ebene der Halle saßen Menschen vor den Restaurants und beobachteten das geschäftige Treiben.
Ich war angekommen.
»Wollt ihr einen Evening Standard?«, fragte plötzlich eine junge Stimme und drückte mir, ohne eine Antwort abzuwarten, die Zeitschrift in die Hand.
Ich nahm das Abendblatt und schaute dem Zeitungsausträger hinterher, der sich schon den nächsten Personengruppen zugewandt hatte.
Auf der Titelseite prangte ein Bild des Trafalgar Square, in dessen Hintergrund sich das imposante Gebäude der National Gallery befand. ›Diesjähriger Besucherrekord erreicht‹, lautete die Überschrift.
Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht, denn das Museum war früher einer meiner Lieblingsorte in London gewesen. Sogar mein Bruder Jasper hatte die langen Flure des viktorianischen Hauses gemocht, in denen man sich regelrecht verlaufen konnte. An den Wochenenden hatten wir oft mit unseren Eltern einen Ausflug dorthin unternommen und waren ehrfurchtsvoll durch die Räume geschritten.
Mein letzter Besuch war jedoch eine Ewigkeit her. Seitdem ich meine Familie verloren hatte und bei Tante Rose lebte, war ich nicht wieder dort gewesen.
Ich merkte, dass Francesca mich schief von der Seite anschaute. Die vertraute Traurigkeit ignorierend, stopfte ich die Zeitung in meinen Rucksack.
»Sorry, ich wollte die Atmosphäre einen Augenblick genießen«, entschuldigte ich mich.
»Oh ja, das Chaos und die ganzen Menschen muss man tief in sich aufsaugen«, stimmte Francesca mit einem Zwinkern zu. »Allerdings weiß ich, was du meinst. Manchmal beobachte ich die Leute auf der Straße oder in der U-Bahn. London hat sein ganz eigenes Tempo. Dieses Feeling hat man nirgendwo anders.«
»Es ist auf jeden Fall ein Unterschied zu Warkworth. Da gibt es drumherum nichts als Felder und Wiesen«, erzählte ich, während wir uns zusammen mit den anderen Menschen auf den Ausgang zuschoben.
»Das klingt eigentlich gar nicht schlecht.«
»Wenn man da nicht für immer festsitzt, ist es ganz idyllisch. Aber ich habe mich meistens nur abgeschnitten gefühlt.« Ich zuckte mit den Schultern. »Im Herzen bin ich halt doch ein Großstadtkind.«
Die Geräuschkulisse des Bahnhofs verklang, als wir auf die Straße traten. Ich sog die kühle Abendluft in mich ein und beobachtete eine Weile den chaotischen Autoverkehr der Rushhour. Ich konnte es kaum abwarten, endlich meine neue Wohnung zu sehen.
Schon seit Jahren hatte ich mir diesen Moment ausgemalt. Die Tage bevor ich achtzehn geworden war, hatte ich als Countdown im Kalender abgestrichen, obwohl es mir das Herz brach, Tante Rose zurückzulassen.
Ich folgte Francesca zu einem Parkplatz zwei Straßen weiter, wo sie vor einem alten Toyota stehen blieb.
»Darf ich vorstellen? Das ist mein compagno!«, verkündete sie stolz und öffnete den Kofferraum, um meine Reisetasche hineinzuhieven.
»Wow!«, war alles, was ich hervorbrachte.
Als sie mich mit erhobener Augenbraue ansah, machte sich das schlechte Gewissen wegen meiner Skepsis in mir breit. Dass sie mich abholte, war keine Selbstverständlichkeit. Doch Francesca schien es nicht zu stören, dass ich ihrem klapprigen Wagen nicht zu trauen schien.
»Jetzt schau nicht so. Der Wagen hat den weiten Weg von Florenz nach London zurückgelegt. Den wirft so schnell nichts aus der Bahn.« Sie zwinkerte mir zu und ich hob resigniert die Hände.
Francesca bedeutete mir, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen, und ich ließ mich dankend auf das weiche Polster sinken.
»Na dann los. Fahren wir in die WG«, jubelte ich und warf die Autotür hinter mir zu.
Das riesige Eingangsportal ragte vor mir auf, als ich drei Tage später mit schnellen Schritten durch den Nieselregen eilte. Meine Jeans war komplett durchnässt und den Regenschirm hatte ich auf der Hälfte der Strecke in den Mülleimer verbannt, nachdem eine Windböe den Stoff von den Metallstangen gerissen hatte.
Es schien nicht mein Tag zu sein und das, obwohl heute die Uni begann. Vielleicht hätte Francesca mich auf dem Weg aufmuntern können, doch sie war schon früh zu einem Vorstellungsgespräch für einen Nebenjob aufgebrochen, während ich noch tief und fest geschlafen hatte.
Und so war ich allein in Richtung National Gallery unterwegs. Denn bevor wir uns in die Hörsäle verdrückten, wollte unser Professor ein Museum mit uns besuchen. Als praktischen Einstieg in die Kunstgeschichte, hieß es in der Willkommens-E-Mail. Ich fand die Idee klasse – wenn da nicht das Londoner Regenwetter gewesen wäre.
Als Kind hatte ich es geliebt, die Wochenenden in Museen zu verbringen und die alten Meisterwerke zu betrachten. Die Präzision der Pinselstriche und die verborgene Intention der Maler, ließen mich meist minutenlang in eine andere Welt abtauchen. Ich könne mich wie kaum ein anderer in den Bildern verlieren, sagte Tante Rose immer.
Ein Meer aus Regenschirmen und bunten Jacken war bereits vor dem Museum versammelt und ich hoffte inständig, unter den Touristen irgendwo meine Gruppe auszumachen. Der Regen prasselte unermüdlich auf mich nieder und ich fror, als hätten wir bereits Winter. Von der Sommerhitze der letzten Tage war nichts mehr zu spüren.
Schnell suchte ich vor dem Eingangsbereich Schutz und ärgerte mich, mein Cape im WG-Zimmer gelassen zu haben.
Auf dem Trafalgar Square waren vergleichsweise wenig Menschen unterwegs. Im Sommer saßen kleine Gruppen auf den Treppen vor dem Museum und Straßenkünstler unterhielten die Besucher. Doch das Wetter trieb heute alle in die Gebäude.
Endlich sah ich den Lockenkopf von Francesca ganz in der Nähe des Brunnens und entdeckte nun auch Professor Williams, dessen Bild ich von der Website des Golding Colleges kannte. Erleichterung durchströmte mich und ich setzte mich in Bewegung.
»Na, ausgeschlafen?«, wollte meine Mitbewohnerin wissen, als ich ihr klitschnass gegenübertrat. Wir umarmten uns kurz, dann schlüpfte ich zu ihr unter den Schirm.
»Geht so. Ich war gestern noch lange wach, aber das ist bestimmt nur die Aufregung.« Ich versuchte, eine gleichgültige Miene aufzusetzen und verschwieg die Erinnerung an meinen grauenhaften Albtraum in der Nacht lieber.
