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Die geglaubte Ruhe im Kommissariat knapp vor Weihnachten, stellt sich als trügerischer Irrtum heraus. Das Team um Hauptkommissar Peter Heilmeyer, Chef des Kommissariats in Rostock, wird zum Fundort einer Babyleiche gerufen. Noch am selben Tag kommt die Vermisstenanzeige der Studentin Charlotte Neubauer dazu. Heilmeyer und seine Leute haben erste Indizien und nehmen die Suche nach der Mutter des toten Kindes auf. Parallel dazu laufen intensive Nachforschungen an, um die vermisste Studentin zu finden. Es gibt vage Hinweise, doch der Fall stellt sich weit schwieriger heraus, als zuvor angenommen. Zu Beginn hat es den Anschein, als gäbe es eine Verbindung von Charlotte Neubauer zur Babyleiche. Oder verfolgt das Team um Heilmeyer eine falsche Fährte? Wo ist Charlotte Neubauer? Wurde sie entführt oder ist sie freiwillig gegangen? Die Kripokollegen um Peter Heilmeyer haben lange keine heiße Spur, der sie nachgehen können. Recherchen im Umfeld von Charlotte Neubauer bleiben zunächst erfolglos. Was steckt hinter der Goldenen Blutgruppe, von der bei der Studentin gesprochen wird? So eine Blutgruppe besitzen etwa 50 Personen weltweit und könnte allein deshalb von Interesse sein. Ist diese Besonderheit der Grund für das Verschwinden von Charlotte Neubauer? Heilmeyer und sein Team verfolgen eine Spur im Ausland. Sie wollen unbedingt weitere tote Personen verhindern. Zwei Freunde der Studentin wurden bereits brutal ermordet. Die hatten sich mit der Drogenmafia eingelassen, ein Netz, das auch mit Organhandel zu tun hat. Ist das auch die Spur, die zu Charlotte Neubauer führt? Gehören die Morde und das Verschwinden der Studenten zusammen? Die Kollegen um Peter Heilmeyer sind in Sorge, dass die junge Frau die nächste Tote sein könnte.
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Seitenzahl: 330
Marion Petznick
Die Goldader
Das Rätsel des goldenen Blutes Rh-Null
Ein Ostsee-Krimi
Petznick, Marion : Die Goldader. Das Rätsel des goldenen Blutes Rh-Null. Ostsee-Krimi. Hamburg, edition krimi 2024
Originalausgabe
ePub-eBook: 978-3-949961-20-5
Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.
Print-ISBN: 978-3-949961-19-9
Korrektorat: Jana OltersdorffSatz: Anna Klöhn, edition krimi
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© edition krimi, Hamburg 2024
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Prolog
Vor wenigen Tagen erfuhr Charlotte, dass sie etwas Kostbares besaß. Zwar sprachen die Eltern seit frühester Jugend davon, dass bei ihr etwas anders war, als bei anderen Menschen. Doch sie kümmerte sich nicht darum und verdrängte diese Tatsache später einfach. Beiläufig erzählte sie einem Fremden von dieser Besonderheit, der entwickelte einen Plan und stellte ihn ihr vor. Der Mann drängte sie vehement, sein Angebot anzunehmen. Von einem auf den anderen Tag veränderte sich ihre Einstellung. Sie überlegte, ob sie sich darauf einlassen sollte.
Der Mann ließ nicht locker und führte ihr den Vorteil seines Planes in bunten Farben vor Augen, falls sie sich positiv entscheiden würde. Von einem auf den anderen Tag wäre ihr bisheriges Leben komplett auf den Kopf gestellt. Wollte sie das überhaupt, ein anderes Leben? Eigentlich wäre es einfach, Ja zu sagen. Doch was würde sie dafür alles aufgeben? Wie konnte jemand ihr überhaupt so ein unmoralisches Angebot unterbreiten? Er gab nicht nach, und sein Drängen wurde unangenehmer. Schreckte er selbst vor Gewalt nicht zurück?
Charlottes Überlegungen gingen bald in die eine, dann in die andere Richtung. Je intensiver sie über sein Verhalten nachdachte, desto wütender wurde sie. Wie konnte sie sich lösen? Zuerst begann eine bittersüße Lust der Macht zu wachsen. Sie musste den Druck des Mannes, der sie zu etwas zwingen wollte, durchbrechen. Sie fand einen Weg, einen ungewöhnlichen Ausweg.
1. Kapitel
Rückkehr
Kaum war Lisas Freund Max nicht mehr in ihrer Nähe, wanderten ihre Gedanken zurück zu ihm. Die gemeinsame Zeit in seiner Stadt hatte sie zusammengeschweißt. Vieles passte perfekt, nicht nur das gegenseitige Verständnis für den Job des anderen. Der Alltag bestand bei beiden aus vielen Überstunden, da musste nichts lange erklärt werden, sie verstanden sich ohne große Worte.
Max zeigte während der gemeinsamen Stunden in Berlin nicht nur Verständnis für Lisas Job als Kriminalistin, er unterstützte sie ebenso tatkräftig bei ihrer Arbeit. Seine Menschenkenntnis als Arzt half Lisa in einigen komplizierten Situationen, den richtigen Weg zu wählen. Gemeinsam hatten sie in Berlin einen Mann entlarvt, der Identitätsbetrug begehen wollte. Auch ein Tötungsdelikt konnte durch sie beide aufgeklärt werden.
In der relativ kurzen Zeit ihrer Zweisamkeit spürten sie, dass sie sich aufeinander verlassen konnten, und sie hofften, dass die Entfernung Berlin - Rostock ihnen auch in Zukunft nichts anhaben würde. Bereits in Berlin machte Max Nägel mit Köpfen, er wollte die Beziehung zu Lisa nicht länger für sich behalten. Er wünschte sich, dass seine Eltern und Lisa sich gut verstehen würden, denn auch er hatte seit jeher ein vertrauensvolles Verhältnis zu ihnen. Also entschieden sie, dass Lisa vor ihrer Abreise nach Graal-Müritz, seine Eltern kennenlernen sollte.
Lisa und Max kannten sich erst seit wenigen Monaten, doch sollten die Eltern endlich erfahren, wer schuld daran war, dass sie ihren einzigen Sohn in den letzten Wochen kaum zu Gesicht bekommen hatten.
