Die Gnosis – Grundlagen der Weltanschauung einer edleren Kultur - Eugen Heinrich Schmitt - E-Book

Die Gnosis – Grundlagen der Weltanschauung einer edleren Kultur E-Book

Eugen Heinrich Schmitt

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Alle bisherigen Darstellungen des Gnostizismus haben nur eine Sammlung unverstandener Symbole und Bilder, vermengt mit ganz verworren erscheinenden abstrusen Redensarten zu stände gebracht und dieses in allen wesentlichen Zügen völlig unverstandene Material dann nach gelehrten Schablonen zu schematisieren gesucht. Selbst die letzte Quellenarbeit über diesen Gegenstand, die von Mead (in seinen Fragments of a faith forgotten), die von ihrem theosophischen Standpunkte aus dem sachlichen Verständnis des Gegenstandes ungleich näher tritt, als die früheren aufgrund eines unzureichenden Quellenmaterials verfassten kirchlichen Bearbeitungen, leidet noch an dem Fehler, dass dem Autor der eigentliche Schlüssel fehlt, der die gnostischen Lehren dem allgemeinen Verständnis in ihrem Wesen klar machen könnte.

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Die Gnosis

Grundlagen der Weltanschauung einer edleren Kultur

 

 

 

Eugen Heinrich Schmitt

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Impressum

Vorwort

Vorrede

Forderung der Gedankenfreiheit ein Anhang zur Vorrede

I. Teil – Die Gnosis des Altertums

Der vorgeschichtliche Mensch

Das Wesen der Götter

Die Geheimlehre Ägyptens

Indien

Persien und die Geheimlehre der Magier

Die griechische Mythe

Die griechische Philosophie

Philo von Alexandrien

Die Essener und Therapeuten

Christus das Weltenlicht der Gnosis

Der Gegensatz von Gnosis und Kirche

Die himmlische Sophia

Das Pleroma

Die Beschreibung der Äonenwelt

Die Grundgedanken der Gnosis

Wie Evangelien geschaffen wurden

Das Gnostikerevangelium Pistis Sophia

Die Akten des Johannes

Das Buch vom großen Logos

Die unbetitelte Apokalypse

Der Gnostizismus in der Darstellung der Kirchenväter

Simon der Zauberer

Kerinth

Menander

Saturninus

Das Buch Baruch

Die Peraten

Die Sethianer

Die Doketen

Die Ophiten

Die Barbelioten

Basilides

Valentinus

Ptolemäus

Bardesanes

Herakleon

Markos

Kerdon

Markion

Tatian und die Enkratiten

Karpokrates

Apelles

Hermogenes

Die Ebioniten

Clemens von Alexandrien

Origines

Gregorius von Nyssa

Synesius

Die neuplatonische Gnosis

Der Manichäismus

II. Teil – Die Gnosis des Mittelalters und der Neuzeit

Einleitung

Die Gnosis und der moderne Materialismus

Grundriss des Systems der Gnosis

Der Neuplatonismus an der Schwelle des Mittelalters

Die Paulikianer

Die arabische Gnosis

Skotus Erigena

Die Kabbala

Ketzerei und Kirche

Der Templerorden

Joachim de Floris und Amalrich von Bena

Mohammedanische Mystik

Die Mystik des Mittelalters

Meister Eckhart

Tauler

Suso

Ruysbroek

Theologia Deutsch

Sebastian Franck und Valentin Weigel

Paracelsus

Die Renaissance

Jakob Böhme

Angelus Silesius

Die Idealphilosophie der Spätrenaissance

Kant

Johann Gottlieb Fichte

Schelling

Hegel

Die Romantik

Geheime Gesellschaften

Swedenborg und die neue Kirche

Ein Mystiker der Neuzeit / Johann Jakob Wirtz

Fechner und seine Schule / Gnostische Dichtung

Eduard von Hartmann

Die indische Theosophie

Die gnostische Kirche von Südfrankreich und moderne Gnostiker

Gnosis und moderne Physik

Schlusswort

 

Impressum

 

 

2022 © Verlag Heliakon, München

Umschlaggestaltung: Verlag Heliakon

 

Titelbild: Hermes Trismegistus

 

Verlag: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

 

www.verlag-heliakon.de

[email protected]

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Über-setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

Vorwort

 

 

Alle bisherigen Darstellungen des Gnostizismus haben nur eine Sammlung unverstandener Symbole und Bilder, vermengt mit ganz verworren erscheinenden abstrusen Redensarten zu stände gebracht und dieses in allen wesentlichen Zügen völlig unverstandene Material dann nach gelehrten Schablonen zu schematisieren gesucht. Selbst die letzte Quellenarbeit über diesen Gegenstand, die von Mead (in seinen Fragments of a faith forgotten), die von ihrem theosophischen Standpunkte aus dem sachlichen Verständnis des Gegenstandes ungleich näher tritt, als die früheren aufgrund eines unzureichenden Quellenmaterials verfassten kirchlichen Bearbeitungen, leidet noch an dem Fehler, dass dem Autor der eigentliche Schlüssel fehlt, der die gnostischen Lehren dem allgemeinen Verständnis in ihrem Wesen klar machen könnte.

Da jedoch, wie ich gleich in der Einleitung zeigen will, eine unserer modernen Kulturwelt sehr fernliegende Gedankenwelt vorliegt, so war es notwendig den Leser in diese für unsere konventionellen Gedankenkreise völlig neue Ideenwelt einzuführen und an alle hier möglichst wortgetreu angeführten gnostischen Texte ausführliche Erläuterungen anzufügen, die die Aufgabe haben, die sonst völlig toten und unverstandenen Worte jener Weisen der ersten christlichen Jahrhunderte für ein ganz verschiedenes Zeitalter wieder in der ursprünglichen Lebendigkeit der Anschauung aufleuchten zu lassen, in welcher sie einst die Kämpfer und Märtyrer jener Lichtlehre ferner Jahrhunderte beseelten. Nicht im gelehrten Wiederkäuen und Schematisieren der Worte, was bisher als gelehrte Bearbeitung galt, sondern nur in der selbstschöpferischen Wiedererzeugung ihrer Gedanken, ist ein wirkliches Verständnis unseres großen Gegenstandes möglich. Die Schwierigkeit, so fernliegendes im Geiste zu vereinigen und dem modernen Menschen klar zu machen, rechtfertigt die Ausführlichkeit der Erläuterungen.

Aber auch nur eine solche Wiedererzeugung der gnostischen Gedankenwelt im modernen Geiste befähigt uns dazu, die ungeheure Bedeutung, die diese Gedanken für die Genesis unserer heutigen Kultur nicht bloß, sondern auch für die kulturellen Ziele und Ideale unseres Zeitalters haben, zu begreifen.

Im vorliegenden ersten Band ist der Gnostizismus der Antike, der Manichäismus mit inbegriffen (den man nur aus grobem Missverständnisse von den sonstigen gnostischen Lehren trennte), zur Darstellung gekommen.

Der Übersichtlichkeit wegen sei hier der Plan des ganzen Werkes skizziert.

Die Vorrede will eine Einleitung in den Gegenstand sein, als deren Anhang ich jedoch, angesichts der geradezu zur heiligen Inquisition sich konstituierenden, von den reaktionären Strömungen modernster Politik getragenen modernen Jurisdiktion, zeitgemäß finden musste, heute an der Schwelle des Zwanzigsten Jahrhunderts, die Frage, die Fichte vor einem Jahrhunderte aufgeworfen hatte, die Frage der Forderung der Gedankenfreiheit wieder auf die Tagesordnung zu bringen.

Die Schrift musste ihre historische Einleitung mit der Beleuchtung der Gedanken- und Gefühlswelt des vorgeschichtlichen Menschen beginnen, weil ohne Verständnis des urweltlichen Geister- und Zauberglaubens, der nicht bloß in der Kirche, sondern selbst in einzelnen Zirkeln, der Gnosis zur Geltung kommt, ein vollkommenes Verständnis dieser Lehren unmöglich ist. Nach der Erläuterung der Grundanschauung der alten Naturreligion folgen dann die Darstellungen derjenigen polytheistischen Lehren, die vornehmlich dem Gnostizismus geistige Anknüpfungspunkte geboten haben, der Mysterien Ägyptens, Indiens, Persiens. Ein besonderer Abschnitt ist der griechischen Philosophie, ein fernerer Philo von Alexandrien gewidmet, worauf die Essener und Therapeuten in Kürze behandelt werden, die an der Schwelle des neuen Weltgedankens stehen, als dessen Sonne dann Christus erscheint. Der Abschnitt über den Gegensatz von Gnosis und Kirche stellt die Wurzel der großen Abzweigung dar, in die sich die Welt nach Christus spaltet. Es folgen nun Darstellungen einer Anzahl von Grundgedanken der Gnosis, die schließlich ein Abschnitt übersichtlich zusammenfasst. Nach den Erläuterungen darüber, wie Evangelien geschaffen wurden, folgt die Darstellung einiger gnostischer Evangelien oder Bruchstücken von solchen. Die folgenden Abschnitte sind der Darstellung der einzelnen gnostischen Lehrer und gnostischen Schulen gewidmet, soweit uns die Quellenschriften der Kirchenväter dieselben vermitteln.

Wesentlich in die Kreise gnostischer Gedankenwelt fällt nicht bloß die Gnosis der Ebioniten, sondern ebenso die derjenigen Kirchenväter, die im ganzen Aufbau ihrer Lehre oder auch nur in wesentlichen Punkten als gnostische Lehrer erscheinen. Konnte der formelle Mangel der Exkommunikation die gnostischen Lehrer nicht aus dem Kreise der Gnosis ausschließen, so auch nicht der Mangel eines formell christlichen Bekenntnisses diejenigen Heiden, die in wesentlichen Zügen, wie dies die Neuplatoniker tun, gnostische Lehren verkündigten, welche in allen wesentlichen Punkten mit denen der gnostischen Häretiker stimmen, die man ausschließlich als Gnostiker zu klassifizieren beliebte. Es kann die Wissenschaft nicht, wie es bisher geschehen (selbst das letzte Werk über diesen Gegenstand, das von Mead, huldigt diesem Vorurteil) sich von einer ganz unsachgemäßen Schablone der Kirchentheologie bestimmen lassen, in der Frage was zu ihrem Gegenstande gehöre oder nicht gehöre.