Bis jetzt lief es gut mit Francesca und ich wollte sie nicht gleich am Anfang mit meinen Problemen belasten.
Francesca blickte mich mitfühlend an. »Ging mir ganz genauso. Heute ist immerhin unser großer Tag.«
Dass sie das so betonte, verstärkte das Ziehen in meiner Magengrube noch etwas mehr.
»Wie war das Vorstellungsgespräch?«, wechselte ich daher das Thema, um uns auf andere Gedanken zu bringen.
»Gut. Sie wollen sich nächste Woche melden, aber es waren noch andere Bewerber da und ich weiß nicht, ob ich wirklich Chancen habe.« Francesca drückte mir den Schirm in die Hand und rieb sich die Finger, die vor Kälte bereits rot angelaufen waren. Aus der Tasche ihres Mantels fischte sie ein paar dünne schwarze Stulpen, die sie schnell überzog.
»Ich würde dich sofort einstellen«, erwiderte ich und das meinte ich von Grund auf ehrlich.
Francesca kam mir bereits wie die ältere Schwester vor, die ich nicht hatte. Die WG mit ihr war nicht nur ein Glücksgriff gewesen, weil wir dasselbe studierten, sondern auch, weil wir uns auf Anhieb gut verstanden hatten.
»Danke. Hoffen wir mal, dass die Galerie das genauso sieht. Immerhin fange ich gerade erst mit dem Studium an.« Sie verlagerte ihr Gewicht von einem Bein aufs andere und sah dabei überhaupt nicht überzeugt aus.
»Du bist jung, sprichst zwei Sprachen fließend und interessierst dich für Kunst. Alles andere kannst du lernen. Jeder muss irgendwann mal anfangen«, versuchte ich, sie weiter zu ermutigen.
Francesca nickte. »Du hast recht.« Sie nahm mir den Schirm wieder aus der Hand und hakte sich bei mir unter. »Komm, wir melden uns erst einmal bei Professor Williams an. Es gibt eine Anwesenheitsliste.«
Wir reihten uns in die Schlange der wartenden Studierenden ein und nahmen unseren neuen Dozenten genauer unter die Lupe.
Professor Williams war ein sympathisch aussehender Mann im mittleren Alter. Er hatte kurze lockige Haare und sein Kleidungsstil schien in den Neunzigern stehen geblieben zu sein. Mit einem schwarzen Regenschirm in der einen und seinem Smartphone in der anderen Hand ging er die Liste durch und hatte dabei für jeden ein Lächeln und ein paar freundliche Worte übrig.
Unauffällig zupfte ich an meiner Jeans, die kalt und nass an meinem Bein klebte. Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was ich für einen Eindruck auf meine neuen Kommilitonen machte. Dass ich aussah wie ein begossener Pudel, gehörte definitiv nicht zur Traumvorstellung für meinen ersten Tag.
Die Stimme von Professor Williams riss mich aus meinen Gedanken. »Ihre Namen bitte, die Damen.«
Ohne dass ich es bemerkt hatte, waren wir in der Schlange ganz nach vorn gerutscht und standen direkt vor ihm. So dicht, dass ich sehen konnte, wie ein Regentropfen an seinen runden Brillengläsern hinunterlief.
»Michaela Marie Sinclaire«, antwortete ich.
Francesca warf mir einen grinsenden Seitenblick zu und ich verdrehte die Augen. Ich hatte ihr bereits erklärt, dass ich mit meinem richtigen Vornamen nur wenig anfangen konnte und am liebsten von allen Mika genannt wurde.
»In Ordnung. Herzlich willkommen, Miss Sinclaire.«
»Vielen Dank.«
»Und Sie sind?«, wandte er sich an meine Mitbewohnerin.
»Francesa Bovi, Sir.«
»Sie sind unsere italienische Studentin?«, fragte er mit einem Lächeln.
Francesca nickte. »Ich komme aus Florenz.«
»Auf Ihren Input freue ich mich ganz besonders«, gab er zurück und ließ sein Smartphone für einen Moment sinken. »Die Italiener haben ja bekanntlich den Ruf, ein ausgezeichnetes Gespür für Kunst zu besitzen. Ich freue mich jedes Mal, wenn wir differenzierte Perspektiven aus verschiedenen kulturellen Hintergründen bei uns im Kurs haben.«
Francesca verlagerte erneut ihr Gewicht von einem Bein aufs andere. »Ich hoffe, dass ich Ihre Erwartungen erfüllen kann. Ich freue mich schon sehr auf das Studium.«
Professor Williams setzte einen Haken neben unsere Namen und wir gesellten uns zu den anderen. Die Mehrheit des Kurses war weiblich und in meinem Alter. Es hatten sich bereits Grüppchen gebildet und ich war einmal mehr froh, Francesca an meiner Seite zu haben.
Die war in ein Gespräch mit einer Studentin in knallgelber Regenjacke vertieft.
»Florenz ist so toll. Ich war letztes Jahr mit meinen Eltern dort. Der Dom der Stadt ist einfach beeindruckend. Und erst die Uffizien«, schwärmte sie gerade.
Francesca schien es leichtzufallen, mit anderen ins Gespräch zu kommen. Etwas, wofür ich sie beneidete.
Zum Glück bemerkte sie mein Unwohlsein schnell und stellte mich unserer neuen Kommilitonin vor.
Bevor ich mich aber in das Gespräch einbringen konnte, trat Professor Williams an die Gruppe heran und bedeutete uns, ihm zu folgen.
Es ging los.
Gemeinsam marschierten wir auf den Eingang des Museums zu. In der Spiegelung der Tür sah ich meine zerzausten nussbraunen Haare, die in alle Richtungen von meinem Kopf abstanden. Aber immerhin wirkte mein Gesicht mit den hohen Wangenknochen, den vollen Lippen und der Nase, die für meinen Geschmack eine Spur zu markant war, ausgeruhter, als ich vermutet hatte.
Nachdem wir unsere Sachen in den Schließfächern verstaut hatten, versammelten wir uns in der prunkvollen Eingangshalle. Hier herrschte reges Treiben und der Lautstärkepegel war ein extremer Gegensatz zu den beruhigenden Regengeräuschen draußen.
Damit wir Professor Williams besser verstehen konnten, bekamen wir Audioguides.
»Herzlich willkommen am Golding’s und zu Ihrem ersten Studientag«, ertönte seine sanfte Stimme aus den Kopfhörern. »Ich freue mich sehr, dass Sie sich für die wohl spannendste Fachrichtung an der Universität entschieden haben und wir die kommenden drei Jahre gemeinsam die Meisterwerke der sowohl bedeutendsten Maler und Künstler als auch der jungen Talente entdecken und analysieren werden. Manch einer mag die Kunstgeschichte als trockenes Fach bezeichnen. Aber um Ihnen zu zeigen, wie spannend die Thematik ist, haben wir uns heute hier zusammengefunden. Quasi als kleinen Motivationsschub vorweg.«
Ein Kichern ging durch die Menge, doch unsere Augen waren weiterhin auf Professor Williams gerichtet. Er wusste, wie er den Kurs in seinen Bann ziehen konnte.