Tatsächlich übertraf die erste persönliche Begegnung zwischen ihnen alle gegenseitigen Erwartungen. Lisa gelang es ohne große Anstrengungen, einen unkomplizierten Draht zu seinen Eltern herzustellen. Und auch sie fanden die Freundin ihres Sohnes auf Anhieb sympathisch. Bei aller Sympathie bestand bei den Eltern aber auch eine gewisse Skepsis. Jedenfalls äußerten sie in einem Satz besorgt: „Max hat uns bisher selten eine Freundin vorgestellt, das spricht für dich. Doch ob eure Beziehung die Entfernung von über 200 Kilometern übersteht, wird wohl erst die Zukunft zeigen.“
Natürlich fragten die Eltern Lisa aus und hatten einige spontane Fragen an sie. An eine Frage von Max’ Mutter erinnerte sie sich gerade wieder: „Ist es nicht viel zu gefährlich, in diesem Beruf zu arbeiten? Dauernd auf Verbrecherjagd, das tut doch der eigenen Seele nicht gut.“ Lisa hielt dagegen und betonte, dass sie in einem professionellen Team arbeitete. Ihre Antwort beruhigte die Mutter einstweilen, aber überzeugt schien sie nicht zu sein. Lisa lud Max’ Eltern nach Graal-Müritz ein, die kannten bisher nur die Nordsee und zeigten großes Interesse an Rostock und Umgebung.
Der letzte Tag in Berlin brachte endlich die ruhige Zweisamkeit, die während ihres Praktikums beim LKA etwas zu kurz gekommen war. Ohne Verpflichtungen zu sein, ließ eine Nähe zwischen ihnen entstehen, von der Lisa nie geglaubt hätte, dass diese in so kurzer Zeit erreicht werden konnte.
Das Praktikum beim LKA in Berlin war viel zu schnell vorbei. Lisa hatte in dieser Zeit entscheidenden Anteil an der Aufklärung eines Falles in der Tangoszene. Die Ermittlungen konnten nicht nur zügig durchgeführt werden, vor allem Lisas Intuition half dabei, die Identitätstäuschung eines Mannes aufzudecken.
Tatsächlich war es mehr ein Zufall, der Max und sie in die Villa El Gato führte. Max hatte hier einen Tangokurs gebucht, um Lisa einen ihrer größten Wünsche zu erfüllen. Ebenjene Villa El Gato war der Ort, an dem später ein Mann tot aufgefunden wurde. Durch die direkte Konfrontation während ihres Tanzunterrichts war Lisa hautnah in diesen Fall involviert.
Mit ihrer unermüdlichen Recherche legte Lisa beim LKA ein perfektes Debüt hin. Gern hätte man sie dortbehalten, und sie hatte kurz überlegt, ob das ein realer Schritt für sie sein konnte. Ihr Jurastudium hatte sie nicht begonnen, weil sie nach einer beruflichen Herausforderung suchte, in Berlin würde es diese auf alle Fälle geben. Auch der Umstand, in der Nähe von Max zu sein, ließ sie überlegen und den Gedanken nicht gleich als absurd verwerfen.
Doch schnell fielen ihr die Rostocker Kollegen ein. Ihr Chef, Peter Heilmeyer, Leiter der Kriminalpolizeiinspektion Rostock, hatte ihr eine feste Einstiegsmöglichkeit angeboten. „Eine Frau wird dem Team guttun“, sagte er. Das würde sie nie vergessen. Sie wollte ihre Kollegen auf keinen Fall enttäuschen.
2. Kapitel
Kriminalkommissariat Rostock
Montagvormittag trat Lisa ihren Dienst eine Stunde später an, so wie es mit ihrem Chef Peter Heilmeyer vereinbart war. Die Kollegen in der Ulmenstraße zeigten große Freude darüber, Lisa nach ihrer Abwesenheit wieder in ihren Reihen begrüßen zu können.
Jens, der IT-Spezialist im Team, informierte Lisa, kaum dass sie ihre Jacke ausgezogen hatte, dass für den nächsten Tag eine kleine Feier geplant war. Lisa freute sich, weil die Kollegen mit dem Fest auf sie gewartet hatten.
„Können wir mit deinem leckeren Käsekuchen rechnen?“, fragte Olli direkt und betonte mit seinen bittenden Augen, wie sehr er sich darauf freuen würde.
Auch wenn Lisa nicht viel Zeit zum Backen blieb, antwortete sie prompt: „Klar, kein Problem. Wenn es weiter nichts ist, ich backe ihn gern für euch.“ Obwohl sie eigentlich vorhatte, ihren Kollegen ein paar Plätzchen, die längst gebacken waren und duftend in einer Dose schlummerten, mitzubringen.
‚Dann eben Käsekuchen‘, dachte sie schmunzelnd und hakte den Gedanken an den Mehraufwand innerlich ab.
„Ist die Feier hier, oder gehen wir irgendwohin, so wie sonst?“
Die Frage stellte jemand aus der Runde. Heilmeyer ließ abstimmen, die Entscheidung fiel eindeutig für die Diensträume aus.
„Na gut. Jeder bringt eine Kleinigkeit zum Essen mit, und ich besorge den Rest. Ansonsten wäre wohl alles klar, und du, Lisa, wirst uns mit deinem Käsekuchen eine große Freude bereiten“, wiederholte Heilmeyer noch einmal.
Dann wandte sich der Kriminalhauptkommissar an alle: „Wir haben allen Grund, das Jahr positiv abzuschließen. Immerhin war die diesjährige Aufklärungsquote ziemlich gut und, wenn wir Lisas Fall in Berlin dazurechnen, lässt sich klar sagen, so gut wie selten. Damit hat Lisa für einen respektvollen Wiedereinstieg gesorgt, und zwar nicht nur bei uns. Die Berliner Kollegen hat sie mindestens genauso überzeugt.“ Er schaute Lisa direkt an, als er betonte: „Sie haben dich sehr gelobt und deine gute Arbeit hervorgehoben. Gratuliere!“
Eine leichte Röte machte sich in Lisas Gesicht breit. Sie spürte die Vertrautheit, ein Gefühl, von dem sie in Berlin nicht recht wusste, dass es ihr dort gefehlt hatte.
Im Rostocker Kriminalkommissariat war man längst auf den Jahresabschluss programmiert. Alles lief in ruhigen Bahnen, selbst die Kriminellen schienen ihre Aktivitäten in der vorweihnachtlichen Zeit auf Sparflamme zu halten, denn das Läuten des Telefons hielt sich in den letzten Tagen in Grenzen.
Kommissar Heilmeyer ließ seinen ausgeklügelten Einsatzplan für die Feiertage rumgehen. Aus dem internen Kreis teilte er nur sich selbst und Olli für den Bereitschaftsdienst ein.
„Lisa, dich schonen wir um Weihnachten herum mit zusätzlichen Diensten. Du hast ohnehin zu viele Überstunden in Berlin geleistet. Jens, du hast zu Hause mit deinen Kindern zu tun, wir wollen es uns nicht mit deiner Frau verscherzen.“
„Danke. Zum Jahreswechsel stehe ich aber zur Verfügung“, gab Jens zurück.
