Die kleinen Geheimnisse der Frauen - Beatriz Williams - E-Book

Die kleinen Geheimnisse der Frauen E-Book

Beatriz Williams

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Beschreibung

Ein Held zum Niederknien, zwei starke Frauen und eine unwiderstehliche Liebe ...

New York, 1922. Mrs. Theresa Marshall – eine selbstbewusste, schillernde Society Lady – muss sich eingestehen, dass sie verliebt ist. Nicht in ihren meist abwesenden Ehemann, sondern in den klugen, sanftmütigen Captain Octavian Rofrano. Octavian würde Theresa die Welt zu Füßen legen, doch eine Scheidung kommt für eine Frau von ihrem Ansehen nicht infrage. Dann tritt Sophie Fortescue in ihr Leben, die junge Verlobte von Theresas Bruder. Sophies Familie umgibt ein Geheimnis, das Theresa entschlossen ist aufzudecken – sie ahnt jedoch nicht, dass die Konsequenzen dramatisch sein werden …

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Buch

New York, 1922. Mrs. Theresa Marshall – eine selbstbewusste, schillernde Society Lady – muss sich eingestehen, dass sie verliebt ist. Nicht in ihren meist abwesenden Ehemann, sondern in den klugen, sanftmütigen Captain Octavian Rofrano. Octavian würde Theresa die Welt zu Füßen legen, doch eine Scheidung kommt für eine Frau von ihrem Ansehen nicht infrage. Dann tritt Sophie Fortescue in ihr Leben, die junge Verlobte von Theresas Bruder. Sophies Familie umgibt ein Geheimnis, das Theresa entschlossen ist aufzudecken – sie ahnt jedoch nicht, dass die Konsequenzen dramatisch sein werden …

Autorin

Beatriz Williams besitzt Abschlüsse der amerikanischen Universitäten Stanford und Columbia. Während sie als Beraterin in London und New York arbeitete, versteckte sie ihre Schreibversuche zunächst auf ihrem Laptop. Mit ihren Romanen eroberte sie nicht nur die Herzen ihrer Leserinnen im Sturm, sondern auch die »New York Times«-Bestsellerliste. Heute schreibt Beatriz Williams in ihrem Haus an der Küste Connecticuts, wo sie mit ihrem Mann und ihren vier Kindern lebt.

Von Beatriz Williams bereits erschienen

Im Herzen des Sturms · Das geheime Leben der Violet Grant · Träume wie Sand und Meer · Die letzten Stunden des Sommers

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BEATRIZ WILLIAMS

Die kleinen Geheimnisse der Frauen

Roman

Deutsch von Kristina Lake-Zapp

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »A Certain Age« bei William Morrow, An Imprint of HarperCollins Publishers, New York.

Dieses Buch ist ein fiktionales Werk. Sämtliche Charaktere, Ereignisse, Dialoge entstammen der Fantasie der Autorin und erheben keinen Anspruch auf Realität. Jegliche Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen sowie lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright der Originalausgabe © 2016 by Beatriz Williams.

All rights reserved.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe

© 2019 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Antje Röttgers

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotive: Lee Avison/Arcangel Images; www.buerosued.de

AF · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-21704-4V001

www.blanvalet.de

Für Greenwich, Connecticut, und seine wunderbaren

Persönlichkeiten, dafür, dass sie uns zehn Jahre lang

Raum für unsere Träume gegegeben haben

(und wir mindestens einen davon im Stau träumten) …

Weiter so!

Die New York Herald-Times,

29. Mai 1922

Klatsch und Tratsch, von Patty Cake

Endlich! Heute ist der Tag, auf den wir alle gewartet haben, verehrte Leser: Heute findet die Eröffnung des größten Prozesses statt, den dieses Land je gesehen hat, ein wahrer Jahrhundertprozess, und ich sage Ihnen, es ist mörderisch heiß in diesem viel zu kleinen Gerichtssaal in Connecticut. Glauben Sie mir, Sie sind sehr viel besser dran als ich, denn Sie können die Verhandlungen zu Hause in Ihrem bequemen Sessel verfolgen. Oh, diese Qualen, die ich auf dem heiligen Altar des Journalismus erleide.

Und jetzt, nach all den Monaten voller Aufregung, Hysterie und pikanten Details – der Patentkönig; seine Töchter, diese schönen Erbinnen; die Mieterin aus dem Parterre; das tränenüberströmte ehemalige Küchenmädchen, später Hausfrau in Scarsdale, und ihr generöser Ehemann; das Turmfenster, der verschwundene Gärtner, die exakte Länge und Verzahnung der Messerklinge, mit der das Opfer ermordet wurde –, nach all diesen Monaten sitzen wir hier und wedeln mit provisorischen Fächern vor unseren schwitzenden Gesichtern, während sich langsam, aber sicher herauskristallisiert, dass es sich bei all diesen mythischen Gestalten schlussendlich um Menschen aus Fleisch und Blut handelt. Der Patentkönig ist kleiner als gedacht. Er sagt kein Wort, sitzt steif wie ein Stock neben seinem Verteidiger, die Töchter drängen sich in der ersten Reihe dicht zusammen, so blass und sorgenvoll, dass von ihrer viel gepriesenen Schönheit, so muss ich leider sagen, kaum etwas zu bemerken ist.

Zahlreiche prominente Vertreter und Vertreterinnen der oberen Zehntausend bevölkern die Bänke um mich herum. Die bedeutendste von ihnen ist der Dauerbrenner sämtlicher gesellschaftlichen Höhepunkte und natürlich auch dieser Kolumne – die schillernde Mrs. Theresa Marshall aus der Fifth Avenue in Manhattan mit Zweitwohnsitz in Southampton, Long Island, so exquisit und modisch gekleidet wie immer. Mir wurde das Privileg zuteil, Windermere, das Anwesen der Familie Marshall an der Küste, zu besuchen, und ich bewundere Mrs. Marshalls Tapferkeit, in diesem Hexenkessel von Gerichtssaal auszuharren, obwohl sie doch eigentlich in den Dünen liegen oder mit ihrem Lieblingsspringpferd Tiptoe über den Reitweg am Lake Agawam reiten könnte.

Der Grund für Mrs. Marshalls Opfer liegt allerdings auf der Hand oder vielmehr: Er sitzt neben ihr, ein Prachtexemplar von einem Mann – so das sachverständige Urteil meiner Wenigkeit. Mr. Octavian Rofrano wird schon bald als einer der Hauptzeugen in diesem Fall auftreten, und in Anbetracht seines neu entdeckten Ruhms und unbestrittenen Charmes, mache ich Mrs. Marshall in keiner Weise einen Vorwurf, dass sie ihn mit Argusaugen bewacht, selbst wenn ich nicht umhinkomme mich zu fragen, was der bedauernswerte Mr. Marshall wohl von einem solch ausgeprägten Beschützerinstinkt halten mag.

So viel zu dem Mann an Mrs. Marshalls linker Seite. Zu ihrer Rechten sitzt ein weiterer wohlbekannter Vollblut-Manhattaner: niemand anders als der Bruder der Dame, Mr. Edmund Jay Ochsner, der berühmt-berüchtigte Junggeselle, der – so das Gerücht – Anspruch erhebt auf die jüngere der beiden Patentprinzessinnen. Auch wenn es heißt, sie seien bereits verlobt, kann ich keinen glitzernden Ring an dem verdächtigen Finger ausmachen. Also lasse ich Sie, meine verehrten Leser, selbst entscheiden, was Sie für die Wahrheit halten.

Was mich betrifft – halten Sie sich fest: Ich werde für Sie den Prozess des Jahrhunderts verfolgen, vorausgesetzt, ich bin bis zum Ende des Vormittags nicht auf meiner Bank geschmolzen.

Kapitel 1

In alten Zeiten wurden am Altar Opfer gebracht –

eine Praxis, die bis heute fortgeführt wird.

HELEN ROWLAND

THERESA

Long Island, New York, am zweiten Tag des Jahres 1922

IN DER NACHT TRÄUME ICH, dass mein Ehemann unerwartet aus Manhattan eintrifft, umhüllt von einer stickigen Abgaswolke seines Buick Battistini Speedster, und lassen Sie mich Ihnen sagen, dass mir sein plötzliches Auftauchen mehr als ungelegen kommt.

Allerdings erscheint mir diese Möglichkeit jenseits meiner fieberhaften Träume als ausgesprochen unwahrscheinlich. Ohne Zweifel liegt der echte Mr. Marshall in dem Moment, in dem mein Traum-Ehemann mit den Rädern seines Buick draußen den Traum-Kies aufwühlt, in walähnlichem Schlummer auf dem Bett in dem schmucken Apartment am Sutton Place, das er für seine Geliebte gekauft hat. Die zweite Nacht des neuen Jahres ist als fester Termin für außereheliche Beschäftigungen im Kalender eingetragen. Auf alle Fälle zählt der echte Mr. Marshall nicht zu der Sorte Mann, die bei Tagesanbruch einen vereisten Highway entlangrasen, um seine Ehefrau aufzuschrecken. Mr. Marshalls Manieren sind untadelig.

