Die gläserne Ewigkeit - Kate D. Evans - E-Book

Die gläserne Ewigkeit E-Book

Kate D. Evans

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Beschreibung

In einer verhängnisvollen Dezembernacht des Jahres 1626 ändert sich Vincent Bates Leben für immer. Um das Leben seiner Schwester zu retten, wendet er sich an den geheimnisvollen Jaronas Asbury – nicht ahnend, dass ihn der Fluch dieses Paktes für Jahrhunderte verfolgen wird. Das größte Geheimnis jedoch liegt in seinem Blut selbst.

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Kate D. Evans

Die gläserne Ewigkeit

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Prolog

London, Gegenwart

 

»Und es ist nichts davon gelogen?«

 

»Kein einziges Wort«, sie musterte den jungen Mann im dämmrigen Licht eingehend.

 

Er musste ungefähr Anfang zwanzig sein - doch seine eisigen, blaugrauen Augen machten das Schätzen schwer. Seine schmalen Lippen waren leicht geöffnet. Es schien, als würde er nur darauf warten, endlich anfangen zu können.

 

Der junge Mann wandte sich zum Fenster um. Regungslos stand er am offenen Fenster und sah auf das Treiben des Trafalgar Squares hinunter. Die Sommernacht war sternenklar und ein angenehmer Windhauch trieb das Gelächter und die Stimmen zu ihnen hinauf.

 

»Es geschah 1626 hier in London«, begann er schließlich »Ich kann mich noch genau an diesen Tag erinnern. Es war einer der kältesten Dezembertage, die ich je erlebt habe«.

Kapitel 1

 England im Jahre 1626.

 

Ich trat durch die Tür in die beißende Kälte hinaus. Meine Wangen färbten sich schlagartig rot. Mit zitternden Fingern wickelte ich meinen Schal fester um den Hals und zog meine Mütze tiefer ins Gesicht. Es würde ein rauer und langer Winter werden. Eine leere Pferdekarre preschte an mir vorbei, sodass ich erschrocken zurückwich und dabei fast den Halt verlor. Verärgert über die Unachtsamkeit des Kutschers vergrub ich meine Hände in den Hosentaschen. Trotzdem spürte ich die Kälte am ganzen Körper wie winzige Nadelstiche. Mein Atem hinterließ eine weiße Wolke, die kurzzeitig in der Luft hing. Um mich warmzuhalten, stapfte ich ein paar Mal kräftig mit den Füßen auf den Boden. Genervt wandte ich mich um.

 

»Eleonora, komm endlich!« Meine Schwester, ein brünettes siebenjähriges Mädchen, erschien im Türrahmen.

 

Ungeschickt warf sie sich ein wärmendes wollenes Tuch über. »Ich bin ja schon fertig«, murrte sie nicht besonders begeistert darüber bei dieser Kälte hinauszugehen. Eleonoras Blick schweifte von dem mit einem Tuch abgedeckten löchrigen Korb in ihren Händen zu mir hinauf. »Vincent, du weißt doch ganz genau, dass ich es hasse, wenn du mich so nennst!«

 

»Du hast aber nur diesen einen Namen. Wie soll ich dich den sonst nennen? Etwa Schwesterherz?« Ich grinste schief hinter dem Schal hervor. Meine Schwester jedoch fand es gar nicht lustig und stieß mich leicht mit dem Ellbogen in die Seite.

 

»Das ist nicht witzig. Wie wäre es mit ...« Sie tippte mit ihrem rechten Zeigefinger auf ihre Lippen. Ein Zeichen das sie angestrengt nachdachte. Nach kurzer Zeit zauberte sich ein warmes Lächeln auf ihre Lippen. Ihre Augen funkelten vor Begeisterung.

 

»Elly«, hauchte sie den Namen samt einer kleinen Wolke aus. Ich nickte zustimmend.

 

»Na gut, dann heißt du ab jetzt eben Elly Bates. Oder gefällt dir dein Nachname auch nicht mehr?« Darauf gab Elly nichts zurück. »Na komm!« forderte ich sie freundlich auf und so verschwanden wir in den Schatten einer dunklen Gasse.

 

Der Geruch war unerträglich und das Quieken der Ratten tat in den Ohren weh. Elly klammerte sich zitternd an mich.

 

»Hast du immer noch Angst vor den Ratten?«, feixte ich und kickte eine nach vorne. Mit angehaltenem Atem sah Elly, wie die Ratte im hohen Bogen durch die Luft segelte und schließlich mitten in einer halbvereisten Pfütze landete. Angewidert rümpfte sie die Nase.

 

»Ich habe keine Angst vor ihnen«, verteidigte sie sich tapfer. »Ich kann sie nur nicht leiden, weil sie so ekelhaft sind.«

 

Ich zog meine Hand hervor. »Was machst du da?«, fragte mich Elly mit einem zittrigen Unterton in der Stimme. Mit den Fingerspitzen hob ich eine am Schwanz hoch und ließ es direkt vor Ellys Gesicht hin- und herbaumeln.

 

Das graue Vieh quiekte laut und versuchte mir in den Finger zu beißen.

 

»Vincent! Lass das!«, kreischte Elly hysterisch und wich instinktiv einen Schritt zurück. Dabei stieg sie auf eine andere Ratte, die laute quiekte und dann vor Schreck unter einem Berg aus Abfall floh. Doch bevor sie die Flucht ergriff, biss sie meiner Schwester in den rechten Knöchel. Elly schrie schrill auf.

 

»Dieses Ding hat mich gebissen!«, fauchte sie. Doch ihr wutverzerrtes Gesicht verwandelte sich schnell in ein tränenüberströmtes. Leiser als zuvor wiederholte sie es. »Sie hat mich gebissen.«

 

Ich hatte die Ratte inzwischen fallengelassen und klopfte ihr tröstend mit der rechten Hand auf ihre Schulter. »Ist doch nicht so schlimm«, beschwichtigte ich sie. »Du wirst schon nicht zu so einem Ungeziefer mutieren nur, weil sie dich gebissen hat.« Ich nahm ihr den Korb ab.