»Ich weiß, dass die Beweggründe für Ihr Studium und auch Ihre Vorkenntnisse ganz unterschiedlich sind. Allerdings verbindet uns etwas ganz Entscheidendes: die Liebe zur Kunst in all ihren Facetten. Wir werden gemeinsam viel lernen und über den ein oder anderen Punkt aktiv diskutieren. Jede Meinung ist willkommen und wird gehört.«
Während der Professor weiter redete, ließ ich meinen Blick über die goldenen Verzierungen der Decke schweifen, die einen wunderschönen Kontrast zum Mintgrün der Wand bildeten. Die braunen Marmorsäulen und die alten, schweren Eingangstüren waren in meiner Erinnerung gar nicht so prunkvoll gewesen.
Am beeindrucktesten war allerdings das imposante bunte Bodenmosaik, auf dem wir standen. Es schmerzte mich fast, dass ein Großteil der Besucher dieses Werk achtlos überquerte und die präzise Anordnung der winzigen Steinchen gar nicht wahrzunehmen schien.
Professor Williams war derweil ganz in seinem Element. »Die National Gallery gilt als eine der bedeutendsten Gemäldegalerien der Welt. Sie umfasst mehr als 2300 Werke vom dreizehnten bis ins neunzehnte Jahrhundert. Darunter befinden sich die berühmten Sonnenblumen von Van Gogh, die er im Sommer 1888 malte. Auch den Seerosenteich von Monet werden wir in den kommenden Minuten zu Gesicht bekommen. Ich nehme an, Sie sind genauso aufgeregt wie ich. Verlieren wir also keine weitere Zeit und machen uns auf den Weg.«
Wir folgten Professor Williams die Treppe nach oben. Vor einigen Werken hielt er an und gab mal kürzere, mal längere Kommentare, Anekdoten und geschichtliche Hintergründe preis. Ab und an hallte das Rattern der U-Bahn von den Wänden wider. Aus dem Fenster nach draußen erhaschte ich einen Blick auf den Trafalgar Square, in dessen Hintergrund sich der Glockenturm des Parlaments abhob.
Die Zeit schien für mich stehenzubleiben. Ich konnte gar nicht sagen, wie unbeschreiblich glücklich ich in diesem Moment war. In London, in meinem Lieblingsmuseum und von all diesen berühmten Gemälden umgeben.
Ich hatte einen Studienplatz an meinem Traumcollege bekommen, eine bezahlbare Wohnung gefunden und musste nur noch einen Nebenjob auftreiben, um all das durchgängig finanzieren zu können.
Wenn Tante Rose mich jetzt sehen könnte.
Sie hatte es mit mir nie einfach gehabt. Ich war weder ein typisches Kind noch hatte ich eine normale Vergangenheit. Ich war Einzelgängerin, obwohl ich durchaus ein paar Freundschaften pflegte. Auf der anderen Seite teilte in meinem Dorf niemand die gleiche Leidenschaft für Kunst wie ich.
Mittlerweile hatten wir den Raum für niederländische Malerei erreicht. Die Gemälde in den goldenen, prunkvollen Rahmen strahlten uns von der grau bemalten Wand entgegen und Professor Williams steuerte zielstrebig einem Werk ganz am Ende des Raumes entgegen.
»Im siebzehnten Jahrhundert erlebte die Malerei in den Niederlanden ihre Blüte, sodass man auch vom goldenen Zeitalter spricht. Eine vorher nicht dagewesene Spezialisierung setzte ein, die sich auf Porträts, Stillleben, aber auch Tiermotive bezog.«
Der Professor führte seine Erklärungen weiter aus und ich ließ mich zurückfallen, um mir die anderen Werke in Ruhe ansehen zu können.
Langsam schritt ich Bild für Bild die Wand entlang.
Mein Blick blieb an einem der großen Gemälde hängen, das alle anderen neben sich in den Schatten stellte. Die Dynamik der abgebildeten Personen zog mich in den Bann. ›Familienbild in einer Landschaft vor 1650‹, hieß es auf dem Schild daneben. Der Künstler war Frans Hals, der mir schon einige Male in Büchern zur holländischen Malerei begegnet war. Mit seinen lebendigen Porträts hatte er internationale Bekanntheit erlangt, daran erinnerte ich mich noch.
Auf dem Bild vor mir war eine Großfamilie abgebildet, die mit ihren Kindern für den Maler posierte.
Das wäre auch heute im digitalen Zeitalter nicht viel anders, überlegte ich schmunzelnd.
Mein Blick wanderte weiter zu einem jungen Mann, der etwas abseits am linken Bildrand stand, als würde er nicht so recht dazugehören. Und irgendwas an ihm erschien mir seltsam vertraut.
Das dunkelblonde Haar ging ihm bis zum Kinn und ich schätzte ihn auf Mitte zwanzig. Sein Gesicht blieb hinter einem Bart verborgen, doch etwas in seiner Miene weckte meine Aufmerksamkeit.
Vorsichtig trat ich näher und plötzlich traf es mich wie ein fester Faustschlag in die Magengrube.
Ich schnappte nach Luft und in meinen Ohren rauschte es. Alle Geräusche um mich herum verstummten, selbst die Stimme von Professor Williams nahm ich nicht mehr wahr, während ich weiter das Bild anstarrte.
Das konnte nicht sein.
Das konnte einfach nicht sein.
Diese blauen Augen würde ich überall wiedererkennen. Ich sah sie selbst jeden Morgen, wenn ich in den Spiegel blickte.
Jasper.
Fast wie von allein trugen mich meine Füße aus dem Raum. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich durch den Eingangsbereich rannte und nur durch einen Schleier wahrnahm, wie sich mir die Security alarmiert in den Weg stellte.
»Bitte rennen Sie nicht, Miss. Das hier ist ein Museum!«, rief einer der Wachmänner und versuchte, mich aufzuhalten. Doch da war ich schon durch die Tür geschlüpft.
Kühle Luft umfing mich, aber etwas hielt mich davon ab, stehen zu bleiben.
Der Regen peitschte auf die Straße nieder und der Gehweg glich mittlerweile einem strömenden Fluss. Ich lief immer weiter.
Weg vom Museum. Weg von dem Gemälde.
Im Gegensatz zum Morgen bemerkte ich kaum, wie mein gerade frisch getrocknetes Haar wieder durchnässte und meine Hose an den Beinen klebte. Meine Sachen befanden sich noch im Schließfach des Museums, sodass ich nur einen dünnen Strickpullover trug. Ob ich wegen der Kälte oder wegen des Schocks zitterte, konnte ich trotzdem nicht sagen.
Die Vergangenheit und meine schlimmsten Albträume vermischten sich zu einem seltsamen Strudel, der wie ein Tornado durch meine selbsterbaute Realität raste. Ich hatte mir eingeredet, dass ich klarkommen würde. Dass ich stark genug war, um zurück nach London zu ziehen. Doch ich hatte mich selbst belogen, mir nur etwas vorgemacht.