Trotzdem genügt mein Traum, um mich aus dem Schlaf hochschrecken zu lassen, erregt und atemlos, herausgerissen aus dem Zustand selbstvergessener Ruhe. Der Raum ist erfüllt von jenem dunkelgrauen Licht, das kurz vor Anbruch der Morgendämmerung herrscht, und da es sich um eine kleine, ungeheizte, ungestrichene Kammer über einer alten Remise mit den verstaubten Überresten zweier Kutschen darin handelt, die dank der Erfindung von Mr. Ford ausgedient haben, weiß ich zunächst nicht genau, wo ich bin, abgesehen davon, dass mir der Ort vertraut erscheint.

Die Matratze gibt unter meiner Hüfte nach, das Flanelllaken riecht modrig wie die Laken in einer Hütte in den Adirondacks. Ich werde niedergedrückt von dem Gewicht von tausend Wolldecken; jemand raucht eine Zigarette.

Ich drehe mich auf die Seite. »Boyo?«

Der Junge steht am Fenster, farblich abgestimmt auf den Rauch, der sich von der Zigarette in seiner Hand in die Höhe kräuselt. Seine Schultern haben exakt die Breite des Schiebefensters und bilden mit dem Rahmen eine Linie. Ich habe vergessen, worum genau es in meinem Traum ging, auch, warum er mich erschreckt hat; mein Atem normalisiert sich wieder bei diesem unleugbaren Beweis männlicher Gesellschaft. Ohne sich umzudrehen, ohne das leiseste Zucken – er ist wahrhaftig der stillste Mann, den ich je kennengelernt habe – sagt er: »Ich frage mich, ob du mich auch noch so nennst, wenn ich sechzig bin.«

Ja, der Raum ist dunkel und kalt, und die Decken sind schwer, und unter diesen Decken bin ich so nackt wie ein unschuldiges Baby, obwohl die Ähnlichkeit zwischen Babys und Unschuld dort auch schon endet. Ich setze mich auf und strecke meine Arme aus. »Du wirst immer mein Boyo sein. Mein herzallerliebster Junge.«

Er tritt ans Bett und lässt sich auf die Kante sinken, um sich gehorsam meiner Umarmung zu fügen. Seine Haut ist eiskalt, das Fleisch darunter glühend heiß. »Da draußen ist ein Wagen«, bemerkt er beiläufig, nachdem er mich geküsst hat, als falle diese Information nicht weiter ins Gewicht.

Ich stutze. Die Arme des Jungen, die rechts und links auf meiner Hüfte liegen, halten mich davon ab, allzu heftig zusammenzuschrecken.

»Ein Wagen?«

»Ja.«

»Welches Fabrikat?«

»Das kann ich nicht sagen. Es ist zu dunkel.« Er hebt meinen Arm und küsst die Haut an der Innenseite meines Ellbogens.

»Limousine oder Coupé?«

»Coupé. Halt doch still!

Mit Mühe löse ich meinen Arm von seinen Lippen, was er nicht zulassen will. »Um Gottes willen, Boyo, bist du verrückt geworden? Wo sind meine Sachen?«

»Warum? Er steigt nicht aus.«

Ich fluche. Der Junge, dem es nicht gefällt, wenn ich den Namen seines Herrn missbrauche, legt seinen Daumen auf meine Lippen. Ich öffne den Mund und beiße ihn.

»Autsch!«

»Das ist Sylvo. Das muss Sylvo sein.«

»Na und?«

»Na und? Was soll die Frage? Mein Mann steht vor der Tür!«

»Er steht nicht vor der Tür, Theresa. Er sitzt im Wagen. Raucht eine Zigarette. Vermutlich angetrunken.«

»Aber irgendwann wird er ja aussteigen.«

»Vielleicht.« Der Junge zuckt die Achseln. »Kein Grund, ihn zur Eile anzutreiben.«

Es hat wenig Sinn, den Jungen aufzustacheln, wenn er sich doch nicht aufstacheln lässt. Seine Kaltblütigkeit hat ihn Frankreich überleben lassen, und ich nehme an, dass das jetzt nicht anders sein wird. Es ist Sylvester, um den ich mir Sorgen mache. Ich sinke zurück in die Kissen. Der Junge folgt mir ins Bett. »Du musst dich im Schrank verstecken, wenn er doch raufkommt«, sage ich zu ihm.

»Ich werde mich in keinem Schrank verstecken.«

»Doch, wirst du. Ich möchte keine Szene, Boyo.«

Der Junge raucht seine Zigarette in aller Seelenruhe zu Ende, atmet den Rauch von seinem Mund direkt in meinen und drückt die Kippe in der Sardinenbüchse auf dem Fußboden neben dem Bett aus. (Der Junge ist ungeheuer einfallsreich, was das Improvisieren von Aschenbechern angeht.) Er kennt sein Ziel genau, und er wendet während dieser kleinen Operation den Blick nicht von meinem Gesicht ab. Ich denke, das ist eine der kleinen Eigenheiten, die mich vor all den Monaten zu ihm hingezogen haben: seine Konzentration. Seine Weigerung, sich zur Eile antreiben zu lassen. »Es gibt nur einen Grund, warum dein Mann hier ist«, sagt er, »er weiß, dass ich da bin. Es macht also keinen Sinn, sich in irgendwelchen Schränken zu verstecken, vorausgesetzt, wir hätten einen Schrank und ich wäre gewillt, darin zu verschwinden. Was ich nicht bin.«

»Warum machst du es mir so schwer?«

»Warum machst du es mir so schwer?« Er nimmt eine Strähne meines Haars, reibt sie sanft zwischen Daumen und Zeigefinger und streicht sie mir dann ordentlich hinters Ohr. »Ich spiele nach deinen Regeln, oder etwa nicht? Ich tue, was du willst.«

»Meistens.«

»Also gut. Dann lass mich die Sache diesmal in die Hand nehmen.«

Er senkt den Kopf auf meinen Hals. Ich lege ihm beide Hände auf die Schultern und drücke – ohne großen Erfolg. »Wie kannst du mich in einem solchen Moment küssen?«

»Weil ich dein Junge bin, oder etwa nicht? Du bist mein Baby. Dich zu küssen ist das, was ich nach einem harten Arbeitstag tue. Deshalb funktioniere ich. So bin ich.«

Der Junge ist wie ein Schilfrohr oder vielmehr wie ein Seil – ja, das ist es –, ein Seil, zu einem festen Knoten geschlungen, starr, unverbrüchlich. Wenn er hier sitzen und mich küssen will, werde ich ihn nicht aufhalten, zumindest nicht gewaltsam. Man kann den Jungen zu nichts zwingen, dazu müsste man zunächst den Knoten lösen. Nur seine Lippen sind weich und nachgiebig.

So bin ich, sagt er. Aber wer bist du, Boyo? Dieses Rätsel beschäftigt mich seit eineinhalb Jahren, und unter diesen Umständen wird es das wohl ewig tun.

Also lasse ich mir etwas einfallen. »Ich bin kein Baby«, sage ich. »Wenn du sechzig bist, bin ich zweiundachtzig.«

»Nun ja, ich sehe das so: Solange ich dein Junge bin, bist du mein Baby.«

Solange er mein Junge ist. Aber stellt sich dann nicht die Frage, wer ich bin, Boyo? Wieso zerbreche ich mir hier über dich den Kopf? Wie bin ich – Mrs. Theresa Marshall aus der Fifth Avenue in Manhattan – zu einer Hälfte von Du-und-ich geworden?

Ich glaube nicht, dass ich die Antwort kenne. Irgendetwas ist mir abhandengekommen. Etwas in diesem Du-und-ich, und ich nehme an, dass ich es bin.

Er ist zweiundzwanzig, mein Junge, und daher in den Augen des Allmächtigen und des Gesetzes ein Mann. Er sieht aus wie ein Mann, jetzt noch mehr als damals, als ich ihm zum ersten Mal begegnete. Das war im Sommer 1920, vor anderthalb Jahren, und er war ein Mann im Körper eines Jungen, eines Jungen mit perfekt rosa Wangen, jungen Lippen und alten Augen. Wie er seinen Blick auf mich heftete! Es war berauschend, müssen Sie wissen. Es war Sommer, eine spätabendliche Party zum Vierten Juli auf Long Island, warm und träge und synkopisch, dunkel und traumähnlich. Die schwüle Luft ließ den Beschlag von den Longdrink-Gläsern in die Handflächen der Gäste rinnen. Jemand erzählte mir, er sei Kampfpilot in Frankreich gewesen und gerade erst zurückgekehrt, der einzige Überlebende aus seiner Schwadron, aber behaupten sie das nicht immer? Der einzige Mann aus seiner Schwadron, der lebend nach Hause zurückgekehrt ist! Es sind niemals drei Überlebende oder zehn, immer nur einer. All die anderen armen Schweine müssen sterben, um das Cocktailparty-Geplauder ein bisschen aufregender zu machen, atemloser, den mittsommerlichen Ennui weniger erdrückend.