Es ist selbstverständlich, dass die bisherige unglaubliche Unwissenheit über den eigentlichen Gegenstand der Gnosis, welche die manichäische Gnosis gar nicht zur Gnosis zählte, hier nicht maßgebend sein durfte, weshalb denn der Abschnitt über dem Manichäismus den Abschluss des Bandes über die antike Gnosis bildet.

Dieselbe Notwendigkeit über eine ganz borniert kirchliche Schablone hinauszugehen, die unsere Wissenschaft demungeachtet sozusagen unbesehen anzunehmen für gut fand, bewegt mich auch im zweiten Bande dieses Werkes, der das Mittelalter und die Neuzeit umfasst, alle diejenigen Bewegungen, Schulen und Lehren als gnostisch in den Kreis der Darstellung hereinzuziehen, die das Geistige und Göttliche nur aufgrund lebendiger Vernunftanschauung-, nicht aber im Sinne von Phantomen blinden

Glaubens anerkennen. Es wird sich zeigen, wie eine solche Grundlage positiver Anschauung, bei aller Abweichung in den äußeren Formen, die derart Schauenden, die Erkennenden in der Übereinstimmung aller wesentlichen Grundlagen der Lehre in einer Katholizität von unvergleichlich höherem Sinne vereinigt. Vorliegende Planskizze macht übrigens keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Der zweite Band beginnt mit der Darstellung der gnostischen Bewegung im byzantinischen Reiche, im benachbarten Persien und im Kalifenreiche, um an die arabische Weisheit anknüpfend auf die Kabbala, die Gnosis der Juden überzugehen. Ein umfangreicher Abschnitt ist dem Manichäismus des Mittelalters, seiner Lehre und seiner Märtyrergeschichte sowie verwandten Bewegungen gewidmet. Besondere Abschnitte nehmen die gnostischen Lehrer Scotus Erigena, Amalrich von Bena, Joachim de Floris und Meister Eckhart in Anspruch. Von besonderer Wichtigkeit sind die gnostischen Grundlegungen der Renaissance, an die sich dann Lehrer wie Giordano Bruno und Spinoza anschließen, sowie die deutschen Mystiker und Jakob Böhme, ferner geheime Gesellschaften von gnostischem Charakter, wie die Freimaurer, Martinisten, Illuminaten usw. Unverkennbar gnostischen Charakter zeigt der Grundgedanke der Quäker ebenso, wie auch, trotz aller fantastischen bildlichen Verbrämung die Anschauungsweise Swedenborgs und seiner neuen Kirche, so wie auch die deutsche Romantik, vornehmlich in Hölderlin und Novalis.

Schon die innige Verwandtschaft mit den Neoplatonikern weist auf die gnostische Grundlegung der deutschen Idealphilosophie hin, die wir daher in ihrer Anknüpfung an die allgemeine Gnosis in den Hauptumrissen berühren müssen.

In viel frühere Zeiten führt die gnostische Grundanschauung des persischen Sufismus zurück, als deren moderner Ausläufer die Babisten Bewegung erscheint.

Ein wichtiger Wendepunkt tritt ein mit der Indischen Renaissance in Europa, mit der Orientalischen Theosophie, als deren hervorragendster Vertreter für Deutschland mit selbstständigem Gedankenkreis Hübbe-Schleiden erscheint, während Edward Maitland in England, der Stifter der Esoteric Christian Union, wieder an die antik-griechische Gnosis anknüpft.

Einen besonderen Abschnitt beansprucht die moderne gnostische Kirche von Südfrankreich.

Von hoher Bedeutung sind auch die gnostisch fundierten russischen Sekten, unter denen besonders die Duchoborzen hervorgehoben zu werden verdienen, die nicht bloß durch die grausamen Verfolgungen, welche sie von den russisch-kirchlichen Scheinchristen erleiden, sondern auch durch ihre Anknüpfung an einen hervorragenden gnostischen Lehrer der Gegenwart, Leo Tolstoi, unsere Aufmerksamkeit fesseln.

Diesen Propheten unserer Tage, sowie auch einen andern Lehrer, der als Gegenpol Tolstois erscheint, demungeachtet aber, wie schon dieser Band zeigen soll, in seiner großen prophetisch visionären Dichtung innig an Gestaltungen der antiken Gnosis anknüpft, – Friedrich Nietzsche, gilt es hier einfach in diesen Grundlinien zu kennzeichnen, da diesen Lehrern der Verfasser ohnehin spezielle Schriften gewidmet hat.

Den Abschluss soll die Darstellung moderner Schriftsteller machen, die in der lebendigen Anschauung des Universellen und Geistigen ihren Werken den Stempel des Gnostizismus eingeprägt haben. Diesen Ausführungen fügt der Verfasser schließlich eine kurze Skizze des eigenen Entwicklungsganges an.

Hier wäre auch der Ort, den groben Missverständnissen zu begegnen, mit denen angebliche Beurteilungen sich heute über Gedankenkreise hinaussetzen, die hoch über dem Niveau liegen, auf welchem sich die heutige Journalistik und Gelehrtenwelt (Ehre den Ausnahmen!) befindet, sofern solche überhaupt in der Lage sind, von den tiefsten und höchsten Geistesregungen nicht bloß der Gegenwart, sondern aller Zeiten in diesem Zeitalter allgemeinen Verfalles Kenntnis zu nehmen.

Ehrliche Widersacher jedoch, solche nämlich, die mit Begründungen auf den großen Gegenstand eingehen und nicht in der leider sehr verbreiteten unsittlichen Manier, ohne Begründungen absprechende Urteile fällen, sind uns willkommen, welcher Partei sie auch angehören mögen.

Es sind in diesem Werke und insbesondere in diesem ersten Bande die Texte der Quellen in den Hauptpunkten möglichst wörtlich wiedergegeben worden, schon um den Leser in den Stand zu setzen, die an dieselben angefügten Erklärungen mit dem Texte, konfrontieren zu können. Denn die Hauptaufgabe dieses Werkes war nicht, wie in bisherigen Bearbeitungen geschehen, eine Masse völlig unverstandenen Materials anzusammeln, sondern in die Gedankenwelt der Gnosis wirklich einzuführen, dieselbe im Geiste des Lesers lebendig zu machen.

Da jedoch diese Gedankenwelt unseren Modernen ebenso ferne steht, als sie andererseits von unermesslicher Bedeutung gerade für unsere Kultur ist, deren Schäden in der Theorie ebenso wie im öffentlichen Leben von Tag zu Tag für alle ernster denkenden Menschen in immer bedenklicherer Form an den Tag treten, so musste der Verfasser den Versuch machen, die Gedanken dieser Weisheit der ersten Jahrhunderte, die noch vom unmittelbaren Abglanz der Sonne Christi durchleuchtet waren, möglichst innig an all das Große anzuknüpfen, was der moderne Geist geschaffen hat. Denn so allein konnte er hoffen, im Geiste des modernen Menschen lebendig zu machen, was das Leben nicht bloß irgendeiner vergangenen Epoche, sondern das unvergängliche Leben des Geistes selbst ist.

Dr. Eugen Heinrich Schmitt

 

Vorrede

 

 

Der Zweck des vorliegenden Werkes ist, in ein Gebiet einzuführen, welches unserer westlichen Kultur im Großen und Ganzen völlig unbekannt ist, einzuführen in die Erkenntnis.

Ich habe absichtlich das deutsche Wort und nicht das griechische Wort Gnosis gewählt, weil das, was hier zur Darstellung kommen soll am Leitfaden all der wertvollen Bruchstücke einer zerstörten großen Literatur, einer Gedankenwelt, die die Wissenschaft in einem unvergleichlich höheren Sinne repräsentierte, als unser Europäertum, eben der eigentliche Sinn des deutschen Wortes ist. Mit dem griechischen Worte, welches ich als Titel gebrauchen musste, um nicht ein noch größeres Missverständnis hervorzurufen, verbindet sich heute die ganz verworrene Vorstellung, die durch die verständnislosen, mechanischen und doch meist ungetreuen und oft ganz verzerrten Kopien einzelner Bruchstücke gnostischer bildlicher Darstellungen durch Kirchenväter hervorgerufen worden ist. Man verbindet mit diesem Worte nämlich die Vorstellung verschiedener halb fantastischer, halb abstruser, im ganzen jedoch völlig sinnloser Figürchen und Redensarten, die man bis heute in den Kreisen der Fachgelehrten als Gnostizismus kennt. – Es herrscht so die gröbste Unkenntnis über den eigentlichen Gegenstand der Gnosis, in den Kreisen der Gelehrten ebenso wie der Ungelehrten.

So stand die Angelegenheit bis in die neuere Zeit, und selbst die Werke von so hervorragenden Männern wie Neander oder Ferd. Christian Bauer enthalten nur einzelne Lichtblicke in einen Nebel von Unverständnis gehüllt. Zur Entschuldigung aller solcher älterer Bearbeitungen muss jedoch angeführt werden, dass ihnen beinahe nur das höchst unvollkommene Material zu Gebote stand, welches ein Irenaus und seine Bearbeiter boten und ihnen die erst um die Mitte des vorigen Jahrhunderts vor die Öffentlichkeit gelangten wichtigen Quellenschriften fehlten.

Erst das neueste Werk über diesen Gegenstand, das von G. R. S. Mead: Fragments of afaith forgotten (London 1900), näherte sich in wesentlichen Zügen einer Lösung. Der eigene Standpunkt Meads war ihm bei seiner Aufgabe aber ebenso förderlich als anderseits wieder hinderlich. Fördernd insofern, als die orientalische Theosophie, deren Bekenner Mead ist, selbst eine, wenn auch eine noch halb in Autoritätsglauben versunkene, kritisch nicht geklärte Gnosis ist. Mead, dessen großes Verdienst um die Lösung der vorliegenden Frage nicht genug hervorgehoben werden kann, war jedoch allzu sehr in den halbmythischen Dunstkreis dieser orientalischen Art von Gnosis befangen, um die Hieroglyphen einer ungleich höher stehenden und aufgeklärteren Gnosis vollends entziffern zu können.