 

»Oder glaubst du auch an die albernen Legenden aus dem Südosten Europas?«

 

Elly sah mit glasigen Augen zu mir hoch. Wie es eine kleine Schwester eben bei ihrem Bruder tat. »Was für Legenden?«, fragte sie mit weinerlicher Stimme.

 

Ich wusste, dass wenn ich ihr ein paar davon erzählte, würde sie die Angst vor den Ratten kurz vergessen. Und das war von großem Nutzen, da wir noch viele solcher Gassen durchqueren mussten. Hastig überprüfte ich noch den Sitz meines Messers, das ich zur Verteidigung griffbereit und versteckt am Gürtel trug. Man wusste nie, wen man in solchen Gegenden über den Weg lief.

 

»Ich erzähle sie dir während wir gehen.«

 

Elly wischte sich rasch die letzten Tränen mit dem Handrücken weg und ging neben mir her. Mit einer leisen grusligen Stimme begann ich. »Also, dort glauben sie, dass manche Menschen nach ihrem Tod zurückkommen.«

 

»Und was hat das jetzt mit dem Rattenbiss zu tun?«, unterbrach mich Elly ungeduldig.

 

»Dazu komm ich ja noch«, erklärte ich ihr. »Diese unsterblichen Wesen, haben verschiedenen Namen. Die Einheimischen nennen sie Wiedergänger oder Vampire.«

 

Die Angst, die sich in Ellys Augen widerspiegelte, war kaum zu übersehen. »Sie steigen bei Nacht aus ihren Gräbern und suchen nach einem Opfer. Und wenn sie eins gefunden haben, beißen sie ihnen in den Hals und saugen ihnen das Blut bis auf den letzten Tropfen aus.« Elly warf verunsichert einen flüchtigen Blick über die Schulter nach hinten. Anscheinend war sie von meiner Erzählung so gefesselt, dass sie anfing sich Sachen einzubilden. Als meine Schwester wieder nach vorne sah, erklärte sie »Aber die Ratte hat mich doch nur kurz gebissen und außerdem hat sie keinen einzigen Tropfen Blut von mir bekommen.«

 

Daraufhin gab ich flüsternd zurück »Aber es genügt auch nur ein ganz kurzer Biss um ...« Ich machte eine kunstvolle Pause, um Elly ein wenig auf die Folter zu spannen.

 

»Um was?«, quengelte sie ungeduldig. Ich blieb schlagartig stehen und beugte mich zu ihr hinunter.

»Um auch so eine Kreatur zu werden.«

 

Ellys Augen wurden so groß wie Murmeln. Allem Anschein nach spielte sie gerade so ein Szenario in ihren Gedanken durch und wollte es nicht wahrhaben, dass so etwas möglich war.

 

Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Sie glaubte wirklich daran.

 

»Das hast du dir doch sicher nur ausgedacht«, nuschelte sie gereizt als sie mein Lächeln sah. Sie ließ mich einfach stehen und setzt ihren Weg fort.

 

Ohne große Mühe holte ich sie nach ein paar Schritten ein und stellte mich ihr in den Weg. Feierlich legte ich meine rechte Hand auf meine Brust.

 

»Ich schwöre, dass ich mir das nicht ausgedacht habe.«

 

Elly sah mich ungläubig an. »Du weißt doch, dass ein Christ nicht schwören darf. Und erst recht nicht lügen«, erinnerte sie mich an die Worte unserer Mutter.

 

»Ich weiß«, gab ich ein wenig genervt über Elly von mir, da sie alles immer so ernst nahm, was unsere Mutter sagte. Wir setzten unseren Weg fort.

 

»Aber wie schaffe ich es denn sonst, dich zu überzeugen?« Mit verschränkten Armen lief sie neben mir her.

 

»Von wem hast du das überhaupt?«

 

»Ich habe vor wenigen Tagen ein Gespräch zwischen zwei reisenden Händlern belauscht. Einer von ihnen war in diesem Teil Europas.«

 

Elly nickte und schien nun nicht mehr so skeptisch über meine Erzählung. Schließlich gelangten wir zum beliebtes Versammlungsort in London zur damaligen Zeit: dem Hauptschiff der teilweise zerfallenen Saint Pauls Kathedrale.

 

»Hier muss er irgendwo sein«, überlegte ich halblaut und hielt Ausschau nach unserem Vater. In den Seitenschiffen gingen Händler ihren unterschiedlichsten Geschäften nach. Deren Käufer mussten am Taufstein der ehemaligen Kathedrale bezahlen.

 

An den Säulen trafen sich Anwälte mit ihren Klienten und Arbeitslose hielten Ausschau nach einer Beschäftigung. Darunter auch unser Vater. Elly hatte jedoch ein ganz anderes Ziel im Auge als diesen zu finden: den Kirchhof. Er war das Zentrum des Buchhandels in London. Elly war, obwohl sie wie viele nicht lesen konnte, begeistert von den unzähligen Büchern, die dort zum Verkauf angeboten wurden. Ich wäre auch lieber woanders hin. Aber woher sollte ich bitte das Geld dafür nehmen? Noch bevor meine neugierige Schwester sich auf den Weg machen konnte, hielt ich sie am Handgelenk zurück.

 

»Zuerst finden wir Vater, dann kannst du zu deinen Büchern.« Beleidigt befreite sie sich aus meinem Griff und hielt sich das schmerzende Handgelenk.

 

»Na gut«, murmelte sie kleinlaut und folgte mir ohne ein weiteres Wort zu sagen. So drängten wir uns durch die unzähligen Menschen. Plötzlich flüsterte Elly »Vincent« und deutete mit einer unauffälligen Bewegung mit dem Kopf rechts von sich. Mir wurde sofort heiß und kalt gleichzeitig. Um zu flüchten war es zu spät, sie hatte uns bereits gesehen und lächelte in meine Richtung.

 

Ein Mädchen mit hüftlangen rabenschwarzen Haaren, die sie seitlich offen trug, bahnte sich zielsicher einen Weg auf mich zu. Es war Grace Holmwood. Sie hatte schon lange ein Auge auf mich geworfen. Wir kannten uns erst seit Kurzem, aber sie war fest davon entschlossen ihre wahre große Liebe gefunden zu haben. Ihre dunkelbraunen Augen funkelten wie Diamanten als sich unsere Blicke trafen. Als sie mich erreichte, warf sie verführerisch ihre Haare nach hinten.