Er stand neben dem Swimmingpool. Ich fand, er sei viel zu jung für mich, aber vielleicht weckte gerade das meine Neugier. Als ich in seine Richtung schlenderte, bemerkte ich seinen durchdringenden Blick und die kleinen Wellen der Wasseroberfläche, deren Schatten auf seinem Gesicht tanzten und von Form und Größe her an die Flecken eines Leoparden erinnerten. Dieser erste Eindruck – der Junge als Raubkatze – war der Auslöser für mein Interesse an ihm, und es dauerte nicht lange, bis mir bewusst wurde, wie sehr ich mich getäuscht hatte.

Aber da war es natürlich schon viel zu spät.

Er hat eine ganz bestimmte Art, mich Dinge vergessen zu lassen, wichtige Dinge wie die Tatsache, dass ein Mann in einem Automobil unter unserem Fenster sitzt, vermutlich betrunken, der eine Zigarette raucht und aller Wahrscheinlichkeit nach mein Ehemann ist. Oder ist das etwa Teil des Nervenkitzels, diese unterschwellige Angst vor Entdeckung? Womöglich habe ich mich die ganze Zeit über nach diesem Showdown gesehnt, seitdem ich diesen Jungen neben dem Swimmingpool zu einem erwachsenen Liebhaber gemacht und mit niemand anderem als ihm geschlafen habe, auch nicht mit meinem eigenen Ehemann.

»When my baby smiles at me«, singt er leise.

»Du bist ein grauenhafter Sänger.«

»Deshalb singe ich ja auch nur für dich.«

»Mein süßer Junge, ich möchte, dass du ernst bist.«

»Ich bin ernst. Ich singe nur für dich, Theresa, und du singst nur für mich. Ich denke, vielleicht ist es an der Zeit, dass Mr. Marshall das versteht.«

O ja. Ab und an sagt er solche Dinge, mein Junge: spielt an auf die Fortdauer dieser Liaison, was kein anständiger Liebhaber tun sollte, schließlich sind Liebhaber nicht für die Dauer gedacht, oder? Aber der Junge macht nie etwas so wie die anderen. Er packt mehr Intentionen in ein einziges Wort als der Präsident in eine ganze Antrittsrede, und genau das ist es, was mich instinktiv zu ihm hinzieht, wenn er ein Zimmer betritt oder sich ins Bett legt oder seinen Wagen um Mitternacht über die Queensboro Bridge lenkt. Ich blicke einen Moment lang fest in jene gelassenen Augen und denke über all die Flieger nach, die er abgeschossen haben muss, die Flieger, über die er niemals spricht. Ich stelle mir ein rauchendes weißes Wrack auf einem gefrorenen braunen Feld vor und den Jungen, der nach unten blickt, während er in der Luft kreist und den ganzen Schlamassel von oben betrachtet.

»Ich möchte nicht, dass du eine Szene machst, Boyo, hast du mich verstanden? Keine Szene.«

»Ich werde ihn nicht verletzen. Ich werde ihm die Dinge lediglich erklären.«

»Und was genau willst du ihm erklären? Er ist mein Ehemann. Er hat ein Anrecht auf mich.«

Der Junge umschließt mein Gesicht mit beiden Händen. »Er hat kein Anrecht auf dich. Wie kann sich ein Mann vom Tag seiner Hochzeit an eine Geliebte halten und sich immer noch ›Ehemann‹ nennen? Nein, er hat keinerlei Anrecht auf dich.« Ein gedämpfter Knall lässt das Schiebefenster erzittern, aber der Junge hört nicht auf zu reden. Er hat mir etwas zu sagen. Seine Daumen drücken mir kleine Dellen in die Wangen. »Ich bin derjenige, der mit dir schläft. Ich bin derjenige, der die Nacht in deinem Bett verbringt.«

»Hast du das gehört?«

»Da war nichts.«

Ich schiebe den Jungen von meiner Brust und steige aus dem Bett. »Er kommt rein!«

»Soll er doch kommen.«

Mein Kleid liegt auf dem Fußboden neben der Tür, mein Höschen vor dem Bett, mein BH ist über einen der Bettpfosten drapiert. Ich sammle meine Sachen auf, während der Junge auf der Bettkante sitzen bleibt, die Hände auf die nackten Oberschenkel gelegt, und mich ins Visier nimmt wie eine Sopwith eine Fokker. »Was soll ich deiner Meinung nach tun, Boyo? Die Scheidung verlangen?«

»Du weißt, was ich will.«

»Ich werde mich nicht von Sylvester scheiden lassen.«

»Warum nicht?«

»Weil das nicht nötig ist.«

»Wenn wir ein Baby haben schon.«

Meine zitternden Hände kommen mit den Verschlüssen meines Kleids nicht zurecht. Ich drehe dem Jungen den Rücken zu und sage: »Wir werden kein Baby bekommen.«

»Vielleicht doch.«

»Ich bin zu alt. Zu alt für ein Baby, zu alt für dich.«

Er schließt mein Kleid und legt mir die Hände um die Taille. »Das stimmt nicht.«

Der Junge möchte, dass ich ein Baby von ihm bekomme. Er denkt, ein Baby löst all unsere Probleme. Ich denke nicht mal, dass wir irgendwelche Probleme haben, abgesehen davon, dass ich mich nahezu verzweifelt in einen Jungen verliebt habe, der zweieinviertel Jahrzehnte jünger ist als ich, aber der Junge hat etwas gegen Ehebruch und will, dass wir heiraten. Er will, dass wir heiraten, zusammen in einem lausigen Apartment in der Second Avenue wohnen (er kommt nicht an sein lächerliches Erbe, bevor er fünfundzwanzig ist, armes Ding, und ich befürchte, dass ein junger Anlagenhändler auf die Gnade seiner Geschäftspartner angewiesen ist, was die Bezahlung anbetrifft) und wundervolle Babys produzieren, eins nach dem anderen, während der Schnee wie Puderzucker vor unserem Fenster vom Himmel fällt. Wie in einer dieser Geschichten von O. Henry. Liebe und Kerzenschein. Abgesehen davon, dass ich vierundvierzig Jahre alt bin und bereits drei gesunde, legitime, schreiende Kinder zur Welt gebracht habe – von denen das letzte auf die Phillip Exeter Academy entschwunden ist, als der Krieg gerade seinem tintenfischschwarzen Ende entgegentaumelte –, bin ich genauso wenig versessen darauf, für ein Neugeborenes zu sorgen wie in einem lausigen Apartment in der Second Avenue zu hausen.

Nein, unser derzeitiges Arrangement passt mir sehr gut: Wir treffen uns jeden Montag und Donnerstag, wenn ich angeblich Bridge spiele, in der mustergültig schäbigen Wohnung des Jungen im Village, die im dritten Stock eines Gebäudes mit einem angenehm duftenden italienischen Lebensmittelladen im Erdgeschoss und einer gut bestückten Flüsterkneipe im Keller liegt. Die nicht mehr ganz junge Dame und der Junge trinken ein Gläschen schwarzgebrannten Fusel, legen ein heimliches Tänzchen aufs Parkett und kehren anschließend nach oben ins Bett zurück. Während der Sommermonate vergnügen wir uns hier oben in dem alten Kutschenhaus, denn wenngleich Sylvester und ich in unserem Anwesen auf Long Island von Anfang an getrennte Schlafzimmer bezogen haben, halten wir uns unter dem ehelichen Dach doch an einen gewissen informellen Kodex, was den Empfang von Liebhabern anbetrifft. Gegenseitiger Respekt ist immerhin die Grundlage einer stabilen Ehe.

Manchmal – ein ganz besonderes Vergnügen – treffen der Junge und ich uns außerhalb der Stadt in diesem hübschen Grand Hotel am Meer, in dem niemand mit der Wimper zuckt, wenn ein Junge und eine Dame in den besten Jahren die Flitterwochen-Suite beziehen wie ein frisch verheiratetes Paar. (Der Junge trägt unsere Namen stets in großen, ordentlichen Buchstaben ins Register ein – Mr. und Mrs. Octavian Rofrano junior – und besteht darauf, die Rechnung aus eigener Tasche zu bezahlen, der Gute.) Wir bleiben zwei oder drei Nächte, bestellen unser Essen beim Zimmerservice, trinken Gin und baden um zwei Uhr morgens nackt im Ozean, schlafen, wachen auf und schlafen wieder, doch hauptsächlich vögeln wir. Schweißtreibende, wundervolle, unermüdliche Flitterwochenvögeleien. Wir vögeln zwei, drei Mal am Tag, manchmal sogar vier Mal oder fünf Mal, wenn der Junge ausgeruht ist und nicht zu viel Gin in sich hineingeschüttet hat. Das haben wir schon eine ganze Weile nicht mehr gemacht, nicht seit Ende des Sommers. Der Herbst ist schließlich eine sehr geschäftige Zeit. Aber mein Gott, wenn wir das tun, fühle ich mich wie eine neue Frau. Fühle mich unwiderstehlich. Und wenn wir in die Stadt zurückkehren, strahlt meine Haut wie die einer Debütantin.

