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Ein schillerndes Epos im Sturm des Zweiten Weltkriegs um das berühmt-berüchtigte Paar der Zeit: Der Herzog und die Herzogin von Windsor
Die Bahamas, 1941. Reporterin Lulu Randolph trifft in Nassau ein, um für ein New Yorker Gesellschaftsmagazin über den Gouverneur und seine Frau zu recherchieren, jenes glamouröse Paar, dessen Liebesaffäre fünf Jahre zuvor die britische Monarchie fast in die Knie gezwungen hätte. Doch es scheint unmöglich, Zugang zur High Society und damit dem glanzvollen Paar zu bekommen. Lulu ist kurz davor, wieder abzureisen. Doch dann trifft sie auf Benedict Thorpe, einen gut aussehenden Wissenschaftler mit ungeheurem Charme – ein Mann, der ihr ganzes Leben verändern könnte ...
Schweiz, 1900. Als Elfriede und Wilfred sich in einer Heilanstalt kennenlernen, sind sie sich beide sicher, es ist die große Liebe. Ihrem Glück im Weg steht aber nicht nur Elfriedes Ehemann, der zu Hause auf sie wartet – auch die Umstände und Strapazen des heraufziehenden Krieges stellen die beiden vor eine aussichtslose Zukunft.
Zwei mutige Frauen in den Schicksalsjahren des 20. Jahrhunderts zwischen Vernunft und der alles verändernden Kraft der Liebe …
Lesen Sie auch die anderen Romane von Beatriz Williams um große Liebesgeschichten, dramatische Geheimnisse und die glamouröse High Society!
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Seitenzahl: 742
Buch
Ein schillerndes Epos im Sturm des Zweiten Weltkriegs um das berühmt-berüchtigte Paar der Zeit: Der Herzog und die Herzogin von Windsor
Die Bahamas, 1941. Reporterin Lulu Randolph trifft in Nassau ein, um für ein New Yorker Gesellschaftsmagazin über den Gouverneur und seine Frau zu recherchieren, jenes glamouröse Paar, dessen Liebesaffäre fünf Jahre zuvor die britische Monarchie fast in die Knie gezwungen hätte. Doch es scheint unmöglich, Zugang zur High Society und damit dem glanzvollen Paar zu bekommen. Lulu ist kurz davor, wieder abzureisen. Doch dann trifft sie auf Benedict Thorpe, einen gut aussehenden Wissenschaftler mit ungeheurem Charme – ein Mann, der ihr ganzes Leben verändern könnte …
Schweiz, 1900. Als Elfriede und Wilfred sich in einer Heilanstalt kennenlernen, sind sie sich beide sicher, es ist die große Liebe. Ihrem Glück im Weg steht aber nicht nur Elfriedes Ehemann, der zu Hause auf sie wartet – auch die Umstände und Strapazen des heraufziehenden Krieges stellen die beiden vor eine aussichtslose Zukunft.
Zwei mutige Frauen in den Schicksalsjahren des 20. Jahrhunderts zwischen Vernunft und der alles verändernden Kraft der Liebe …
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Die Autorin
Beatriz Williams besitzt Abschlüsse der amerikanischen Universitäten Stanford und Columbia. Während sie als Beraterin in London und New York arbeitete, versteckte sie ihre Schreibversuche zunächst auf ihrem Laptop. Mit ihren Romanen eroberte sie nicht nur die Herzen ihrer LeserInnen im Sturm, sondern auch die »New York Times«-Bestsellerliste. Heute schreibt Beatriz Williams in ihrem Haus an der Küste Connecticuts, wo sie mit ihrem Mann und ihren vier Kindern lebt.
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BEATRIZ WILLIAMS
Die goldene Stunde
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Regina Schneider
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Golden Hour«
bei William Morrow, New York, 2019.
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Copyright der Originalausgabe © 2019 by Beatriz Williams
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by Blanvalet Verlag,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Angela Kuepper
Umschlaggestaltung und -motiv: © Sandra Taufer
LO · Herstellung: sam
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN: 978-3-641-26687-5V001
www.blanvalet.de
Für all die Frauen und Männer auf der ganzen Welt,
die mit Depressionen leben.
Ihr werdet geliebt. Ihr werdet gebraucht.
Das Dunkel wird vergehen.
Im Foyer des Basil Hotels in Cardogan Gardens macht ein Schild oberhalb der bräunlichen Tapete die Gäste darauf aufmerksam, dass die Nachtruhe strikt überwacht wird. Und ein weiteres Schild mahnt zur Vorsicht, weil der Feind mithört – wieder einmal. Die Tapete ist übersät mit blassroten Blümchen, die einmal tiefrosa gewesen sein dürften. Sie erinnern mich an eine Geschichte, die ich einmal gelesen habe, in der eine Frau so lange auf die Tapete in ihrem Zimmer stierte, bis sie den Verstand verlor (auf eine gelbe Tapete, wenn ich mich recht erinnere), aber davon bin ich wohl noch ein gutes Stück entfernt.
Ich blicke auf meine Armbanduhr. Fünfzehn Uhr zweiundzwanzig.
Draußen wird es schon dunkel. Eine Mischung aus Kohlenrauch, Dezembernebel und frühem Sonnenuntergang in diesen Breiten, als wären die Tapete, die Schilder an der Wand und die Schutthaufen auf der gegenüberliegenden Straßenseite nicht schon genug, um in düstere Schwermut zu versinken. Wieder geht mein Blick auf die Armbanduhr, fünfzehn Uhr dreiundzwanzig (ja, gibt’s denn das?!), und begegnet dabei zufällig dem des Empfangschefs an der Rezeption. Er mustert mich über den Rand seiner locker sitzenden Lesebrille hinweg, weil ihm mein Aussehen von Anfang an wohl nicht gepasst hat. Warum auch?! Da taucht in deinem Londoner Hotel eine Frau auf, mitten im Dezember, mitten im Krieg, gebräunter Teint, amerikanischer Akzent, unverkennbar umgeben von einer Aura des Fremdländischen, bezahlt ihr Zimmer im Voraus und hat nichts weiter als einen kleinen Koffer dabei. Nun hockt sie da, in deinem dumpfigen Foyer von verblichener Eleganz, wartet auf irgendeine dubiose Verabredung, und du müsstest eigentlich zum Telefonhörer greifen und die Behörden benachrichtigen, einfach nur, um auf der sicheren Seite zu sein – und wahrscheinlich hast du das bereits getan.
Sein Blick huscht hinüber zum Fenster, dann auf die Uhr über dem Gesims hinter mir. Er entfernt sich ein paar Schritte vom Empfangstresen, um die Außenjalousien herunterzulassen und die schweren Chintzvorhänge zuzuziehen. Seine Gestalt ist schmächtig, sein Gang etwas steif, und sein Maßanzug scheint aus dem vorigen Jahrhundert zu stammen. Mit jeder Bewegung gerät sein weißes Haar leicht in Bewegung, und ich erschnuppere einen Hauch von Eau de Cologne, das mich an einen Friseurladen erinnert. Ich überlege, ob ich aufstehen und ihm zur Hand gehen soll. Oder ob er mich dafür umbringen würde?
Nun ja. Nicht umbringen im eigentlichen Sinne, als buchstäblicher Akt des Tötens. Aber irgendwie scheint das Töten von Menschen ständig in meinem Kopf zu kreisen. Muss am Krieg liegen. Der Krieg macht das Töten zu etwas Alltäglichem, zu etwas, das Menschen einander antun, jeden Tag, jeden Augenblick, ohne konkreten Anlass, allein, um nicht selbst getötet zu werden, sodass man anfängt, jederzeit und überall genau damit zu rechnen – ein Gedanke, der wie eine dunkle Wolke über einem hängt und sich wie ein Schatten um die Seele legt. Das finstere Tal der Todesschatten, das ist Krieg. Das Töten ohne konkreten Anlass. Wer im normalen Leben jemanden umbringt, hat in aller Regel einen verdammt guten Grund dazu, einen persönlichen, einen individuellen – aus Sicht des Mörders zumindest. Welchen Grund brauchte wohl ein Hotelmitarbeiter wie er, um jemanden umzubringen?, frage ich mich, während ich dem federnden Auf und Ab seiner Haare in der sacht bewegten Luft zusehe. Gut, wir alle haben unsere Belastungsgrenzen.
Eine Glocke ertönt. Die Eingangstür schwingt auf. Ein frischer Luftzug weht herein und mit ihm eine blasse Frau in einem abgetragenen Mantel und mit einem braunen Filzhut auf dem Kopf, der ein bisschen aussieht wie ein Männerhut. Sie wischt die regenfeuchten Ärmel ab, sieht sich um und entdeckt den Empfangschef, der durch das Foyer zurück zum Tresen eilt.
»Verzeihen Sie, werter Herr«, sagt sie in britischem Englisch, mit fester und ruhiger Stimme. Das Licht des Leuchters streift ihre Haare, die unter der Hutkrempe zu einem blonden Nackenknoten zusammengesteckt sind. Sie ist ungeschminkt bis auf einen zarten Hauch von Lippenstift vielleicht, wobei sie selbst den eigentlich gar nicht nötig hätte. Ein nordischer Typ wie sie braucht kein Make-up. Sie ist groß, blond, hat all die klassischen Attribute, die meine eigene italienische Mutter mir nicht mitgeben konnte, auch wenn ich sonst viel von ihr habe. Irgendwie kommt mir die Frau bekannt vor. Dieser Mund … diese geraden, vollen Brauen über den blauen Augen, das alles kenne ich doch, oder nicht?