Und jetzt konnte ich nichts gegen die Gefühle tun, die langsam in mir aufstiegen und die ich die ganzen Jahre so gut in mir verschlossen hatte.
Es hatte mich viel Zeit gekostet, mir ein normales Leben aufzubauen, und nun schaffte es ein einfacher Besuch in einem Museum, mich in alte Muster zurückfallen zu lassen.
Als ich jünger gewesen war, hatte ich mir öfter eingebildet, meine Eltern oder Jasper irgendwo zu sehen. Ich hatte sie in einer Menschenmenge bei den Marktbesuchen mit Tante Rose erblickt. Wenn ich in einen Bus einstieg, hatte ich ganz automatisch unter den Fahrgästen nach ihren Gesichtern gesucht. Ich hatte sie manchmal sogar nachts in meinem Zimmer gesehen, nachdem ich aus einem unruhigen Traum aufgewacht war.
Mit der Zeit waren diese Halluzinationen weniger geworden und irgendwann ganz verschwunden.
Bis heute.
Vielleicht hatte Tante Rose doch recht gehabt und London war ein Fehler. Zu viel, das mich an meine Familie erinnerte. An Mum, Dad und Jasper. So sehr, dass mir mein Gehirn erneut Streiche spielte.
Ohne darauf zu achten, wo ich hinlief, erreichte ich die Themse. Die meisten Autos steckten im Nachmittagsstau fest und nur wenige Fußgänger waren an der Uferpromenade des Embankment unterwegs.
Niemand nahm Notiz von mir.
Ich wurde langsamer und ließ mich auf die nächste Bank sinken.
Die Regentropfen plätscherten in das trübe braune Wasser des Flusses und wurden eins mit der Strömung.
Ich wünschte mir, sie würde die Erinnerung fortspülen können.
Verdammt, warum gerade jetzt? Warum musste mir so etwas ausgerechnet an meinem ersten Tag an der Uni passieren?
Ich war mir ganz sicher, dass das auf dem Bild Jasper gewesen war. Auch wenn er ein paar Jahre gealtert schien, hatte er sich nicht viel verändert. Nur seine Haare waren länger geworden und sein kindliches Gesicht von einst zierte nun ein Vollbart. Aber meinen Bruder würde ich überall wiedererkennen.
Er war mein halbes Leben lang einer der wichtigsten Menschen für mich gewesen. Mein bester Freund, mein Beschützer und gleichzeitig auch die Person, die mich am meisten nerven konnte.
Wir hatten oft stundenlang nebeneinander gemalt – im Garten oder auf dem Fußboden vor dem Kamin. Aus der Küche war dann der Duft von frisch gebackenen Keksen hereingeströmt, die Mum jedes Wochenende auf unsere Quengelei hin gebacken hatte. Wir hatten uns um die letzten Krümel gestritten und uns gegenseitig durchs Haus gejagt, bis Dad uns zurechtgewiesen hatte und wir den letzten Keks schließlich doch geteilt hatten.
Als ich nach meiner zweiten Schulwoche in Tränen aufgelöst nach Hause gekommen war und ankündigte, keinen weiteren Tag in meiner Klasse verbringen zu wollen, war es Jasper gewesen, der mir erklärt hatte, dass es nicht darauf ankam, was andere über mich sagten.
»Du allein bestimmst, wer du bist und wer du sein möchtest«, hatte er mit weiser Stimme verkündet, obwohl er nur sechs Jahre älter war als ich.
Am nächsten Tag hatte er mich persönlich bis in meine Klasse begleitet und jedem meiner Mitschülerinnen und Mitschüler einen strengen Blick zugeworfen. Von da an war ich nicht länger das kleine ruhige Mädchen gewesen, das kaum sprach und die Seiten in den Schulheften lieber mit Zeichnungen vollkritzelte, sondern das Mädchen mit dem coolen großen Bruder.
Aus heutiger Sicht war mein damaliges Leben perfekt gewesen. Bis ich mit zehn Jahren gezwungen gewesen war, London gegen ein Dorf mit sandsteinfarbenen Häusern und grünen Wiesen einzutauschen. Ich hatte es gehasst und mich wie der einsamste Mensch der Welt gefühlt.
Das Schlimme war, dass das sogar stimmte. Abgesehen von Tante Rose hatte ich niemanden mehr. Das Feuer, das unser Haus eines nachts niedergebrannt hatte, hatte mir alles genommen. Meine gesamte Familie, meine Träume und meinen Glauben an Gerechtigkeit auf der Welt. Und seitdem suchten mich immer wieder düstere Albträume heim.
Meine Tränen vermischten sich mit dem Regen, der ohne Unterlass auf London niederprasselte. Dunkle Wolken und ein Nebelschleier verschluckten die Spitzen der Hochhäuser auf der anderen Flussseite als eine Stimme mich aus meinen Gedanken riss. »Ist alles in Ordnung bei dir?«
Wie aus dem Nichts stand ein junger Mann neben mir und hielt schützend einen Regenschirm über meinen Kopf. Ein Dreitagebart betonte sein spitz zulaufendes Kinn und brachte seine dunklen, freundlich aussehenden Augen zur Geltung. Er konnte nur ein paar Jahre älter sein als ich.
Wo kommt der denn auf einmal her?
Stumm schaute ich zu ihm auf, brachte jedoch keinen Ton heraus.
»Kann ich dir irgendwie helfen? Du bist ja pitschnass. Ich kann ein Taxi rufen oder jemandem Bescheid geben, dass du hier bist«, schob er hinterher, als ich nicht antwortete.
Seinem Akzent nach zu urteilen, war er Amerikaner. Komisch, dass ich in so einer Situation noch auf Kleinigkeiten achten konnte.
»Nein, nicht nötig.« Ich schüttelte den Kopf und blickte wieder nach unten.
Auf Konversation hatte ich im Moment überhaupt keine Lust.
So einfach ließ sich der Typ allerdings nicht abwimmeln. Wahrscheinlich hatte er ein ausgeprägtes Helfersyndrom. »Bist du sicher? Dann nimm wenigstens meinen Regenschirm. Ich wohne ganz in der Nähe und schaffe das letzte Stück auch so.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte er mir den Schirm in die Hand und ich ergab mich meinem Schicksal.
»Danke, aber das ist wirklich nicht nötig. Ich komme gut allein zurecht«, erwiderte ich und spürte schon beim Reden, wie meine Zähne vor Kälte aufeinanderschlugen.
Was ich wohl für einen Anblick bot?
Ich beschloss, das Angebot anzunehmen und betrachtete den jungen Mann jetzt genauer. Er sah ziemlich gut aus, hatte etwas längere dunkelbraune Haare und war elegant gekleidet. Aber auch vor ihm machte der Regen keinen Halt. Seitdem er mir den Schirm überlassen hatte, klebten ihm seine Haarsträhnen nass an den Wangen. Bei ihm sah es allerdings so aus, als wäre er direkt einem Werbespot entsprungen.