Alles zusammengenommen – Village, Kutschenhaus und frivole Hotels – waren diese vergangenen anderthalb Jahre ausgesprochen befriedigend: das Jahr des Jungen und mehr als das.

Bis jetzt. Ich habe keine Ahnung, was uns dazu getrieben hat, gestern Nacht spontan in den Ford Model T des Jungen zu springen und einfach draufloszufahren. Vielleicht lag es an der endlosen Reihe von Weihnachtsfeiern und Silvesterpartys, vielleicht am Champagner. Vielleicht ist unsere kleine Affäre allzu bereitwillig der Routine gewichen, und wir brauchen den Geschmack von Abenteuer. »Lass uns irgendwo hinfahren, wo wir allein sein können«, schlug der Junge vor und lehnte seinen Kopf an die Kopfstütze, und ich schaute ihn an und hielt dagegen, er solle nicht albern sein, wir seien doch allein, woraufhin er entgegnete, er wolle mehr allein sein: Er wolle nach Long Island fahren und ein bisschen frische Luft atmen, ein kleines, intimes Neujahrsfest feiern, ohne all die Lichter und Menschen und Sirenen und den Rauch, nur Sonnenschein, eisige Luft und ich. Was sollte ich dazu sagen? Ich sagte, ich sei einverstanden.

Und sehen Sie nun, was das gebracht hat! Mr. Marshall ist uns den ganzen Weg hierher gefolgt, hat die Mühe auf sich genommen, Mrs. Marshall und den Jungen in ihrem kleinen Liebesnest über der Remise aufzuspüren, hundert Meilen von der Stadt entfernt, ein Akt eifersüchtiger Besitzverteidigung, der ganz und gar untypisch für ihn ist und nicht den mindesten Sinn ergibt, es sei denn …

»Die Kinder!«, rufe ich aus und laufe zum Fenster.

Die Augen des Jungen müssen besser sein als meine, oder vielleicht liegt es an seiner Jugend. Unter den Bäumen vor dem Fenster kann ich nur einen Schatten ausmachen, der vielleicht ein Auto ist, vielleicht auch nicht, und als ich die Fingerspitzen gegen die alte Scheibe drücke und die Augen zusammenkneife, um besser sehen zu können, erkenne ich mehr: Dort steht tatsächlich ein Wagen. Eine Gestalt, der Statur nach ein Mann, lehnt an der Motorhaube und raucht allem Anschein nach eine Zigarette.

Hinter mir rumort der Junge. »Kannst du ihn sehen?«, fragt er.

»Er ist jetzt ausgestiegen. Ich glaube, er raucht. O Gott.« Ich drehe mich um. »Wo ist mein Mantel?«

Der Junge zieht sich an, schnell und effizient. »Du wirst nicht rausgehen. Es ist zu kalt.«

»O doch, das werde ich.«

»Den Kindern geht es gut, Theresa.«

»Woher weißt du das?«

Er fasst mich an den Schultern. »Wenn etwas passiert wäre, wäre er schnurstracks hier hereingestürmt, anstatt draußen zu warten, denkst du nicht auch? Lass mich das regeln.«

»Nein, bitte nicht. Bitte! Versteck dich im Schrank.«

»Hier gibt es keinen Schrank, falls du das noch nicht bemerkt haben solltest.«

»Dann kriech unters Bett. Lass mich …«

Ein Klopfen unten an der Holztür.

Der Junge zieht kaum merklich die Augenbrauen in die Höhe. »Das ist höflich von ihm.«

Es hat mich Jahrzehnte gekostet, in meiner Ehe zu der Gelassenheit zu finden, die der Junge in den paar lumpigen Monaten in Frankreich erworben hat. Vielleicht war ihm diese Gelassenheit aber auch schon immer zu eigen, vielleicht ist er schon als besonnenes, gefasstes Kind zur Welt gekommen – wohingegen ich noch immer längst nicht so abgeklärt bin, wie ich Sie gern glauben machen möchte. Innerlich bin ich aufgewühlt, getrieben von Furcht und Instinkt. Die Kinder! Hat man erst einmal ein Baby auf diese Welt gebracht, Gott stehe einem bei, gewinnt der Angstinstinkt die Oberhand und breitet sich im Blut aus wie eine chronische Krankheit, die nie mehr vergeht. Als mein Tommy Princeton verließ, um im Frühjahr 1917 der Armee beizutreten, und die Dreistigkeit besaß, in seiner Uniform eines zweiten Lieutenants in der Fifth Avenue aufzukreuzen und uns vor vollendete Tatsachen zu stellen, hätte ich mich beinahe in eine Ming-Vase übergeben. Beinahe. Ich tat es nicht, stattdessen streckte ich die Hand aus, schüttelte seine und riet ihm, angesichts der vielen glänzenden Knöpfe lieber einen Diener einzustellen, und er lachte und versprach, dafür zu sorgen, dass diese Knöpfe die blitzendsten in seiner Einheit blieben. Das war unsere zärtliche Fifth-Avenue-Art-und-Weise, einander unsere Zuneigung zu bekunden.

Ich bin also trotz meines aufgeriebenen Inneren mehr als fähig und entschlossen, ruhig zu bleiben und die Hände meines Geliebten von meinen Schultern zu nehmen, während mein Ehemann weiterhin unten an die Tür klopft. »Kriech unters Bett, Boyo«, bitte ich ihn. »Jetzt. Und bleib dort.«

Seine Augenbrauen sind noch immer in die Höhe gezogen, hinter seiner Stirn arbeitet es kräftig, wie ein Motor, der unter der Motorhaube auf Hochtouren läuft. Die Farbe seiner Augen ist im Dämmerlicht nicht zu erkennen, aber ich versichere Ihnen, dass sie von einem einnehmenden hellen Blaugrün sind und entweder – das hängt vom Licht ab und von seiner Stimmung – eine mediterrane Wärme oder aber arktische Kälte ausstrahlen. Ich kann mir gut vorstellen, welches Klima momentan vorherrscht.

Das Klopfen verstummt, der Türknauf dreht sich – es ist nicht abgesperrt –, die Angeln geben ein langgezogenes, übellauniges Quietschen von sich.

Ich deute aufs Bett. »Sofort, Boyo.« Oder wir sind fertig miteinander. (Die letzten fünf Worte spreche ich natürlich nicht aus – niemand bekommt gern ein Ultimatum gestellt, schon gar nicht der Junge –, aber man spürt, dass sie am Ende des Satzes gefährlich in der Luft hängen.)

Der Junge zuckt die Achseln und wendet sich ab. »Wenn es das ist, was du willst«, sagt er.

Und das Geräusch, das nun zu hören ist neben den rhythmischen Schritten eines Mannes, der die Holztreppe hinaufsteigt, ist der feine Riss, der mein Herz durchzieht und direkt durch die verkalkte linke Herzklappe führt.

Aber der Mann, der nun auf der Schwelle steht, ist gar nicht Thomas Sylvester Marshall, und er ist auch nicht wütend oder sonst etwas.

»Ox?«, rufe ich erstaunt aus. »Was um alles in der Welt machst du denn hier?«

Mein Bruder kommt mit großen Schritten auf mich zu, fasst mich an den Schultern und küsst mich auf beide Wangen. »Frohes neues Jahr, Schwesterherz! Sieh dich nur an! Du bist keine Minute älter geworden.«

»Ach, hör doch auf damit.« Ich schiebe ihn zurück. »Du hast mir vielleicht einen Schreck eingejagt!«

Er tritt bereitwillig einen Schritt zurück. Sein Blick gleitet über die Wände, dann stößt er einen kurzen Pfiff aus. »Sylvo meinte, ich würde dich vielleicht hier finden.«

»Ach?«

»Ich hab ihn für verrückt erklärt. Was machst du hier, Winterschlaf?«

Gut möglich, dass es an der Zeit ist, ein Gespräch mit meinem Mann zu führen.

»So was in der Art.«

»Gibt es hier eine Lampe oder irgendetwas? Hier sieht man ja die Hand vor Augen nicht. Herrgott, ist das kalt!«

Ich drehe mich zu dem einzigen Möbelstück um, das abgesehen vom Bett im Zimmer steht: eine abgenutzte Kommode aus Kiefernholz, eingezwängt zwischen Fenster und einem diagonalen Dachbalken. Das Streichholzheftchen liegt neben dem Fuß der Paraffinlampe. »Sagtest du nicht eben, ich sei keine Minute gealtert?«

»Was meinst du?«

»Nun, wie kannst du das behaupten, wenn du doch nichts siehst?« Ich zünde die Lampe an und setze den Schirm wieder auf. Der Raum wird langsam hell, der Lichtschein vertreibt in konzentrischen Kreisen die froststarre anbrechende Morgendämmerung. Der Geruch nach verbrennendem Lampenöl schwängert die Luft, was in mir ein sehnsüchtiges Verlangen nach der Nacktheit des Jungen auslöst, nach seinen festen Muskeln unter meinen Händen, beschienen von der Paraffinlampe.