 

»Wie geht's dir Vincent? Wir haben uns seit ein paar Tagen nicht gesehen. Ich habe mir Sorgen gemacht.«

 

»Es geht mir gut, ich war nur damit beschäftigt meiner Mutter zu helfen«, antworte ich sichtlich unwohl.

 

»Das kann doch deine Schwester auch alleine machen, oder?.«

 

Für diese Bemerkung erntete sie von Elly einen Blick, der selbst mir Angst machte. Das selbstsichere Lächeln von Grace verschwand dennoch nicht von ihren Lippen. Unruhig sah ich mich um. Hoffentlich sah uns niemand, der uns kannte. Ich konnte mich nur allzu gut an die Unterhaltung zwischen ihrem Vater und mir zurückerinnern. Ich spürte immer noch die blauen Flecken am ganzen Körper. Denn Grace gehörte zu einer der angesehensten und wohlhabendsten Familien zur damaligen Zeit in London an. Ich selbst kam aus ärmlichen Verhältnissen.

 

Außerdem war sie, ohne es überhaupt zu wissen, bereits einem anderen Mann versprochen.

 

Elly schnitt hinter ihrem Rücken eine Grimasse mit Kussmund. Ich konnte Grace Art nicht leiden. Geschweige denn etwas für sie empfinden. Ich atmete ein paar tief durch.

 

»Grace«, stammelte ich um es ein für alle Mal klar zu stellen. Ihre Wangen wurden ein wenig rot. Und das war bestimmt nicht wegen der klirrenden Kälte. »Ich denke nicht das wir beide ...«

 

»Ist es wegen meinem Vater?«, unterbrach sie mich bestürzt.

 

Ihr Lächeln wich schlagartig aus ihren Gesichtszügen. Ich sah hinter mich, der Weg war frei. Ich öffnete den Mund um etwas wie »Wir passen einfach nicht zusammen« zu sagen, aber drang kein einziger Ton aus meiner Kehle. »Es tut mir leid« brachte ich noch halbwegs selbstsicher hervor, bevor ich mich einfach umdrehte und in der Menge verschwand.

 

Ich habe Grace danach nie wieder gesehen.

 

Ich erreichte den Rand des Platzes und lehnte mich erleichtert gegen eine Hauswand. Ich stellte den Korb ab, vergrub beide Hände in den Jackentaschen und hoffte, dass Grace nun endlich Ruhe geben würde. Es dauerte nicht lange, da kam meine Schwester mit einem schadenfrohen Lächeln angerannt. Ellys Zöpfchen flog durch die Luft als sie den letzten Meter auf mich zusprang.

 

Geschickt wich ich ihr aus und sie landete nur ein paar Millimeter vor der Hauswand auf den Füßen.

 

»Ich dachte du fängst mich«, schmollte sie beleidigt. Ich ließ meinen Blick über den Platz schweifen, Grace war mir nicht gefolgt.

 

»Ihr neues Parfum bringt mich noch um«, murrte ich und sog einmal tief die Luft ein.

 

»Ach was«, sagte Elly und stellte sich neben mich.

 

»Ich finde es riecht gut.« Während sie sprach, sah sie zu mir hoch und grinste. »Irgendwann will auch so eins haben.«

 

»Träum weiter, Elly«, ließ ich ihre Traumblase mit der spitzen Nadel der Realität platzen. »So etwas wirst du dir nie im Leben leisten können. Wenn du wirklich riechendes Wasser willst, dann geh zur Themse, dort gibt es genug von dem.« Angewidert rümpfte sie die Nase.

 

»Pfui Teufel«, fluchte sie. »Da kann ich mir ja genauso gut ...«, sie hielt abrupt inne, »Vincent, siehst du das auch?« Ich folgte ihrem Blick, konnte aber nichts Unauffälliges entdecken.

 

»Da ist nichts«

 

Schließlich deutete Elly auf eine nicht unweit von uns entfernte Gasse. Nur von unserem Standpunkt aus konnte man in ihr Inneres sehen. Die Abenddämmerung hatte bereits eingesetzt, sodass sich tiefe Schatten darin breit machten.

 

»Na da, der Mann und das Mädchen dort.« Ich hielt ihr eine Hand vor die Augen.

 

»Da darfst du nicht hinsehen, die die küssen sich doch nur.« Mit aller Kraft versuchte Elly meine Hand wegzuschlagen.

 

»Vincent lass das!«, quiekte sie und trat einen Schritt von mir weg. »Die küssen sich nicht. Der hat ihr gerade in den Hals gebissen.«

 

»Elly, lass den Quatsch. Es gibt keine Vampire, das sind doch nur alberne Legenden. Komm jetzt.« Stur verschränkte sie die Arme vor der Brust.

 

»Nein Vincent.« Ich las in ihrem Ausdruck, dass sie keinen Schritt vorwärts tun würde, ehe ich es ihr bewiesen hatte.

 

»Also gut, ich werde dort vorbeigehen.

 

Wenn du recht hast, bekommst du heute die Hälfte meines Essens, wenn nicht, dann bringst du Vater eine ganze Woche lang alleine das Brot hierher. Abgemacht?«

 

Elly schlug verbissen ein. »Abgemacht.«

 

Entschlossen drückte ich ihr den Korb in die Hand und ging in die Richtung der Gasse. Ich war mir zuvor so sicher gewesen, doch nun schwand meine Zuversicht mit jedem Zentimeter, den ich ging. Zuerst sah ich das leblose Mädchen, dann das Blut auf ihrer rechten Schulter und dann ... Ich schluckte laut, die eisblauen kalten Augen des Mannes. Glasig und leblos. Wie die eines Toten stachen sie aus seinen fahlen Augenhöhlen hervor. Ich schätzte den Mann auf gut Mitte vierzig und verlangsamte meinen Schritt. Konnten die Legenden wirklich wahr sein? Aber welche Ironie war es, ausgerechnet, nachdem ich es Elly erzählt hatte, es mit eigenen Augen zu erblicken. Die Luft schien in der Nähe dieses Untoten noch kälter geworden zu sein.