Nein. Garantiert nicht. Das bilde ich mir bestimmt nur ein. Ich sehe eine Ähnlichkeit, weil ich eine sehen will. Nein, ausgeschlossen. Margaret Thorpe wird meinen Brief erst heute Abend erhalten, nach Feierabend, wenn sie aus ihrem Büro in irgendeinem Regierungsgebäude nach Hause kommt. Nein, sie kann es unmöglich sein, die Schwester meines Mannes, meine Schwägerin, auch wenn mein Herz beim Anblick ihrer Züge leicht aus dem Takt gerät. Ihr Kopf ist jetzt dem Empfangschef zugedreht, und vom Profil her jedenfalls sieht sie Margaret Thorpe überhaupt nicht mehr ähnlich, ganz und gar nicht. Wenn nicht …
Wieder ertönt die Glocke. Wieder schwingt die Eingangstür auf und lenkt meinen Blick ab. Wieder strömt ein Luftzug herein, und ein Mann in marineblauem Militärmantel und Offiziersmütze, auf der kleine Regentropfen glitzern, schiebt sich herein. Sein Gesicht ist pockennarbig, die einzige Auffälligkeit an ihm. Sein ausdrucksloser Blick schweift langsam durch das Foyer, als nähme er jedes Detail, jeden Strich auf der Tapete, jeden Fleck auf den Polstern in sich auf, und bleibt schließlich, wie zufällig, an mir hängen.
Die Frau befindet sich nach wie vor im Gespräch mit dem Empfangschef. Nimmt gar keine Notiz von uns. Ich stehe auf. »Mr. B …?«
Er tritt vor und streckt mir die Hand entgegen. »Sie müssen Mrs. Thorpe sein«, sagt er freundlich und ergreift meine Hand schwungvoll mit beiden Händen, als wären wir Vater und Tochter, die sich wie gewohnt zum Tee verabredet haben.
Statt im Foyer des Basil Hotels zu bleiben (wo der Feind mithört oder auch nicht, der Empfangschef aber auf jeden Fall die Ohren spitzt), steuern wir nach draußen in die Dunkelheit. Ich habe die Angewohnheit, zügig zu gehen, während Mr. B (seinen richtigen Namen kann ich nicht nennen, so leid es mir tut) eher behäbig dahinzockelt und es mir richtig schwerfällt, mich seinem Schritt anzupassen. Ich schiebe die Hände in die Manteltaschen und trommle von innen mit den Fingern gegen meine Oberschenkel. Eigentlich wäre es an ihm, das Gespräch zu beginnen. Immerhin ist er der Chef vom Dienst.
»Nun, Mrs. Thorpe«, sagt er schließlich. »Ich darf Ihnen gratulieren zu Ihrem Mut, Ihrer Entschlossenheit. Dass Sie den langen Weg nach London auf sich genommen haben, mitten im Krieg … dass Sie mit einer so ungewöhnlichen Anfrage an mein Büro herangetreten sind … Ja, das erlebe ich wahrlich nicht alle Tage.«
»Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«
»Ob ich etwas dagegen habe? Wo denken Sie hin? Wenn wir eins in diesem Land bewundern, dann ist es Mut. Mut und Entschlossenheit, Mrs. Thorpe, und beides scheinen Sie im Übermaß zu besitzen. Wie lange waren Sie beide verheiratet?«
»Seit Juli.«
»Seit letzten Juli?«
»Ja. Seit dem siebten.«
»Kurz bevor er in Gefangenschaft geriet also. Wie entsetzlich!«
»Es hat Monate gedauert, ehe ich überhaupt davon erfahren habe. Zuerst dachte ich, er sei abberufen worden, auf eine weitere seiner … wie auch immer man es nennt.«
»Operationen?«
»Ja, Operationen. Als er dann aber nicht zurückkehrte …«
Wir halten an, um die Straße zu überqueren. Ich lasse ihn den Weg bestimmen, schließlich ist er der Ortskundige von uns beiden und wohnt hier in London, kennt die Straßen und Eigenheiten der Stadt. Mehrere Fahrräder nähern sich, eins nach dem anderen, und während wir warten, bis sie vorbeigefahren sind, spricht Mr. B weiter.
»Es war, wohlgemerkt, ein Verstoß gegen die Regeln.«
»Was? Was war ein Verstoß gegen die Regeln?«
Mr. B sieht mir nicht ins Gesicht, sondern knapp über meinen Kopf hinweg, die Straße hinunter, auf weitere herannahende Fahrräder. »Zu heiraten«, sagt er regungslos.
Die Fahrräder fahren vorbei. Wir gehen über die Straße und kommen auf einen nebelverhangenen Platz mit ziegelroten Pflastersteinen und weißer Steinumrandung. Ringsum fehlen mehrere Häuser, sind einfach nicht mehr da, wie Zahnlücken in einem Gebiss. Mr. B führt mich zu einer kleinen Grünanlage in der Mitte des Platzes, wo wir uns in gebührlichem Abstand nebeneinandersetzen, damit sich unsere Arme und Beine nur ja nicht berühren können. Der Knopf am Handschuh meiner linken Hand ist aufgesprungen, und ich versuche, ihn wieder zu schließen, aber meine Finger sind steif vor Kälte.
»Natürlich verstehe ich Ihren Kummer, Mrs. Thorpe«, sagt er in einem geradezu väterlich tröstenden Tonfall. »Genau aus diesem Grund legen wir Männern wie Thorpe eindringlich nahe, möglichst keinerlei persönliche Bindungen einzugehen. Von einer Heirat ganz zu schweigen.«
»Wir sind alle nur Menschen, Mr. B …«
»Trotzdem, es ist nicht klug. Und Ihnen am anderen Ende der Welt, auf den Bahamas, dann auch noch Hinweise auf den Zweck seines Einsatzes zu geben …«
»Oh, glauben Sie mir, darüber hat er nie ein Wort verloren. Ich war es, die eins und eins zusammengezählt hat. Ich verkehre in Insiderkreisen, verstehen Sie. Als eine Freundin der Windsors.«
»Ach ja, wirklich? Bemerkenswert. Wobei ich denke …« Er greift in seine Manteltasche, kramt nach irgendetwas, während sein Ellbogen leicht meinen Arm streift. Dann zieht er ein mir wohlbekanntes weißes Briefkuvert hervor. Ich erkenne es sofort, denn ich habe es selbst mit mir herumgetragen, in einer Bauchtasche direkt am Körper, die ganzen neununddreißig Stunden, die meine Reise über den Atlantik gedauert hat, von Nassau bis London, in mehreren dröhnenden Fliegern, bevor ich besagtes Kuvert dann in der oberen rechten Ecke mit einer Briefmarke versehen und gestern Abend in einen roten metallenen Briefkasten eingeworfen habe. Schon komisch, wie ein Brief, den du eigenhändig frankiert hast, dir gar nicht mehr gehört, sobald er durch den Schlitz gefallen ist. Ich erhasche einen kurzen Blick auf meine eigene Handschrift, auf die Briefmarke, die ich selbst aufgeklebt habe, und es fühlt sich ein bisschen so an, als wäre dein inzwischen erwachsen und dir ein wenig fremd gewordenes Kind zu dir zurückgekehrt.
»Was denken Sie?«
Mr. B schlägt mit dem Briefkuvert auf seinen Schenkel. »Kommt ganz darauf an, was man unter Freundschaft versteht.«
»Nun, in Kriegszeiten kann Freundschaft alles Mögliche heißen, nicht wahr?«
»In der Tat. Ihre Nachricht, die mir meine Sekretärin heute Morgen auf den Schreibtisch gelegt hat … nun, sie hat mich doch sehr erstaunt.«
»Aber Sie müssen davon gewusst haben, dass Thorpe gefangen genommen wurde.«
»Natürlich. Meine Agenten liegen mir sehr am Herzen, Mrs. Thorpe, und Mr. Thorpe, Ihr … Ihr Gatte … er … nun ja … wie soll ich sagen, er ganz besonders. Die Nachricht hat uns alle schwer getroffen. Sehr schwer. In Colditz, in Deutschland, mein Gott. Der arme Kerl. Ganz furchtbar.«
Er holt ein Zigarettenetui hervor, klappt es auf und hält es mir hin. Ich nehme mir eine Zigarette, dann nimmt auch er eine. Im Schutz seiner hohlen Hand reißt er ein Streichholz an. Zurückgelehnt sitzen wir nebeneinander auf der Bank. Schweigend. Rauchend. Der Wind streicht kalt um meine Wangen, die Luft schmeckt nach Ruß, und der Himmel wird zusehends schwärzer. Ich brauche ein bisschen, bis ich merke, dass dieses Schwarz die vollkommene Abwesenheit von Licht ist. Kein noch so winziger Streif dringt aus einem der Fenster ringsum, kein einziger tröstlicher Schimmer. Es ist, als wären wir beide die einzigen Menschen in ganz London.
»Früher war das hier mit einem hohen Gitter umzäunt«, sagt Mr. B.