Lisa dachte an Max und ihr erstes gemeinsames Weihnachtsfest. Er hatte sein Kommen kurz vorher angekündigt. Zum Weihnachtsfest wollten sie in Rostock ihre Eltern überraschen und den Jahreswechsel gemeinsam mit seinen Eltern und vielen Tausenden Menschen aus aller Welt in Berlin am Brandenburger Tor verbringen. Da passte es gut, keinen Dienst zu haben und die erste gemeinsam geplante Silvesterfeier im Zweifel gleich wieder aufgeben zu müssen. Am Abend würde sie Max freudig davon berichten. Und sie nahm sich vor, ihn zu fragen, was er an ihrem letzten Abend meinte, als er von ‚gemeinsamem Urlaub‘ sprach. Deshalb griff sie den Faden noch einmal auf und hakte bei ihrem Chef nach: „Wie sieht es überhaupt mit Urlaub aus? Bis wann müssen wir den einreichen?“
„Gut, dass du das Thema ansprichst. Resturlaub und Überstunden müssen bis spätestens März genommen werden.“
Lisa freute sich. Mit ein paar zusätzlichen Tagen ließe sich ein Urlaub mit Max deutlich leichter planen, und für den Fall, dass auch er zusätzliche Tage freimachen konnte, ergab sich mehr Zeit für ihren ersten gemeinsamen Urlaub.
Heilmeyer riss Lisa aus ihren Gedanken.
„Olli, bring Lisa auf den aktuellen Stand der letzten Ermittlungen, und Lisa, natürlich interessiert uns, wie der Berliner Fall endete.“
Während Heilmeyer weitersprach, überlegte Lisa, Max zu erwähnen. Immerhin hatte er einen beachtlichen Anteil an der Lösung des Falles in der Tangoszene. Schnell entschied sie sich dagegen, seine Existenz wollte Lisa noch für sich behalten.
„Hey, Lisa, lass uns nach nebenan gehen, da sind wir ungestört. Alle Unterlagen habe ich dabei.“ Lisa nickte Olli dankbar zu. Die ungezwungene Atmosphäre hier im Kommissariat empfand sie als wohltuend. Nebenbei erzählte sie Olli von ihrem Tangokurs und ihrer neuen Tanzleidenschaft.
„Toll, Tango! Das ist ein Tanz, der mich auch begeistern könnte. Falls du mal einen Tanzpartner suchst, hier sitzt einer vor dir.“
Das wäre die erste günstige Gelegenheit gewesen, um von Max zu sprechen. Doch Lisa ging nicht auf Ollis Vorschlag ein, sondern erwiderte: „Was gibt es Besseres, als sich einen langgehegten Wunsch zu erfüllen. Aber dass ich dabei auf eine psychopathische Tänzerin stoße, die Gelüste hatte zu töten, hätte ich nie für möglich gehalten. Bei ihrem Tanzpartner sah es nicht besser aus. Er beging Identitätsdiebstahl. Nebenbei gesagt, zeigte die Geschichte deutlich, dass sich niemand von Äußerlichkeiten blenden lassen sollte. Trotzdem muss ich zugeben, der Tango Argentino der beiden war sehr beindruckend. Ich werde in Rostock weitermachen, um meine Tanzkünste zu vervollständigen. Doch diese Klasse werde ich garantiert nie erreichen.“ Olli erinnerte Lisa an seinen Vorschlag: „Und vergiss nicht, falls dir mal ein Tanzpartner fehlt, ich stelle mich zur Verfügung.“ Ollis Stimme klang ernsthaft, und Lisa merkte, dass er sie noch immer weit mehr als eine bloße Kollegin schätzte.
Nach einer knappen halben Stunde kamen sie aus dem Nebenraum zu den anderen zurück, und Olli setzte gerade an, in der Runde den Tangotanz anzusprechen. Heilmeyer verzog sein Gesicht und unterbrach ihn. „Lass gut sein.“ Dann wechselte er das Thema.
„Die Masche mit dem Kripo-Fake-Trick, mit der wir in letzter Zeit oftmals konfrontiert waren, ist kein Zufall. Dabei können wir von Glück reden, dass eine Betroffene am letzten Freitag richtig reagiert hat und sofort die Mitarbeiterin ihrer Sparkasse anrief, um sich zu erkundigen, was es mit einem angekündigten Besuch auf sich hatte. Die Angestellte erkannte das geplante Verbrechen und benachrichtigte umgehend unsere Kollegen. Die haben sofort gehandelt und konnten zumindest zwei Mitläufer dingfest machen.“
„Wir können nur dazu beitragen, dass ältere Menschen skeptischer werden, sich erst erkundigen, bevor sie ihr Geld aushändigen.“
„Wie immer machen sich die Drahtzieher die Hände nicht schmutzig. Zum Glück war diese Frau aufmerksam. Wie sie selbst sagte, war sie nur durch einen Beitrag im Fernsehen unsicher geworden.“ Jens klang noch immer wütend, als er davon sprach.
„Ganoven, die alte Leute um ihre einzigen Ersparnisse bringen, sind besonders dreist und gehören hinter Gitter. Gut, dass die Medien regelmäßig darüber berichten.“
„Unsere Kollegen ermitteln weiter, und wir unterstützen sie dabei. Mit unserer Initiative zur Zusammenarbeit konnten wir in Rostock und Umgebung die Situation deutlich entschärfen“, ergänzte Heilmeyer im ernsten Tonfall und fuhr fort: „Einige Täter aus der ersten Reihe wurden vor Kurzem mithilfe der Kollegen in der Türkei gefasst. Vermutlich ist dadurch erstmal etwas Ruhe in Rostock und im Landkreis eingekehrt.“
„Die Medien können nicht genug über diese Masche mit den falschen Polizeibeamten berichten, denn vor allem alte Leute stehen im Fokus der Kriminellen. Gestern erst wurde bekannt, dass ein Betrüger einem alten Mann nach dessen Sparkassenbesuch bis an seine Wohnungstür folgte. Er klingelte bei ihm, gab sich als Polizist aus und zeigte einen fingierten Dienstausweis. Der Verbrecher redete ihm so lange hartnäckig ein, dass sein Geld zu Hause in Gefahr sei, bis der 90-jährige Mann ihm sein Geld, das er gerade von der Bank abgeholt hatte, übergab.“ Jens redete sich in Rage, als er von diesem konkreten Fall berichtete.