 

Ich wollte gerade umkehren, doch zu spät. Der Vampir hatte mich bereits bemerkt.

 

»Guten Abend«, grüßte er monoton und warf das Mädchen achtlos gegen die Hauswand. Ich zuckte bei dessen dumpfen Klang zusammen.

 

»Gleichfalls«, erwiderte ich so gelassen wie möglich. Doch die Angst und Anspannung war nicht zu überhören. Der Vampir trat aus dem Schatten hervor. Seine Kleidung war dunkel, wirkte vornehm wie auch elegant und von unvorstellbarem Wert. Seine dunkelbraunen schulterlangen Haare waren mit grauen Strähnen durchzogen, die Silberfäden glichen. Ich saß in der Falle. Ich riskierte einen Blick auf das tote Mädchen.

 

Der Vampir lachte höhnisch. Doch prompt hatte er mich in die Gasse gedrängt und knurrte drohend in mein linkes Ohr.

 

»Du solltest deine Nase nicht in fremde Angelegenheiten stecken, Junge.« Der Vampir machte einen Schritt zurück. Oder schwebte er? Ich konnte es in der dämmrigen Gasse kaum erkennen. Der Untote lächelte schief und verschwamm langsam mit der Dunkelheit hinter ihm »Ansonsten könntest du es eines Tages vielleicht noch bereuen.«

 

Mir lief jegliche Farbe ab. Ich starrte gefesselt einfach nur vor mich hin. Als könnte ich diesen Dämon alleine durch meinen Blick verscheuchen oder abwehren.

 

»Vincent!« Es war Ellys Stimme. »Was ist passiert?«

 

Ich schüttelte langsam meinen Kopf. Das konnte nur ein Albtraum gewesen sein. Der Angstschweiß rann über eine Schläfe meiner Stirn. Jeglicher Muskel war angespannt und bereit sich zu wehren. Elly packte panisch meinen rechten Arm.

 

»Vincent! Was ist los! Rede doch mit mir! Bitte!«, flehte sie. Für einen kurzen Moment schloss ich meine müden Augen, um mich zu sammeln. »Vincent?« Ihre Stimme war nur mehr ein ängstliches Flüstern.

 

»Mir geht's gut, Elly«, murmelte ich, nahm ihren Arm und schleifte sie aus der Gasse. Sichtlich beruhigt atmete meine Schwester auf.

 

»Ich hatte schon Angst, dass dir etwas zugestoßen sein könnte. Auf einmal warst du einfach weg. Versprich mir, dass du mich niemals wieder alleine lassen wirst. Hörst du Vincent? Niemals, du bist doch mein großer Bruder«, drängte sie mich zu einem Versprechen.

 

»Ja Elly. Ich verspreche es dir«, doch ich hatte dies nur gesagt, um endlich meine Ruhe zu haben. Ruhe von all dem Lärm und Stimmengewirr.

 

Schließlich fanden wir unseren Vater und überreichten ihm den Korb. Dankend nahm er ihn an und schickte seine zwei Kinder wieder heim. Die Frage, ob es nun ein echter Vampir gewesen war, brannte Elly auf der Zunge. Doch sie traute sich nicht zu fragen.

 

Ich war seit dem Vorfall außergewöhnlich zurückhaltend gewesen. Ich hatte nicht wie üblich mit Elly über Sachen gescherzt, hatte dem Hund des Bäckers keinen Streich gespielt und ich hatte auch nicht mit der alten Bettlerin geredet, wie ich es sonst immer tat. Ich war nicht mehr Derselbe. Ich wirkte verschlossen auf Elly, wie sie mir später erzählte. Unnahbar und fern.

 

Ganz anders als den Bruder, den sie kannte, seit sie das Licht der Welt erblickt hatte.

 

Je mehr sie sich darüber den Kopf zerbrach, desto weniger nahm sie die Umgebung wahr. Erst nach geraumer Zeit schreckte sie hoch, da sie diesen Teil Londons überhaupt nicht kannte. Er war ihr so fremd wie ein weiches Bett. Ich ging einfach wie in Trance weiter. Um ehrlich zu sein, weiß ich bis heute nicht was damals mit mir los war. Vielleicht war es eine Art Hypnose oder ein gewöhnlicher Schock gewesen.

 

Meine Schwester erzählte mir erst viele Jahrzehnte später von diesem Abend. Langsam beschlich Elly Angst. Angst vor etwas Unbekanntem, Bösen. Irgendwo auf den Dächern lauerte es und starrte mit leeren Augen auf sie herab. Seine scharfen Klauen waren gewetzt und bereit.

 

Vorsichtig sah sie hoch.

 

Die Furcht traf sie wie ein Faustschlag mitten ins Gesicht. Ruckartig schnellte sie gegen eine Steinmauer. Hatte es sie geschehen? Überraschte wandte ich mich zu ihr um, immer noch in dieser Sinne betäubenden Trance gefangen.

 

»Elly? Was ist denn?« Mit zittrigem Zeigefinger deutete sie nach oben. Ihre Lippen formten die Worte: Versteck dich.

 

Argwöhnisch sah ich zum Himmel empor. Außer der Abenddämmerung, die sich wie ein dunkler Schleier über London legte, fiel mir nichts Beunruhigendes auf.

 

»Da oben ist nichts«, sagte ich in einem Tonfall als würde ich einem Irren klarmachen, dass seine eingebildeten Stimmen nicht echt waren.

 

»Vincent, ich schwöre es dir«, flehte sie und zuckte zusammen.

 

»Bitte Elly komm jetzt«, drängte ich und setzte meinen Gang ins Ungewisse fort.

 

»Warte! «, rief Elly und holte mich ein. »Wo sind wir überhaupt?«

 

»Das hier ist eine Abkürzung«, erklärte ich trocken. Etwas eingeschüchtert über meinen kalten Ton, beschloss sie, lieber nichts mehr zu sagen oder zu fragen.