»Mit einem was?«
»Einem Gitter. Es lief um das ganze begrünte Karree. Um es privat zu halten, nicht öffentlich zugänglich. Man hat das Gitter dann entfernt und eingeschmolzen, um Eisen zu gewinnen.«
»Spricht für mehr Demokratie, wie ich finde.«
»Wohl wahr. Und nun sitzen wir hier, wir beide. Unbefugt sozusagen.«
»Genau dafür kämpfen wir doch, nicht wahr? Für Demokratie.«
Er strafft den Rücken gegen die Banklehne. »Na gut. Leonora Thorpe. Mutige junge Amerikanerin aus Übersee. Was machen wir jetzt mit Ihnen?«
»Ich verstehe nicht ganz …«
»Warum sind Sie hier? Verzeihen Sie, aber London ist dieser Tage nicht gerade der friedlichste Ort der Welt. Egal, woher man kommt …«
»Aus Nassau.«
»Genau, aus Nassau. Aber nicht dort gebürtig, richtig?«
»Stimmt. Ich bin in New York aufgewachsen. Auf die Bahamas kam ich vor ein paar Jahren, um den Gouverneur und seine Gemahlin für eine amerikanische Zeitschrift zu porträtieren.«
»Für welche Zeitschrift denn?«
»Für das Metropolitan Magazine. Kein anspruchsvolles Blatt, hauptsächlich der neueste Klatsch und Tratsch aus der High Society. Die Gier der Amerikaner nach Geschichten rund um den Herzog und die Herzogin von Windsor ist einfach unersättlich.«
Mr. B zieht an seiner Zigarette. »Ich muss gestehen, ich bin verwundert. Was habt ihr Amerikaner nicht alles auf euch genommen, um euch von dieser reizenden kleinen Monarchie zu befreien.«
»Oh, die Klatschgeschichten über sie lieben wir trotzdem, wir wollen uns nur nicht von ihr regieren und beherrschen lassen.«
»Ich nehme an, Sie wurden fürstlich dafür bezahlt?«
»Ganz ordentlich, ja.«
»Ein Traumjob, Mrs. Thorpe, die Kriegszeiten in einem tropischen Paradies zu verbringen. Reichlich Nahrung. Reichlich Geld. Wieso sind Sie nicht dort geblieben?«
»Wieso? Liegt das nicht auf der Hand?«
»Aber was haben Sie davon, hierher nach London zu kommen? Sehen Sie sich um. Es ist mitten am Nachmittag und bereits dunkel. Anständiges Essen gibt es kaum. Und das Wetter ist einfach nur trist, wie Sie ja sehen. Von Luftangriffen und der ständigen Gefahr einer Invasion ganz zu schweigen. Sie hätten im Tropenparadies bleiben sollen, wo es wunderschön und sicher ist, und die weiteren Nachrichten abwarten.«
Ich drücke meine Zigarette auf der Armlehne der Bank aus.
»Aber das ist es ja gerade, Mr. B … Ich kann nicht untätig herumsitzen und abwarten. Aus genau dem Grund bin ich ja nach London gekommen.«
Nach London gekommen – ich sage das so leicht daher, als wäre es das Einfachste der Welt, einen Ozeandampfer zu besteigen, von Büfett zu Büfett zu spazieren, von Deckchair zu Deckchair, um eine Woche später wieder von Bord zu gehen und, hopplahopp!, in England zu sein. Und so einfach war es wahrscheinlich auch mal, zu einer anderen Zeit. Dieser Tage jedenfalls ist es das nicht. Im Meer wimmelt es nur so von Objekten, die einem nach dem Leben trachten. Wer London auf dem schnellsten Wege erreichen will, nun, der muss sich auf allerhand Komplikationen einstellen, denn es gibt nur eine Art, rasch über den Atlantik zu kommen, und die hat ihren Preis.
Doch du schaffst es, diese Mammutaufgabe zu meistern. Irgendwie. Du zahlst den erforderlichen Preis, notgedrungen, es bleibt keine andere Wahl. Und schon sitzt du festgeschnallt im unbequemen Rumpf eines B-24 »Liberator«, eines schweren Bombers, der startklar ist, um dich von diesem wunderschönen, sicheren, sonnendurchtränkten Flecken namens Bahamas zu trennen, dich mit viel Geschaukel und Geruckel durch die Lüfte zu tragen, um dich nach England zu bringen, an diesen dunklen Ort, den du nur vom Hörensagen kennst. Die Triebwerke beginnen zu beben und zu donnern, lauter und lauter, brummen in den Ohren, als würden sämtliche Hummeln der Welt eine einzige Rose bestäuben. Ringsum metallenes Scheppern und Klappern, unter dir kippt die Erde weg, die Luft erstarrt vor Kälte, und du sitzt da, mit geschlossenen Augen, flauem Magen, pfeifenden Ohren, klebrigem Mund … mit einem Rasseln in der Brust, keuchendem Atem und Nervenflattern, dein Herz rast, und du hättest dir gewünscht, dich gottverdammt noch mal in einen anderen Mann verliebt zu haben. In einen, von dem du sagen würdest, dass du auch sehr gut ohne ihn leben kannst.
Aber das kannst du nicht. Und hier bist du nun. In London. Ausgerechnet London. Du sitzt auf einer Parkbank mitten in dieser stockdunklen Stadt, neben dir der einzige Mann auf der Welt, der dir weiterhelfen kann. Nur dass dieser Mann jetzt den Kopf schüttelt und dir kein Stück über den Weg traut.
»Nun sind Sie also hier, in London«, sagt er. »Wie, um Himmels willen, haben Sie das denn geschafft?«
»Ich habe es nur geschafft, weil ich nicht anders konnte. Ich würde alles tun, um meinen Mann freizubekommen.«
»Ihren Mann freibekommen? Das haben Sie vor?«
»Ich werde einen Teufel tun und mich in Nassau auf Partys tummeln, während mein Mann irgendwo mitten in Nazideutschland dahinvegetiert.«
Mr. B streckt den Arm aus, schnippt die Asche auf den kiesigen Boden. Seine Schuhe sind glanzpoliert, seine Hose hat Bügelfalten. Die Kleideretikette muss schließlich gewahrt werden.
»Mrs. Thorpe«, meint er. »Ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll.«
»Wie wäre es denn geradeheraus? Das ist uns Amerikanern am liebsten.«
»Dann fürchte ich, Sie haben Ihre Zeit verschwendet. Fällt einer unserer Männer in Feindeshand, warum auch immer, ist er auf sich allein gestellt. Thorpe wusste das. Wir können unmöglich das Leben weiterer Agenten für gefährliche Aktionen riskieren, die – verzeihen Sie mir – so gut wie keine Chance auf einen glücklichen Ausgang haben. Wir sind ohnehin schon am Limit. Kommen kaum hinterher.«
»Aber ich verlange doch gar nicht, dass Sie irgendwen in Gefahr bringen. Ich werde das selbst in die Hand nehmen.«
»Unmöglich. Thorpe ist gut ausgebildet. Er weiß, dass er eidlich verpflichtet ist zu flüchten, und ich habe keinerlei Zweifel, dass er alles daransetzen wird.«
»Das reicht mir nicht.«
»Tut mir leid, Mrs. Thorpe«, sagt Mr. B. »Es liegt mir fern, unfreundlich zu sein. Und ich verstehe, dass Sie leiden. Es ist eine wirklich schlimme Nachricht. Da hofft man auf das Beste. Und kämpft natürlich. Mehr kann man nicht tun, als immer weiterzukämpfen.«
»Klar, das ist großartig, wenn man die Möglichkeit hat, etwas Sinnvolles zu tun, anstatt Däumchen zu drehen.«
»Es gibt auch für Frauen viele Möglichkeiten, Kriegsdienst zu leisten, Mrs. Thorpe. Und ich kann Ihnen meine Zusicherung geben, dass wir alle – meine Sektion, ganz Großbritannien sowie die Streitkräfte, samt und sonders –, dass wir alle unser Bestes tun, um Deutschland zu besiegen und Ihren Mann sicher nach Hause zu bringen.«
Auf der anderen Straßenseite hasten zwei Frauen den Bürgersteig entlang, den Mantel bis oben hin zugeknöpft, einen schlichten Hut auf dem Kopf. Das Klackern der Absätze auf dem Pflaster hallt herüber, und mir fällt auf, wie still eine Stadt sein kann, wenn Benzin rationiert ist und Fahrten in Privatautos verboten sind. Man hört sogar einen Bus ein paar Straßen weiter, das schleifende Geräusch beim Anfahren, das Rumpeln, und mir wird klar, wie allein man ist, wie trostlos der Krieg ist.
Die Frauen biegen um die Ecke. Aus der entgegengesetzten Richtung kommt ein Mann, schleppend und hinkend, gebeugt unter dem Gewicht von Mantel und Hut. Er zieht an einer Zigarette. Wahrscheinlich ist er taub, denke ich. Aber ich spreche ohnehin leise. Leise, aber dennoch bestimmt.
»Ich verstehe Ihre Haltung. So ungefähr habe ich es erwartet. Ja, doch, ich verstehe Sie, sehr gut sogar. Aber Sie müssen bitte auch mich verstehen, Mr. B.«
Er wendet den Kopf, sieht mich an und hebt die Brauen. Seine Stimme klingt jetzt etwas kühl, so wie wenn Männer untereinander reden, unter ihresgleichen. »Ach? Was verstehen Sie, Mrs. Thorpe? Reden wir doch mal Klartext.«
»Also schön, Mr. B. Dann hören Sie jetzt genau zu. Während meiner Zeit in Nassau, in meiner Funktion als Journalistin, als enge Vertraute des Gouverneurs und seiner Gemahlin, sind mir gewisse Informationen zu Ohren gekommen. Ist damit klar, was ich meine?«
Schweigen. Er weiß es bereits, denke ich. Ich habe es in meinem Schreiben ja angedeutet. Und eigentlich habe ich angenommen, ich hätte mein Anliegen diskret formuliert, elegant und nuanciert, doch nun erscheint mir mein kleiner Brief eher wie ein Meisterwerk in Dilettantismus, über das Mr. B wohl herzlich gelacht hat, als er die Zeilen gelesen hat. Und wahrscheinlich müht er sich auch jetzt noch, sein Lachen zu unterdrücken. Sein Schweigen ist das Schweigen eines Mannes, der seine Belustigung darunter zu verbergen weiß.