Lisa hatte in Berlin natürlich auch von dieser Methode erfahren: „Richtig, die arbeiten bundesweit mit derselben Masche zusammen. In Berlin zogen diese Ganoven auch um die Häuser, und die Täter nahmen sich präzise Stadtteil für Stadtteil vor. Die sind dort, soweit ich das einschätzen kann, noch immer im großen Stil aktiv.“
„Ja, das ist deutschlandweit derzeit die große Masche. Alle paar Jahre gibt es einen neuen Trickbetrug. Selbst am Telefon versuchen Kriminelle verstärkt, Senioren abzuzocken. Allein am letzten Montag wurden der Polizei in Rostock sieben Enkeltrick-Fälle gemeldet.“
Während die Kollegen hitzig über ihre Erfahrungen sprachen, kam Heilmeyer aus dem Nebenraum zurück. Den letzten Satz hatte er noch mitbekommen und mischte sich jetzt ein:
„Die Aufklärung dieser Delikte ist vor allem Aufgabe der Schutzpolizei, die wir in akuten Fällen und wenn unsere Kapazität es zulässt, natürlich unterstützen. Doch kommt mit dieser Diskussion jetzt zum Ende.“
Alle sahen ihm an, dass ihn eine brisante Nachricht erreicht hatte und ihm etwas unter den Nägeln brannte.
„Soeben kam eine Meldung rein, die brutaler nicht sein kann. Ich brauche eure volle Konzentration. Das wird kein einfacher Einsatz und duldet keinen Aufschub.“
Die Kollegen sahen Peter Heilmeyer gespannt an. Diese Tonart kannten sie, weshalb hundertprozentige Aufmerksamkeit im Raum herrschte.
„Vor circa einer Stunde hat ein Ehepaar im IGA-Park den Leichnam eines Babys entdeckt. Der Säugling wurde in einem leichten Pulli, in ein Handtuch gewickelt, aufgefunden. Die Hintergründe sind bislang unklar. Die Spurensicherung ist bereits vor Ort und erwartet uns. Wir müssen uns sofort auf den Weg machen. Am Fundort gibt es wohl jede Menge Spuren. Enno ist bereits da.“
Alle schauten sich betroffen an.
„Eine Babyleiche, was für ein schrecklicher Fund!“
„Okay, Leute, ein schlimmes Thema, aber wir sollten jetzt los, um die Ermittlungen der Kollegen in Lütten Klein zu unterstützen. Vor allem müssen wir untersuchen, was wirklich passiert ist. Lisa, du bleibst und hältst hier die Stellung. Es gibt ohnehin einiges, das du aufarbeiten musst“, sprach Heilmeyer Lisa direkt an beim Verlassen des Büros.
Die Kollegen zogen los, und Lisa blieb allein in den Räumen der Dienststelle zurück.
Plötzlich spürte sie eine tiefe Stille, die ihren ganzen Körper durchdrang. Nie zuvor war sie allein in diesen Räumen gewesen. Sie beobachtete den Sturm, der draußen tobte, und verfolgte dabei den Flug einer Möwe, die dicht am Fenster vorbeiflog und laut aufschrie. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, denn Möwen waren das deutliche Indiz dafür, dass sie in der Heimat, an der Küste war. Die Weite des Meeres, das leise und laute Rauschen der Wellen und der kilometerweite weiße Strand hatten ihr gefehlt. Wie sehr hatte sie das alles in Berlin vermisst. Hier an der Küste konnte sie sich in weiter Natur frei bewegen oder am Kamin faulenzen, je nach Laune. Ihr wurde bewusst, dass sie das maritime Flair nie missen wollte.
Allein im Büro gönnte sich Lisa den Luxus, gedanklich ein paar wenige Minuten abzudriften. Sie stellte sich einen lauen Sommertag mit Max vor. Wie schön würde es sein, am Graal-Müritzer Strand mit ihm um die Wette zu laufen. Es gelang ihr, sich bald von diesen Gedanken zu lösen, um sich auf ihre Arbeit konzentrieren zu können.
Während Lisa die Unterlagen der letzten beiden Wochen noch einmal durchblätterte, dachte sie an Peter Heilmeyer. Er war stets umsichtig und hatte ihr aus Rücksichtnahme den Anblick des toten Kindes erspart. Für diese Einfühlsamkeit war sie ihrem Chef dankbar.
Ihr Blick fiel auf den letzten Ordner, der aufgeschlagen vor ihr lag. Sie wollte die Durchsicht beendet haben, bis die Kollegen zurück waren, dann hatten sie einen neuen Fall auf dem Tisch und würden sich darauf konzentrieren müssen.
Sie war überrascht, als sie las, wie viel es während ihrer Abwesenheit zu tun gegeben hatte. Eigentlich hätte Heilmeyer sie aus Berlin zurückholen müssen. Straftaten unter Betäubungsmitteln, einige Einbrüche …
Im Nebenraum klingelte Heilmeyers Telefon. Sie nahm den Hörer ab, meldete sich mit Lisa Liebich, Polizeiinspektion Rostock, und hörte eine leise Stimme am anderen Ende.
„Bin ich bei der Kripo?“, erkundigte sich die Anruferin unsicher.
„Ja, richtig, Liebich, Kripo Rostock. Wer sind Sie, und wie kann ich Ihnen helfen?“
Die Anruferin nannte ihren Namen nicht, sondern platzte direkt los.
„Meine Mitbewohnerin Charlotte ist verschwunden!“
„Verschwunden? Wann haben Sie die Frau zuletzt gesehen?“
„Gesehen? Das ist schon länger her. Aber wir sprechen ansonsten regelmäßig am Telefon. Wir wohnten bis vor Kurzem in Lütten Klein zusammen in einer Wohngemeinschaft, aber gesehen haben wir uns trotzdem eher unregelmäßig. Wenn es passte, mal nach der Vorlesung oder für einen Kinobesuch oder sowas. Unsere Studienzeit lässt nichts anderes zu, schon gar nicht in letzter Zeit.“
„Und wie kommen Sie auf die Idee, dass Ihre Freundin verschwunden ist, wenn Ihr Kontakt ohnehin eher unregelmäßig war?“
Die Antwort kam schnell. „Sie hat all ihre Sachen hiergelassen. Vor einigen Tagen wollte sie einiges abholen, und bei der Gelegenheit wollten wir endlich mal wieder etwas gemeinsam unternehmen. Vielleicht ins Kino und anschließend im Borwin am Stadthafen essen gehen. Das machen wir hin und wieder.“
„Sie haben doch sicher versucht, Ihre Mitbewohnerin anzurufen, oder?“
„Na klar. Ich habe ständig angerufen, nichts! Bis gestern sprang wenigstens noch der Anrufbeantworter an, aber seit heute ist selbst da Funkstille. Deshalb mache ich mir ja die großen Sorgen. In der Uni wurde sie seit einigen Tagen auch nicht mehr gesehen.“
„Am besten, Sie kommen persönlich zu uns, wir nehmen ein Protokoll auf und sehen dann weiter. Lässt sich das für Sie einrichten?“
„Ja, das ist möglich.“
„Wann könnten Sie bei uns sein? Ach ja, ein aktuelles Bild Ihrer Mitbewohnerin wäre auch hilfreich.“
„Etwa in einer Stunde, das müsste zu schaffen sein. Von der Uni ist es ja nicht so weit bis zur Ulmenstraße. Ein Foto könnte ich Ihnen sofort mailen, wenn Sie mir Ihre E-Mail-Adresse nennen.“
„Mach ich. Gibt es einen Laptop oder ähnliche Geräte von Ihrer Kommilitonin?“
„Ja, die gibt es, und genau das beunruhigt mich ja gerade. Alles steht in ihrem Zimmer, so wie sie es verlassen hatte. Dabei wäre sie ohne ihren Laptop nie so lange weg.“
„Okay, kommen Sie erstmal her, alles andere klären wir bei uns im Kommissariat.“
Lisa gab ihre Mailadresse durch und legte auf. Kurz überlegte sie, doch dann wählte sie die Nummer ihres Chefs. Der war auch prompt am Handy.