»Du kannst mir ein anderes Mal danken«, versicherte er mir und wandte sich zum Gehen.
»Warte mal!«, rief ich überrumpelt. »Wie soll ich dir den Schirm denn zurückgeben?«
Er drehte sich wieder um und winkte ab. »Mach dir darüber mal keine Gedanken. Schau lieber, dass du nach Hause kommst. Du holst dir noch den Tod.«
Damit verschwand er so schnell, wie er gekommen war, und ließ mich verdattert auf der Bank zurück.
Der Regen ergoss sich weiter auf die Straßen, doch die Begegnung hatte mir eine Ablenkung verschafft.
Ich sah einem Schiff nach, das langsam unter der Waterloo Bridge hindurchfuhr.
Nachdem ich einige Minuten vor mich hingestarrt hatte, machte ich mich auf den Weg zurück zum Museum.
Es war schon dunkel draußen, als ich mit einer heißen Tasse Tee und eingepackt in meinen flauschigen Bademantel vor dem Laptop saß und weiter zu verstehen versuchte, was passiert war.
Mein Kurs hatte den Rundgang längst beendet, als ich zurück in die National Gallery gekommen war. Auf meinem Handy hatte ich zahlreiche verpasste Anrufe von Francesca vorgefunden. Ich würde ihr einiges erklären müssen. Obwohl ich das Gemälde zu gern erneut angesehen hätte, verschob ich das Vorhaben auf den nächsten Tag.
Dafür suchte ich jetzt im Internet nach dem Kunstwerk und fand das, was ich tief in mir eigentlich schon erwartet hatte. Dort, wo ich Jasper im Bild entdeckt hatte, erstreckte sich auf den Fotos im Netz nichts als Landschaft. Ich hatte mich da in etwas reingesteigert.
»Mika, bist du da?« Ein Klopfen an meiner Tür riss mich aus meinen Gedanken.
»Komm rein«, rief ich und schob den Laptop zur Seite.
Francesca war nicht zu Hause gewesen, sodass wir bisher noch nicht hatten reden können.
»Ist alles in Ordnung? Ich habe mir echt Sorgen gemacht, als du Hals über Kopf aus dem Raum gestürmt bist«, sprudelte es aus ihr hervor, als sie sich zu mir aufs Bett fallen ließ.
»Ach, es war nichts weiter«, sagte ich mit einem Schulterzucken und klappte den Computer zu. »Etwas hat mich an früher erinnert und ich brauchte einen Moment für mich. Ich hoffe, niemand hat etwas bemerkt.«
Das war untertrieben. Ich hatte richtig Angst, schon am ersten Tag als totaler Freak dazustehen.
Francesca musterte mich prüfend und ich spürte, dass ihr eine Frage auf der Zunge lag. Bisher hatte sie keine Ahnung, was mit meiner Familie passiert war, und wenn es nach mir ging, konnte das erst mal so bleiben. Die Menschen behandelten mich anders, sobald sie wussten, was in jener Nacht geschehen war. Francesca besaß allerdings die Höflichkeit, nicht nachzubohren, was ich ihr hoch anrechnete.
»Mach dir mal keine Sorgen«, beruhigte sie mich. »Alle hingen so an den Lippen von Professor Williams, dass niemandem etwas aufgefallen ist.« Sie grinste. »Aber du hast die feierliche Schlüsselübergabe verpasst.«
Erschrocken blickte ich sie an. Davon hatte uns vorher niemand etwas gesagt.
»Jetzt mach nicht so ein Gesicht.« Sie stupste mich an und zog dann einen schwarzen Transponder hervor, den sie vor meinen Augen auf uns ab baumeln ließ. »Ich habe deinen Schlüssel mitgebracht. Damit haben wir Tag und Nacht Zugang zum Gebäude der Uni. So können wir unseren Gruppenarbeitsraum und das Archiv auch am Wochenende benutzen. Die werden uns wohl keine Freizeit gönnen.« Francesca seufzte theatralisch und ließ den Schlüssel dann in meinen Schoß fallen.
»Falls du über irgendwas reden willst, dann bin ich für dich da. Sag einfach Bescheid, in Ordnung?«, fügte sie hinzu.
Ich nickte und wechselte schnell das Thema. »Weißt du eigentlich, was dieses Bild an der Wand soll?«
Wir schauten beide zu dem kleinen Gemälde, das über meinem Schreibtisch hing. Mein Vormieter musste es zurückgelassen haben. Es zeigte einen schmalen Raum, in dem zwei Mädchen auf dem Boden saßen und an einem Kleid nähten. Sie konnten nicht älter als acht sein und trugen beide lange fließende Nachthemden. Im Hintergrund standen zwei winzige Betten und ein Schrank, der das Zimmer fast zur Hälfte einnahm. Eine rothaarige Katze verschwand, einem Wollknäuel nachjagend, darunter.
»Das hängt hier schon eine ganze Weile. Dein Vormieter hatte einen seltsamen Geschmack«, stellte Francesca stirnrunzelnd fest. »Du solltest es abnehmen und wir suchen am Wochenende zusammen ein neues.«
»Bin dabei. Mein Zimmer braucht wirklich noch ein Update«, bestätigte ich mit einem Schmunzeln und zog die Beine zu mir heran.
Mein Blick wanderte über die Möbel im Raum, die ich komplett von meinem Vormieter übernommen hatte. Ich war zufrieden mit der Einrichtung und hatte mich schon am ersten Abend heimisch gefühlt. Ein Metallbett vorm Fenster, ein breiter Holzschreibtisch daneben, der einen schönen Kontrast zu den Backsteinwänden der Wohnung bildete, und ein alter Kleiderschrank neben der Tür gegenüber waren von nun an mein neues Zuhause.
Unsere WG lag in einem Hinterhofgebäude in Peckham, im Süden Londons. Die Gegend entwickelte sich gerade immer mehr zum Hotspot für Künstler und junge Leute. Außerdem war der Weg zur Uni kurz und ich befand mich in direkter Umgebung zu einigen hippen Galerien und Ateliers. Francesca konnte mir hier sicherlich einiges zeigen.
»Wo warst du vorhin eigentlich noch?«, bohrte ich nach, weil ich das verräterische Glitzern in ihren Augen bemerkt hatte.
»Ach … ich hatte eine Verabredung.« Sie grinste und versuchte, ihre Lockenpracht mit einem Haargummi zu bändigen.
»Mit wem?«, hakte ich nach. »Ich will alle Details wissen!«
Begeistert rieb ich die Hände aneinander. Klatsch und Tratsch war jetzt genau die Art von Ablenkung, die ich brauchte.
Francesca verdrehte die Augen, sprach jedoch mit verschwörerischer Stimme weiter. »Ich habe letzte Woche jemanden kennengelernt. Sarah arbeitet in einer Bar die Straße runter. Ihre Ausstrahlung hat mich sofort in den Bann gezogen und seitdem muss ich ständig an sie denken.«
Jetzt hatte sie meine komplette Aufmerksamkeit. »Ist es was Ernstes?«
Francesca zuckte mit den Schultern. »Mal schauen, aber wir sind echt auf einer Wellenlänge«, flötete sie mit einem Strahlen im Gesicht.