Er stiert auf den glimmenden Stummel seiner Zigarette. »Welche Art von Informationen?«
»Das wissen Sie genau. Die Art von Informationen, die, gelinde gesagt, peinlich werden könnten, sollten sie öffentlich bekannt werden.«
Er lässt den Zigarettenstummel fallen und tritt ihn aus. »Peinlich? Für wen?«
»Für die britische Regierung. Für den König und die Königin.«
Mr. B greift in seine Jackentasche und holt eine weitere Zigarette aus dem Etui. Mit der gleichen Sorgfalt wie zuvor steckt er sie an – ein geräuschvolles Kratzen, ein Glimmen in der hohlen Hand.
»Mrs. Thorpe«, sagt er leise. »Ich fürchte, ich muss Ihnen etwas gestehen.«
»Ach ja?«
»Als ich eben sagte, Ihre Nachricht habe mich sehr erstaunt, entsprach das vielleicht nicht ganz der Wahrheit.«
Wir sitzen immer noch nebeneinander, nur jetzt leicht gedreht, einander zugewandt. Mr. B hat den Ellbogen nach hinten auf die Lehne gestützt. Da er mich nun direkt ansieht, liebevoll fast, muss ich mich gewaltig zusammenreißen, um einen möglichst kontrollierten Gesichtsausdruck zu bewahren. In meinen Fingern jedoch spüre ich ein leises Zittern. Auch das noch!
»Wie das?«
»Ich habe vor ein oder zwei Tagen eine Mitteilung erhalten. Von einem bestimmten Kabinettsmitglied als Reaktion auf ein Überseetelegramm, das ihm vom Government House, der offiziellen Residenz des Generalgouverneurs in Nassau auf den Bahamas, zugesendet wurde. Wir waren also vorgewarnt, wussten von Ihrer bevorstehenden Ankunft und konnten uns darauf einstellen.«
»Verstehe.«
»Trotzdem, Ihre Nachricht war … nun ja, sie war sehr eloquent formuliert. Das lässt sich nicht anders sagen. Meine eigenen Leute hätten sie nicht besser formulieren können.«
»Sehr schmeichelhaft.«
Er beugt sich nach vorn, sodass ich seinen Zigarettenatem und einen leichten Hauch irgendeines Mittagessens riechen kann.
»Mrs. Thorpe, ich kann schlicht nicht zulassen, dass diese Informationen weiter die Runde machen. Verstehen Sie das?«
»Natürlich verstehe ich das. Und deshalb biete ich Ihnen an …«
Er lässt seine Zigarette fallen und tritt sie mit dem Absatz aus. »Nein, meine Liebe. Ich glaube nicht, dass Sie das wirklich verstehen.«
Und erst jetzt erkenne ich, wie naiv ich doch gewesen bin – etwas, das ich mir schamvoll eingestehen muss. In diesem Moment komme ich überhaupt erst auf die Idee, mich zu fragen, warum Mr. B bis zum späten Nachmittag gewartet hat, um sich mit mir zu treffen und mich auf einen stockfinsteren Platz zu führen, vor einer Kulisse zahlloser abgedunkelter Fenster, wenn er meine Nachricht (in der ich Verrat auf höchster Ebene und sogar innerhalb der königlichen Familie angedeutet habe) doch schon am frühen Morgen bekommen hat!?
Eine gute Frage.
Ich stehe auf. »Also schön. Wenn Sie nicht kooperieren wollen, dann bleibt mir keine andere Wahl, als …«
Er springt auf, zieht eine kleine Pistole aus seiner Jackentasche und drückt den Lauf in meinen Mantel, knapp oberhalb der Gürtelschlaufe.
»Mrs. Thorpe, ich fürchte, ich muss darauf bestehen, mir jegliche Beweise auszuhändigen, an die Sie in dieser Sache gelangt sind.«
»Ich habe sie nicht, die Beweise. Nicht hier.«
»Wo dann?«
»Im Hotelzimmer.«
Er überlegt. Die Pistole drückt sich in meinen Bauch, bewegt sich mit jedem Schlag meines Herzens auf und ab. Obwohl meine Augen ihn unverwandt fixieren, nehme ich die Details am Rande meines Blickfelds wahr: die blattlosen Bäume, die Sträucher und Pflanzflächen – Schattengebilde vor dem nächtlichen Hintergrund, vor den finsteren Gebäuden ringsum. Dann noch einmal das ferne Rumpeln eines Busses, ein gedämpftes, bierseliges Johlen aus einem nahen Pub. Ob mich jemand hören würde, wenn ich schreie? Kann sein. Doch bis meine Schreie auf andere Ohren träfen, wäre ich längst tot.
»Alles gut versteckt«, fahre ich fort. »Ich könnte Ihnen eine Menge Ärger ersparen.«
Mr. B drückt die Pistole fester in meinen Bauch. »Na gut. Und jetzt vorwärts, schön langsam.«
Während ich mich zum Gehen wende, reiße ich spontan mein Knie hoch und ramme es mit voller Wucht in seine Leiste. Ein Schuss löst sich. Ich greife nach der Pistole, deren heißer Lauf mir die Hand verbrennt, ziehe sie ihm über den Schädel und treffe ihn direkt hinter dem linken Ohr. Er sackt zusammen, und ich nehme die Beine in die Hand und renne, hoffe bei Gott, dass ich nicht irgendwo eine Kugel stecken habe, hoffe bei Gott, dass ich ihn nicht nur nieder-, sondern auch k.o. geschlagen habe.
Während ich pfeilschnell über die Straße hechte, ertönt ein lauter Schrei. Ich bleibe nicht stehen, um auszumachen, woher er kommt oder von wem. Der Gehsteig ist menschenleer, die Straße dunkel. Es hat angefangen zu nieseln. Ich komme an einem roten Briefkasten vorbei, dem Haus mit dem großen Flügel im Fenster, der mir heute Morgen schon aufgefallen ist, nur dass ich den Flügel jetzt nicht sehen kann, dass ich überhaupt nichts mehr sehen kann – die ganze Welt ist dunkel und nass, und jede Tür birgt einen anderen Schatten. Ich überquere eine weitere Straße und noch eine, achte nicht auf den Verkehr – es gibt sowieso keinen, bei all den kriegsbedingten Einschränkungen (in einem verdreckten London, das weder Tod noch Teufel fürchtet), renne und renne, bis das vertraute weiße Schild mit dem markanten Schriftzug aus dem Nebel taucht – BASILHOTEL.
Noch im Laufen drehe ich mich kurz um, völlig schockiert und durcheinander, und pralle plötzlich gegen eine menschliche Brust, eine weibliche Brust.
Hoppla!, höre ich eine Frau sagen, die mich am Arm packt. Ich hebe die Hände, um sie von mir zu schieben, und registriere einen Mantel, einen Hals, einen blonden Haarknoten.
Die Frau aus dem Hotelfoyer.
»Miss Thorpe?«, keuche ich.
Ihre Augen sind heller als die ihres Bruders, aber es ist die Form ihrer Augen, die geraden, dichten Brauen, die ich klar erkenne, auch wenn die ihres Bruders eher dunkelblond sind. Es ist das gleiche milchige Weiß der Haut, die gleichen Sommersprossen. Sie hat spitze Wangenknochen, einen breiten roten Mund, eine schmale Kinnlinie. All diese Details kann ich nur deshalb in mich aufnehmen, weil die ganze Welt und alle Uhren stillzustehen scheinen, weil kein einziges Lüftchen weht, kein einziges Staubkörnchen tanzt, weil alles scheinbar ruhig und reglos verharrt. Nur mein Blut pocht in den Adern, pulsiert heiß unter der verbrannten Haut meiner rechten Hand.
»Du musst Leonora sein«, sagt sie.
»Ja.«
Sie fasst mich am Ellbogen und zieht mich mit. »Komm, schnell. Meine Wohnung ist gleich um die Ecke.«
Und wie ich so hinter ihr herstolpere, muss ich daran denken, dass ihr Bruder einst auf genau die gleiche Weise in mein Leben trat. Aus heiterem Himmel, in einem fremden Land – wie ein Flaschengeist war er plötzlich da, kam wie gerufen, genau im richtigen Moment.
Auf dem Titelblattsitzt die Frau auf einem Rattansofa, der Mann auf dem Boden zu ihren Füßen. Er blickt nicht direkt in die Kamera, sondern voller Verehrung zu ihr auf. Mit einem sanften Lächeln erwidert sie seinen Blick, auf ihrem Schoß ein Buch (die erste Seite ist aufgeschlagen, das Frontispiz oder das Inhaltsverzeichnis vielleicht, obgleich sie nicht den Eindruck erweckt, als wollte sie das Buch tatsächlich lesen), in ihrem Haar ein schmuckes Band mit einer Schleife (und was für einer!) und rechts und links neben ihr ein paar prall gestopfte Sofakissen mit dem Union-Jack-Motiv. Eine traute, häusliche Szene. Ein glückliches Paar in einem stilvollen Heim. Das Windsor-Team, lautet die Bildunterschrift in kleinen, dezenten Buchstaben. Über dem Bild, in weißer Schrift auf einem roten Rechteck, prangt das Logo des Magazins: LIFE.