„Hey, Lisa, wo brennt es? Was ist so wichtig, dass du hier anrufst?“
„Sorry, Peter“, sagte Lisa schnell. „Ich kann mich auch später melden.“
Peter Heilmeyer bemerkte, dass er zu schroff reagiert hatte.
„Hier ist die Hölle los, und wir haben vollauf damit zu tun, die Presse abzuwimmeln. Genau wie die vielen Schaulustigen, die immer dreister werden.“
„Schlimm, dass wir uns immer mit denen rumschlagen müssen. Aber ja, es ist wichtig, wir haben die Vermisstenanzeige einer jungen Frau reinbekommen. Eigentlich wollte ich nur wissen, wann mit euch zu rechnen ist. Ansonsten befrage ich die Bürgerin allein und schreibe das Protokoll.“
„Wann hier Schluss ist, kann ich nicht einschätzen. Mach das Protokoll, wir sprechen später drüber.“
Heilmeyer legte, ohne ein weiteres Wort hinzuzufügen, auf, und Lisa ärgerte sich, überhaupt angerufen zu haben. Heilmeyer vertraute ihr, das hatte er mehrfach bewiesen, nur Lisa blieb weiterhin skeptisch. Sie musste sich ablenken und machte bei den Protokollen der beiden letzten Wochen weiter.
Sie wollte gerade den vor ihren liegenden Ordner zuschlagen, als ein zartes Klopfen an ihr Ohr drang. Lisa wusste nicht, ob schon lange gegen die Tür geklopft wurde, und rief automatisch ein lautes „Ja, bitte.“
Eine junge Frau betrat verlegen den Raum.
„Hallo, ich bin Anne Winter, ich hatte vorhin angerufen. Sind Sie Frau Liebich?“
„Richtig. Gut, dass Sie so schnell kommen konnten.“
„Charlottes Laptop habe ich gleich mitgebracht. Vielleicht ergibt sich etwas, das Aufschluss über ihr Verschwinden gibt. Allerdings kenne ich das Passwort nicht.“
„Noch gibt es keinen Grund, besorgt zu sein oder über ihr Verschwinden zu spekulieren. Sie sagten, dass Sie seit einigen Tagen nichts von Ihrer Kommilitonin gehört haben. Sie ist in einem Alter, das immerhin auch ein freiwilliges Abtauchen zulässt. Und für das Passwort haben wir Fachleute. Den Computer nehmen sich nachher unsere Experten vor. Ich denke, dass wir für die Fragen, die ich Ihnen stellen werde, nicht erst in den Aufnahmeraum gehen müssen. Das machen wir gleich hier, und Sie unterschreiben anschließend das Protokoll?“
„Ja, das heißt, wenn es nicht zu lange dauert. Ich muss heute noch in die Uni zurück.“
„Eine knappe Stunde. Sie wiederholen einfach das, was Sie mir vorhin am Telefon gesagt haben! Das geht relativ zügig. Können wir gleich beginnen?“
„Meinetwegen.“
Lisa holte ein Aufnahmegerät, stellte das Mikrofon direkt vor die Studentin, schaltete das Gerät ein und machte noch eine Bemerkung, bevor sie begann: „Es ist doch für Sie okay, wenn ich das Gespräch aufzeichne? Damit wären nachher meine Kollegen, die jetzt mit einem anderen Fall beschäftigt sind, auch gleich informiert.“
„Ja, klar.“
Lisa sprach laut ins Mikrofon:
„Montag, 11. Dezember 2023 10.30 Uhr. Vermisstenanzeige Charlotte Neubauer.“
Dann wiederholte sie die erste Frage, die sie bereits am Telefon gestellt hatte: „Seit wann vermissen Sie Ihre Kommilitonin?“
Anne Winter antwortete wie aus der Pistole geschossen: „Seitdem sie nicht, wie verabredet, am Kino erschien, das war vor zwei Tagen …“
Dann wurden die Fragen konkreter.
„Sie ist seitdem nicht per Telefon zu erreichen?“
„Ja.“
„Ist Ihnen in letzter Zeit bei Ihrer Mitbewohnerin etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“ Die junge Frau überlegte kurz, meinte dann aber bestimmt: „Nein, nicht dass ich wüsste. Doch so vertraut gehen wir nicht miteinander um, dass ich dazu wirklich etwas sagen könnte.“
„Wie lange kennen Sie sich denn überhaupt?“
„Wir haben uns im Internet auf einem Portal für Studenten kennengelernt, die eine Wohnung in Rostock suchten. Wenige Wochen vor dem Studium zogen wir nach Lütten Klein in eine kleine Wohnung. Einer der wenigen Stadtteile von Rostock, wo noch Wohnungen zu bekommen waren. Das ist jetzt etwa drei Jahre her. Ah Moment, mit Unterbrechung. Allerdings kann ich nicht gerade sagen, dass in dieser Zeit eine Freundschaft gewachsen ist. Aber wir mochten uns und können uns aufeinander verlassen.“
„Drei Jahre, sagen Sie? In so einer Zeit fällt einem doch auf, ob sich jemand verändert hat?“
„Wie gesagt, drei Jahre mit Unterbrechung. Vor einigen Monaten war sie für eine gewisse Zeit zu einem Mann gezogen. Ich hatte mich gewundert, weil sie den gerade ein paar Tage zuvor kennengelernt hatte. Sie bekam meine Skepsis zu ihrem übereilten Auszug mit, doch das interessierte sie wenig und hielt sie nicht ab. Ich kannte den Typ vom Sehen, er passte gar nicht zu Charlotte, ehrlich gesagt.“
Lisa merkte, dass Anne Winter stockte, um zu überlegen, wie sie sich ausdrücken sollte. Sie hakte nach.