 

Als wir um eine Ecke bogen und ein paar Schritte gegangen waren, spürte Elly eine Kälte im Rücken. Sie bahnte sich durch ihr wollenes Tuch und jegliche andere Bekleidung bis auf ihre bloße Haut. Panisch flüsterte sie immer wieder, sodass ich es unmöglich hören konnte »Dreh dich nicht um. Dreh dich nicht um. Dreh dich nicht um ...«

 

»Eleonora«, hauchte ein Windstoß in ihr Ohr. Das bildete sie sich nur ein. Aber da war es schon wieder. »Eleonora. Komm zu mir.«

 

Kaum merklich schüttelte sie den Kopf. »Nein«, hauchte sie zurück.

 

»Eleonora.« Sie wurde wahnsinnig.

 

»Vincent«, flüstere sie eingeschüchtert. »Hörst du das auch?«

 

»Was soll ich hören?«, erkundigte ich mich ohne den Blick von vorne abzuwenden.

 

»Meinen Namen«, als der letzte Buchstabe aus ihrer trockenen Kehle gedrungen war, spürte sie den schweren schwarzen Mantel der Dunkelheit auf ihren Schultern. Er drückte sie hinab. Machte ihre Beine schwer wie Blei. Erschöpft sank sie auf die Knie. Es war ein aussichtsloser Kampf. Sie durfte sich nicht umdrehen. Hinter ihr war etwas. Sie spürte es so deutlich wie den kalten, dreckigen Boden unter ihren Knien.

 

Elly sah mir flehend nach. Ich bemerkte es nicht. Mühevoll streckte sie die Hand nach mir aus ließ sie jedoch sofort wieder sinken. Jegliche Kraft schien verloren gegangen zu sein. Ich wurde immer kleiner, je weiter ich mich von Elly entfernte. Sie hätte schon längst schreien können, wenn nicht ihre Kehle wie ein Korsett zugeschnürt wäre. Ich bog um eine Ecke und verschwand somit aus Ellys Sichtfeld. Eine kleine Träne rollte ihre heißen Wangen hinab. Ohrenbetäubende Stille und schreckliche Einsamkeit. Obwohl, ganz alleine war sie ja nicht. Inzwischen konnte sie sich nicht einmal mehr bewegen. Eine lebendige Statue aus Fleisch und Blut.

 

Ein leises Quiekenertönte hinter ihr. Dann immer lauter und lauter. Ratten. Eine ganze Horde von dreckigen Ratten war durch irgendetwas aufgescheucht worden und kam auf sie zu. Der Albtraum war perfekt. Die grauen Mistviecher würden sie überrennen und vielleicht sogar das Fleisch von ihren Knochen nagen. Bei lebendigem Leibe. Man konnte die winzigen unzähligen Pfoten auf den steinernen Untergrund hören. Sie kamen näher. Ekel, Furcht, Angst und unzählige weitere Gefühle übermannten sie. Elly wurde speiübel. Eine Berührung genügte, um sie für den Rest ihrer Tage zu verfolgen.


 

Jede Nacht würde sie dann die winzige Kralle, die nackten Schwänze und das fettige Fell auf ihrer Haut spüren.

 

»Eleonora. Komm zu mir«, flüsterte es wieder. Wenn sie könnte, würde sie ja. Egal wer auch immer hinter der Stimme stecken mochte. Ein kurzer Gedanke genügte und sie war frei von den unsichtbaren Fesseln. Um ihr Leben heilfroh, stürzte sie nach vorne. In die Richtung in der ich verschwunden war, ohne ihr stummes Versprechen einzuhalten. Nichts ahnend bald dafür zu bezahlen.

 

Es vergingen Wochen. Elly und ich versuchte so gut es ging, unsere Erlebnisse vor dem anderen geheim zu halten. Als ich den Schock endlich überwunden hatte, passierte wieder etwas Schreckliches. Elly erkrankte an der Pest. Es war schrecklich mitansehen zu müssen, wie die Krankheit ihre Kräfte aufzehrte. Ich wusste, dass mir nur noch ein paar Tage mit ihr bleiben würden. Obwohl dieser Gedanken unerträglich schmerzhaft war, kümmerte ich mich um meine Schwester Tag und Nacht, ohne zu schlafen. Ich klammerte ich mich mit aller Kraft an die naive Hoffnung, dass sie überleben würde. Also kam ich wie jeden Abend in das dämmrige Zimmer und stellte einen randvollen Eimer mit trüben Wasser auf den Boden, sodass ein kleines bisschen des Inhalts über den Rand schwappte.

 

Meine Schwester lag auf ihren Strohsack gebetet und starrte angewidert auf eine große schwarze Beule auf ihrem rechten Arm. Sie eiterte schon ein wenig.

 

Ihr ganzer Körper war von diesen abscheulichen Dingern übersät.

 

»Mutter hat gesagt, ich soll dir Umschläge machen.«

 

»Heiß oder kalt? «, fragte Elly mit angehobenen Augenbrauen.

 

»Was?« Verwirrt stellte ich einen Kessel auf die Feuerstelle und kippte das Wasser hinein. Dann zündete ich das spärliche Holz darunter an.

 

»Ob du mir heiße oder kalte Umschläge machen sollst.«

 

»Ich soll dir heiße Umschläge machen. Aber ich glaube, dass das nicht das Richtige ist. Mutter ist immerhin kein Arzt.« Elly schloss die Augen.

 

»Ich will nicht sterben«, flüsterte sie und war überrascht als ich ihr antwortete.

 

»Das wirst du auch nicht.« Ich stellte einen Hocker neben ihre Schlafstätte und setzte mich zu ihr.

 

»Hast du keine Angst, dass du dich ansteckst?«, murmelte Elly leise.

 

»Nein«, erwiderte ich. »Ich habe größere Angst, dich zu verlieren.«

 

Meine Schwester wandte den Kopf in meine Richtung. Diese kleine selbstverständliche Bewegung schien viel Kraft von ihrem kleinen, ohnehin schon zerbrechlichen Kinderkörper, abzuverlangen.

 

»Vincent?«, fragte sie schüchtern.

 

»Ja Elly?«

 

»War der Mann in der Gasse nun ein Vampir oder nicht?« Eine Welle aus Kälte überrollte meinen Körper.