In einem fort hatte ich auf dieses Bild gestiert, auf der ganzen Reise zurück von New York. Die Zeitschrift selbst hatte ich mir für zehn Cent am Flughafen LaGuardia Field gekauft, an einem Zeitungskiosk im Terminal der Eastern Air Lines. (Es war die neueste Ausgabe – welch ein Zufall!) Während jeder einzelnen Etappe der Reise, jedem Start und jeder Landung, hatte ich die Zeitschrift auf dem Schoß behalten – von Richmond über Savannah, später von Orlando im Sumpfland Floridas bis nach Miami, wo die Maschine um halb sechs am späten Nachmittag hart auf dem Boden aufgesetzt hatte. Im Taxi war es dann in ein schäbiges Hotel gegangen, am nächsten Morgen wieder im Taxi zurück zum Flughafen, und immer noch hatte ich das Gefühl gehabt, dieses Foto nicht ganz durchdrungen zu haben. Gut, ab und zu hatte ich die Zeitschrift auch aufgeschlagen und ein bisschen im dazugehörigen Artikel gelesen – die üblichen Ergüsse vom Leben auf der Sonnenseite –, aber die meiste Zeit hatte ich das Bild auf dem Titelblatt studiert. Alles war so sorgsam arrangiert, jedes kleine Detail am richtigen Platz. Die Union-Jack-Kissen zum Beispiel. (Patriotischer geht es wohl kaum, nicht wahr? Du gute Güte! Wir sind so urbritisch wie der Nachmittagstee!) Und dann dieses Haarband, diese Schleife. (Das brave, anschmiegsame Weibchen, ganz wie die Hausfrau von nebenan.) Die prunkvolle, juwelenbesetzte Brosche an ihrem gestreiften Blazer rechts auf dem Revers – was sollte die überhaupt darstellen? Die Form, meine ich. Egal, wie angestrengt oder aus welchem Winkel ich sie betrachtete, ich kam nicht dahinter. Sei’s drum. Ich selbst könnte mir so eine Brosche ohnehin nie leisten, geschweige denn sie so prunkvoll tragen. (Aber wir sind auch nicht die Hausfrau von nebenan, nicht wahr? Wir sind reicher, besser, königlicher. Auch wenn wir nicht königlich im klassischen Sinne sind. Also keine Royals der Definition nach. Aber immer noch royaler als du, Mrs. American Housewife.)
Das Flugzeug begann zu schlingern und zu schaukeln. Ich spähte durch das Fenster hinaus auf den endlosen Horizont, auf das türkisblaue Meer, bekrönt von einem türkisblauen Himmel, und auch mein Magen – der wie immer jede Bewegung mitmachte – schlingerte heftig hin und her. Nach meiner Uhr müssten wir in zwanzig Minuten in Nassau sein. Die einundzwanzig Sitze dieser modernen Linienmaschine der Pan American Airways waren bis auf den letzten Platz besetzt – amerikanische Touristen und Geschäftsleute, allesamt geschniegelt und gestriegelt und scheinbar ohne reisekrankes Rumoren im Bauch. Damit schien nur ich geschlagen. Oder rumorte es in meinen Ohren? Die Reisekrankheit hatte offenbar etwas mit dem Innenohr zu tun, mit dem großen Druck auf die Flüssigkeit im Innenohr und dem fehlenden Luftdruckausgleich, und wenn die Wahrnehmung von Bewegungen nicht übereinstimmte mit der Wahrnehmung der Bewegungen, die das Auge erfasste, dann fuhr der Magen eben Achterbahn. Eine schlüssige Erklärung, wie ich fand. Alle Probleme der Welt schienen aus Spannungen der einen oder anderen Art zu resultieren. Einer sturer als der andere, und keiner gab nach.
Und so legte ich die Arme auf der Zeitschrift übereinander, blickte hinaus in die Ferne (das sollte angeblich helfen) und kaute den Kaugummi, den eine aufmerksame Stewardess mir gereicht hatte. Inzwischen hatte sich das monotone Brummen der Flugmotoren in meinem ganzen Schädel breitgemacht. Das hier? Nein, das hier ist gar nichts, meine Liebe, hörte ich den Typ sagen, der gestern schon auf der kurzen Etappe von Richmond nach Savannah neben mir gesessen hatte, ein Geschäftsmann aus der Gegend. Da hätten Sie mal die alten Drei-Zylinder-Motoren hören sollen, die haben richtig Lärm gemacht. Mann, war das ein Krach, sag ich Ihnen. Die Mädels mussten manchmal sogar durch ein Megafon sprechen, so laut war das. Aber diese Schrottkisten hier, mit ihrer Dämmung bis unter die Außenhaut. Sie wissen, was das ist, eine Dämmung? Macht einen Riesenunterschied, glauben Sie mir. Dabei hatte er mit den Fingerknöcheln gegen die Bordwand geklopft. Aber da kann man dämmen, wie man will, Ma’am, das Dröhnen der Pratt & Whitney Twin Wasp-Flugmotoren auf Hochtouren ist nicht totzukriegen. Das sind achthundert PS pro Triebwerk. Ein klasse Vogel, die DC-3. Sind Sie schon mal mit dem Nachtflieger geflogen? Transkontinental, in fünfzehn Stunden? Das ist schon was, phänomenal! Und so weiter und so fort. Bis Savannah hätte ich liebend gerne einen Drei-Zylinder-Motor und ein Paar Ohrstöpsel gehabt.
Doch schlimmer ging immer. Der Dauerquassler aus Richmond war in Savannah ausgestiegen, und auf den frei gewordenen Sitz neben mir hatte sich ein verschwitzter Fettwanst im feinen Anzug gezwängt, mit stierem Blick und stumm wie ein Fisch, der nach Alkohol und Zigaretten gestunken hatte. Kaum hatten wir abgehoben, hatte er sich so richtig schön breitgemacht, den Oberschenkel gegen meinen gepresst, seine Pranke dabei immer wieder auf meinem Knie. Ein ums andere Mal hatte ich sie weggeschlagen und mir insgeheim den Quassler in seinem Karoanzug zurückgewünscht.
Und dann … dann … tauchte dieser verfluchte Fettwanst heute Morgen schon wieder auf, im PanAm-Flieger nach Nassau, seine Erscheinung noch widerlicher als tags zuvor – der feine Anzug zerknittert und voller Flecken, die Augen blutunterlaufen.
Er schob sich an den Sitzreihen vorbei, bemerkte mich Gott sei Dank nicht und setzte sich in die zweite Reihe. Und wie ich dem angeekelten Gesichtsausdruck der Stewardess entnahm, die in diesem Moment mit der kaffeeduftenden Thermoskanne in der Hand den Gang entlang an mir vorbeiwehte, hatte er wohl auch noch die Morgentoilette ausfallen lassen. Unsere Blicke kreuzten sich kurz, und ich signalisierte ihr mein Mitleid, so gut es ging, von Frau zu Frau, was sie im Vorbeieilen mit einem kurzen Nicken würdigte. Der Kaugummi in meinem Mund wurde langsam schal und hart. Da das dazugehörige Papierchen irgendwo verloren gegangen war, riss ich ein kleines Eck der Seite vierzehn im LIFE-Magazin ab und wickelte den ausgekauten Klumpen diskret darin ein.
Auf dem Sitz neben mir sah ein Herr von seiner Zeitung auf. Er war groß und schlank, hager fast, ein Strich in der Landschaft. Behände, mit einem kleinen Lederkoffer in der Hand, war er als Letzter die Gangway heraufgeeilt. Ich hatte ihn nicht groß beachtet, nur seine außergewöhnliche Haarfarbe war mir aufgefallen, die goldblonden Stirnfransen unter der Hutkrempe. Er trug eine Brille, und im Gegensatz zu meinen bisherigen Sitznachbarn hatte er mir ebenso wenig Beachtung geschenkt wie ich ihm, außer dass er ein höfliches »Guten Morgen« gemurmelt hatte, während er seinen Platz eingenommen und sich für die kleine Störung entschuldigt hatte. Er hatte endlos lange Beine, die er sorgsam übereinandergeschlagen hielt, damit sie auch ja nicht gegen meine stießen, und seine Zeitung schlug er nur so weit auf, dass die Seiten nicht über die Armstütze zu mir herüberragten. Den Kaugummi der Stewardess hatte er dankend abgelehnt, obwohl die tropischen Winde den Flieger ganz schön durch die Luft schaukelten. Davon völlig unbeeindruckt, las er seine Zeitung so dermaßen ruhig, blätterte und faltete die Seiten so dermaßen unmerklich, dass ich seine Anwesenheit fast vergaß.
Als die Stewardess vorbeikam, bog er den oberen Seitenrand ein Stück nach unten und inspizierte seinen Vordermann – in etwa so wie ein Vogelkundler, der, versteckt hinter seinem Sichtschirm, einen Vogel in freier Natur beobachtet. Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie erregte er mein Interesse. Vielleicht war es die Ruhe, die er ausstrahlte. Indem ich so tat, als hielte ich nach der Stewardess Ausschau, gelang es mir, einen flüchtigen Blick von der Seite auf sein Gesicht zu werfen. Es war jünger, als ich dachte, leicht sommersprossig. Wie gesagt, es war nur ein flüchtiger Blick, aber Gesichter kann ich mir recht gut einprägen.