„Wie kommen Sie zu dieser Ansicht?“
„Er sieht ziemlich gut aus, und ich kann mir vorstellen, dass er mehrere Eisen im Feuer hat. Jedenfalls hatte ich ihn zuvor ein paar Mal mit unterschiedlichen Frauen in sehr vertrauten Situationen gesehen. Das war sogar während der Zeit, als Charlotte bei ihm wohnte. Damals traf ich sie zufällig und merkte schon, dass sie sich verändert hatte. Es schien, als hätte er sie irgendwie manipuliert, sodass ihr Selbstwertgefühl verschwand. Charlotte hatte tiefe Augenringe und eine Verletzung im Gesicht, das ließ für mich nur den Schluss zu, dass der Typ handgreiflich war. Charlotte trug eine dunkle Sonnenbrille, obwohl es ein düsterer Tag war. Sie nahm diese kurz ab, und ich sah die Wunde. Das passte alles gar nicht zu ihr. Bis dahin kannte ich sie als taffe und selbstbewusste Frau. Aber davon war an dem Tag wenig zu spüren“
„Ging sie in dieser Zeit regelmäßig zur Uni?“
„Ja, soweit ich das einschätzen kann. Vor einiger Zeit war auf einmal Schluss mit dem Typ, und sie stand mit ihren Koffern unangekündigt vor meiner Tür und heulte sich aus. Sie hatte großes Glück, denn das Zimmer war noch frei. So zog Charlotte noch am selben Tag wieder bei mir ein. Dabei erzählte sie nicht viel von dem Mann, den sie gerade verlassen hatte. Ich hatte den Eindruck, dass sie alles, was mit ihm zusammenhing, vergessen wollte. Darum hakte ich auch nicht weiter nach. Ich wollte schließlich nicht in offenen Wunden stochern. Sie sagte lediglich, dass sie sich geirrt hatte und die Notbremse ziehen musste.“
„Wissen Sie, was sie mit Notbremse gemeint haben kann?“
„Nein, ich müsste raten. Wie gesagt, ich wollte bei ihr keine wunden Stellen aufreißen und hab nicht weiter nachgefragt. Ich war froh, ihr helfen zu können. Und sie hatte sich gefreut, dass alles reibungslos geklappt hatte.“
„Können Sie sich vorstellen, dass dieser Mann etwas mit dem Verschwinden von Frau Neubauer zu tun hat?“
„Eigentlich nicht, der ist irgendwie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Aber mit Bestimmtheit kann ich das natürlich nicht sagen. Und Äußerlichkeiten haben schließlich nichts mit dem wahren Charakter zu tun. Stellen Sie sich vor, der bändelte, kaum dass Charlotte ihn verlassen hatte, mit mir an. Er setzte all seinen Charme ein, und, ehrlich gesagt, bin ich für kurze Zeit auf ihn reingefallen.“
„Geben Sie mir bitte seinen Namen und, falls Sie die kennen, auch seine Adresse. Wir schauen uns den Mann mal an. Dennoch geben wir Ihrer Kommilitonin noch einen Tag Zeit, sich selbst zu melden.“
„Gut. Ach ja, eins fällt mir noch ein. Sie hatte ziemlich lange überlegen müssen, um sich mit mir zum Kino verabreden zu können. Sie schien gar keine Zeit zu haben. Wenn ich richtig nachdenke, dann zeigte Charlotte sich bereits seit einigen Tagen am Telefon verändert. Irgendwie unruhig, ja geradezu nervös. Aber wie gesagt, das kann auch nur Einbildung von mir sein.“
„Vermutungen bringen uns nicht weiter, wir bleiben lieber bei den Tatsachen. Ach ja, haben Sie an das Foto gedacht?“
Anne Winter suchte in ihrer Tasche und holte ein gerahmtes Foto hervor, auf dem eine blonde Frau mit rundem Gesicht fröhlich in die Kamera lächelte.
„Das ist aktuell, etwa ein halbes Jahr alt. Jedenfalls erkennt man sie darauf gut.“
„Danke, auch für den Laptop. Schreiben Sie nur noch den Namen und Adresse des letzten Freundes von Frau Neubauer auf, dann können Sie gehen.“
Anne Winter notierte seinen Namen und meinte, während sie schrieb: „Die Hausnummer kenne ich nicht genau, aber die könnte ich nachreichen.“
„Die Hausnummer bekommen wir selbst raus, machen Sie sich keine Umstände. Wir bleiben weiterhin in Kontakt. Ihre Daten sind notiert und falls Sie was erfahren oder Frau Neubauer sich melden sollte, geben Sie uns bitte umgehend Bescheid.“
„Muss ich noch einmal herkommen?“
„Hier sind wir erstmal fertig. Wir melden uns bei Ihnen, falls das nötig sein sollte.“
Lisa brachte Anne Winter an die Tür. Sie bemerkte nicht nur, dass diese es plötzlich sehr eilig hatte, sondern auch, dass sie sich mehrfach bei den Angaben zu ihrer Mitbewohnerin widersprach. Zuerst betonte sie Charlotte nicht gut genug zu kennen, später gab sie genaue Details preis. Am Eingang wurden sie beinah von Heilmeyer und den anderen Kollegen umgerannt.
Am liebsten hätte Lisa sofort von der vermissten Studentin gesprochen. Doch sie ahnte, dass sie mit diesem Fall bis zum nächsten Tag warten musste. Genauso war ihr klar, dass ihnen heute, entgegen der Vermutung vom Vormittag, ein langer Tag bevorstehen würde.
3. Kapitel
Wende
Heilmeyers Mimik verriet, dass ihm der Einsatz im IGA-Park zugesetzt hatte. Vor einigen Jahren verlor der Chef des Kommissariats sein einziges Kind. Ein Verkehrsunfall mit Fahrerflucht. Dabei verlor er nicht nur seinen Sohn, wenig später auch seine Frau, die nie über den Verlust des gemeinsamen Kindes hinwegkam.
Lisa konnte an seiner betont ruhigen Art und seinem ernsten Gesicht nur ahnen, wie es in seinem Inneren aussehen musste. Er sagte kein einziges Wort, als er gemeinsam mit den anderen die Räume des Kommissariats betrat. Das war seine Art, mit ungewöhnlichen Fällen umzugehen.