Ein Zeitalter, das im Agnostizismus gipfelt, das heißt im offen eingestandenen Bankrott aller eigentlichen Erkenntnis, hat keine Ursache Anstoß zu nehmen an der Behauptung, dass unserer Kultur die Erkenntnis fehle. Wir besitzen ein reiches Wissensmaterial in den verschiedensten Fächern. Wir haben sogar eine Anzahl Wissenschaften, freilich nur in der Form schematischer oder im besten Fall dialektischer Ordnung und Gruppierung dieses Wissensmaterials, doch nicht im Sinne einer Einsicht in den Sachverhalt und inneren Zusammenhang innerhalb der Grenzen auch nur der einzelnen Wissensgebiete. Wir haben in diesem Sinne eine Physik, eine Chemie, eine Biologie, eine Psychologie, sogar eine Psychophysik, welche übrigens nur die ganz äußerliche Parallele von Seelenakten und Resultaten der Nervenfunktionsmessungen, ohne irgendeine Einsicht in den inneren Sachverhalt und Zusammenhang der Tatsachen der beiden Gebiete bietet. Wir haben eine Kulturgeschichte und Soziologie, schließlich eine Logik und Mathematik, die den ganz äußerlichen Gedankenschematismus darstellen, der auf die verschiedensten Wissensgebiete Anwendung findet.

Wenn wir aber nach dem inneren sachlichen Zusammenhang fragen, der die Tatsachen der Physik und Chemie mit der Biologie, der die Biologie mit den Tatsachen des Geistes und seiner Universalformen, der Sinnesdinge und Gedanke, Natur und Vernunft verbindet, so schweigt dieses Wissen. Wir haben ein sehr reich entfaltetes Wissensmaterial und selbst Wissenschaften, bei denen aber von jeder einzelnen wieder der Satz Goethes gilt, dass sie alle die Teile in der Hand habe, ohne das geistige Band. Wir haben aber keine Einsicht in den inneren organischen Zusammenhang dieses Wissensmaterials und dieser Wissensgebiete, wir haben keine Wissenschaft, wir haben keine Erkenntnis.

Was einer solchen Erkenntnis zunächst im Wege steht in unserer modernen westlichen Kultur, ist der Mangel an reinem Blick. Es fehlt die Anschauung der Tatsachen des eigenen Bewusstseins, denn selbst äußerlich sinnliche Beobachtungen sind in erster Linie Tatsachen, existierende Erscheinungsformen des eigenen Innenlebens und Bewusstseins. Es fehlt der ruhige Blick, der sich in den Sachverhalt der Tatsachen wirklich vertieft, und das ganze Streben geht auf äußerliche vergleichende Beziehungen des Erkenntnismaterials und auf äußerliches Schematisieren. So geht vor allem der Tatbestand des eigenen Bewusstseins und damit der einzige Schlüssel verloren, der uns die Einsicht eröffnen könnte in den Tatbestand einer Welt des Erkennens. Gnosis ist vor allem Anschauung der Tatsachen des eigenen Innern und durch diese und in diesen die Einsicht in den Zusammenhang der Stufenleiter aller Erscheinungen.

Es soll hiermit nicht gesagt sein, dass unserer modernen Welt aller Sinn für Gnosis, aller Blick in die Tiefen des Lebens verloren gegangen ist. Aber nur ganz vereinzelte Geister, von deren Bestrebungen eben in diesem Sinne die große Welt keine Kenntnis genommen, haben begonnen die Grundlagen einer Erkenntnis zu entwerfen, die auf solchem Schauen mit reinem ungetrübtem Blicke beruht. Ein moderner Gnostiker, von welchem als solchem die Welt nichts wusste, trotzdem er der berühmteste Mann des Zeitalters ist, ist Leo Tolstoi – wie der Verfasser Gelegenheit gehabt in der Schrift „Leo Tolstoi in seiner Bedeutung für unsere Kultur“, zu zeigen. Einer Gnosis in solchem Sinne hat auch, schon seit Veröffentlichung seiner Schrift über die Gottheit Christi, der Verfasser dieses Werkes gehuldigt. Die Gnosis in solchem Sinne repräsentieren neuestens auch die Gebrüder Hart und Bruno Wille und Andere. Doch über alle diese Neugnostiker soll im zweiten Bande dieses Werkes ausführlich berichtet werden.

Als der Verfasser dieses Werkes den Plan hatte, dem vorliegenden Gegenstand, dem Gnostizismus, ein eingehendes Studium zu widmen, leuchtete ihm ein, dass durch all die für das oberflächliche Urteil so verschieden scheinenden gnostischen Schulen ein großer Grundgedanke hindurchleuchtete, und dass dieser Grundgedanke der der Evangelien war. Denselben Gedanken der Einheit der Gnosis aller Schulen spricht aber auch eine Schrift des gegenwärtigen Patriarchen des südfranzösischen Gnostiker, Synesius (Fabre des Essarts) schon in ihrem Titel „L'abre gnostique“ ganz zutreffend aus. Dem Verfasser wurde klar, dass dieser von der modernen Europäerkultur in seinem Wesen und in seiner Tiefe unverstandene neue Weltgedanke mit dem Wissensmaterial, welches die antike Welt in allen ihren fortgeschrittensten Völkern und deren hervorragendsten Lehrern jenem Zeitalter zur Verfügung stellte, in einer höchst sinnigen ja genialen Weise geistig verarbeitet worden war. Es wurde mir klar, dass die Gnostiker vom Standpunkte eines großen Grundgedankens nicht bloß der scheinchristlichen Theologie der Kirchen, deren eigentliche Gründung sich an den Namen des römischen Imperators Konstantin anknüpft, sondern auch der modernen naturalistischen Wissenschaft überlegen waren. Das eingehende Studium der Quellen und insbesondere der neu entdeckten Quellen der Gnosis sollte jedoch zu meinem Erstaunen eine noch merkwürdigere Tatsache zutage fördern, die Tatsache nämlich, dass diese Gnosis der ersten Jahrhunderte wirklich schon im Besitze jenes einheitlichen Erkennens war, wenigstens in seinen großen Zügen, welchem wir modernen Gnostiker, ohne eigentlich zu wissen, dass wir solche waren, als Ideal unserer Bestrebungen entgegen rangen.

Durch meine eigenen Bestrebungen, selbstschöpferisch die Gnosis, die auf Anschauung der Tatsachen des eigenen Bewusstseins beruhende Einsicht in den Sachverhalt und inneren Zusammenhang des reichen Materials unseres Wissens hervorzubringen, befand ich mich, angesichts der Bruchstücke der gnostischen Literatur, die ein glücklicher Zufall aufbewahrt hatte vor der allgemeinen Zerstörung durch die kirchliche Barbarei, in der Lage eines Fachkenners, der aus Trümmern eines großen Kunstwerkes die schöpferischen Motive desselben zu verstehen und schließlich das zerstörte Ganze, in gewissem Masse wenigstens, im Geiste wiederherzustellen, vermag. Wie der Kenner der Baukunst aus den zurückgebliebenen Fundamenten, dann aus einer Anzahl von Säulen und Kapitalen das Parthenon von Athen in seiner einstigen Herrlichkeit im Geiste wiederherzustellen vermag, so hier der mit den schöpferischen Grundmotiven der Gnosis vertraute.

Mead hatte darauf hingewiesen, dass solche Errungenschaften, wie die Theorie des Kopernikus, im Besitz der Gnostiker waren (durch die Chaldäer), ja dass wundersam genug die moderne Schwingungstheorie und Keimzellentheorie in gnostischen Schulen schon in voller Aktualität vorhanden waren. Wir finden auch die Grundgedanken der Entstehung der Arten im Lichte dieser Schwingungstheorie beleuchtet und abgeleitet, doch wir finden unendlich mehr: das lichtvolle Begreifen der Einheit von Geist und Organisation, ja der Einheit aller Höhen und Tiefen des Wissens. Der Anblick des geistigen Baues, der sich mir in immer steigender Herrlichkeit, all das Moderne in den großen Grundzügen weit überragend, bot, war ebenso überraschend wie entzückend. Es entschleierte sich mir wieder die heilige Gnosis der fernen Zeiten als jener große Lichtstrom des Erkennens, der in einem unteilbaren Lichte die Höhen lebendiger Vernunftanschauung mit den Tiefen der Natur, der Organisation und Geist, die Funktionen der Physik und die Funktionen, in deren Äther die subtilen Formen der Logik und Mathematik dem Bewusstsein in lebendiger Gestalt sich offenbaren, alle diese so fernliegenden Gestalten in untrennbarer durchsichtiger Einheit des Erkennens verwob.

Wenn ich mir vorstelle, dass einer jener großen Lehrer der Gnosis wiedererstanden unter uns wandelte und alle die imposanten Gestaltungen, zu der sich die Kultur unserer großen Europäer emporgerungen, zu betrachten Gelegenheit hätte, so würde er den Reichtum und auch die Feinheit in den Einzelheiten des Wissens, die ohne Zweifel die Details, insbesondere des Naturerkennens jener fernen Zeiten weit überragt, bewundert haben; an all die Anerkennung würde er demungeachtet das Urteil angefügt haben: Es sind doch Barbaren.

Nicht bloß über die entsetzliche Rohheit und Niedrigkeit der sittlichen Grundsätze, die heute noch in Staat und Kirche und Gesellschaft herrschen und geheiligt sind, würde er, angesichts des unvergleichlichen Adels der eigenen sittlichen Grundsätze dies Urteil ausgesprochen haben, sondern auch angesichts der Tatsache, dass dieses reiche Wissen nicht zur Wissenschaft, nicht zur einheitlichen Erkenntnis, zur Einsicht in den Zusammenhang der verschiedenen Wissensgebiete sich zu erheben vermocht hat.

Das Kennzeichen jeder Barbarenkultur mag sie übrigens noch so reich und glänzend sein, ist, dass sie Stückwerk ist und über eine Sammlung von Bruchstücken nie hinauskommt. Der Barbar ist Stückmensch, ist ein in sich zerrissener, zerspaltener Mensch. Es fehlt ihm die harmonische Einheit des Bewusstseins, der ruhige durchdringende Blick, das Eindringen des geistigen Auges in den Sachverhalt des eigenen Innern und durch dieses auch in die Dinge, die doch nur in diesem Innern gegeben sein können. So wie nur eine ruhige im Gleichgewicht der Masse befindliche Flut Himmel und Erde klar wieder zuspiegeln vermag, so vermag auch nur das in sich harmonische, das in seinem Innern nicht zerrissene Gemüt das Geheimnis seines Selbst und das Geheimnis aller Wesen zu schauen mit dem durchdringenden, ruhigen, harmonischen Geistesblicke. Es fehlt den Modernen das lichte, reine Griechenauge der Gnosis, das Auge des ganzen Menschen, der reine ungetrübte Blick, welcher zugleich auch der große Blick ist, der in alle Fernen sieht und das Entfernteste verbindet. Das Primitive aber ebenso wie das Hohe und Entfaltete und Reiche lässt sich nur durch einen solchen Blick wahrhaft erkennen. Welchen Vorteil z. B. die unbefangene, reine gnostische Anschauungsweise bietet, zeigt sich nicht bloß bei den höchsten Gegenständen der Erkenntnis, sondern ganz besonders auch bei den einfachen. Das zeigte sich mir hier in dieser Schrift besonders bei der Betrachtung des vorhistorischen Menschen oder auch des Wilden, seines Gespensterglaubens und Zauberglaubens, dessen einfache durchsichtige Auflösung vom Standpunkte gnostischer Betrachtungsweise eigentümlich absticht gegen die gequälten und gekünstelten gelehrten Erklärungsversuche, eines Spencer und anderer sogenannter Positivisten.