»Also gut, Theresa. Nun mal raus mit der Sprache: Wie geht es dir, und was zum Teufel machst du in dieser alten Bruchbude? Bist du womöglich übergeschnappt?« Die Stirn gerunzelt, sieht er sich um. »Jetzt sag bloß nicht, du bist mit einem Verehrer hier?«

»Natürlich nicht.«

»Tja, das dachte ich auch nicht. Der alte Sylvo würde das bestimmt nicht dulden.«

Er ist so ein Dummkopf, mein Bruder. Ein aalglatter, gutaussehender, unverheirateter Dummkopf.

»Selbstverständlich würde er das nicht dulden. Ich halte hier lediglich Winterschlaf, wie du es so treffend ausdrückst. Begegne dem opulenten Jahreswechsel mit ein wenig Schlichtheit.«

»Schlichtheit – das trifft es.« Er wirft einen weiteren Blick durch den Raum, fröstelt und vergräbt sich tiefer in seinem Mantel. »Hast du schon mal daran gedacht, den alten Ofen da drüben anzuzünden?«

»Er ist angezündet.« Ich stoße mich von der Kommode ab, an die ich mich haltsuchend gelehnt habe, und gehe hinüber zu dem uralten gusseisernen Ofen in der hintersten Ecke des Zimmers, ein Relikt des lang verstorbenen Kutschers. Ein paar kleine Kohlebrocken liegen noch in der Schütte, und ich hebe den Ofendeckel und werfe sie hinein. »Ich hab bloß vergessen, mehr Kohle mitzubringen, das ist alles.«

Ox erwidert nichts darauf, und ich reibe meine Hände in der aufsteigenden Hitzeblase, bis mir sein Schweigen auf die Nerven geht. »Also, worum geht es eigentlich?«, frage ich ihn und drehe mich zu ihm um.

»Um dich«, antwortet er. »Du führst dich schon seit einer ganzen Weile seltsam auf. Ich bekomme dich nicht mehr oft zu Gesicht, und wenn doch, dann bist du nicht du selbst. Und nun bist du hier und frierst dich zu Tode in dieser baufälligen Hütte mitten in der Wildnis …«

»Das stimmt doch gar nicht. Ich wollte bloß ein bisschen Ruhe und Frieden.«

»Du kannst Ruhe und Frieden haben und eine Zentralheizung. Wie kommst du eigentlich an etwas zu essen?«

»Ich habe mir einen kleinen Vorrat angelegt.«

Er schüttelt den Kopf. »Schwesterherz, Schwesterherz. Lass uns in die Stadt fahren und frühstücken. Gebratenen Speck, Eier und heißen Kaffee.«

»Nein, ich möchte lieber hierbleiben, vielen Dank. Ich bin nicht hungrig.«

»Aber ich muss dir etwas erzählen, und das möchte ich nicht auf nüchternen Magen tun.«

»Deinen oder meinen?«

Er verzieht den Mund zu einem wölfischen eierschalfarbenen Grinsen. »Weder noch.«

Wir sind nicht ganz unvorbereitet, der Junge und ich, auch wenn es so wirken mag. In dem Picknickkorb neben der Kommode befinden sich ein Dutzend Brötchen, eingewickelt in eine Stoffserviette, eine große Taschenflasche Gin, ein Laib Cheddar-Käse, eine halbe Apfel-Pie, zwei Orangen und ein Sandwich, belegt mit dicken Scheiben übrig gebliebenem Weihnachtsschinken. Alles, was man für ein Schäferstündchen auf dem Dachboden eines alten Kutschenhauses auf Long Island braucht, abgesehen von der Kohle, um sich warm zu halten, aber mal ehrlich: Wer braucht schon Kohle, wenn ein so prachtvoller, heißer Junge im Bett liegt? Ich bücke mich, schlage die Serviette zurück und werfe meinem Bruder ein Brötchen zu, das er geschickt auffängt. »Bon appetit. Achte bitte darauf, nicht meinen schönen, sauberen Fußboden vollzukrümeln.«

»Das schmeckt altbacken.«

In dem Korb liegt außerdem ein Schal, der herrlich dicke blutrote Schal aus indischem Kaschmir, den mir der Junge zu Weihnachten geschenkt hat. Ich nehme ihn heraus, lege ihn mir um die Schultern und kehre zum Ofen zurück, wobei ich den Dachbalken um einen knappen Zentimeter verfehle. »Erzähl mir, warum du hier bist, Ox. Ich hoffe, du hast einen guten Grund.«

Mein Bruder beißt ins Brötchen, kaut, schluckt und lächelt, und als er den Mund öffnet, um zu sprechen, sagt er das Letzte, was ich von Mr. Edmund Jay Ochsner, dem eingefleischtesten aller eingefleischten Junggesellen, erwartet hätte.

»Ich werde heiraten, Schwesterherz.«

»Tatsächlich?« Ich verschränke die Arme. »Wer ist die glückliche Zuchtstute?«

»Keine Stute, Schwesterherz. Ein Fohlen. Ein prächtiges, feingliedriges, reinrassiges Fohlen. Das hübscheste Mädchen, das du je gesehen hast. Ich bin verliebt, Theresa, und zwar zu einhundert Prozent, bis über beide Ohren.«

»Verstehe.« Plötzlich verspüre ich Lust auf Tabak, aber die Zigaretten liegen auf dem Boden neben dem Bett, nur ein, zwei Zentimeter von dem Sardinenbüchsen-Aschenbecher und dem Kopf des Jungen entfernt, und ich darf nicht riskieren, Ox’ Aufmerksamkeit dorthin zu lenken. »Kann ich davon ausgehen, dass das bedauernswerte Kind dasselbe für dich empfindet?«

»Das hoffe ich. Ich habe bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten, und er hat Ja gesagt.«

»Aber das Mädchen, Ox. Was sagt das Mädchen? Das ist mehr oder weniger die Krux an dem ganzen Unterfangen, nicht wahr?«

»Nun, ich habe sie noch nicht gefragt. Aber ich denke, sie ist einverstanden.« Er nimmt einen weiteren Bissen von dem Schinkenbrötchen. »Ich bin mir sicher, dass sie einverstanden ist. Sie ist so ein süßes Ding, Schwesterherz.«

»Und offensichtlich blind.«

»Komm schon, Schwesterherz …«

»Und reich. Sie muss reich sein.«

»Schwesterherz!«

Der Art und Weise, wie er die Lider senkt, entnehme ich, dass ich den Nagel direkt auf den Kopf getroffen habe. Liebevoll sage ich: »Sie muss reich sein, sonst würdest du das tun, was du immer tust, wenn du Schmetterlinge im Bauch hast.«

»Nein, nein, diesmal meine ich es ernst.«

»Selbstverständlich tust du das. Ich bin überzeugt, dass sie ein süßes, liebenswertes Mädchen ist und dass ihr Geld rein gar nichts damit zu tun hat.« Ich zögere. »Wie viel hat sie?«

»Das weiß ich nicht genau.« Er lehnt sich an die Wand auf der anderen Seite des Dachbalkens neben der Kommode.

»O doch, das weißt du. Und zwar bis auf den letzten Cent, darauf wette ich.«

Die Kohlen fangen an zu glühen, der Ofen wird heiß, wenn auch nicht so sehr, dass ich mit meinen eisigen Knochen den Wunsch verspüre, zur Seite zu treten. Ox betrachtet jetzt den Fußboden, die Arme verschränkt, den Ausdruck im Gesicht, den er schon als Kind zur Schau getragen hat, wenn er bei einer Missetat erwischt wurde. Seine hängenden Schultern sind gleichbedeutend mit einem Geständnis. »Ihr Vater hat ein Patent auf irgendwas – etwas, das die Herstellung industrieller … industrieller … ach, ich weiß nicht, was beschleunigt.« Er verdreht die Augen.

»Zerbrich dir nicht den Kopf. Ich hab schon verstanden. Von wie viel reden wir? Tausenden?«

Er sieht mich an, seine Augen funkeln. »Millionen.«

»Wie bitte?«

»Er vergibt die Lizenz für die Nutzung des Patents, er bewilligt die Ausführung, und allein das bringt ihm anderthalb Millionen pro Jahr, plus minus hunderttausend …«

Schockiert halte ich mich am Dachbalken fest.