 

»Ich finde, es ist besser, wenn du ...«

 

»Vincent!«, unterbrach sie mich mit schwacher zittriger Stimme. Erschöpft schloss sie wieder die Augen. Überlegend fuhr ich mir durchs Haar.

 

»Na gut«, willigte ich schließlich ein. Hinter uns brodelte inzwischen das Wasser. Ich stand auf, nahm ein zerschlissenes Tuch und tränkte es in den Kessel.

 

»Also«, fragte Elly ungeduldig als ich ihr den Umschlag auf die Stirn legte. »Was ist die Wahrheit?«

 

»Er war ein Vampir«, seufzte ich. Elly schmunzelte.

 

»Hab ichs doch gewusst.«

 

Ich erneuerte die Umschläge immer wieder von neuem bis spät in die Nacht hinein. Vorsichtig lauschte ich Ellys Atemgeräuschen. Sie war eingeschlafen.

 

Ich hatte einen Plan. Einen ziemlich verrückten Plan. Heimlich schlich ich mich davon in die dunkle Nacht hinaus. Eine Eiswand pfiff durch die Gassen und ließ mich halb erfrieren. Ich musste den Vampir finden, egal was es kostete.

 

Der Weg war mir so vertraut, dass ich ihn auch blind finden würde. Seit ich sechs Jahre alt war, ging ich ihn seither jeden Tag. Bei jedem Wetter. So kämpfte ich mich durch die beißende Kälte Richtung der Saint Pauls Kathedrale. Meine einzige Motivation war meine Schwester. Ich tat das alles für Elly. Mit zusammengebissen Zähnen und eingefrorenen Füßen erreichte ich schließlich mein Ziel. Es waren kaum noch Menschen zu sehen. Einerseits wegen der niedrigen Temperatur und andererseits da es Nacht war.

 

Wo war die Gasse gewesen? Hastig eilte ich auf sie zu. Die Dunkelheit hatte sich in ihr schon breit gemacht.

 

»Ist da jemand?«, fragte ich mit fester Stimme in das Schwarz hinein. Keine Antwort. Aber dafür dumpfe Schritte, die gleichmäßig auf mich zukamen. Fest entschlossen starrte ich nach vorne bis ich eisblaue Augen zu erkennen glaubte.

 

»Was führt dich denn hier her?« Die Stimme des Vampirs hallte von den Wänden wieder. Ein Trick um mich einzuschüchtern.

 

»Ich ... ich brauche Ihre Hilfe«, bat ich. Ein Glucksen erklang aus der Dunkelheit.

 

»Meine Hilfe?«, fragte er amüsiert. Ich trat einen Schritt weiter in die Dunkelheit hinein.

 

»Ich bitte Sie. Meine Schwester liegt im Sterben und ich kenne die Legenden aus Südosteuropa. Ich flehe sie an. Machen Sie sie zu einer ...«

 

»Untoten«, vollendete der Vampir meinen Satz. »Was hat sie denn für eine Krankheit?«, erkundigte sich die Stimme.

 

»Die Pest,«

 

»Dann kann ich leider nichts mehr für sie tun.« Ich verlor jegliche Hoffnung und Entschlossenheit.

 

»Aber warum?« Der Vampir trat aus dem Reich der Schatten hervor.

 

»Weil mein Blut zu schwach ist um Krankheiten zu heilen. Das Einzige, was es noch kann, ist mich am Leben zu halten und Krankheiten von meinem eigenen Körper fernhalten bevor sie ausbrechen.«

 

Völlig kraftlos starrte ich auf den Boden. »Gibt es denn keine Möglichkeit ...«

 

»Doch«, unterbrach mich der Vampir. Er tippte mir auf die Brust. Seine langen Fingernägel jagten mir einen kalten Schauer über den Rücken hinab. »Du selbst.«

 

»Und was kann ich tun?«, in mir keimte Hoffnung auf.

 

»Wenn ich dich verwandle, kannst du sie ebenfalls verwandeln und retten. Dein Blut ist noch jung und kann die fortgeschrittene Krankheit heilen. Also, willst du oder willst du nicht?«

 

Meiner Schwester lief die Zeit davon. Ich musste handeln, jetzt.

 

»Ich will«, flüsterte ich.

 

»Bist du dir ganz sicher?« Der Vampir hob herausfordernd eine Augenbraue an.

 

»Ja, ich war mir noch nie so sicher wie jetzt.« Die eisigen Hände des Untoten packten mich und stieß mich gegen eine Wand.

 

»Das könnte jetzt ein bisschen wehtun«, sagte der Vampir wehleidig und schlug seine Zähne in meinen Hals.

 

Alle Schmerzen, die ich zuvor gespürt hatte, waren nichts gegen die des Giftes. Röchelnd ging ich nach ein paar kräftigen Zügen des Vampirs zu Boden. Die Umgebung drehte sich plötzlich im Kreis. Ich fing zu husten an, Unmengen von Blut befleckten mein Gewand. Dann eine Vision, ein Traum. Elly, in einem Garten voller roter Rosen. Sie trug einen dunkelblauen Umhang und schien Verstecken zu spielen. Immer wieder lugte ihr lächelndes Gesicht hinter einer Hecke hervor. Als sie sprach, klang ihre Stimme gedämpft und weit weg.

 

»Komm Vincent.« Sie streckte die Hand nach mir aus. Jetzt erst sah ich die eisblauen Augen und die spitzen Eckzähne. Sie lachte. Sie hatte Spaß.

 

Eine Welle aus Schmerz schoss wie ein Impuls über meinen Körper, ich schrie auf. Danach war es still und ich konnte die Kälte nicht mehr spüren. Ich war tot. Der Vampir zog mich mit einem Ruck hoch.

 

»Und jetzt verwandle Eleonora und bring sie hierher. Währenddessen warte ich hier.«

 

»Aber wieso?«, fragte ich heiser aus meiner trockenen Kehle heraus.

 

»Das, was du nun bist, ist kein Kinderspiel, Junge. Du besitzt Kräfte, von denen du nicht die leiseste Ahnung hast. Ihr braucht einen Lehrer, ansonsten bleibt ihr nur eine Gefahr für eure Art. Und jetzt geh endlich.«

 

Ich nickte und rannte los. Meine Kehle war so trocken, dass selbst atmen wehtat. Ich nahm in diesem Moment nur diesen Durst wahr. Diesen brennenden Durst, der mich alle meiner Sinne beraubte.