Ich musste lachen. »Das freut mich so für dich. Dann hoffe ich, sie bald mal kennenzulernen.« Ich angelte mir meine Teetasse vom Schreibtisch und nahm einen kleinen Schluck.
»Erst einmal abwarten. Ich will nichts überstürzen.«
»Wie du meinst.« Ich warf Francesca einen Teil meiner Decke zu, damit sie es ebenfalls gemütlich hatte.
»Nun zu dir. Gibt es da gerade jemanden?«, wollte sie wissen, nachdem sie sich eingekuschelt hatte.
Ich schüttelte den Kopf und rutschte etwas tiefer in mein Kissen. »Im Moment nicht. Kurz bevor ich hergekommen bin, habe ich mich von meinem Freund getrennt. Ich wollte einfach einen kompletten Neuanfang.«
Francesca nickte. »Falls du trotzdem etwas Ablenkung brauchst, habe ich da vielleicht was für dich. In der National Gallery suchen sie eine Aushilfe fürs Café. Du wolltest doch einen Job im Museum.« Sie grinste und ich bewarf sie mit einem Kissen.
»Sehr witzig«, murrte ich. Ein Job im Museumscafé war sicherlich nicht das, was ich mir unter Arbeiten in einem Museum vorgestellt hatte. Das wusste Francesca genau.
»Einen Cappuccino und ein Wasser, bitte!«, rief mir ein älterer Mann in gebrochenem Englisch von der anderen Seite des Tresens zu.
Ich nahm eine Tasse aus dem Regal und machte mich daran, die Milch aufzuschäumen. Der kritische Blick meines Chefs Robert, der ständig auf mir ruhte, bohrte sich dabei auch dieses Mal wieder in meine Seite.
Die letzten Tage waren wie im Flug vergangen und ließen mich meine Sorgen um Jasper und das Gemälde vergessen. Die Uni forderte einiges von uns und der Campus des Golding College war so riesig, dass ich mich weiterhin verlief. Die grünen Rasenflächen des Geländes standen im starken Kontrast zu den braunen Backsteinhäusern, an denen sich Efeu- und andere Grünpflanzen emporrankten. Manchmal fühlte ich mich wie in einer Universitätsbroschüre und konnte immer noch nicht ganz glauben, dass das jetzt mein neues Leben war.
Einen Tag nach dem Vorfall in der National Gallery war ich erneut in die zweite Etage des Museums gegangen und hatte mir das ›Familienbild in einer Landschaft‹ angesehen. Doch am linken unteren Bildrand war niemand zu entdecken gewesen. Ich hatte mir das Ganze tatsächlich nur eingebildet.
Etwas Gutes hatte mein erneuter Besuch allerdings gehabt. Ich beschloss spontan, auf den Schock einen Latte Macchiato im Museums Café zu trinken. Beim Durchqueren des Raums hatte ich den Aushang am Tresen hängen sehen.
›Dringend Aushilfe gesucht‹ war in fetten Lettern auf ein Papier gedruckt gewesen – genau wie Francesca es mir erzählt hatte.
Anfangs hatte ich über ihren Vorschlag gelacht. Zwischen den grauen Sofas und lachsfarbenen Stühlen stehend, hatte sich alles jedoch richtig angefühlt. Noch am selben Abend hatte ich meine Bewerbung abgeschickt und wenige Tage später die Zusage erhalten.
Alles geschah aus einem bestimmten Grund – davon war ich überzeugt. Das Schicksal hielt mitunter seltsame Wege für uns bereit. Und nie konnte man sicher wissen, ob es gerade Freund oder Feind war.
Wie so oft in den letzten Tagen, hatte ich heute die Spätschicht zugeteilt bekommen und eine halbe Stunde trennte mich noch vom Feierabend.
Ich verzierte den Cappuccino mit einem Kakaopulver-Herz und reichte ihn über den Tresen. »Bitte sehr. Lassen Sie es sich schmecken!«
Der Mann warf mir ein freundliches Lächeln zu und setzte sich an einen der runden Tische.
Das Museums Café war ein besonderer Ort, aber auch eine Welt für sich. Hier waren die unterschiedlichsten Personen anzutreffen: Schulklassen, Familien und die typischen Touristengruppen, die am wenigsten ein Problem damit hatten, die überteuerten Preise für den Kaffee zu zahlen.
»Kannst du schon einmal nach hinten gehen und aufräumen? Ich fange mit der Abrechnung an«, wies mich Robert an.
Ich sammelte die Utensilien in der Küche zusammen, das bereits abgewaschene Geschirr stellte ich in die Regale. Dann brachte ich die Gläser für den nächsten Tag zum Tresen und den Müll nach draußen.
Ein lauter Knall ließ mich zusammenzucken. Erschrocken fiel mir fast ein Teller aus der Hand, den ich soeben aus der Spülmaschine geholt hatte.
Was war das denn?
Das Museum hatte bereits seit zwanzig Minuten geschlossen, aber Café und Restaurant blieben abends noch ein paar Stunden länger geöffnet. Die Durchgangstür war im Normalfall verriegelt, sodass sich keine ungebetenen Gäste zur National Gallery Zutritt verschaffen konnten. Es klang allerdings so, als wäre das Geräusch von dort gekommen.
Vorsichtig spähte ich durch die runde Luke der Küchentür ins Café. Robert saß am Tresen über die Belege gebeugt und schien nichts bemerkt zu haben.
Leise ging ich zur Verbindungstür und stellte fest, dass sie lediglich einen Türknauf hatte. Man brauchte einen Schlüssel, um sie zu öffnen.
Sollte ich Robert Bescheid geben? Allerdings reagierte er ziemlich ungehalten, wenn man ihn bei der Arbeit störte, und ich wollte ihn nicht beunruhigen.
Also ging ich zurück in die Küche und fischte den Schlüssel aus dem Versteck für alle Fälle, wie es Robert genannt hatte. Zwar sollten wir das nur im äußersten Notfall tun, aber meiner Meinung nach war das einer.
Mein Chef saß weiterhin am Tresen, als ich den Schlüssel vorsichtig ins Schloss steckte und die Tür öffnete.
Der Gang des Museums lag dunkel vor mir und ich schaltete die Taschenlampe meines Handys an, als ich eintrat.
Niemand war zu sehen.
Nach der ersten Ecke schwor ich mir umzukehren, als die Tür hinter mir mit einem leisen ›Klick‹ ins Schloss fiel. Ich fuhr herum, erkannte meinen Fehler jedoch eine Sekunde zu spät.
Der Schlüssel steckte auf der anderen Seite der Tür. Ich hatte ihn nicht mitgenommen und war nun eingesperrt, bis Robert mein Fehlen bemerken und eins und eins zusammenzählen würde.