»… reiner Profit, dabei muss er das Dingsbums nicht mal selbst bauen. Er wird ausschließlich für den Entwurf bezahlt. Den patentierten Entwurf.« Er spricht das Wort »patentiert« mit triumphierender Begeisterung aus, als würde er »vergoldet« sagen.

»Schon gut, Ox, mein Herzallerliebster. Ich weiß durchaus, was ein Patent ist.« Ich habe mich so fest an den Dachbalken geklammert, dass mir der Schal von den Schultern gerutscht ist. Um Fassung ringend, ziehe ich ihn wieder hoch und kuschele mich in den weichen Stoff, während sich diese exorbitanten Zahlen in Glasmurmeln verwandeln und schimmernd über die Oberfläche meines Verstandes rollen. Wie ist es möglich, dass ein Mann ein einziges Objekt erfindet und sich damit über den angehäuften Reichtum von niemand Geringerem als Mr. Thomas Sylvester Marshall aus der Fifth Avenue hinauskatapultiert – dessen Vater einst die gesamte Unionsarmee mit Dosenschinken belieferte –, und das auch noch mit einer unglaublich lässigen, nahezu fabelhaften Leichtigkeit? Ein Reichtum, bei dem mir im zarten Alter von siebzehn Jahren ganz schwindelig wurde. Das Unternehmen war in den 1870er Jahren natürlich schon verkauft – Dosenschinken war nicht vereinbar mit den gesellschaftlichen Bestrebungen der äußerst ambitionierten Mrs. Thomas Sylvester Marshall, meiner Schwiegermutter – und der Erlös so investiert worden, dass rund zweihunderttausend Dollar – plus minus zehntausend – nach wie vor Jahr für Jahr in die Taschen der Marshalls flossen, genug, um uns alle in Samt und Seide und Langeweile zu hüllen. Aber zweihunderttausend Dollar sind nicht eine Million fünfhunderttausend. Ein Patent – nun das ist eine völlig andere Art von Kapital. Ein Patent verweist auf Aktivität, darauf, dass man tatsächlich etwas verdient hat.

Ich nehme die weichen Fransen des Schals in die Hand und reibe sie zwischen Daumen und Zeigefinger, so ähnlich, wie der Junge mein Haar liebkost. »Ach du lieber Himmel! Dann ist dir ja ein echter Fang ins Netz gegangen. Hübsch und lieb und noch dazu stinkreich. Muss sie sich das viele schöne Geld mit irgendwem teilen?«

»Mit ihrer älteren Schwester. Virginia. Sie ist bereits verheiratet.«

»Verstehe. Und wie alt ist dein kleiner Liebling?«

Er zögert. »Neunzehn.«

»Ach, Ox, sie ist ja noch ein Mädchen!«

»Sie ist recht alt mit neunzehn«, hält er dagegen. »Du warst achtzehn, als du geheiratet hast.«

»Stimmt.«

»Sylvo war damals sechsunddreißig, oder?«

»Stimmt ebenfalls.«

»Na bitte!« Er nickt und zieht eine Schachtel Zigaretten aus der Manteltasche. »Lust, eine zu rauchen?«

»Gern.«

Ich nehme die Zigarette dankbar an und erlaube ihm, sie für mich anzustecken. Er zündet seine mit demselben Streichholz an, dann schüttelt er die Flamme aus, gerade als sie die Stelle zwischen Zeigefinger und Daumen erreicht. Wie ich schließt er die Augen, als der Rauch seine Lunge füllt, und ich werde an das erste Mal erinnert, als wir zusammen geraucht haben, nach der Bon-voyage-Party (wenn man sie denn so nennen kann), die Sylvo und ich für Tommy gegeben haben. Du siehst so aus, als könntest du eine Zigarette gebrauchen, sagte er, als er mich allein draußen auf der Terrasse fand, wo ich in die dunkle Wildnis des Central Parks blickte, und ich stimmte ihm zu. Rauchend standen wir um drei Uhr morgens zusammen, ohne ein Wort zu sagen, bis ich meine Kippe über den Rand der Terrasse auf die Fifth Avenue warf und mich ihm zuwandte. Das ist unser kleines Geheimnis, Ox, warnte ich ihn, und Gott sei Dank hat dieser Idiot das Geheimnis bis heute bewahrt.

»Es geht nicht nur um den Zaster«, behauptet er jetzt. »Ich hab mich schon vorher in sie verliebt, bevor ich davon erfahren habe.«

Für einen Moment denke ich an das außergewöhnliche Talent meines Bruders, sich selbst etwas vorzumachen. »Zweifellos«, sage ich.

»Warte, bis du sie kennenlernst, Schwesterherz.«

»Oh, ich kann es kaum erwarten. Wann machst du ihr einen Heiratsantrag? Ich muss dringend einen Blick in meinen Kalender werfen, damit ich eine kleine Verlobungsparty für euch Turteltäubchen organisieren kann.«

»Aber Schwesterherz, genau deshalb bin ich gekommen. Erinnerst du dich nicht?«

»Woran erinnere ich mich nicht?«

Er hält nach einem Aschenbecher Ausschau, und schließlich fällt sein Blick auf die kleine, längliche Dose auf dem Fußboden. Ich sehe zu, wie er mit selbstsicherem Schritt ans Bett tritt und sich nach der Dose bückt. Er ist nicht mehr der agile junge Sportler, der er in früheren Jahren war – alles fordert seinen Tribut, und Ox hat sich wahrlich nichts entgehen lassen –, aber er ist noch immer beweglich genug mit seinem dicken Chesterfield-Mantel. Als er den provisorischen Aschenbecher aufhebt, fängt sich das Licht der Paraffinlampe in seinem glänzenden blonden Haar.

»Sieh mal einer an.« Seine Stimme klingt, als habe er soeben eine zweite Sphinx zwischen den Bodendielen entdeckt. »Hal-lo, Schwesterherz. Hat da jemand ein wenig über die Stränge geschlagen?«

Ich unterdrücke ein Hüsteln. »Was meinst du?«

Ox richtet sich auf und hält die Sardinenbüchse in meine Richtung. »Acht Zigaretten? Das ist mir ja ein Winterschlaf!«

»Gib her.« Ich reiße ihm die Sardinendose aus der Hand und stelle sie auf die Kommode unter die Lampe. »Zurück zu dir. Du warst dabei stehen geblieben, dass du dem jungen Fohlen einen Antrag machen willst.«

Ox folgt mir zum Aschenbecher und lehnt sich gegen die Kante der Kommode. Er steht jetzt so dicht neben mir, dass ich die dunklen Ringe unter seinen Augen und die spröde Haut seiner Lippen sehen kann, die zu dem vertrauten selbstbewussten Lächeln verzogen sind. Unter dem Chesterfield-Mantel trägt er Abendgarderobe, was mich nicht wirklich überrascht. Auch nicht, dass er übel nach schwarzgebranntem Schnaps riecht.

»Ich bin nicht derjenige, der ihr einen Antrag macht«, sagt er. »Erinnerst du dich nicht?«

»Ich erinnere mich an gar nichts. Ich hoffe, du denkst jetzt nicht, dass ich sie für dich fragen werde. Ich hab schon all deine College-Arbeiten verfasst, ist das etwa nicht genug?«

»Der Ring, Schwesterherz. Daran musst du dich doch erinnern!«

»Was für ein Ring? Ich habe keine Ahnung, was du – oh!« Die Zigarette auf dem Weg zu meinem Mund verharrt in der Luft. »Mamas Ring? Der Rosenring?«

Ox tätschelt meine Hand, die auf der Kommode ruht. »Korrekt. Die alte Familientradition. Ich hab ihn vom Juwelier auf Hochglanz bringen lassen, und jetzt ist alles, was noch zu tun bleibt, alles, was ich noch brauche, der Grund, warum ich zu dir gekommen bin, Schwesterherz …«

»Ach, um Himmels willen, Ox. Das kannst du doch nicht ernst meinen.«

»Warum nicht?«

»Warum nicht? Weil das Ganze eine Farce ist. Eine mittelalterliche Farce. Wer schickt denn heutzutage schon noch einen Vertreter, der an seiner Stelle den Antrag macht? Das Rittertum ist mit dem Tag des Waffenstillstands ausgestorben, wusstest du das nicht? Seit das Lewis-Maschinengewehr, Chlorgas und Picasso Einzug gehalten haben, existiert es nicht länger. In dieser schillernden modernen Welt ist kein Platz mehr für Ritter.«

»Es ist keine Farce, Schwesterherz. Es ist eine schöne Familientradition. Ein Bräutigamführer, ein Kavalier, überreicht den prachtvollen Familienring der Dame seiner Wahl, die Dame wird eines Tages die nächste Mrs. Ochsner werden, Herrscherin über ganz New York …«

»Mein Lieber, die Ochsners haben seit Jahren über nichts und niemanden geherrscht, nicht seit Mamie Fish von Lina Astor abgelöst wurde. Und jetzt herrscht nichts als Anarchie. Schauspielerinnen, Künstler und Schriftsteller, Gott stehe uns bei. Die gegenwärtige Mrs. Ochsner führt ein verfallendes Haus in der Thirty-Fourth Street und macht mit nichts anderem von sich reden.«

»Das stimmt nicht, Theresa. Mama hat eine Ahnentafel, eine Geschichte, und das ist weit mehr als man von einem dahergelaufenen Groschen-Romancier behaupten kann.« Er macht eine Kunstpause und schnippt die Asche in die Sardinenbüchse. »Wie dem auch sei, ich brauche einen Bräutigamführer. Einen Kavalier, der ihr den Ring überbringt.«

Ich lache. »Ach, Ox. Mach dich doch nicht lächerlich!«

»Ich meine es ernst, Schwesterherz. Wie wäre es mit einem von deinen Jungs?«

»Ganz bestimmt nicht. Sie haben nicht einen einzigen ritterlichen Knochen im Leib. Solange sie keinen Fußball überbringen dürfen, werden sie kein Interesse haben.« Ich drücke die Zigarette aus.