Dieser unbefangene, reine, den geistigen Gegenstand in seinem lebendigen Sachverhalte schauende, sich in die Sache vertiefende, mit ihr lebende, der lebendige Blick, dem hiermit allein auch die Tiefen jedes Gegenstandes, auch des einfachsten, sich eröffnen, ebenso wie die Riesen Perspektive, die von jedem Gegenstande geistigen Schauens in alle Gebiete des Erkennens, in die lebendige göttliche Einheit hinüberführt, deren Name Vernunft, schöpferischer Logos ist, dieses Schauen des Wortes, welches Geist und Leben ist, ist die Gnosis.

Die Bekanntschaft mit den derart erschlossenen Gedankenkreisen der großen gnostischen Lehrer zeigte seine Fruchtbarkeit darin, dass nicht bloß meine eigenen früheren gnostischen Grundgedanken und Ausführungen bekräftigt und in klarerem Lichte erschienen, sondern auch darin, dass sich mir mit diesem Studium eine Reihe neuer großer Gesichtspunkte und eine Fülle lichtvoller Gedanken eröffnet hat, so wenig uns auch von der großen Literatur der Gnosis aufbewahrt worden ist aus den Stürmen jener furchtbaren Rückwirkung der alten Welt und der alten Barbarei, deren Herrschaft noch heute nicht gebrochen ist und die wir am zutreffendsten als Konstantinisches Staatskirchentum bezeichnen können. In die Freude, die diese Entdeckung einer neuen Welt des Erkennens der großartigsten, imposantesten Art in mir erweckte, mischte sich daher zugleich auch der tiefe Schmerz über den Verlust all der Herrlichkeiten jener gnostischen Literatur, die in wenigen ärmlichen Bruchstücken auf uns gekommen, noch so groß erscheint.

Wenn man jedoch mit dieser vandalischen Zerstörung der gnostischen kulturellen Grundlegung und ihres Riesenbaues der Erkenntnis durch das Staatskirchentum beabsichtigt hat, der Menschheit diese Schätze für immer zu entziehen, diese Herrlichkeiten des Geistes für immer zu begraben, so können wir heute schon ruhig sagen, dass der teuflische Anschlag misslungen, dass der Streich, der die Menschheit für immer vor jenem Geisteslichte verschließen sollte, um sie in alter Finsternis und Sklaverei zu erhalten, nicht gelungen ist. Aufs neue soll die Gnosis erstehen und mit ihrem milden heiligen und hohen Geisteslichte der Menschheit leuchten, die Eiseshülle, die vor der hohen Sonne die Geister und Herzen verhüllt, unaufhaltsam schmelzen bis zu jenem großen Tage, da der Verheißung des Ersten Verkünders der Gnosis gemäß alles vollbracht sein wird, bis das Reich der Tiermenschheit verschwunden sein wird von dem Planeten.

Da an jedem Punkte eine Fülle von Vorurteilen niederzuringen, grobe Missverständnisse zu beseitigen waren, das ganze verwickelte falsche ptolemäische System unserer sogenannten Wissenschaft mit allen ihren Sphären und Epizyklen zu beseitigen war, so musste ich mich notwendig in der Darstellung der gnostischen Lehren, die ich möglichst quellenmäßig wörtlich anführe, auf die Hauptpunkte und die großen Grundgedanken bei all den Lehrern und Schulen und Werken beschränken und die Erörterungen der Einzelheiten hier außer Acht lassen. Es war das nicht anders möglich, da jeder zitierte Punkt hier erörtert und im Zusammenhang des großen Ganzen der Gnosis beleuchtet werden musste, um dem modernen Verständnis überhaupt zugänglich zu werden. Wenn es befremdend erscheinen sollte, dass ich an allen Punkten möglichst die modernen Gesichtspunkte in Parallele herangezogen habe, so ist hier vor allem zu beachten, dass alles wirkliche menschliche Erkennen, mögen es nun Moderne erfasst haben oder mag es in fernen Jahrhunderten aufgeleuchtet haben, organischer Ausdruck derselben Menschennatur, sozusagen Verzweigung und Blätterwerk derselben Pflanze ist, die unverkennbar sich gleich bleibt, mag sie im eisigen Norden zwerghaft verkümmern oder sich unter wärmeren Himmelsstrichen in voller Kraft und Herrlichkeit entfalten. Um den Ausdruck des größten Ethnologen der Gegenwart, des genialen Adolf Bastian zu gebrauchen, es sind unverkennbar dieselben Elementargedanken der Menschheit, die die fernsten Kulturen verbinden und durchleuchten. Die Einsicht in die organische lebendige Einheit und hiermit die Einsicht in die schöpferische Quelle aller Formen menschlicher Kultur fehlt eben den Modernen. Diese kommen daher auch nicht zum sachlichen Verständnis und zu der aus der Einheit sich abzweigenden wirklichen Unterscheidung der betreffenden Kulturgedanken in dem unorganischen Auseinanderhalten toter Unterschiede, die in unverstandenen Worten und willkürlichen Schematismen endigen. Wer eine tote Wissenschaft in diesem alten verbrauchten Sinne in diesem Buche sucht, den erinnern wir hier an die Worte Nietzsches:

Dies ist kein Buch: was liegt an Büchern!

An diesen Särgen und Leichentüchern!

Vergangenes ist der Bücher Beute:

Doch hierin lebt ein ewig Heute.

Dies ist kein Buch: was liegt in Büchern!

Was liegt an Särgen und Leichentüchern!

Dies ist ein Wille, dies ist ein Versprechen,

Dies ist ein letztes Brücken-Zerbrechen,

Dies ist ein Meerwind, ein Anker-Lichten …

Eine ganz köstliche Illustration dieses gedankenlosen Schematisierens, welchem in sonderbarer Spitzfindigkeit selbst viele geistreiche Leute huldigen, bietet die ganze Art und Weise, in welcher man bisher den Gnostizismus wissenschaftlich behandelte.

Da die Gnosis auf Anschauung beruht, auf den geistigen Tatsachen, die sich dem inneren Menschen auftun im eigenen Denken und Erkennen, so ist alle Gnosis, möge dieselbe von den verschiedensten Schulen oder Lehrern zu den verschiedensten Zeiten verkündet worden sein, notwendig dieselbe eine Gnosis in ihren Verzweigungen der Darstellungsweise und dann noch der fortschreitenden Entfaltung der Probleme. Die Differenzen, die auftauchen, sind mehr taktischer als sachlicher Natur. Es verhält sich die Gnosis hier in wesentlich gleicher Weise wie die Mathematik, indem auch die Mathematik auf der notwendig übereinstimmenden Anschauung der Vernunft beruht, sofern sich diese den sinnlich bildlichen Einzelmomenten zuwendet und dieselben im Lichte der Vernunft, der Allanschauung des Denkens betrachtet. In der Gnosis wird jedoch nicht der bloße Bezug auf sinnlich veranschaulichbare Momente, sondern die Tatsache dieses Anschauens der Vernunft selbst zum Gegenstand der Betrachtung, der notwendig ebenso der bei allen Menschen gleiche sein muss. Es ist eine schon von Pythagoras übernommene Hauptlehre der Gnostiker, dass die wahre Gnosis die Mathesis ist, das heißt die in den Grundlagen ihrer Vernunfttätigkeit erkannte Mathesis. Es ist der Hauptgegenstand der Gnosis die Selbsterkenntnis der Vernunft, die das übereinstimmende Wesen aller denkenden Individuen ist. Es wird sich daher zeigen, dass alle gnostischen Lehren wesentlich übereinstimmen, und eigentlich denselben unteilbaren Gegenstand beleuchten, und dass es ebenso sinnlos ist, zweierlei Gnosis anzunehmen, wie zweierlei Mathematik. Die Gnosis ist so in viel höherem Sinne Positivismus als der in naturalistischen Dogmen und in einseitiger Anschauung des Grobsinnlichen befangene Positivismus der Modernen.

Das Verfahren der Gelehrten, die bisher diesen Gegenstand, die Gnosis behandelten, gleicht ungefähr dem Vorgehen von Menschen, die ohne einen Begriff von Geometrie zu haben, verschiedene Lehrbücher der Geometrie, die entweder nach verschiedenen Methoden der Beweise vorgehen, oder verschiedene Aufgaben behandeln, zu Gesichte bekommen und aus dem Umstände, dass in den verschiedenen Büchern ein verschiedener Satzbau vorkommt oder auch verschiedene Zeichnungen mit verschiedenen Hilfskonstruktionen vorliegen, den Schluss ziehen möchten, dass diese verschiedenen Lehrbücher eine ganz verschiedene Geometrie lehren.

Ganz nach derselben weisen Methode und mit ganz derselben Begründung hat man nicht bloß glücklich herausgebracht, dass die verschiedenen gnostischen Schulen, vom fabelhaften Simon dem Zauberer angefangen bis zu Mani etwas ganz Verschiedenes lehrten, das nur in einzelnen wiederkehrenden sonderbaren Märchen eine gewisse Übereinstimmung und Familienähnlichkeit zeigt, sondern man hat auch entdeckt, dass ein ganzer Zweig der Gnosis, die manichäische Gnosis eigentlich gar kein Gnostizismus, sondern etwas ganz anderes sei. Das Interessanteste jedoch ist, dass die Anhänger des konstantinischen Pseudochristentums mit seinem entsetzlich widersittlichen Gottesideale (ich erinnere nur an die Lehre von der unersättlichen Rachsucht jenes Gottes, der die Seelen ewig quälen lässt), dass diese Menschen, denen, wie Tolstoi richtig bemerkt, jeder Begriff der Lehre Christi verloren gegangen ist, erklären, der ganze Gnostizismus samt dem Manichäismus seien eigentlich gar keine christlichen, sondern heidnische Lehren, die die hohe sittliche Anschauung ihres famosen Christentums in den trüben Dunst der altheidnischen Naturreligionen verflüchtigt und aufgelöst hätten.