Wenig später faltete mein Herr Sitznachbar seine Zeitung zusammen, murmelte eine Entschuldigung und erhob sich. Seine Zeitung legte er auf dem Sitz ab, begab sich aber nicht etwa in den vorderen Teil des Flugzeugs, wohin er eben noch geblickt hatte, sondern in den hinteren, wohin auch die Stewardess verschwunden war. Das Flugzeug indes schaukelte unter dem Dröhnen der Propeller weiter auf und ab. Erneut blickte ich auf die Zeitschrift auf meinem Schoß – Das Windsor-Team. Was sollte das eigentlich heißen? Und was genau wollten die beiden damit sagen? Dann schaute ich wieder aus dem Fenster. Unter der Tragfläche zog eine Kette goldgelber Inseln vorüber, verlieh dem Meer einen noch intensiveren türkisblauen Glanz, sodass ich mein Magensausen und Schwindelgefühl fast vergaß, bis sich irgendwer neben mir hörbar auf den Sitz plumpsen ließ – wie ein nasser Sack. Mein Herr Sitznachbar …
Oh, nein, doch nicht. Es war ein anderer Herr. Hatte sich doch gleich so angehört. Er war dick und stank nach Schnaps. Sein Oberschenkel an meinen gepresst, seine Pranke auf meinem Knie …
»Behalten Sie gefälligst Ihre Hand bei sich«, raunzte ich ihn an.
Er neigte den Kopf und zischelte mir etwas ins Ohr, was mir der Anstand zu wiederholen verbot.
Ich holte aus, um seine Hand wieder wegzuschlagen, doch er war schneller und schnappte sich stattdessen meine. Meine andere Hand, meine rechte, ballte ich zur Faust, wenngleich ich bis heute nicht weiß, ob ich wirklich zugeschlagen hätte. Wahrscheinlich nicht. Im schlauchigen Bauch des Fliegers war es stickig heiß, selbst in dreitausend Meter Flughöhe, was wohl an der gleißend warmen Junisonne lag, die durch die Fenster brannte und den ganzen Innenraum aufheizte, sodass auch die Hand des Mannes feucht und klebrig war vor Schweiß. Und plötzlich spürte ich ein brennendes Kloßgefühl im Hals, einen Würgereiz, einen Schleier vor den Augen, so als müsste ich mich jeden Moment übergeben. Bloß nicht, dachte ich, jetzt bitte bloß nicht auf das Titelblatt der Zeitschrift kotzen und das makellose Windsor-Team mit meinem morgendlichen Kaffee einsauen.
In diesem Moment kam mein eigentlicher Sitznachbar zurück. Er legte dem Schnapsbruder neben mir die Hand auf die Schulter und sagte mit klarer, leiser Stimme in unverkennbar britischem Englisch: »Ich glaube, Sie haben sich im Platz geirrt, Sir.«
Ohne meine Hand loszulassen, drehte sich der Schnapsbruder leicht nach hinten um und reckte den Hals, um zu sehen, wer ihn da angesprochen hatte.
»Und ich glaube, dass Sie das überhaupt nichts angeht, Sir!«
Seine Stimme klang zwar undeutlich und verwaschen, aber nicht so, dass man sie ordinär hätte nennen können. Vokale und Konsonanten kamen in der richtigen Reihenfolge, und im Wörtchen »Sir« lag gar eine bewusst gesetzte Ironie. Er sprach wie ein gebildeter Mensch, sturzbesoffen zwar, aber durchaus kultiviert. Man kann nie wissen, nicht wahr?
»Tut mir schrecklich leid«, sagte der Engländer, »aber ich fürchte, es geht mich sehr wohl etwas an. Schon allein, weil Sie auf meiner Zeitung sitzen.«
Er sprach, genau wie eben, leise und bestimmt. Und ich glaube nicht, dass die anderen Passagiere irgendetwas davon mitbekamen oder den Eindruck gewannen, dass diese beiden Herren gerade alles andere als ein paar höfliche Floskeln über das Wetter, die Brooklyn Dodgers oder Hitlers Bart wechselten. Mit keinem Blick schaute der Engländer dabei in meine Richtung. Auch der Schnapsbruder schien mich ganz vergessen zu haben. Sein Griff lockerte sich. Mit einem Ruck riss ich meine Hand los und griff tief in meine Handtasche, um nach einem Taschentuch zu kramen, während der Schnapsbruder sich umständlich verrenkte, um die zerdrückte Zeitung unter seinen Hinterbacken vorzuziehen – den Miami Herald, soweit ich den Titelkopf richtig lesen konnte.
»Bitte schön«, sagte er. »Und jetzt schwirren Sie ab!«
Der letzte Satz schien in der Wortwahl nicht recht zu ihm zu passen, er klang eher so, als hätte er ihn aus einem Film und nur darauf gewartet, ihn mal irgendwem hinrotzen zu können – in bester Rüpelmanier. Die hohle Hand auf seinem Knie zuckte in einem fort, zeigte saubere Finger, gepflegte Nägel und rosige Haut, bis auf eine hässliche, nässende, rissige Wunde auf einem der Fingerknöchel.
Der Engländer rückte seine Brille zurecht und beugte sich einen kleinen Tick tiefer nach vorn.
»Entschuldigen Sie. Da habe ich mich wohl nicht deutlich genug ausgedrückt. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, Sir, wenn Sie sich zurück auf Ihren Platz begeben und mir erlauben würden, den meinen wieder einzunehmen.«
»Haben Sie mich nicht verstanden?«, rief der Schnapsbruder. »Schwirren Sie ab!«
Er sprach jetzt lauter, schrie schon fast und übertönte das Geräusch der Motoren. Die Leute drehten die Köpfe, schielten über ihre Zeitungen und Zeitschriften, um den Blick ebenso rasch wieder zu senken. Keiner wollte Ärger, schon gar nicht mit einem Betrunkenen. Er könnte ja ausrasten, wer wusste das schon. Und so flogen wir dahin, gut dreitausend Meter über dem Ozean, in einer aufgeheizten Metallröhre. Ich schwitzte am ganzen Körper. Unter einem Leinenblazer trug ich meine beste Bluse aus hellblauer Seide und spürte, wie mir der Achselschweiß an den Armen hinunterlief. Der Schnapsbruder wurde immer wütender, trotz – oder gerade wegen – des beruhigend versöhnlichen Tonfalls des Engländers. Seine Wut entbrannte wie ein Streichholz beim Zünden und roch auch so, klebte wie ein Hauch von Sprengpulver in Nase und Rachen. Meine Finger verkrallten sich in die Nähte meiner Handtasche.
»Bestimmt nicht«, sagte der Engländer.
Der Schnapsbruder sah aus, als wollte er etwas entgegnen. Er nahm sich zusammen, straffte den Rücken und drehte den Kopf. Seine Backen waren rot gefleckt. Der Engländer wich nicht von der Stelle, zuckte nicht einmal. Da öffnete der Schnapsbruder den Mund, rang kurz nach Luft, stoßartig, keuchend, schloss dann die Augen und sank vornüber, wie im Schlaf. Der Engländer nahm die Hand von der zusammengesackten Schulter, hob den schlaffen Arm des Schnapsbruders an und schwenkte ihn um seinen Hals.
»Ich begleite den Herrn kurz auf seinen Platz«, meinte er zu mir. »Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeit.«
Niemand sprach ein Wort. Niemand rührte sich. Die Stewardess stand im Gang, gegen eine Kopfstütze gelehnt, die Hand vor den Mund geschlagen, während der Engländer den bewusstlosen Mann auf die Füße zog und ihn in Richtung des leeren Platzes in der zweiten Reihe schleifte, ja regelrecht wuchtete. Urplötzlich geriet das Flugzeug in heftige Turbulenzen, fing an zu ruckeln und zu wackeln, sackte nach unten, stabilisierte sich kurz und sackte erneut ab. Der Engländer schwankte, fand Halt an der Lehne des Einzelsitzes in der dritten Reihe links von ihm, entschuldigte sich bei dem dort sitzenden Passagier und schlängelte sich weiter. Die Stewardess eilte herbei und half ihm, den sackschweren Schnapsbruder auf seinen Platz zu hieven, während die ältere Frau rechts daneben nur angewidert zuschauen konnte. (Ich reckte den Hals, um die Show auch ja beobachten zu können.)
Niemand wusste so recht, was er tun oder sagen sollte oder was genau er da gerade mit eigenen Augen gesehen hatte. Das Dröhnen der Turbinen war nach wie vor ohrenbetäubend, und der Flieger klapperte wie eine Donnerbüchse. Auf der anderen Seite des Ganges drehte ein Mann in einem hellen Tropenanzug aus feinstem Sommertwill den Kopf und vertiefte sich wieder in seine Zeitung. In der Reihe vor mir neigte sich eine Frau leise flüsternd ihrem Mann zu. Ich sah auf meine Armbanduhr. Vier Minuten nur waren vergangen, nicht zu glauben!
Bis der Engländer zurück auf seinem Platz war, war aus dem lauten Dröhnen der Motoren ein tiefes Brummen geworden – der schaukelnde Anflug auf Nassau hatte begonnen. Ein Wolkenstreif zog vorbei und war auch schon wieder verschwunden. Ich tat so, als wäre ich in meine Zeitschrift vertieft, während ich verstohlen nach links in Richtung meines Sitznachbarn schielte, der seinen Hut vom Boden aufhob (er war ihm während des Gerangels oder wie auch immer man es nennen mag, vom Kopf gefallen) und ihn im Gepäckfach verstaute. Sein Haar war nicht ganz so goldblond, wie ich gedacht hatte, sondern hatte einen leicht rötlichen Stich, war also eher rotblond. Ich blätterte eine Seite um. Er nahm Platz und griff nach der Zeitung, die ich inzwischen aufgehoben und in das Netz am Sitz direkt vor ihm gesteckt hatte. Es schien das Mindeste, was ich tun konnte, und außerdem kann ich es nicht leiden, wenn Sachen auf dem Boden herumliegen.