Das Ganze war eine klare Katastrophe, denn ich hatte keine Ahnung, ob er mir diesen Regelverstoß verzeihen würde. Dabei hatte ich mich gerade erst an den Job gewöhnt.
»Verdammter Mist«, murmelte ich und ließ mich resigniert auf den Boden sinken.
Da hörte ich Schritte, die ganz aus der Nähe kamen.
Schnell löschte ich die Taschenlampe meines Handys und sprang wieder auf. Ein heller Lichtstrahl drang aus dem Gang.
Ich war nicht allein.
Vorsichtig schlich ich näher und spähte um die Ecke. Ein Mann hockte mit dem Rücken zu mir auf dem Boden und beugte sich über einen breiten Gegenstand, der wie ein Koffer aussah.
Nachdem ich den ersten Schreck überwunden hatte, beschloss ich, den Rückzug anzutreten, bis er sich ruckartig zu mir umdrehte.
Der Schrei blieb mir im Hals stecken, als ich erkannte, wen ich da vor mir hatte.
»Du schon wieder.« Er grinste mich an und ein Ausdruck von Erleichterung flackerte über sein Gesicht. Seine Haare sahen genauso zerzaust aus, wie an dem Tag, als er mich an der Themse angesprochen hatte.
»Verfolgst du mich etwa?«, gab ich irritiert zurück, während es in meinem Kopf noch immer ratterte. »Was machst du überhaupt hier? Das Museum ist geschlossen. Ich muss das melden und den Sicherheitsdienst rufen.« Demonstrativ stemmte ich die Hände in die Hüften. Anstatt mich abzuwenden und Robert zu informieren, blieb ich allerdings, wo ich war.
Meine Gedanken rasten, gleichzeitig war ich neugierig, was der Fremde hier tat. In Wahrheit hatte ich außerdem keinen Plan, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Das musste er aber nicht wissen.
»Ich habe hier ein paar Dinge zu erledigen.« Er deutete auf die seltsam ausgebeulte Tasche, die neben ihm stand. »Das mit dem Sicherheitsdienst kannst du dir sparen. Robert weiß Bescheid. Wir wollen ihn doch nicht unnötig alarmieren, nicht wahr?«
»Robert weiß, dass du hier bist?«, hakte ich misstrauisch nach.
»Was denkst du denn, wie ich reingekommen bin? Bestimmt nicht durch die Vordertür.« Sein rechter Mundwinkel zuckte, als würde er sich köstlich über die ganze Situation amüsieren.
»Was machst du mitten in Nacht in der National Gallery? Raubst du ein Gemälde?« Ich ließ nicht locker. Mein Blick fiel wieder auf seine Tasche, in der sich irgendetwas Schweres befinden musste. Der Unbekannte lachte nur leise. Ich biss mir auf die Unterlippe.
»Das, was ich tue, ist das genaue Gegenteil. Aber es übersteigt meine Möglichkeiten, dir hier und jetzt alles genau zu erklären. Eigentlich hättest du mich gar nicht sehen sollen. Der Deal mit Robert war, dass ich mich bedeckt halte und niemand etwas von meiner Anwesenheit erfährt.« Er kratzte sich am Kopf und schaute zerknirscht drein. »Das hat zugegebenermaßen nicht so gut geklappt. Würdest du mir einen Gefallen tun und ihm bitte nichts sagen? Wenn er erfährt, dass mich jemand gesehen hat, war ich heute zum letzten Mal in der National Gallery. Allerdings hängt sehr viel von diesem Job ab.«
Er schaute mich durchdringend an, doch so leicht ließ ich mich nicht abwiegeln. Immerhin kannte ich ihn nicht. Warum sollte ich ihm und seiner Version der Geschichte trauen? »Woher weiß ich, dass du die Wahrheit sagst?« Meine Stirn legte sich in Falten und ein winziger Schweißtropfen rann mir den Nacken hinunter.
Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Das kannst du nicht wissen. Allerdings habe ich dir bereits einmal geholfen. Ist es nicht fair, das Gleiche auch für mich zu tun? Damit wären wir quitt und den Regenschirm darfst du als Wiedergutmachung behalten.«
Er erinnerte sich also.
Seine Dreistigkeit machte mich langsam wütend. Auf der anderen Seite hatte er recht. Er hatte mir den Regenschirm überlassen, als ich völlig durchnässt auf der Bank an der Themse gesessen hatte. Und nun stand er erneut vor mir. Genauso gut aussehend wie an dem Nachmittag damals.
Mit seinem schwarzen Mantel und einem dunklen Rollkragenpullover war er wieder äußerst elegant gekleidet und machte keinesfalls den Eindruck eines Diebes. Auch dieses Mal umgab ihn eine geheimnisvolle Aura.
Ich konnte ihn einfach nicht einschätzen.
Anscheinend wirkte ich noch nicht überzeugt genug, denn er änderte seine Taktik. Er schloss die Tasche und kam auf mich zu. Dabei fixierte er mich mit seinem bohrenden Blick und ich musste meine ganze Konzentration aufwenden, um ihm standzuhalten. Fast nahm ich das spitz zulaufende Kinn, die buschigen Augenbrauen und den leichten Dreitagebart, der sich um seine Lippen abzeichnete, gar nicht wahr. Das, was meine Aufmerksamkeit fesselte, waren seine Augen. Braun und so durchdringend, dass ich schließlich doch wegsehen musste. Aber ich würde trotzdem nicht klein beigeben.
»Hör zu. Falls du möchtest, erkläre ich dir alles«, begann er und blieb nur ein paar Zentimeter vor mir stehen. »Allerdings ist das hier weder der richtige Ort noch der richtige Moment dafür. Wenn du morgen Zeit hast, treffen wir uns und ich werde all deine Fragen beantworten. Deal?« Er schob sich eine seiner Haarsträhnen hinter die Ohren, die ihm immer wieder ins Gesicht fielen, und hielt mir seine rechte Hand hin.
Ich dachte einen Moment nach. Das Angebot erschien auf den ersten Blick fair, bot mir selbst aber keinerlei Sicherheiten. Ich wusste nicht, ob er am nächsten Tag wirklich erscheinen würde oder man dann schon landesweit nach ihm fahndete, weil er die National Gallery ausgeraubt oder, schlimmer noch, irgendwo eine Bombe versteckt hatte.
Mein Herz schlug schneller, denn der Gedanke kam mir erst jetzt. Könnte er ein Terrorist sein?
Sei nicht albern, wies ich mich innerlich zurecht. Ich schaute zu viele schlechte Filme.
Auf der anderen Seite wirkte diese Szene selbst wie aus einem Drehbuch. Viel zu merkwürdig, um wahr zu sein.
»Ich könnte meinen Job verlieren, wenn du mich anlügst.« Die Hand, die er mir hinhielt, ignorierte ich. »Robert von unserem Aufeinandertreffen zu erzählen, erscheint mir da wie das kleinere Übel«, fügte ich hinzu.
Sein Blick flackerte kurz, dann ließ er den Arm sinken und lehnte sich lässig an die Wand neben mir.