Doch noch auf einen allgemeineren Mangel der gebräuchlichen gelehrten Bearbeitung religiöser Gegenstände muss ich hier aufmerksam machen, der übrigens mit der unzusammenhängenden, abgerissenen Art moderner wissenschaftlicher Betrachtung überhaupt zusammenhängt.

Wir besitzen eine reiche Literatur religionsgeschichtlicher und religionsphilosophischer Werke, welche die Erscheinungen des religiösen Lebens zum Gegenstand haben, und die ein riesiges Material gelehrter Details angehäuft und verarbeitet haben. Es sind diese großen Fragen kulturellen Lebens, die mit erschütternden Kämpfen die vergangenen Jahrhunderte erfüllten und deren Konsequenzen den ganzen Gang und die Zukunft unserer Kultur bestimmen, dann auch von den verschiedensten Parteistandpunkten kirchlicher Konfessionen und freier Forschung behandelt worden.

Alle diese gelehrten Arbeiten stimmen aber darin überein, dass sie die Entwicklung religiösen Lebens als eine bloße Geschichte religiöser Meinungen und Lebensvorschriften, abgetrennt von allen sonstigen Formen gesellschaftlichen Lebens und kulturellen Ringens betrachten und in dieser isolierten, vom Boden der Gesamtkultur losgerissenen Betrachtungsweise, den wesentlichen Sinn und die eigentliche Bedeutung religiöser Kulturgestaltungen erfasst zu haben glauben.

Für die im Autoritätsglauben, das heißt, im blinden Glauben an fremde Eingebungen und Einflüsterungen irgendeiner Art befangene Denkweise, also für alle Sorten von Theologie ist diese Behandlungsweise notwendig, indem hier die religiösen Lehren und Lebensgrundsätze als Offenbarungen irgendeiner jenseitigen gespenstischen Macht erscheinen, die leitend und ordnend in das Leben der Geschichte hineinragt, und daher in einem äußerlichen Verhältnisse zum kulturellen Gesamtleben stehen und in ihrer angeblich rein übermenschlichen und überkulturellen Natur für sich betrachtet und gewürdigt werden muss. Diejenigen Bearbeitungen jedoch, welche sich nicht zu einem Opfer der Vernunft verstehen, machen es sich zur Aufgabe die fantastischen und abstrusen Formen religiösen Lebens einfach als vernunftwidrig, als der wissenschaftlichen Erkenntnis widersprechende Phantome zu kennzeichnen. Oder man sucht das eigentliche Gebiet wissenschaftlich zu rechtfertigender Religiosität auf moralisierende Gefühlsregungen einzuschränken, ja diese moralisierenden Gefühlstöne selbst, die sich durch alle staatskirchlichen Religionen hindurchziehen, als den eigentlichen wahrhaften Kern solcher Religionen anzuerkennen, dem gegenüber die fantasiemäßigen Formen der Weltanschauung als bloße unwesentliche Zutaten erscheinen.

Diese Formen der Aufklärung und des Liberalismus verbergen aber den wahren Sachverhalt der Formen fantasiemäßigen religiösen Bewusstseins nur in viel wirksamerer Weise vor der Menge derjenigen Menschen, bei welchen der Autoritäts- und Bilderglauben sich intellektuell und sittlich überlebt hat, als die konfessionellen Anstalten solchen Glaubens es vermögen.

Es soll in dieser Schrift erörtert werden, wie natürlich ursprünglich dem der Tierheit sich entringenden kindlichen religiösen Bewusstsein der Menschheit die Grundformen der heute noch herrschenden großen Religionssysteme waren und in welcher Weise sie einst das Emporringen zur Geistigkeit, den Fortschritt repräsentierten. Seit dem großen Momente der Kulturgeschichte jedoch, in welchem der Mensch zum Bewusstsein seines eigenen inneren Alllebens seines individuellen Allseins erwacht war und die Strahlen dieses Gottbewusstseins nun der aufgehenden Sonne gleich sich stetig auszubreiten begannen in der alten Nacht, waren alle Veranstaltungen, welche die intellektuell primitiven Grundanschauungen eines Autoritätsglaubens zu befestigen suchten, der das Sichbeugen des Menschen vor äußeren despotischen Mächten des Alls forderte, im Kerne ihres Wesens widersittlich. Es war das Bestreben, diese Weltanschauung und die sich organisch an dieselbe anknüpfende alte barbarische Kultur zu erhalten, in der Wurzel kulturfeindlich und fortschrittsfeindlich. Die Ideale, die solche Kulturanstalten der großen Menge der Menschen als verehrungswürdig vorstellen, konnten von da an bis auf den heutigen Tag nur hemmend, verfinsternd und demoralisierend auf die große Masse wirken. Seit jener Zeit hat es nur ein ungeheures Ringen des alten Tiermenschen und seiner Kultur mit dem erwachenden Gottmenschen gegeben.

In den kulturellen Grundanschauungen dieses Tiermenschen aber, wie sie dann das vom Staat bevormundete und von Motiven der Politik geleitete Kirchenwesen in der Gestalt dogmatischer Leitmotive zur Grundlage des gesellschaftlichen Lebens der Völker gemacht hat, nichts als sinnlose Fantastereien und haarspalterischen Unsinn zu sehen, über den die Aufgeklärten lächeln, heißt die tief in das Volksleben der Gegenwart eingreifende kulturelle Bedeutung dieser Anschauungen alten Glaubens und Aberglaubens in der Wurzel verkennen. Die moralisierende Überzuckerung dieses Giftkuchens aber, welchen man dem Volke als Brot vom Himmel auftischt, für das eigentlich wesentliche erklären, (wie ein Harnack, der sensationellste Kirchengelehrte von heute tut), heißt in direkter Weise den entsittlichenden Trug fördern, den die staatlich privilegierten Kirchen als solche und kraft ihrer dogmatischen Grundlehren und vermittels ihrer angeblichen Ideale verüben.

Mit der Erkenntnis, dass die Erscheinung Christi in der Geschichte, bei aller geschichtlichen Vorbereitung, denn doch den vollständigen Bruch mit den Grundanschauungen, sowie mit den Lebensformen des alten Menschen, des Tiermenschen bedeutet, und dass der wesentliche Inhalt des nun folgenden Abschnittes der Geschichte nichts darstellt als das große Ringen nach dem im Menschen aufgegangenen Alllichte, nach dem göttlichen Selbstbewusstsein sind wir mit einem Schlage in den Mittelpunkt unserer Aufgabe getreten. Es ist dies das milde Licht der Seelen, welches den Geistesfrühling der Menschheit herbeiführen soll. Es ist das Ringen wider die Mächte der alten Nacht, des alten Winters, wider den im engen, im tierischen Ich erstarrten Menschen der Vorwelt, der sich und seine Kultur aufkeimenden edleren Formen des Denkens und Lebens gegenüber zu erhalten sucht.

Die Gnosis ist daher nicht bloß eine Angelegenheit der Theorie, nicht bloß eine Lampe, die da flackert im trüben Dunstkreis der Schule. Die Gnosis ist das Licht der Welt; die Gnosis ist die Sonne des Lebens.

Dieses große kulturelle Ringen nach dem Lichte, nach der Welt- und Lebensanschauung des Gottmenschen, dieses Streben nach Ausgestaltung der Weltanschauung und des gesellschaftlichen Lebens im Geiste einer neuen großen Grundanschauung ist die Gnosis, wie sie im Kampfe erscheint mit denjenigen kulturellen Mächten, die die alte, intellektuell und sittlich rohe Weltanschauung und die einer solchen entsprechende barbarische öffentliche Lebensgestaltung zu erhalten gesucht haben, in einer von grundsätzlichen, systematisierten Verbrechen bis auf den heutigen Tag besudelten Geschichte, in den Institutionen der Kirchen und Staaten.

Dieses Aufgehen paradiesischen Lichtes in den Seelen, welche sich den Fesseln blinden äußeren Autoritätsglaubens entrungen haben und dieses große Martyrium im Ringen für die Ideale einer milderen edleren Kultur im Kampfe mit der schleichenden Tücke und der verbrecherischen Gewalt der Mächte einer niedergehenden rohen Kultur, das ist der Gnostizismus und seine Geschichte, wie wir sie hier in gedrungenen Umrissen zu entwerfen unternehmen.

Einer der großen Propheten und Vorkämpfer dieser lichteren besseren Welt, Leo Tolstoi, hat es schon betont, dass nicht bloß die scheinchristliche Kirchenlehre, sondern ebenso sehr die moderne Aufklärung und ihre naturalistische Wissenschaft den großen Grundgedanken Christi eigentlich gar nicht kenne, ihm völlig unwissend und fremd gegenüberstehe. Indem nun allen den gelehrten Bearbeitungen, die den Gnostizismus und seine Geschichte auf solchen Grundlagen darzustellen unternahmen, der Schlüssel zum Verständnis dieser merkwürdigsten und bedeutsamsten Erscheinung der menschlichen Kulturentwicklung gefehlt hat, so konnten von solchem Standpunkte die verschiedenen gnostischen Lehrsysteme der Antike und des Mittelalters nur als eine Reihe sonderbarer fantastischer Verirrungen des menschlichen Geistes erscheinen, die in losen Zusammenhang zueinander und in ihrer weltfremden Träumerei auch in keinem näheren Zusammenhang zum kulturellen Leben der Geschichte stehen.

In diesen letzteren Irrtum der Schulgelehrten sind übrigens die Politiker der Kirche und des Staates nie verfallen. Die Maßregeln der Cäsaren ebenso wie die durch das Mittelalter hindurch bis in das Reformationszeitalter hinein glimmenden Scheiterhaufen haben Zeugnis dafür abgelegt, dass man in diesen Kreisen den unversöhnlichen Feind uralter Barbarei mit richtigem Instinkte erkannt hat.

So hat sich denn an den Gnostikern vom Beginn der christlichen Epoche an das Wort Christi erfüllt: Ich sende euch wie die Schafe unter die Wölfe. Wie sie mich gehasst haben, werden sie euch hassen, wie sie mich verfolgt haben, werden sie euch verfolgen. Es soll aber an ihnen auch das Wort in Erfüllung gehen: Sie haben mich umsonst gehasst. Und dieses geknickte Rohr soll nicht zerbrochen werden und dieser glimmende Docht soll nicht erlöschen bis Alles vollendet ist – das heißt, bis das Reich der triumphierenden Bestie, bis das Reich des Tiermenschen samt all seinen Institutionen, die das Kainszeichen, das apokalyptische Zeichen des Brudermordes an der Stirn tragen, verschwunden sein wird und der Verheißung gemäß die Sanftmütigen das Erdreich besitzen werden.