 

Ich spürte wie mein Herz wild pochte als, ob es immer noch um mein Überleben kämpfte. Es schlug wie eine Trommel unablässig im gleichen schnellen Takt. Hastig lief ich immer weiter und kam schließlich an. Leises Schluchzen drang aus dem Inneren als ich an die Tür trat. War es zu spät? Bedacht so leise wie möglich zu sein, trat ich in den stickigen Raum und sah als Erstes meine Mutter, die schluchzend neben Elly kniete. Hinter ihr mein Vater, der ihr tröstend die Schulter hielt. Sie schienen mich nicht zu bemerken. Bevor ich etwas sagte, versteckte ich die Blutflecken auf meinem Gewand mit verschränkten Armen. Elly lag regungslos da, blasser als sonst.

 

Doch dank meines verbesserten Gehörs vernahm ich, dass sie noch atmete. Ich musste mich beeilen.

 

»Mutter? Vater? Kann ich kurz einen Moment mit ihr alleine sein?« Mit gesenkten Blick gingen sie an mir vorbei.

 

Ich stürzte mich direkt auf Elly als sie die Tür geschlossen hatten und fühlte ihren Puls. Sehr, sehr schwach aber noch vorhanden. Vorsichtig befreite ich ihren Hals von ihren dunkelbraunen Haaren. Dann nahm ich sie in meine Arme und tat das, was ich tun musste. Ich rette Elly in dieser Nacht das Leben. Ohne sich von unseren Eltern zu verabschieden, stahl ich mich in die Nacht zusammen mit meiner Schwester davon.

Kapitel 2

Ellys junges Blut pulsierte durch meine Venen. Mit jedem Schritt den ich tat, zehrte ich es auf. Das Blut meiner Schwester, schoss es mir durch den Kopf. Ihr Blut.

 

Ich spürte, wie sich ihre zierlichen, starren Finger in meinen Nacken krallten. Die unerträglichen Schmerzen ließen ihre Brust mit heftigen Schluchzen erbeben. Ihr Körper war so leicht, dass ich einen Augenblick lang dachte, nur eine blasse Puppe mit Ellys feinen Gesichtszügen in den Armen zu halten. Ihre heißen Tränen durchtränkten meinen Schal.

 

Noch ein letztes Mal erzitterte ihr Körper, ehe sie benommen und erschöpft in meinen Armen lag.

 

Ich weiß nicht mehr wie lange es dauerte, bis sie ihre Augen schließlich öffnete und mich fragend musterte. Ich kann mir auch nicht erklären, woher sie die Kraft dafür genommen hatte.

 

Alles erschien so unwirklich und wie in einem albtraumhaften Fieberwahn.

 

Ich wollte gerade etwas sagen, doch sie kam mir zuvor »Wo sind wir?«. Es waren ihre ersten Worte als Untote. Ich konnte sie bis heute nicht vergessen.

 

Weder wie sie es sagte, noch wie sie mich dabei ansah. Es ist in meinem Gedächtnis verewigt - wie eine Inschrift aus kargen Worten auf einem verfallenen Grabstein.

 

Ich gab ihr keine Antwort darauf, denn selbst die besten Lügen würden in dem Zittern meiner Stimme untergehen und ihr somit die Wahrheit verraten.

 

Mühevoll hastete ich weiter. Solange, bis schließlich die St. Pauls Kathedrale vor mir in den  pechschwarzen, sternlosen Himmel emporragte.  Wie ein stummes Ungetüm aus antiken Sagen erschien sie mir in jener Nacht.

 

Verzweifelt ließ ich meinen Blick über den menschenleeren Platz schweifen.

 

Die eisige Dunkelheit und das drohende Schweigen der Dezembernacht umgaben mich wie ein Mantel des Todes.

 

Ellys Atem wurde flacher. Die mit Tränen benetzten Wimpern zuckten leicht. Ihre kalten Hände schürten meine Sorge, dass von ihrem geschwächten, kränklichen Körper zu viel durch die Verwandlung abverlangt wurde.

 

Panisch umschlang ich ihren Körper mit den Armen noch fester, um sie wärmen.

 

Ein tiefes, dumpfes Wiehern erklang plötzlich aus der Dunkelheit. Die flackernde Laterne der Kutsche erhellten die zwei dunkelbraunen Pferde, die vor sie gespannt waren. Der Kutscher, ein junger Mann mit schwarzen Haaren und freundlichen, aber dennoch getrübten grauen Augen, zog ruckartig an den Zügeln, so dass die Pferde - begleitet von einem erschrockenen Wiehern - zum Stehen kamen.

 

Kein Wort drang über seine Lippen, während die Flamme der Laterne zuckende Schatten an die Wände der Häuser warf. Die eisblauen Augen des Unsterblichen von vorhin musterten mich ungeduldig aus der Kutsche heraus. »Steig schon ein«, forderte er mich auf.

 

Ich kam der Einladung zögernd nach und saß im nächsten Moment ihm gegenüber. Meine Schwester schlief derweil ruhig in meinen Armen. Der unbekannte Mann schlug zweimal gegen die Kutschenwand. Im nächsten Moment erklang das Knallen der Peitsche und das Galoppieren der Pferde.

 

Ich brauchte einige Zeit, um meine Furcht zu überwinden und sagte schließlich kleinlaut »Danke, Sir....«, der Unsterbliche kam mir zur Hilfe »Jaronas Asbury«.

Die kahlen, dürren Äste der Eichen schlugen über dem schmalen Feldweg zusammen, so dass das silbrige Mondlicht nur in schmalen Streifen zu Boden fiel. Zwischen den moosüberwucherten Stämmen der Bäume schimmerte das dämmrige Licht eines Anwesens hindurch.

 

Eine gespenstische Stille lag in den Mooren von Highgate.

 

 

Ich erblickte schon von weitem das zwei Meter hohe, schmiedeeiserne Tor. Es schien der einzige Weg zu sein, um hinter die Efeu überwucherten, zwei Meter hohen Steinmauern zu gelangen.