Olli war dagegen gesprächiger. „Der Säugling muss kurz nach der Geburt in der Nähe des Schifffahrtsmuseums abgelegt worden sein. Der oder die Täterin kannte sich anscheinend gut aus. Jedenfalls wussten sie, dass gestern dort eine Ausstellung eröffnet worden ist und mit Publikumsverkehr zu rechnen war. Sie hatten darauf spekuliert, dass das Baby gefunden werden würde. Es war ein Mädchen, und sie war, entgegen der Angaben vorhin am Telefon, in eine wärmende Decke gehüllt. Das wirkte für mich auf den ersten Blick sogar liebevoll. Ob das Kind bereits tot war, bevor man es fand, wird Enno jetzt herausfinden. Er nahm die Leiche mit in die Gerichtsmedizin. Er meinte, dass er uns bis spätestens morgen früh die Uhrzeit und womöglich auch die Todesursache mitteilen kann.“
„Gibt es denn einen Verdacht oder eine Vermutung zum Tod?“, fragte Lisa.
„Wie meinst du das?“, hakte Olli nach.
„Na ja, ich denke beispielsweise an plötzlichen Kindstod, ohne Fremdverschulden.“
Heilmeyer mischte sich daraufhin das erste Mal ins Gespräch ein. „Das kann wirklich erst nach Ennos Untersuchungen gesagt werden. Obwohl selbst die sorgfältigste Obduktion in der Regel keine genauen Ursachen für den plötzlichen Kindstod feststellen kann.“
„Zumindest sah man dem Kind keine äußere Gewaltanwendung an. Wenigstens auf den ersten Blick war nichts dergleichen zu erkennen“, schloss sich Jens Heilmeyers Worten an.
Die Spekulationen seiner Kollegen fingen Heilmeyer an zu nerven, und er musste sich beherrschen, das nicht barsch kundzutun. Er wollte endlich anhand von Fakten weitermachen.
„Lassen wir bitte die Mutmaßungen sein, morgen wissen wir mehr. Obwohl sich Anzeichen oder Warnzeichen ebenso schwierig finden lassen wie die auslösenden Umstände. Hoffen wir, dass die Spusi am Fundort genug Spuren sicherstellen konnte, damit wir über diesen Weg wenigstens die Mutter ausfindig machen. Es könnte möglich sein, dass sie medizinische Hilfe braucht, weil sie sich in einem Ausnahmezustand befindet.“
„Die Kollegen sind bereits dabei, im Südstadtklinikum, Geburtshäusern und Hebammenpraxen nach Frauen zu fahnden, die vor ein bis zwei Tagen entbunden haben“, ergänzte Jens.
Lisa überlegte, ob jetzt der richtige Moment war, um auf die Vermisstenanzeige einzugehen, und fragte erst einmal vorsichtig nach.
„Wollen wir die Angaben zur Vermisstenanzeige heute besprechen oder besser auf morgen verschieben?“
Lisas Kollegen merkten am schnellen Wechsel ihrer Gedanken, dass sie vom Kindstod ablenken wollte.
Das stimmte! Sie wollte lieber mit den Kollegen über das gerade aufgenommene Protokoll zur Vermisstenanzeige von Charlotte Neubauer sprechen.
„Okay, Lisa, da ich davon ausgehe, dass dein erster Tag bei uns nicht ohne Überstunden enden wird, lass uns kurz über die Vermisstenanzeige sprechen.“
Auf Heilmeyers Einfühlungsvermögen war wieder einmal Verlass.
Lisa sah kurz auf ihr angefertigtes Protokoll und nannte chronologisch ihre festgehaltenen Notizen.
Im Anschluss übergab sie Jens den Laptop von Charlotte Neubauer und meinte: „Vielleicht gibt es ja sogar sowas wie eine heiße Spur. Die Vermisste soll sich vor einiger Zeit überraschend schnell von einem Mann getrennt haben. Anne Winter wusste allerdings nicht, ob weiterhin Kontakt besteht. Seinen Namen hat sie mir auch genannt, er heißt Gregor Sander. Gut möglich, dass du über ihn oder andere Männer in ihrem Computer Angaben findest.“
Jens ließ erkennen, dass er sich am liebsten gleich den Computer der Studentin vornehmen würde. Heilmeyer bemerkte dies und gab ihm mit einem Wink zu verstehen, dass er direkt beginnen könne. Dann wanderte sein Blick zurück zu Lisa.
„Danke. Gut gemacht. Du hast einiges erfahren, das uns weiterhelfen kann.“
Olli hatte eine weitere Frage. „Hat Frau Winter etwas zum Handy ihrer Freundin gesagt?“
„Ja, sie meinte, dass ihr Handy seit zwei Tagen schweigt, und jetzt herrscht endgültig Funkstille, auch beim Anrufbeantworter. Über diesen Weg kommen wir also nicht weiter.“
Heilmeyer wurde hellhörig.
„Wir gehen routiniert vor. Das heißt: familiäres Umfeld, Nachbarn, Kommilitonen und Freunde befragen. Wir sollten uns nicht nur auf diesen einen Mann konzentrieren. Jens, wie lange brauchst du für den Laptop?“
„Kommt drauf an. Wenn´s länger dauert, nehme ich mir das Ding mit nach Hause. Vielleicht lässt sich aber heute schon etwas finden, das aussagekräftig ist.
Peter, ich rufe dich dann an.“
Olli drehte sich zu Jens. „Wäre gut, wenn wir in dieser Geschichte schnell weiterkommen, aber im Moment interessiert mich auch die Mutter des toten Kindes. Könnte sein, dass die Kollegen in den Krankenhäusern etwas über Charlotte Neubauer herausbekommen. Auch, ob es zwischen beiden sogar eine Verbindung gibt. Schließlich verschwindet eine Frau, in deren Wohnortnähe wir ein totes Kind auffinden.“
„Bei Hebammenpraxen, Kliniken und Co. bleib ich dran. Mit unseren Kollegen in Lütten Klein stehe ich engmaschig in Kontakt. Sie haben mir versprochen, sich sofort zu melden, falls sie eine Charlotte Neubauer finden. Ich werde den Laptop doch erst genauer zu Hause zu untersuchen.“
Heilmeyer nickte stumm, dann schaute er auf seine Uhr, die anzeigte, dass die Feierabendzeit längst überschritten war. „Lasst uns für heute Schluss machen, es ist spät genug.“
„Auch, wenn es eine Menge zu tun gibt, belassen wir es bei unserem kleinen Fest morgen? Ansonsten können wir es für dieses Jahr vergessen.“
Jens war es, der sich vergewissern wollte, und hakte noch mal nach.
„Ihr wisst, ich muss mich mit meiner Frau wegen der Kids abstimmen. Kleine Feier bedeutet schließlich später Dienstschluss, und Gesine müsste die Kinder abholen.“
„Ich würde sagen, es bleibt dabei. Bestell deiner Frau einen Gruß, du wirst hier länger gebraucht.“
Jens schmunzelte und ergänzte: „Kommt schließlich selten genug vor, ich meine, eine Feierlichkeit in den Diensträumen.“
„Gut. Wie die Jahre zuvor würde ich gern Enno und Tess zu uns einladen. Was meint ihr?“
„Na klar, schließlich gehören sie so gut wie zu unserem Team“, preschte Olli vor.