Und dass wir am Anfang dieses Endes stehen, das bezeugen wichtige Zeichen der Zeit. Vor allem die merkwürdige Erscheinung, dass die gröbste Form, in welcher die Institutionen des Zeitalters des Tiermenschen ihre Tierheit manifestierten, die Form des Massenmordes im Kriege, welche vor Kurzem noch als ruhmreiches Thun galt, heute schon in den weitesten Kreisen, in allen Schichten der Gesellschaft vom Zarenthrone bis zur Hütte des Landarbeiters in ihrem verbrecherischen Grundcharakter anerkannt und öffentlich gebrandmarkt ist. Wenn heute klägliche jesuitische Zweckmäßigkeitsgründe und angebliche Nötigungen aus solchen Gründen das Verbrechen als solches nicht mehr zu verdecken vermögen, so ist wirklich nicht abzusehen, wie ähnliche Zweckmäßigkeitsgründe und sophistische Entschuldigungen, die man für die sonstigen administrativen und juridischen Betätigungen dieses Kultursystems stammelt, solche mehr schleichenden Formen systematisierter Missetaten zu retten vermöchten vor der unausbleiblichen öffentlichen sittlichen Ächtung, deren Hochflut immer mehr steigt. Denn dass dies System in allen seinen religiösen, politischen, juridischen und sozialen Formen auf der Anklagebank der Weltgeschichte sitzt und entschuldigt werden will, ist heute aller Welt klar.

Dieser negativen Seite muss sich jedoch die positive anschließen, um die Grundlegung einer lichteren, ungleich milderen Kultur vorzubereiten in der Weltanschauung, deren Geisteslicht allein den ersehnten Weltfrühling zu erwecken vermag.

Nicht das grausame Wüten der römisch-heidnischen Cäsaren und auch nicht das noch entsetzlichere blutige Wüten der Weltherrscher des priesterlichen Rom, welche den Heilsgedanken Christi in Strömen Blutes zu ersticken suchten und im Qualmen zahlloser Scheiterhaufen, konnte dieses Licht der Welt in Nacht versenken. Die große Kette der Kämpfer des welterlösenden Alllichtes der Seelen ist nicht abgebrochen. Sie zieht sich hin bis ins Zeitalter der Renaissance und von da an bis in die Gegenwart, wo verschiedene Strömungen unter verschiedenen Namen unverkennbar denselben großen Grundgedanken vertreten.

Die Gnosis hat Feinde, jedoch keine Gegner, eben weil der innere Zeuge in der Brust jedes Menschen für sie Zeugnis ablegt, Zeugnis ablegt in dem kalibanischen Hass der Feinde ebenso wie in der Selbstaufopferung ihrer Märtyrer und Heiligen. Denn die Gnosis ist nicht eine Parteisache, das Interesse dieser oder jener Schicht von Menschen. Die Gnosis ist das innerste Geheimnis des Menschen, das unendliche Erbarmen für alle, die eine unteilbare Seligkeit aller, die himmlische Hoheit aller, das schlummernde Paradies in jeder Menschenseele. Den Feinden gegenüber kennt sie daher keinen Hass, keinen geheiligten Vergeltungstrieb weder im Himmel noch auf Erden; sie spricht ihnen gegenüber das Wort der Vergebung aus, das Christus sprach, der erkannte, dass sie nicht wissen, was sie tun. Sie erkennt, dass das Heil nur im lebendigen Wissen liege.

Die Gnosis ist daher auch keine bloße Theorie. Sie ist ein Himmelsdrang, sie ist ein leuchtendes Wollen, das Wollen des Lichtstrahles, der die Wolken und Nebel durchbricht. Sie hat nicht den Frieden gebracht, sondern das Schwert, das blutige Schwert der Verfolgung in den Händen ihrer entmenschten Feinde und das Schwert des Geistes für sich, diesen milden gewaltlosen allüberwältigenden Himmelsstrahl. Sie ist aber zugleich die Gewissheit des Sieges, das stille Licht der Ewigkeit, das über dem Kampfe und den Wogen der Zeiten flutet in seliger Ruhe und den Kämpfern die Worte in das Ohr flüstert: Seid getrost und fürchtet euch nicht, denn ich habe die Welt bereits überwunden im Geiste.

 

Forderung der Gedankenfreiheit ein Anhang zur Vorrede

 

 

Noch einen anderen heute immer aktueller werdenden Gegenstand muss ich jedoch als Anhang erörtern: Die Frage der Gedankenfreiheit.

Es ist eine Schmach für das Zwanzigste Jahrhundert, dass diese Frage mehr als hundert Jahre nach dem Auftreten des großen Fichte aufs Neue erörtert werden muss.

Ich muss diesen Gegenstand hier erörtern, weil nicht bloß in Österreich die Schrift des Verfassers „Die Kulturbedingungen der christlichen Dogmen und unsere Zeit“ durch eine Verordnung des Laibacher Landesgerichtes verboten worden, sondern neuestens auch gegen den Verleger dieser Schrift wegen der Herausgabe eines offenen Briefes Leo Tolstois der berühmten „Antwort an den heiligen Synod“ (enthalten in der Broschüre „Der Sinn des Lebens“) aufgrund des § 166 des Reichsstrafgesetzbuches die Anklage erhoben worden ist. In letzterem Fall erfolgte die Anklage also gegen eine öffentliche Äußerung, die in Russland selbst, wo sie geschehen und großes öffentliches Aufsehen erregt hat, keinerlei gerichtliche Verfolgung der Persönlichkeit, die sie getan, zur Folge gehabt hat.1

Die Aufgabe der folgenden Zeilen soll nun sein, die Grenze klarzulegen, die das Recht im engeren Sinne von der Gerichtsbarkeit in Glaubens- und Gewissenssachen, von dem, was man am besten mit dem Worte heilige Inquisition bezeichnet.

Der § 166 des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich, welcher vornehmlich bei der Beurteilung schriftlicher oder mündlicher Äußerungen in religiösen Dingen in Betracht kommt, lautet folgendermaßen:

„Wer dadurch, dass er öffentlich in beschimpfenden Äußerungen Gott lästert, ein Ärgernis gibt, oder wer öffentlich eine der christlichen Kirchen oder eine andere mit Korporationsrechten innerhalb des Bundesgebietes bestehende Religionsgesellschaft oder ihre Einrichtungen und Gebräuche beschimpft … wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft.“

Der Paragraf enthält, nach obigem Wortlaute noch keinerlei Befugnis zu einem eigentlichen Glaubensgerichte und überschreitet die Befugnisse des Rechtes wie es im Rechtsstaate geübt wird (im Gegensatz zum theokratischen Staate des Mittelalters und Altertums) noch nicht.

Obiger Paragraf will nur die gesetzlich anerkannten kirchlichen Körperschaften auf dem Bundesgebiete des deutschen Reiches vor Beschimpfungen, die sie als konkrete Körperschaften treffen, schützen. Es ist das eine Frage die unmittelbar wenigstens den sittlichen Wert ihrer Glaubenssätze in keiner Weise berührt, da obiger Paragraf als diese allgemeine, nichtinquisitorische Rechtsformel nur die juridische Ehrbarkeit der betreffenden Körperschaften und die juridische Ehrbarkeit ihrer Einrichtungen und Gebräuche vor Angriffen sicherstellen will.

Es hat im Verlaufe der Geschichte sehr viele religiöse Gebräuche und Lehren gegeben und gibt auch heute noch solche, die vom Standpunkte einer edleren sittlichen Denkweise bei den vorgeschrittenen Menschen wenigstens Anstoß erregen, ohne dass doch der gute Glaube, der ehrliche Glaube an die Heiligkeit und Erhabenheit dieser Lehren oder Gebräuche bei den Mitgliedern der Körperschaften, die solche Lehren repräsentierten, in Zweifel gezogen werden müsste. Vom absolut sittlichen Standpunkte waren diese Lehren und die Institutionen die sie vertreten unbedingt zu verwerfen, doch dies Urteil berührte die bürgerliche, die juridische Ehrbarkeit der Körperschaften in keiner Weise, da das allgemeine Recht in keiner Weise Anstoß nahm an der Verkündung solcher Grundsätze und dieselben also dem sittlichen Niveau, auf welchem die Gerichtsbarkeit selbst stand, oder welches sie wenigstens duldete, entsprachen.

Aber selbst dort, wo das fortgeschrittene öffentliche sittliche Bewusstsein sich bereits hoch über den Standpunkt erhoben hat, welcher in solchen religiösen Körperschaften vertreten wird, und infolge dessen der Verdacht erwachen kann, dass die Repräsentanten dieser Körperschaften aufgrund ihres allgemeinen Bildungsniveaus den niedriger stehenden sittlichen oder intellektuellen Standpunkt ihrer Religionslehre nicht mehr aufrichtig teilen, sondern nur, weil es eben ihr Amt erfordert, äußerlich bekennen, also der Heuchelei verfallen sind, so lässt sich selbst in diesem Falle ein solcher Verdacht doch nur ganz im Allgemeinen aussprechen, nicht in Bezug auf die konkreten Körperschaften an diesem oder jenem Orte. So wenig wir nämlich in der Lage sind, Herz und Nieren des einzelnen Menschen zu prüfen, und festzustellen, ob er das, was er öffentlich bekennt, wirklich ehrlich glaubt, so wenig sind wir in der Lage, die konkrete Körperschaft irgendeines beliebigen Ortes der Heuchelei zu zeihen. So wie dem Einzelnen Unrecht geschehen kann, wenn wir ihn ohne die aller direktesten und zweifellosesten Beweise (und diese werden im Allgemeinen schwer zu erbringen sein) – der bewussten Lügenhaftigkeit und der Absicht zu täuschen anklagen, so auch einer Körperschaft in denjenigen Mitgliedern, die ohne Beweis angeklagt werden, Heuchelei und Volksbetrug zu üben.