»Und einer von ihren Freunden?«

»Was ist denn mit deinen Freunden?«

»Meine Freunde sind alle verheiratet und ansonsten lüsterne alte Junggesellen wie ich.«

»Du weißt aber schon, was du da tust, nicht wahr, Ox? Du scherst dich keinen Deut um die Familientradition, du willst bloß jemanden haben, der die schmutzige Arbeit für dich erledigt. Du willst dem Mädchen nicht selbst gegenübertreten und es bitten, dass es dich heiratet. Denn was, wenn sie das einzig Vernünftige tut und Nein sagt?«

Er wirft seine Zigarette in den provisorischen Aschenbecher und dreht sich zum Bett um. »Sie wird nicht Nein sagen.«

»Du klingst, als wärst du dir da ziemlich sicher.«

»Sie wird nicht Nein sagen, da bin ich mir sicher. Ihr Vater steht hinter mir, und sie – nun ja, sie ist ein braves Mädchen, Schwesterherz.«

»Sie tut, was man ihr sagt?«

»Genau. Außerdem mag sie mich, und zwar wirklich. Ich habe sämtliche Register für sie gezogen, Schwesterherz, habe sie nach allen Regeln der Kunst um den Finger gewickelt. Sie mag Pferde, also bin ich mit ihr reiten gegangen. Sie mag Bücher, also … nun ja …«

»Also hast du so getan, als würdest du gern lesen?«

»Du weißt, was ich meine. Ich habe sie geblendet! Ich hab sie mitgenommen in unsere Bibliothek in der Thirty-Fourth Street, Papas alte Bibliothek, und du hättest einmal das Verlangen in ihrem Gesicht sehen sollen.«

»Dann heiratet sie dich also wegen deiner prall gefüllten Bibliothek?«

Er dreht sich wieder um, lächelnd, und macht eine vielsagende Geste, die seinen gesamten Körper einbezieht, von der Brillantine-Frisur bis hinunter zu den Ballenzehen. »Und natürlich wegen meiner unwiderstehlichen Figur.«

Wie ich schon sagte. Wahnhaft.

Ich greife in seine Manteltasche und ziehe das Zigarettenetui heraus. Es ist nur noch eine einzige drin. Ich drehe das Etui in den Händen und konsultiere mein Gewissen. »Natürlich, Ox. Du siehst noch exakt genauso gut aus wie mit zweiundzwanzig. Um ehrlich zu sein, kann ich kaum einen Unterschied erkennen.«

Ox zieht die Zigarette aus dem Etui und reicht sie mir. »Nur zu, nimm du sie. Und im Gegenzug dafür findest du jemanden für mich, der ihr den Ring überbringt, einverstanden?«

»Vielleicht.«

»Geliebtes Schwesterherz, auf dich kann man sich immer verlassen, wenn man in der Klemme steckt.«

»Aber sicher doch.« Ich zünde ein Streichholz an und halte es an die Spitze der Zigarette. Mein Bruder beobachtet mich sorgenvoll. Es ist jetzt ein wenig heller, die Sonne geht auf, das Tageslicht bringt die Falten um seine Augen noch deutlicher zum Vorschein. Die erschlaffte Haut ist nicht länger zu übersehen, und ich frage mich, ob auch ich so aussehe. Wirkt mein Gesicht trotz der Cremes und Salben, der Zaubertränke und Elixiere, die ich täglich im Übermaß benutze, genauso mitgenommen wie seins?

Als wir ein, zwei Jahre verheiratet waren und Tommy noch ein Baby war, beauftragte mein Ehemann John Singer Sargent, ein Porträt von mir zu malen. Ein wunderbarer alter Schinken, ein Ganzkörperporträt in einem dicken Goldrahmen. Es hängt in der Mitte der Galerie in unserem Apartment in der Fifth Avenue, an einem Ehrenplatz, illuminiert von zwei elektrifizierten Wandleuchtern, und blickt von oben auf einen ganz bestimmten Punkt in der marmornen Mitte des Foyers, genau dort, wo jeder Mensch von selbst stehen bleiben würde, um ihm Bewunderung zu zollen.

Weil – verzeihen Sie mir, aber ich möchte aufrichtig sein – das Geschöpf auf diesem Porträt eine Göttin ist. Sie ist schöner und selbstsicherer, als man sich nur vorstellen kann, und sie trägt ein Kleid aus einem hauchzarten blassrosa Stoff, der ihre schmale Taille umschmeichelt – mit achtzehn ein Kind zur Welt zu bringen hat seine Vorteile. Ein Diamant-Collier ist wie ein Lüster auf ihrem weißen Busen arrangiert. Ihr dunkles Haar türmt sich in weichen Locken auf ihrem Kopf; die Augenbrauen wölben sich selbstbewusst über ihren dunklen Mandelaugen. Das Lächeln, das ihre perfekt geschwungenen Lippen kräuselt, verströmt ein so überaus großes Maß an jugendlicher Selbstzufriedenheit, dass man ihr am liebsten eine Ohrfeige verpassen würde.

Nur zu, ich würde es Ihnen wirklich nicht verdenken.

Auf der anderen Seite: Wer kann ihr diese Selbstzufriedenheit zum Vorwurf machen? Mein Gott, die Welt liegt ihr zu Füßen! Im Alter von zwanzig Jahren blickt sie auf einen brillanten Erfolg in der einzigen großen Karriere, die ihr offensteht: Sie ist mit einem der wohlhabendsten und begehrtesten Junggesellen von New York verheiratet; hat ihm bereits einen Sohn und Erben geschenkt. Sie ist reich und schön und klug. Die Zeitungen vergöttern sie. Genau genommen hat nicht ein einziger wirklicher Rückschlag den aufsteigenden Pfad ihres Lebens blockiert.

Und auf dem Gesicht jener jungen Frau dort zeigt sich nicht der leiseste Zweifel daran, dass sie sich für immer auf diesem aufsteigenden Pfad befinden wird. Eine Welt, in der sie für ihre Schönheit kämpfen und diese gegen den langsamen Raubbau der Zeit verteidigen muss, existiert für sie nicht.

Das arme Ding weiß nicht, dass es in weniger als einem Jahr herausfinden wird, dass sich ihr Ehemann eine Geliebte hält und dass ihm diese Geliebte ebenfalls ein Kind geboren hat – eine winzige, perfekte Tochter –, nur zwei Monate nach der Geburt von Thomas Sylvester Marshalls erstgeborenem Sohn. Zu der Zeit ist das Motiv dieses Gemäldes bereits seit einigen Monaten erneut schwanger, und sie wird an einem Scheideweg stehen und die bedeutendste Entscheidung ihres Lebens treffen, eine Entscheidung, von der das Glück ihrer Zukunft abhängt.

Hat sie die richtige getroffen?

Nun, ich bin hier, oder etwa nicht? Hier stehe ich auf dem schäbigen Dachboden eines alten Kutschenhauses, so reich wie eh und je, Mutter dreier geschätzter Söhne, Ehefrau eines großzügigen, allseits respektierten Ehemanns, leidenschaftlich verliebt in einen brillanten jungen Mann – einen Mann, auf den ich keinerlei irdisches Recht habe, einen Mann, der meine Leidenschaft mit körperlichem Feuereifer erwidert – und der sich in ebendiesem Moment mir zuliebe in den Staub unter dem Bett drückt.

Was könnte eine Frau in meinem Alter mehr erwarten?

Ich habe die Zigarette zur Hälfte geraucht, als ich meinem Bruder die Frage stelle, die seine Augenbrauen in die Höhe schnellen lässt. Ich wedele den kräuselnd nach oben steigenden Rauch beiseite, der an diesem strahlenden Morgen des zweiten Januar in dem durch die alten Glasfenster hereinfallenden Sonnenlicht an einen zölestischen Geist erinnert.

»Und kennst du zufällig auch den Namen der jungen Dame?«, frage ich.