 

Der Kutscher gab den Pferden das Zeichen anzuhalten. Ihr widerspenstiges Wiehern, das darauf folgte, durchbrach die angespannte Stille. Zwei Männer erschienen hinter dem Tor und warfen einen argwöhnischen Blick auf die Kutsche. Schließlich murrte der größere von den beiden etwas Undeutliches, das ich nicht verstehen konnte und öffneten es.

 

Die Pferde trabten auf den Vorplatz des Herrenhauses.

 

Aus den hohen Fenstern fiel spärliches Kerzenlicht nach draußen.

 

Der schweigsame Kutscher kletterte von seinem Platz herunter und streckte die Arme nach meiner Schwester aus, ein Zeichen, dass er sie mir abnehmen wollte. Ich lehnte ab, sie war immerhin kein Gepäckstück.

 

Schläfrig schmiegte sie ihren Kopf an meine Schulter. Niemand, außer mir, würde auch nur in die Nähe von Elly kommen. Ich hatte mir selbst das Versprechen gegeben, sie wieder gesund nach Hause zu bringen. Ich hoffte innig, dass dies bald war.

 

Mein Blick fiel wieder auf das mächtige Herrenhaus. Die groben Steinwände des Mauerwerks konnten nur an jenen wenigen Stellen ausgemacht werden, an denen der dunkle Efeu nicht wucherte. Alles an dem Gebäude wirkte unheimlich alt und zugleich sicher. Es schien, als würde es die Welt um sich herum aussperren und gleichzeitig auch seine Bewohner nie wieder freigeben. Eine unheimliche Vorstellung, die mich erschaudern ließ.

 

Dennoch trat ich durch die schwere, dunkle Eingangstür ein und stand schließlich staunend in der riesigen Eingangshalle. Die Leuchter an den Wänden flackerten gespenstisch auf, als der stumme Kutscher hinter Jaronas die Tür schloss.

 

Ich spürte Ellys Atem an meinem Hals. Jaronas deutete einen breiten Treppenaufgang hoch »Wir sollten deine Schwester zu Bett bringen, sie ist sicherlich erschöpft«. Ich nickte zustimmend und folgte ihm nach oben, durch eine Galerie bis zu einem der Schlafzimmer im Westflügel. »Ich verstehe, wenn ihr Zimmer nebeneinander haben wollt«, erklärte Jaronas »Das gegenüber von ihrem wird deshalb deines sein, Vincent«.

 

Mir war es noch immer ein Rätsel, woher er meinen Namen kannte, aber ich schloss nicht aus, dass er uns damals, nachdem mich Elly in der Gasse vorfand, belauscht hatte. Seine kalten Augen leuchteten förmlich in der dämmrigen Dunkelheit der wenigen Kerzen.

 

Eilig nahm er eine von ihnen zur Hand und führte uns in das Schlafzimmer. Argwöhnisch hielt ich inne: das Bett schien frisch bezogen worden zu sein und im Kamin brannte Feuer, als hätte Jaronas gewusst, dass er diese Nacht Gäste haben würde.

 

Stutzig legte ich meine Schwester auf das Bett, das viel zu groß für ihren kleinen Leib erschien. Jaronas beobachtete diese Szene mit einem gleichgültigen Gesichtsausdruck. Es fiel mir schwer, meine Schwester alleine in einem Haus voller Fremder zurückzulassen.

 

Ich erhaschte noch einen letzten, kurzen Blick auf ihre schlafenden Gesichtszüge, bevor ich an Jaronas vorbei aus dem Raum trat. Er streckte mir daraufhin einen eisernen Schlüssel entgegen »Du bist zurecht misstrauisch«, erklärte er, als wären ihm selbst meine Gedanken nicht verborgen »Du kannst die Tür versperren«.

 

–––

 

Ein paar Minuten später saßen wir im Salon des Westflügels. Eines der Dienstmädchen entfachte Feuer im Kamin und verschwand danach eilig, ohne auch nur kurz den Blick vom Boden zu erheben, nach draußen. Es war ein befremdendes Gefühl, nicht derjenige zu sein, der beschämt über seine Herkunft oder gesellschaftlichen Stand den Kopf gesunken hielt.

 

Erst, als die eiligen Schritte des jungen Mädchens verklungen waren, begann Jaronas mit verschränkten Armen zu sprechen »Du hast bestimmt viele Fragen«. Ich sank in dem schweren Sessel vor dem Kamin zurück und fragte zögerlich »Was ist alles von den Legenden wahr?«, Jaronas lächelte müde.

 

Es war kein freundliches oder amüsiertes Lächeln - es erschien schwermütig.

 

Ja fast, als sei er betrübt darüber, dass ich meine Vorstellung des Vampirs mit diesen absurden Ideen vergiftetet hatte.

 

»Du solltest mich besser danach fragen, was davon nicht der Wahrheit entspricht«, schlug er schließlich vor »Das würde uns viel wertvolle Zeit ersparen«.

 

Verwirrt entgegnete ich darauf »Aber haben wir denn nicht unendlich viel Zeit?«.

 

Jaronas dachte einen kurzen Moment lang nach, bis er schließlich erwiderte »Nichts ist unendlich, merk dir das. Die Unsterblichkeit ist nur ein leeres Wort, dass sich die Menschen in ihrer naiven, ja fast kindlichen Hoffnung ausgedacht haben, um mit den unausweichlichen Gedanken über den Tod fertig werden zu können. Du wirst sie in jedem Glauben und in jeder Kultur dieser Erde vorfinden«, belehrte er mich eines Besseren

 

»Was uns Vampire betrifft: Wir können wie jeder andere gewöhnliche Mensch jederzeit durch Fremdeinwirkung sterben. Vielleicht nicht durch eine Krankheit, aber durch jede Waffe und jedes Gift. Wir sind genauso verletzlich wie jeder andere Sterbliche«.

 

Überrascht fragte ich fragte ich weiter nach »Ist unsere Zeit also doch auf natürliche Weise begrenzt?«

 

»Du meinst den natürlichen Tod? Nein, wir altern nicht«

 

»Mr. Asbury...«, setzte fort