Es kann jedoch geschehen, dass die allgemeinen Bildungsverhältnisse nicht bloß den dringenden Verdacht nahelegen, dass die Priester in Masse der Heuchelei heute schon verfallen sind, sondern die Gewissheit eines solchen Sachverhaltes kann sich in dem Maße gesteigert haben, dass es zur sittlichen Pflicht wird, auf diesen immer weiter um sich greifenden öffentlichen Krebsschaden auch öffentlich aufmerksam zu machen, wie denn Leo Tolstoi in genannter Schrift getan. Aber das Urteil über das Individuum und über die konkreten Körperschaften muss dessen ungeachtet in Schwebe gehalten werden, da sich schwerlich der volle Beweis einer solchen bewussten Unwahrhaftigkeit insbesondere von der Gesamtheit einer Körperschaft wird erbringen lassen, und die ehrlich den veralteten Ansichten anhängenden Mitglieder solcher Körperschaften immerhin in ungerechter Weise als unehrliche Menschen bloßgestellt werden möchten.

Dies zu verhüten, den Angriff auf die bürgerliche Ehrbarkeit der Einzelnen oder auch der Körperschaft als dieser juridischen Person, dieser Einheit aller ihrer Mitglieder zu wahren, ist die Aufgabe des fraglichen Rechtsparagrafen. So wie nämlich der Einzelne nach unseren Rechtsbegriffen das Recht hat, sich vor der öffentlichen entehrenden Anklage der Verlogenheit oder des bewussten Volksbetruges zu verwahren, so auch die Körperschaft. So wie das Recht den Fall einer solchen Beleidigung durch Beschimpfungen für den Einzelnen vorgesehen hat, so auch für die Korporationen oder die summarische Verurteilung aller der vom Gesetz im Bundesgebiete anerkannten religiösen Körperschaften.

Jeder Angriff also, der die religiösen Körperschaften auf dem Bundesgebiete in konkret, das heißt als diese bestimmten Körperschaften eben des Deutschen Reiches unehrlicher Gesinnung oder unehrlicher Handlungsweise anklagen würde, verfällt dem Strafgesetz. Es ist jedoch hierzu nötig, dass der Angriff in solcher Weise ausdrücklich auf diese Körperschaften des Reiches entweder im Ganzen auf alle oder auf einzelne Gruppen oder auch auf eine dieser Körperschaften in konkret bezogen sei. Denn die Gesetze des deutschen Kriminalrechtes können nur berufen sein, diese Körperschaften als solche zu schützen, nicht aber die allgemeinen Kirchen, weder die griechische, noch die römische, noch die protestantische, gegen Verdächtigungen, die den Priesterstand im Allgemeinen treffen, ohne doch die Behauptung auf irgendeine bestimmte Körperschaft und sämtliche Mitglieder derselben ausdehnen zu können. Der moderne Staat kann nicht das Bekenntnis als solches schützen wollen, er kann nicht allgemeiner Verteidiger des Glaubens, er kann nicht defensor fidei sein, ohne den Talar des Rechtes mit dem der heiligen Inquisition zu vertauschen.

Will man unter dieser Beschimpfung, die der Buchstabe des Gesetzes im Deutschen Reiche verbietet, einen Angriff auf die konkreten äußerlichen Körperschaften verstehen, wie sie eben im Reiche als juridische Einheit dieser Personen existieren, so hat allerdings die Frage, ob der Episkopat oder die Superintendenzen oder auch die Priesterschaft dieses oder jenes Reiches aus juridisch achtbaren Mitgliedern besteht, ob sie in gutem Glauben auch als Korporation achtbare Tendenzen zu vertreten glauben, mit der Gewissens- und Gedankenfreiheit nichts zu schaffen. Wo immer Menschen oder Körperschaften im guten Glauben auch die schlechteste, an sich durchaus nicht achtbare kulturelle Sache vertreten, bleiben sie rechtlich achtbar. Es wäre aber eine unberechtigte Anmaßung, wenn wir im einzelnen Falle feststellen wollten, ob diese oder jene Menschen heucheln oder ehrlich handeln, wenn auch im Allgemeinen noch so bedenkliche Zeichen auf Heuchelei und bewusste Unwahrhaftigkeit hinzuweisen scheinen. Die Frage jedoch, ob diese Tendenzen der beliebigen Körperschaft an sich achtbar sind vom heutigen kulturellen Standpunkte oder ob solche Körperschaften eine zurückgebliebene, heute schon gemeinschädliche, die öffentliche Sittlichkeit und die Aufklärung der Vernunft in gleicher Weise nicht bloß nicht fördernde, sondern schädigende Tätigkeit entfalten, das zu beurteilen ist unmöglich die Sache der Justiz. Die Wertschätzung kultureller Institutionen juridisch regeln und beschränken wollen, ist ein Übergriff aus der Rechtssphäre in die Sphäre des Glaubens- und Gewissensgerichtes, ist in regelrechter Form das, was man heilige Inquisition nennt. Es ist das ein Verbrechen gegen die Gedankenfreiheit, gegen die Gewissensfreiheit, gegen den Fortschritt.

Es maßt sich nämlich die Rechtsprechung hier an, sittliche Wertungen und Achtungsgefühle zu regeln und für alle Ewigkeit sozusagen als Wahrheit festzustellen. Sie maßt sich ein Amt an, das nur die Vernunft Einsicht nach bester Überzeugung vollbringen kann, nie aber der statutarische Paragraf, der bestimmen will, dass das oder jenes, was diese oder jene Körperschaft und deren Vertreter verkünden und repräsentieren, an sich vernünftig und achtbar und in Wahrheit sittlich oder aber unvernünftig und unsittlich und der Achtung des Menschen von edlerer Gesinnung unwert ist. Es ist also diese inquisitorische Anmaßung direkt vernunftfeindlich, indem sie das freie Urteil der Vernunft zu regeln und zu unterdrücken sich unterfängt, nach Schablonen, in denen die Tradition und nicht die Vernunft das Maßgebende sein sollen. Es ist diese Anmaßung in ihrer Wurzel widersittlich, da man hier die Menschen wider ihre bessere edlere Überzeugung bewegen will, etwas als achtbar gelten zu lassen, was sie dem erhöhten sittlichen Feingefühl und der klareren Einsicht einer vorgeschrittenen Zeit gemäß nicht mehr zu achten vermögen. Es ist aber die heiligste Pflicht des Menschen, gerade in solchen grundsätzlichen Fragen der sittlichen Wertung seiner besseren Überzeugung Ausdruck zu verleihen. Es ist die schmählichste Feigheit, die dies zu tun unterlässt. Es ist die unverzeihlichste Sünde, die Sünde wider den Heiligen Geist der Wahrheit, wenn der Mensch diese seine Überzeugung aus äußerlich materiellen Rücksichten fälscht. Mögen nun die Gegner ebenso, wie derjenige, der das Hergebrachte für barbarisch und unsittlich hält, sei es nun am Gebiete des Staates oder der Kirche, mit Gründen der Vernunft, mit den gleichen, den allein ehrlichen Waffen, die den Tatbestand nicht brutal unterdrücken oder fälschen wollen, auftreten und das Hergebrachte so verteidigen. Wohlan!

Will man aber diesen Vernunftgründen diesen sittlichen Argumenten gegenüber die Büttelgewalt ins Feld führen, so schlägt man nicht bloß die Vernunft ins Antlitz, sondern versucht auch in unehrlicher Weise vor der Welt einen Tatbestand, den die Vernunft allein aufzudecken berufen sein kann, zu fälschen. Und nicht bloß die Kirche, auch der Staat ist eine solche kulturelle Institution, die auf ihren sittlichen und kulturellen Wert dem vorgeschrittenen Stadium der geistigen Entwicklung der Menschheit gemäß geprüft werden muss.

Die Wissenschaft wird sich auch hier nicht anmaßen Herz und Nieren zu prüfen und nicht entscheiden wollen, ob diese oder jene Körperschaft von Herrschenden durch ihren guten Glauben rechtlich achtbar oder nicht achtbar ist, sie wird das ebenso wenig in Bezug auf den deutschen Staat, wie in Bezug auf die deutschen Kirchenkörperschaften festzustellen unternehmen. Mag darüber das Gericht einer unbefangenen Nachwelt, das Gericht der Geschichte entscheiden. Aber es ist heilige Pflicht jedes ehrlichen Menschen seiner besten Überzeugung in Bezug auf diese öffentlichen Institutionen und ihre Moralgrundsätze offen Ausdruck zu verleihen, und es ist ein Verbrechen gegen Gewissen, Wahrhaftigkeit und Fortschritt solcher grundsätzlichen Verurteilung, solcher grundsätzlichen Missachtung von bisher hoch gehaltenen Grundlehren der Religion oder Politik, der Kirche oder des Staates mit andern Waffen entgegentreten zu wollen, als mit den Waffen der Einsicht und Vernunft. Das wollte ich hiermit klarstellen, dem verhängnisvollen Rechtsirrtum gegenüber, der in obigen juridischen Maßregeln vorliegen mag.

Es ist nämlich jeder kulturelle Fortschritt des Menschengeschlechtes bisher bedingt gewesen durch solche Verwerfung und Missachtung von Lehren, Moralgrundsätzen oder Institutionen, die die Vergangenheit, einer roheren unentwickelten Stufe kulturellen Lebens entsprechend, hoch und heilig gehalten hat. Ein Heiligtum war einmal das Menschenopfer und die Menschenfresserei; und nur die offen ausgesprochene Missachtung vonseiten derjenigen, deren sittliches Gefühl und deren Erkennen sich zu einer höheren Stufe des Geisteslebens erhoben hatte, hat den Umsturz und die kulturelle Überwindung dieser Heiligtümer verursacht. Es gilt ganz dasselbe für die direkte Sklaverei, für die Folter, den Ablass, die heilige Inquisition in der alten Form. Wenn die jeweiligen Gewalthaber entscheidend gewesen wären in der Bestimmung dessen, was grundsätzlich Achtung verdient oder Missachtung, dann würde kein Sokrates, kein Christus, kein Mohammed, kein Luther alte Götzenbilder jemals haben umstürzen können, um neuere höhere Ideale, neue Erkenntnisse an deren Stelle zu setzen und wir würden heute noch an den Knochen unserer Mitmenschen nagen.