Lisa durchzuckte blitzartig ein Gedanke …
Wie lange hatte sie sich nicht bei ihrer Kollegin gemeldet? Diese war ja inzwischen längst nicht nur eine Kollegin. Tess aus der Rechtsmedizin war für sie viel mehr! Von Anfang an, seit sie Teil in Heilmeyers Team war, bewies Tess, dass sie eine gute und verständnisvolle Gesprächspartnerin war. Lisa nahm sich vor, ihre Kollegin noch an diesem Abend anzurufen. Dann packte sie, wie die anderen auch, ihre Sachen. Die Zeiger ihrer Uhr liefen bereits auf 19 Uhr zu. Damit war ein normaler Arbeitstag um einige Stunden überschritten.
Das Telefon im Nebenraum klingelte. Heilmeyer überlegte kurz, ob er rangehen sollte. Dann griff er instinktiv nach dem Hörer.
„Heilmeyer, ich bin bereits auf den Sprung“, meinte er genervt.
„Peter, bitte nicht so schlecht gelaunt, dafür gibt es keinen Grund“, betonte Enno am Telefon. „Im Gegenteil, ich rufe an, weil ich gehofft hatte, dich noch zu erreichen.“
„Was gibt es denn?“
„Ich hatte versprochen, mich sofort zu melden, falls sich bei dem Babyfund etwas Neues ergibt.“
„Ja“, drängelte Heilmeyer und forderte seine Kollegen mit den Augen auf, noch einmal Platz zu nehmen.
„Also, das Kind war gleich nach der Geburt tot. Damit können wir medizinisch ganz klar ein Gewaltverbrechen ausschließen. Ich denke, das erleichtert nicht nur mir, sondern auch euch die Arbeit an dem Fall. Konkrete Informationen dazu kommen morgen schriftlich.“
„Danke, du hast recht. Werde die Kollegen gleich informieren, die sind nämlich alle mit mir noch in der Dienststelle. Jetzt müssen wir nur noch die Mutter finden, um zu erfahren, warum sie das Kind nicht in einem Krankenhaus zur Welt gebracht hat?“
„Ja. Das müsst ihr. Euch dann jetzt endlich einen guten Feierabend.“
„Für dich auch und vielen Dank für die schnelle Info.“ Mit knappen Worten beendete der Kriminalhauptkommissar das Telefonat.
Als sich Heilmeyer umdrehte, erkannte er, dass sich sein Team den Großteil von Ennos Worten bereits zusammengereimt hatte. Dabei war eine allgemeine Erleichterung nicht zu übersehen.
„Unsere weiteren Untersuchungen beziehen sich ab jetzt lediglich auf die Suche nach der Mutter des toten Kindes. Da von keinem Mord auszugehen ist, wird die Arbeit um einiges leichter sein. Nun machen wir aber wirklich Schluss für heute.“
Das ließen sich Heilmeyers Leute nicht zweimal sagen. Sie klopften zur Bestätigung auf den Tisch und standen eilig auf.
Lisa steckte bereits in ihrer Jacke, als der Chef ihr ein Zeichen gab, sie noch einmal sprechen zu wollen.
„Lisa, tut mir leid, dass es so spät geworden ist. Natürlich erwarten wir unter diesen Umständen keinen Kuchen von dir. Außerdem wollte ich dir anbieten, morgen etwas später zu kommen. Du hast zu Hause bestimmt einiges zu erledigen.“
„Danke, Peter, das Angebot nehme ich gern an. Bei mir ist wirklich eine Menge liegengeblieben. Aber ich denke, um 11 Uhr werde ich hier sein können.“
„Okay. Ich wollte dir auch nur sagen, dass ich mich freue, dich wieder bei uns zu wissen. Natürlich ist mir nicht entgangen, dass die Berliner Kollegen dich am liebsten dortbehalten hätten.“
„Ja, aber das wäre keine wirkliche Alternative für mich. Obwohl ich aus einem bestimmten Grund kurz überlegt hatte.“
Heilmeyer sah Lisa fragend an.
„Na ja, dir möchte ich die persönliche Veränderung in meinem Leben zuerst anvertrauen.“
Lisa zuckte kurz vor der eigenen Courage und ihren offenen Worten zurück. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr.
„Bereits vor mehreren Wochen habe ich in Graal-Müritz einen Mann kennengelernt. Jetzt konnten wir in Berlin unsere Beziehung festigen, und ehrlich gesagt, ganz kurz hatte ich daran gedacht, dass Berlin für unsere Beziehung gut wäre. Aber dann war ich zurück, hier bei euch, und jetzt bin ich mir umso sicherer, dass ich nach Rostock, überhaupt an die Küste, gehöre.“
Heilmeyer schaute Lisa lächelnd an, machte eine kurze Pause, ehe er aussprach, was er dachte.
„Eine Veränderung ist mir bei dir aufgefallen, nur wusste ich natürlich nicht genau, was der Grund dafür war.“
„Deiner Menschenkenntnis entgeht eben nichts. Ja, und nun ist es raus. Ich mag keine Geheimnistuerei, auch wenn ich weiß, dass das meine persönliche Sache ist.“
„Vielleicht lernen wir ihn ja mal kennen? Mich würde das sehr freuen. Übrigens, du bist heute doch mit dem Zug gekommen. Wie kommst du jetzt am besten zum Bahnhof? Der Tag war lang genug für dich.“
„Ich ruf mir fix ein Taxi.“
„Unsinn, ich bring dich zum Bahnhof, auch nach Graal-Müritz, wenn du willst.“
„Das ist nett von dir, aber für dich war es heute ein genauso langer Tag. Wenn du mich zum Hauptbahnhof bringst, wäre ich dir dankbar. Dann erreiche ich sicher noch den früheren Zug.“
„Wenn wir gleich losfahren, solltest du ihn schaffen!“
Sie beeilten sich. Ab Ulmenmarkt, vorbei am Lindenpark, über die Hundertmännerbrücke, rechts die Tweel hinter sich lassend, waren sie in wenigen Minuten am Rostocker Hauptbahnhof.
Unterwegs erzählte Lisa ein paar Episoden aus Berlin und bemühte sich, ihren Chef auf andere Gedanken zu bringen.
Sie wusste, ihn würde zu Hause niemand erwarten, mit dem er sich über die Arbeit und das heute Erlebte austauschen konnte.
4. Kapitel
Graal-Müritz
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