»Robert und ich haben ein etwas …«, er machte eine Pause, in der er nach den richtigen Worten zu suchen schien, »schwieriges Verhältnis. Es ist nicht leicht, mit ihm warm zu werden.«
Ich stieß ein Schnauben aus. »Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts.«
Der junge Mann nickte wissend. »Wenn du mich nicht anschwärzt, dann verrate ich dir das ein oder andere Geheimnis über Robert, das dich im Nu zur Mitarbeiterin des Monats macht. Wie klingt das?«
Ich wusste genau, dass er mich mit allen Mittel auf seine Seite ziehen wollte. Doch irgendwas in mir schenkte ihm Vertrauen, weil er in einem schwachen Moment für mich da gewesen war. Und wenn ich dadurch meinen Stand bei Robert aufbessern konnte, war das ein schöner Bonus.
»In Ordnung«, lenkte ich schließlich ein, nachdem wir uns eine Weile gegenseitig angestarrt hatten.
Ich war neugierig, was mir der Typ für eine Geschichte auftischen würde und gefährlich sah er nun wirklich nicht aus. Dennoch hoffte ich, dass ich nicht die falsche Entscheidung getroffen hatte.
Die Erleichterung stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er meine Hand schüttelte. Der Schein seiner Taschenlampe tauchte dabei die Hälfte seines Gesichts in Schatten.
Ob mein Herz mir deshalb bis zum Hals schlug? Angst verspürte ich jedenfalls nicht. Ganz im Gegenteil. Ein leichtes Prickeln durchlief meine Fingerspitzen, als seine Haut meine berührte.
»Wir treffen uns morgen Abend um sieben Uhr an der Borough Station. Ich werde pünktlich sein und dir alle Informationen geben, die du brauchst. Ich verspreche es hoch und heilig.« Zur Beteuerung hielt er seine Hände ihn die Höhe.
Ich willigte ein und sah zu, wie er sich von mir abwandte und seine Tasche über die Schulter warf. Als er nichts mehr hinzufügte, machte ich mich auf den Weg zur Tür, noch immer überrumpelt von der Situation.
Hatte ich ihn wirklich laufen lassen? Ich musste verrückt sein, das nicht zu melden! Das konnte mich mehr als nur meinen Job kosten.
»Ach, Mika?« Seine Stimme schnitt scharf durch die Stille des Museums und ich zuckte leicht zusammen, als sie mich aus meinen Gedanken riss, in die ich so schnell wieder verfallen war.
Ich wandte mich um.
»Ich bin übrigens Nicolas, aber meine Freunde nennen mich Nic. Für den Fall, dass du dich das gefragt hast.« Im Schein des Lichtkegels verzog er seine vollen Lippen zu einem Grinsen.
Kopfschüttelnd ging ich zurück und beschloss, Robert durch Klopfen auf mich aufmerksam zu machen.
Was hatte ich auch für eine Wahl?
Zwei Minuten später wurde die Tür geöffnet und ich mit grimmiger Miene empfangen.
»Ich hoffe, du hast dafür eine gute Erklärung parat. Denn wenn nicht, haben wir ein Problem«, murrte er, während ich ihm zurück ins Café folgte.
Er ließ sich auf den Stuhl fallen, auf dem er bis eben noch gesessen hatte und trommelte mit den Fingern auf den Tresen. Mit der anderen Hand spielte er an seiner goldenen Brille herum, die durch unsere schlichte schwarze Arbeitskleidung besonders gut zur Geltung kam.
»Ich höre.« Robert musterte mich und auf seiner Stirn bildeten sich tiefe Furchen.
Bisher hatte ich kein Wort gesagt, dafür die kurze Zeit genutzt, um mir eine Erklärung zurechtzulegen.
Jetzt fasste ich ihm die Geschichte zusammen und blieb dabei so nah an der Wahrheit wie möglich. Nur die Begegnung mit Nicolas ließ ich wie vereinbart weg.
Trotzdem schien Robert nicht erfreut. Es kostete mich noch einiges an Mühe und Beteuerungen, ihm zu versichern, dass so etwas nie wieder vorkommen würde. Irgendwann schien er zu merken, dass ich mir meine missliche Lage nicht ausgesucht hatte.
Mit einem »Von nun an werde ich ein Auge auf dich haben« entließ er mich in den Feierabend.
Ich bedankte mich und schnappte mir meine Sachen. Immerhin durfte ich den Job erst einmal behalten.
Vorerst.
Hoffentlich würde er es sich nicht anders überlegen. Einen weiteren Fehler konnte ich mir jedenfalls nicht erlauben.
Als ich das Café verließ und den Weg in Richtung U-Bahn einschlug, wanderten meine Gedanken zurück zu der Begegnung mit Nicolas. Irgendetwas daran erschien mir komisch, doch ich konnte nicht sagen, was es war. Der Gedanke war wie ein Luftballon, der immer höher in den Himmel stieg und den ich vergeblich zu fassen versuchte.
Ich ging unser Gespräch nochmals Wort für Wort durch und auf einmal machte es klick. Die Erkenntnis verursachte mir eine Gänsehaut auf dem ganzen Körper.
Ich hatte Nicolas bei keinem unserer beiden Treffen meinen Namen verraten. Trotzdem hatte er ihn gewusst, als er auf dem Gang nach mir gerufen hatte.
Wie war das möglich?
Wer war er und was wollte er von mir? War unsere Begegnung Zufall oder hatte er es darauf angelegt? Schlimmer noch, war er vielleicht ein verrückter Stalker?
Die Gedanken fuhren in meinem Kopf Achterbahn und mittlerweile bereute ich es immer mehr, auf den Deal eingegangen zu sein.
Ich schüttelte den Kopf. Sicherlich gab es eine einfache Erklärung dafür. Vielleicht hatte er ihn im Café aufgeschnappt. Oder Robert hatte mit ihm über mich gesprochen.
Doch ein saurer Nachgeschmack blieb zurück und die Bedenken hafteten sich wie Fruchtfliegen auf einem Stück Apfel in meinen Gedanken fest.
Die U-Bahn öffnete ihre Türen an der Borough Station und zusammen mit den anderen Menschen schob ich mich die Treppen zum Ausgang nach oben. Die kühle Septemberluft umfing mich, als ich auf die Straße trat und ließ mich sogleich frösteln. Ich zog den Kragen meines Mantels etwas enger und schaute mich um.
Keine Spur von Nicolas.
Es war fast dunkel und die Straßen leerten sich allmählich.
Der Tag hatte sich wie Kaugummi in die Länge gezogen. Nur mit Mühe und Not hatte ich in der Uni den Ausführungen von Professor Williams und seinen Kollegen folgen können, denn meine Gedanken waren immer wieder zurück zum gestrigen Abend geschweift. Was im Museum passiert war, ließ mir einfach keine Ruhe. Mehrmals war ich die Situation im Kopf durchgegangen und hatte mich gefragt, ob ich etwas übersehen hatte.