Da aller und jeder Fortschritt des ganzen Menschengeschlechtes, alle Errungenschaften veredelter und verfeinerter Kultur nur diesem Streben zu danken sind, welches in der Erkenntnis lichtvollerer Wahrheiten und edlerer sittlicher Gesinnung seine Missachtung aussprach über uralte Barbarei, und sich an dieses Wirken auch in Zukunft alle Hoffnungen auf die Verwirklichung lichtvollerer Erkenntnis und edlerer Lebensformen der Gesellschaft knüpfen, so ist das größte Verbrechen wider die Menschen, das grundsätzlich nur mit den milden gewaltlosen Waffen des Geisteslichtes kämpfende, fortschreitende Erkennen mit den unsittlichen Mitteln physischer Vergewaltigung unter dem Deckmantel des Gesetzes unterdrücken zu wollen. Es ist das große Verbrechen der Inquisition, der verwerflichste Gebrauch, den man mit der juridischen Gewalt überhaupt treiben kann. Relative Berechtigung mag die Juristerei mit ihren Gewaltmaßregeln haben den überhaupt aus sittlicher Rohheit entspringenden gewalttätigen Eingriffen einzelner gegenüber, mögen sich diese nun gegen beliebige Einzelmenschen oder Institutionen richten. Aber wo solche Gewaltmaßregeln des Rechtes sich gegen das gewaltlose Geisteslicht der Vernunft und das sittliche Weltgericht richten, welches dieses Geisteslicht in seinen edelsten Vertretern zu allen Zeiten gegen die erstarrten Grundsätze und Institutionen der Vergangenheit ausspricht, dort wird solche Handlungsweise der Rechtsgewalt zum Sakrilegium an der Vernunft und dem besseren Gewissen der Menschheit.

Gesetzesparagrafen sind schließlich festgestellte Regeln, die irgendeine Organisation von Gewalthabern, angeblich stets im öffentlichen Interesse, ganz gewiss aber stets im Interesse der Selbsterhaltung der jeweiligen Herrschaftsform und dem Herrschaftsinteresse der Herrschenden gemäß festgestellt hat. Wenn sich nun eine beliebige Rechtsorganisation gegen gewalttätige oder die Gewalttat ausdrücklich anregende, also völlig außer dem Bereich des Sittlichen stehende Angriffe (denn Gewalttat ist etwas schlechthin Widersittliches) mit den gleichen Waffen wehrt, so ist das ein Kampf physischer Mächte, der mit den edleren Interessen der Menschheit nichts zu schaffen hat, und in diesem Sinne mag die Rechtsorganisation solchen Angriffen gegenüber in ihrem guten Rechte sein. Freilich ist dieses gute Recht stets aus eben demselben Grunde an die Seite einer siegreichen Gewalt getreten, die die alte Form erfolgreich umzustürzen und neue Gesetze zu schaffen vermocht hat, zum besten Zeichen, dass solcher Widerstreit von physischen Gewalten überhaupt nicht in die Sphäre der Sittlichkeit gehört, und ein physischer Angriff auf eine bestehende Rechtssphäre ebenso wenig sittlich zu rechtfertigen ist, wie die durch physische Mittel bewirkte Erhaltung derselben. Es ist einfach die tierische Sphäre des Kampfes ums Dasein, über die der Mensch als solcher sich zu erheben die sittliche Pflicht hat in dem Sinne, dass sowohl das Umgestalten zu neuen höheren Lebensformen, als auch die berechtigte Erhaltung schon bestehender öffentlicher Lebensformen nur in einem Kampf entschieden werden soll, der mit den allein menschenwürdigen Waffen der Vernunft, der Einsicht, der freien Verbreitung und Befestigung edlerer Gesinnung geführt wird.

Es ist aber schlechthin unmöglich, sittliche Werte juridisch festzustellen, in Gesetzesparagrafen zu bestimmen Es ist unmöglich festzustellen, ob diese oder jene Körperschaft an sich sittliche Tendenzen verfolge oder nicht, ob diese Tendenzen achtenswert sind oder verächtlich und verwerflich. Es ist das um so weniger möglich, als im Laufe der fortschreitenden Entwicklung bestehende Institutionen und Körperschaften und ihre Tendenzen infolge des höheren Gesichtskreises der Verfeinerung intellektueller und sittlicher Ansichten einen völlig veränderten Sinn gewinnen und das, was einst zur Erhaltung öffentlicher Sitte und Sittlichkeit in gewissem Masse dienen konnte, später direkt demoralisierend wirken muss, schon dadurch, dass rohe und geistig beschränkte Anschauungen und Tendenzen nunmehr als solche erkannt sind und den Menschen der ehrliche gute Glaube an das Alte verloren gegangen ist, welches nun durch den Druck der materiellen Interessen und der physischen Gewalt in äußerer Anerkennung erhalten werden soll. Die Wurzel aller öffentlichen Entsittlichung aber ist die öffentlich gezüchtete Lüge und Heuchelei der Menschen.

Sittliche Werte also können durch Paragrafen ebenso wenig geregelt werden, wie mathematische Wahrheiten oder der Lauf der Gestirne, denn mit derselben ehernen Notwendigkeit, mit der die Natur ihren Sonnenaufgang vollzieht, vollzieht das fortschreitende intellektuelle und sittliche Selbstbewusstsein des Menschen den Seinigen. Ebenso wenig wie die gesetzlichen Regeln, die im inneren Afrika das Menschenopfer und die Menschenfresserei als geheiligte Institutionen feststellen, den gebildeten Europäer vor dem sittlichen Ekel und der tiefen Missachtung solchen Heiligtümern gegenüber bewahren können, ebenso wenig werden Verfügungen der Gesetze in Europa an der Tatsache der sittlichen Missachtung etwas ändern, die der zu edlerer Stufe herangereifte Mensch veralteten und kulturell überlebten Anschauungen und Tendenzen uralter Körperschaften oder Institutionen gegenüber empfindet. Indem nur der offene Ausdruck solcher edlerer Gesinnung den öffentlichen Fortschritt ermöglicht, ist eine Hemmung des Ausdruckes der Missachtung dem überlebten Niedrig stehenden gegenüber, die zu physischen Mitteln der Gewalt greift, um edlere Vernunftanschauung und sittliche Wertung zu unterdrücken, eine grobe Fälschung und Lüge, ein Attentat gegen Gewissensfreiheit, Vernunft und Sittlichkeit.

Es sei daher angesichts der hier in diesem Werke niedergelegten Anschauungen festgestellt, dass alle Angriffe auf den sittlichen Wert des hergebrachten Gottesbegriffes, wie ihn die Kirchen heute noch festhalten, nur erfolgt sind, um einem ungleich höheren Ideale und Begriffe oder vielmehr einer erkennenden Anschauung der Gottheit Raum zu machen, ein Ideal, das aber schon die wahrhafte Anschauung jenes Jesus von Nazareth war, der angeblich der göttliche Lehrer dieser Kirchen selbst sein soll. Es erscheint der hergebrachte kirchliche Begriff der Gottheit vom Standpunkt dieses erhabeneren Gottesbegriffes vielmehr als die ärgste Gotteslästerung. Sofern daher das Gesetz dem guten Wissen und Gewissen jedes Menschen überlassen muss, wie er sein Ideal der Gottheit gestaltet, so kann es den hergebrachten kirchlichen Gottesbegriff unmöglich zum absoluten Gottesbegriff machen, denn dies hieße eben den Staat zur Glaubensbehörde, seine Gerichte zu Glaubensgerichten machen. Es kann daher auch dieses Gesetz unmöglich die sittliche Verwerfung einer alten Fassung des Gottesbegriffes als einen Angriff auf Gott schlechthin betrachten, und diesen Angriff, der in der Absicht geschah, die Gottheit in ihrer wahrhaften Gestalt zu verherrlichen, als Gotteslästerung bezeichnen, weil er den Begriff der Kirchen als sittlich verwerflich und des edleren Begriffes von Gott unwürdig, als gotteslästerlich bezeichnet.

Es liegt dieser Schrift ebenso ferne, irgendwelche konkrete kirchliche Körperschaften als diese Totalitäten oder juridischen Personen in ihrer rechtlichen Ehrbarkeit angreifen und behaupten zu wollen, dass solche im Deutschen Reiche oder sonst wo bewusst Lügen verbreiten und bewussten Volksbetrug verüben, so gewiss auch die Tatsache ist, dass auf dem heutigen allgemeinen Bildungsniveau in den Kreisen der Priesterschaft aller Kirchen ebenso wie in den Kreisen der Gebildeten überhaupt der Krebsschaden der Unwahrhaftigkeit, das Seelengift der Heuchelei in erschreckender Weise um sich gegriffen hat und von hier aus die allgemeine Volksseele demoralisiert. An einer solchen innerlichen Zersetzung und moralischen Unwahrhaftigkeit leiden aber ganz im Allgemeinen die verschiedensten Stände, die Soldaten, Juristen, Gelehrten, Kaufleute, fast alle Stände, die über den Stand der einfachen Handarbeiter sich erhoben haben, nicht minder wie die Priester.

Sollte jedoch angesichts dieser offenen und klaren Darlegungen irgendeine Behörde irgendeines beliebigen Staatsgebietes sich demungeachtet veranlasst finden, den Gottesbegriff im hergebrachten kirchlichen Sinne für alle Ewigkeit als den allein richtigen, die sittlichen Grundsätze solcher Kirchen, oder was hier ganz gleichwertig ist, auch der Staaten und des bestehenden Rechtes überhaupt als für alle Zeiten feststehend behaupten zu wollen und den Versuch, der vom Standpunkte lichtvolleren Erkennens oder edlerer sittlicher Gesinnung diese veralteten Formen für sittlich verwerflich erklärt, als ein durch die Büttelgewalt des Staates zu verfolgendes Vergehen zu erachten, so haben wir nur noch einen Wunsch. Den nämlich, dass solche Gerichtsbarkeit offen und ehrlich, wie es in alten Zeiten geschah, den Namen und Titel annehme, der ihr in der Tat zukommt: den eines Glaubensgerichtes, den der heiligen Inquisition. Denn das ist dann das einzige Mittel um wenigstens die Ehrlichkeit eines solchen Vorgehens zu retten, und sich selbst zu bewahren vor der vernichtenden Anklage der schleichenden Lüge, die hinter der Maske der Justiz das Antlitz des Großinquisitors verbirgt.

1 Anm. Diesen Gedanken der Gewissensfreiheit hat der Verfasser mit umfassenderem juridischem Apparat ausgearbeitet in einer Broschüre, die er zur Zeit der berüchtigten Umsturzvorlage veröffentlicht hat, und die den Titel führt: „Herodes. Ein Denkmal der Reaktion des 19. Jahrhundertes.“

 

 

 

 

I. Teil – Die Gnosis des Altertums