»Danke«, sagte er. »Ich hoffe, Sie haben sich nicht gestört gefühlt.«
»Keineswegs.«
Er sagte nichts darauf. Dabei hätte ich Hunderte Fragen gehabt, vor allem die, ob der Schnapsbruder noch lebte. Stattdessen blätterte ich im Sekundentakt durch meine Zeitschrift, bis ganz ans Ende, und klappte sie dann zu, sodass sie wieder mit der Titelseite nach oben auf meinem Schoß zu liegen kam – Das Windsor-Team, in holder Eintracht mit ihren Union-Jack-Kissen. Die Lautsprecher sprangen an, es knackte und rauschte, und eine Stimme krächzte irgendetwas von einer Landung in Kürze und dreiunddreißig Grad in Nassau – ach herrje!
Ich räusperte mich und fragte den Engländer, was ihn denn nach Nassau führe, berufliche oder private Gründe.
»Tatsächlich lebe ich hier«, sagte er. »Im Moment jedenfalls.«
»Oh! Dann waren Sie nur auf Besuch in Florida?«
»Ja, mein Bruder lebt dort, in Cocoa, ein Stück die Küste rauf, ein hübscher kleiner Ort, direkt am Meer. Und Sie?«, sagte er mit einem Nicken in Richtung der Zeitschrift auf meinem Schoß. »Bringen sich auf den neuesten Stand?«
»So ungefähr«, sagte ich. »Könnte man so sagen.«
»Aha.«
Das Flugzeug wackelte. Ich sah aus dem Fenster. Unter uns mattgrünes Land, weißer Sandstrand, anbrandende Gischt und ein Auto, das auf einer gewundenen grauen Straße hell in der Sonne blitzte. »Was für eine romantische Liebesgeschichte«, hörte ich mich sagen.
»Romantisch? Glauben Sie das wirklich?«
Ich drehte den Kopf und blickte in ein ernstes Gesicht, in fragende Augen hinter der gerahmten Brille. Die langen Arme waren vor der Brust verschränkt, das rechte Bein über das linke geschlagen, stilgerecht und kultiviert. Er sah nicht aus, als wäre er an körperlich harte Arbeit gewöhnt, geschweige denn so, als hätte er eben einen über zweihundert Pfund schweren schlaffen menschlichen Körper gehievt.
»Sie etwa nicht? Es ist die Liebesgeschichte des Jahrhunderts, haben Sie das nicht mitbekommen?«, fragte ich. »Ein König, der für die Frau, die er liebt, auf den Thron verzichtet.«
»Ist eine neumoderne Chose und hat mit Romantik überhaupt nichts zu tun.«
»Wieso das?«
Es rüttelte und rumpelte, die Maschine machte ein paar harte Hüpfer und setzte schließlich auf. Wir waren gelandet. Draußen leuchtende Farben, üppige Vegetation und flirrende Hitze. Ich sah einen kleinen Palmenhain und ein flaches, rechteckiges Gebäude.
Bis die Maschine vollständig ausgerollt und zum Stehen gekommen war, hatte ich die Frage, die noch zwischen uns hing, völlig vergessen. Und so war ich einigermaßen überrascht, als ich plötzlich wieder seine Stimme hörte – wobei, eigentlich hatte mich alles an ihm überrascht.
»Ein wahrer Romantiker hätte die Liebe für die Pflicht geopfert«, sagte der Engländer, »nicht andersherum.«
Der Flieger machte einen letzten harten Ruck und kam schließlich vollständig zum Stehen. Er stand auf, holte seinen Koffer und Hut aus dem Gepäckfach, nahm auch meinen Koffer herunter und setzte den Hut auf. Ich bedankte mich. Gern geschehen, meinte er, wünschte mir einen guten Tag und einen angenehmen Aufenthalt in Nassau, begab sich zum Ausgang und trat hinaus. Das Licht der Sonne blitzte in seinen Brillengläsern.
Als ich mich am Schnapsbruder aus Savannah vorbeischob, saß der noch immer zusammengesunken in seinem Sitz, vom Sicherheitsgurt in Position gehalten. Ich hätte nicht wirklich sagen können, ob er tot oder lebendig war. Die Stewardess warf immer wieder besorgte Blicke auf ihn. Ich bedankte mich bei ihr für einen unvergesslichen Flug.
»Kann man wohl sagen«, meinte sie. »Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Nassau.«
Im Terminal, in der Warteschlange vor der Passkontrolle, schaute ich mich nach dem rotblonden Engländer um, entdeckte ihn aber nirgendwo. Er konnte überall hingegangen sein. Er konnte von überallher gekommen sein. Er war wie ein Dschinn, wie ein verzaubertes Wesen aus einem Märchen. Nur dass das hier kein Märchen war. Es war die Realität. Er war ein Mensch, ein gewöhnlicher Mensch aus Fleisch und Blut. Entstanden aus der Vereinigung zwischen einer Frau und einem Mann, die sich ineinander verliebt hatten oder auch nicht. Die geheiratet hatten oder auch nicht. Die ihr Leben lang jede Nacht zusammen verbracht hatten oder auch nur eine.
Und während ich vom Terminal hinaus auf die Straße trat, sinnierte ich darüber, dass sich hinter diesem Mann wohl eine lange Geschichte verbarg, die ich nie erfahren würde.
Kurz nach Mittag kommt der Engländer im Sanatorium an. Dort, im großen Innenhof, sitzt Elfriede gerade mit Herrn Doktor Hermann zusammen und bespricht mit ihm ihren Traum der letzten Nacht. Wenn sie irgendwann, in Jahren oder Jahrzehnten, auf diesen Moment zurückblickt, wird sie nichts mehr von diesem Traum oder dem Gespräch erinnern, aber sie wird noch ganz genau jedes einzelne Geräusch in diesem Moment vernehmen können, das Rumpeln der Wagenräder und das Klappern der Hufschläge auf holprigem Kopfsteinpflaster, so als drehte sich im Innern ihres Kopfes eine Tonwalze, auf die sich diese Geräusche für immer eingeprägt haben. Sie wird sich an die Stimmen erinnern, die von der anderen Seite des alten Mauerwerks herüberdrangen, an den Geruch der rosafarbenen, halb wilden Kletterrosen und daran, wie die Sonne aus dem Schatten brach, um ihren Nacken zu wärmen und den ganzen Hof mit Licht zu erfüllen.
Nur kommt die Sonne in diesem Moment nicht wirklich heraus. Es ist eben so eine Sache mit der Erinnerung, sie spielt uns immer wieder einen Streich. Unser Gedächtnis sammelt fleißig Zutaten für die Erinnerung an ein Ereignis, ganz egal, ob diese Details zum relevanten Zeitpunkt tatsächlich vorhanden waren oder nicht. Aber spielt das überhaupt irgendeine Rolle? In Elfriedes Erinnerung jedenfalls geht just in diesem Moment, mit der Ankunft des Engländers, die Sonne auf. Ein Moment voll Sonnenschein und Rosenduft – so hat sie ihn in Erinnerung.
Einer der beiden spricht gerade, ob Elfriede oder Doktor Hermann, ist gleich, denn beide merken auf, als sie das Geklapper von Pferdehufen und die rollenden Wagenräder hören.
»Ein Neuzugang?«, fragt Elfriede nach einer kurzen Pause.
»Ja, ein Lungenpatient«, antwortet der Arzt. »Lungenentzündung.«
»Wie furchtbar.«
»Er wird selbstverständlich auf die Isolierstation gebracht. Keine Ansteckungsgefahr also.«
»Furchtbar für ihn, meinte ich.«
Doktor Hermann nickt und schreibt etwas in sein kleines Notizbuch. So macht er es immer während ihrer Sitzungen – den »Konversationen«, wie er sie nennt, als wären diese ein rein geselliges Beisammensein –, und Elfriede kommt sich manchmal vor, als wäre sie ein Forschungsobjekt, eine unbekannte Tier- oder Pflanzenart, irgendetwas Anormales. »Wie finden Sie das?«, fragt er, immer noch schreibend, und einen Moment lang weiß Elfriede nicht recht, was genau er damit meint – seine Notizen oder den neuen Patienten. Als sie mit ihrer Antwort zögert, ermuntert er sie.
»Wie soll ich das denn finden? Spricht doch nichts dagegen«, sagt sie. »Ich hoffe, er erholt sich schnell. Was sollte ich dagegen haben?«
»Ja, was?«
»Keine Ahnung. Aber Sie scheinen der Meinung zu sein, dass ich etwas dagegen haben könnte.«
»Wie kommen Sie darauf?«
Dass Doktor Hermann eine Frage mit einer Gegenfrage beantwortet, ist eine weitere Angewohnheit von ihm. Er will Elfriede möglichst ununterbrochen reden lassen, damit sie sich öffnet. Es ist die neueste Behandlungsmethode bei Nervenleiden, wie Elfriedes Diagnose lautet, und gar nicht mal die schlechteste. Doktor Hermann ist ein hochgewachsener Mann mit sanften Zügen und runden Schultern, der seine langen Gliedmaßen mühelos in normal große Stühle faltet, die eigentlich viel zu klein für ihn sind. Er hat etwas Weiches. Sogar sein braunes Haar scheint samtweich. Jahre später erst wird Elfriede auffallen, dass sie die Farbe seiner Augen nie bewusst wahrgenommen hat, ebenso wenig, wie sie sich an sein Gesicht erinnern kann. Lediglich der sanfte, gleichförmige Klang seiner Stimme, die ihr in einem fort Fragen gestellt hat, ist bei ihr haften geblieben.
Sie antwortet so klar und eindeutig wie möglich, damit er keine weitere Frage daraus ableiten kann. »Als ich eben meinte: ›Wie furchtbar‹, sagten Sie etwas von wegen ›keine Ansteckungsgefahr‹. Also sind Sie davon ausgegangen, dass ich Angst davor habe, mich anzustecken.«
Doktor Hermann rückt seine Brille zurecht. »Hatten Sie jemals Angst, krank werden zu können, Elfriede?«
»Nein.« Sie steht auf. »Ich gehe jetzt ein bisschen spazieren.«
Aufenthalte im Sanatorium sind freiwillig, und Elfriede steht es frei, zu kommen und zu gehen, wie sie will. Keinerlei Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Keinerlei Verpflichtung zu bleiben.
Rein praktisch gesehen, ist dies allerdings kaum möglich. Das Sanatorium nämlich liegt hoch oben auf einem Berg, umgeben von wilder Natur, und ist nur über eine einzige steile, holprige Straße zu erreichen. Bis Mitte des vorigen Jahrhunderts war es ein Franziskanerkloster, bis die letzten verbliebenen Mönche die ganze historische Klosteranlage mit sämtlichen Grundstücksflächen und Gebäuden praktisch umsonst an Doktor Hermann abtraten, unter der Bedingung, dass die maroden Gemäuer als ein Ort der Heilung und des Friedens erhalten blieben. Patienten schätzen die abgeschiedene Lage, die saubere und gesunde Luft, und sie sind aus den verschiedensten Gründen hier (Lungenleiden, Nervenkrankheiten, Gebrochenes-Herz-Syndrom, diskrete Schwangerschaftsabbrüche), immer aber auch, um eine Zeit lang fernab der Zivilisation zu sein. Doch ohne bergsteigerische Fähigkeiten oder fremde Hilfe kommt man hier nicht weg, und Elfriede hat weder das eine noch das andere. Außerdem hat sie kein Geld, keines jedenfalls, das sie eben mal aus der Tasche ziehen könnte. Sie steht also auf, spaziert vom Hof, durch den überwölbten Durchgang und an der alten Kapelle vorbei, lässt die Anlage schließlich hinter sich und erreicht einen von zartem Duft erfüllten, sonnenbeschienenen Hügel. Doch ohne einen Pfennig in der Tasche fällt es ihr gar nicht erst ein, den Fahrer der Kutsche anzusprechen, der gerade den Engländer abgesetzt hat, um ihn zu bitten, sie den gut dreißig Kilometer langen, steilen und holprigen Fahrweg mit hinunterzunehmen – oder einfach zu Fuß hinunterzulaufen. Wo wollte sie auch hin? Und zu wem sollte sie gehen?
Sie spaziert also nur ein Stück hinaus, um alleine zu sein. Das ist alles, was sie will. Alleine sein und ihre Ruhe haben.
Die Zimmer in diesem ehemaligen Franziskanerkloster sind so, wie man es sich vielleicht vorstellt – schmucklos und karg, gelinde gesagt. Elfriedes Zimmer gleicht einer Mönchszelle, im wahrsten Sinne des Wortes, oder besser gesagt zweien davon, aus denen man eine gemacht hat. Es enthält ein Einzelbett mit Rosshaarmatratze, einen Hocker, einen schlichten Kleiderschrank, in dem ihre drei Kleider hängen, eine Kommode sowie einen Schreibtisch und einen Stuhl. Bücherregale gibt es keine, dafür eine Bibliothek, aus der Elfriede jederzeit Bücher ausleihen kann, aber immer nur eines. Eigene Bücher von zu Hause mitzubringen oder sich welche nachschicken zu lassen ist nicht erlaubt. Man ermuntert sie aber zum Schreiben. Jede Woche liegt ein neuer Stapel Notizhefte auf ihrem Schreibtisch. Herr Doktor Hermann möchte gerne, dass sie ihre Gedanken, Erinnerungen und insbesondere ihre Träume aufschreibt und die Notizhefte dann zu den täglichen Konversationen mitbringt, um die Inhalte zu besprechen. Sind die Notizhefte einmal nicht bis zur letzten Seite vollgeschrieben, würde er seinen Ärger darüber niemals offen zeigen. Das wäre unprofessionell! Trotzdem spürt sie ihn, seinen Ärger, der wie ein Störsignal durch die Luft schwingt, seine Nasenflügel flattern und errötenlässt. Und deshalb schreibt sie täglich wie geheißen, manchmal stundenlang, um seinen Hunger nach ihrem Unbewussten zu stillen. Doch unter der Rosshaarmatratze liegt ein weiteres Notizheft – eines, das ihre wahren Gedanken enthält.
Abends oder tagsüber, wenn das Wetter schlecht ist, weiß Elfriede sich anderweitig zu helfen, um Ruhe zu finden. Sie begibt sich dann in den Musikraum, in den außer ihr sonst niemand geht, setzt sich dort ans Klavier und spielt von Notenblättern aus der Bibliothek. Manchmal spielt sie stundenlang, ein Stück nach dem anderen, von Bach über Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert bis hin zu Chopin. Derlei Beschäftigung erfordert ein methodisches Vorgehen. Dann ist es Mitternacht, und während die letzten Töne verklingen, erfüllt eine weihevolle Stille den Raum, und es ist, als würden Tausende Ohren lauschen, Tausende verstorbene Seelen, und Elfriede kann fast, aber nur fast spüren, dass unter ihnen auch ihr Ehemann und ihr Sohn sind.
Zwei Wochen später sieht Elfriede den Engländer zum allerersten Mal. Auf einer kleinen Anhöhe hockt sie im Gras und sieht zu, wie ein Krankenpfleger ihn im Rollstuhl über einen der gepflasterten Gartenwege schiebt. Sie ist gerade von einer langen, einsamen Wanderung zurück, die klare Bergluft füllt ihre Lunge und belebt ihre Glieder, und das warme Sonnenlicht zaubert eine leichte Röte in ihr Gesicht. Sie sitzt im Gras, inmitten von Wildblumen, die Arme um ihre Beine geschlungen. Ein Stück unterhalb von ihr, am Ende des rechtwinkligen Gartenwegs, auf einem sonnenbeschienenen Fleckchen, halten sie an, der Krankenpfleger und der Engländer, die von hier oben aus betrachtet kaum größer und spektakulärer erscheinen als zwei Eichhörnchen. Der Pfleger zieht die Decke über dem Schoß seines Patienten zurecht, und die beiden wechseln ein paar Worte, die Elfriede nicht hören kann, da der leichte Wind sie mit sich fortträgt. Dann, mit einem letzten straffen Zug an der Decke, wirft der Pfleger einen Blick auf seine Armbanduhr, begibt sich zurück ins Haus und lässt den Engländer die Sonne genießen.
Eine ganze Weile sitzt er da, ohne sich zu rühren. Sein Rollstuhl steht so, dass sie sein Gesicht nicht richtig sehen kann, doch da Elfriede leicht kurzsichtig ist, könnte es auch gut sein, dass er eingenickt oder einfach nur zu schwach ist, um sich zu bewegen. Trotzdem, er muss das Schlimmste überstanden haben, andernfalls hätte man ihm den kleinen Ausflug in den Garten gewiss nicht erlaubt.
Den Proportionen von Mann und Rollstuhl nach zu urteilen, scheint er eher groß und schmal gebaut zu sein. Gut, Elfriedes Ehemann ist ein Riese, zwei Meter groß und breit wie ein Schrank, gegen den fast jeder schmächtig erscheint. Außerdem ist der Engländer gerade schwerkrank gewesen. Er trägt den hier üblichen weiten blauen Krankenhauspyjama. Sein Kopf ist rasiert, und die wenigen Bartstoppeln schimmern rötlich im Licht der Sonne. Elfriede robbt etwas näher heran. Die kurze, farbenfrohe Blütezeit der Bergblumen ist gerade angebrochen, und überall auf der Wiese leuchtet es herrlich rot, orange und violett; ein würziger Duft von Wiesensalbei zieht durch die Luft, hängt sich in Elfriedes Kleid, während sie sich im Gras noch ein Stückchen vorwärtsschiebt. Einen einzigen Blick nur will sie auf sein Gesicht werfen, nichts weiter, will unbedingt wissen, wie er aussieht, der Engländer. In ihrem ganzen behüteten Leben, in kleinen Dörfern auf dem Land, in Berlin (wo sie einmal war, um ihre Brautaussteuer zu kaufen), in Frankfurt und Zürich (Städte, die sie nur durch das Zugfenster kennt) ist sie noch nie einem Engländer begegnet.
Sie rutscht näher und näher heran, doch sein Gesicht kann sie einfach nicht erkennen. Sie blicken beide in dieselbe Richtung, zur Sonne hin, und Elfriede sieht ihn nur von der Seite, nur sein geschlossenes linkes Auge, mehr nicht. Er hat eine schöne Hautfarbe, ist blass, aber nicht schlohweiß oder fieberbleich, und zur Nase hin erkennt sie ein paar Sommersprossen. Seine linke Hand liegt auf der grauen Wolldecke, die Finger sind lang und feingliedrig; seine rechte Hand bleibt ihrem Blick verborgen.
Elfriede streckt ein Bein, um noch ein paar Zentimeter näher heranzurücken. Da fängt der Engländer plötzlich an zu sprechen, ohne die Augen zu öffnen, gut hörbar, aber nicht übermäßig laut. »Sie können auch rüberkommen und sich vorstellen.«
»Oh, ich wollte nicht …«