»Sophie«, antwortet mein Bruder eifrig. »Sophie Fortescue. Sie ist ein gutes Mädchen, Theresa. Mucksmäuschenstill. Das süßeste Mädchen der Welt. Würde keiner Fliege etwas zuleide tun.«

Ich reiche ihm die Zigarette – er sieht aus, als würde er dringender einen Zug benötigen als ich –, und er inhaliert den Rauch wie Sauerstoff. Ich schaue an seinem Ellbogen vorbei auf das Bett in der Ecke und die etwa ein Dutzend stockfleckigen Pferdedecken, die der Junge gestern Nacht zusammengetragen hat, um mich damit zuzudecken. Ich beanstandete den Geruch, und er gab zurück, dass ein bisschen Moder besser sei als zu erfrieren und irgendwie würde ich mich schon daran gewöhnen. Menschen können sich an alles gewöhnen, behauptete er. So gelingt es uns zu überleben.

Und er hatte Recht. Alles, woran ich mich erinnere, wenn ich an die gestrige Nacht zurückdenke, ist – abgesehen von dem Schrecken meines Traums – der Duft der warmen Haut des Jungen.

Ich richte meinen Blick wieder auf das besorgt verzogene, teigige Gesicht meines Bruders. »In dem Fall kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, was sie in dir sieht, Ox, wenngleich ich mir offen gesagt nun wiederum sehr gut vorstellen kann, warum dich im Angesicht all dieser Tugend der Mut verlassen hat.«

Er protestiert, und ich hebe die Hand.

»Nichtsdestotrotz und zu deinem großen und unverdienten Glück«, fahre ich fort, »weiß ich zufällig ganz genau, welcher junge Mann für diesen Auftrag in Frage kommt.«

Kapitel 2

Eine Närrin und ihr Vermögen werden schnell gefreit.

HELEN ROWLAND

SOPHIE

New York City, neun Tage später

WIE ALLE BRAVEN MÄDCHEN hasst Sophie es, ihren Vater zu enttäuschen, daher ergreift sie nahezu heroische Maßnahmen, um sicherzugehen, dass er nicht mitbekommt, wenn sie sich am Abend mit Julie Schuyler aus dem Haus schleicht, um eine Jazzkneipe in Harlem zu besuchen.

Die Schwierigkeit besteht darin, sich unbemerkt wieder hineinzuschleichen.

»Ich glaube, er klemmt«, wispert sie und rüttelt am Türknauf des Dienstboteneingangs. Ihre Worte formen weiße Wölkchen in der eisigen Luft.

Hinter ihrer Schulter flucht Julie: »Du bist so ein Schwächling. Lass mich mal.«

Sophie tritt zurück und lässt Julie am Knauf rütteln. Der Dienstboteneingang befindet sich unterhalb des Straßenniveaus im Souterrain in einem diskreten kleinen Schacht, von dem aus man über sechs ausgetretene Steinstufen die Haustür erreichen kann. Vor zwei Jahren führte die Dienstbotentür zur Wohnung der Souterrain-Mieterin – eine Frau mittleren Alters, die in aller Stille die unteren Räumlichkeiten nutzte und jeden Monat zusammen mit der Miete ein Körbchen Sodabrot (sie war Irin) hinaufschickte. Doch dann war sie ausgezogen – aus heiterem Himmel und genauso still, wie sie gelebt hatte, ein letztes Körbchen Sodabrot zum Abschied auf dem Tisch im vorderen Zimmer –, und sie hatten die Tür zur Treppe aufgesperrt und das Souterrain-Apartment in eine Küche mit Spülküche und ein Dienstmädchenzimmer umgewandelt, und nun war die Tür zum Schacht vor dem Haus der Dienstboteneingang.

Wie Sie sehen, hat der Wohlstand bei der Familie Fortescue Einzug gehalten, und Wohlstand verlangt, dass man ein Haus ganz für sich allein hat. Ein Haus, das Sophie nur selten verlassen darf.

»Verflixt«, flucht Julie. »Ich dachte, deine Schwester wollte die Tür aufsperren, bevor sie zu Bett geht.«

»Das hat sie versprochen«, flüstert Sophie. »Und sie hält immer ihr Wort.«

»Tja, jetzt ist sie aber abgeschlossen.« Julie tritt einen Schritt zurück und schaut hinauf zu den Fenstern in der braunen Fassade: dieselbe Farbe wie die einer unbefestigten Straße, die sich nach einer Woche Dauerregen in Schlamm verwandelt hat. Der Absatz ihres Schuhs trifft knirschend auf ein kleines Häufchen überfrorenen Schneematsch. »Welches Fenster gehört zu ihrem Zimmer?«

»Wir können doch da nicht raufklettern!«

»Natürlich nicht, Süße. Was für ein Einfall!« Julie tastet ihre Taschen ab und dreht sich zur Treppe um. »Hast du einen guten Wurfarm?«

Sophie folgt ihr die Stufen zum Gehsteig hinauf. Das Taxi steht mit laufendem Motor an der Bordsteinkante und wartet darauf, Julie nach Hause in die Sixty-Ninth Street zu bringen, siebenundzwanzig Blocks und eine ganze Welt entfernt. Zwischen die Gebäude und durch die langen Rinnen der Seitenstraßen fallen bereits die ersten Sonnenstrahlen, die die bräunlichen Sandsteingebäude rosa und die Fenster golden färben. Neben ihr öffnet Julie eine kleine, mit Perlen bestickte Handtasche und durchwühlt den Inhalt.

»Nicht besonders gut«, gibt Sophie zu, »aber ich werd’s probieren. Hast du was Passendes gefunden?«

Julie reicht ihr einen Lippenstift. »Sei vorsichtig. Den mag ich am liebsten.«

Sophie ist übernächtigt, ihre Ohren klingeln, es fällt ihr schwer, das Gleichgewicht zu halten. Lästigerweise verschwimmen die Fenster immer genau dann, wenn sie darauf zielt.

Das Taxi hupt.

»Lass dir Zeit«, sagt Julie.

»Sag dem Fahrer, er soll mit der Huperei aufhören, nicht dass er noch Vater aufweckt.« Sophie kneift ein Auge zu, was zu helfen scheint. Virginias Zimmer liegt im zweiten Stock und geht auf die Straße hinaus, gut siebeneinhalb Meter über Sophies eng anliegendem Hut. Es hat zwei Fenster, vor beide sind dicke grüne Damastvorhänge gezogen, um ihrem Status als verheiratete Frau Achtung zu zollen. Sophie wählt das Fenster in der Nähe des Betts und wartet, bis die Scheiben aufhören zu hüpfen, dann nimmt sie den Arm zurück und wirft.

Der Lippenstift erreicht gerade mal die Unterkante des Wohnzimmerfensters, dann verharrt er für einen winzigen Moment in der Luft, bevor er wieder herabfällt und mit einem metallischen Klackern auf dem Pflaster aufschlägt.

Julie bückt sich und hebt ihn auf. »Versuch’s gleich noch mal. Und mit etwas mehr Schmackes, wenn ich bitten darf. Mir wird hier draußen nicht gerade wärmer.«

Sophie wirft erneut, mit mehr Schwung, und diesmal erreicht der Lippenstift fast den zweiten Stock.

Aber eben nur fast.

»Du wirfst wie ein kleines Mädchen«, stellt Julie fest.

»Kannst du’s etwa besser?«

»Nein.« Julie dreht sich um und klopft ans Taxifenster. »Ty? Steig doch bitte mal kurz aus. Wir brauchen dich.«

Die Tür geht auf, und Julies Verabredung stemmt sich leise fluchend aus dem Wagen. Ty trägt einen dunklen Mantel, einen grauen Schal und eine dicke Wollmütze, und obwohl seine Augen klar sind, sind die Tränensäcke darunter geschwollen und blutunterlaufen. Er will wissen, was zum Teufel sie dort machen.

»Wir versuchen, das Fenster da oben zu treffen«, sagt Julie, deutet auf die entsprechende Scheibe und reicht ihm den Lippenstift.

»Wessen Fenster?«

»Das Fenster meiner Schwester. Das dritte«, antwortet Sophie. Sie spricht leise, denn Ty ist ein unangenehmer Mann, der nicht viel sagt, außerdem ist er knickrig, was das Trinkgeld anbelangt, und mag keinen Jazz. Das äußert er zwar nicht laut, aber Sophie merkt es an den schmal gezogenen Augen und dem verächtlich angespannten Mund. Mit jedem Drink wird deutlicher, was er denkt: Negermusik. Sie hat diese Bezeichnung irgendwo aufgeschnappt, wahrscheinlich auf dem Gehsteig, und sie klingt hässlich. Auf den New Yorker Fußwegen hört man viele Dinge, und nicht immer weiß Sophie, was sie bedeuten.

Ty nimmt das kleine Metallröhrchen in die Hand, die in einem schwarzen Lederhandschuh steckt und außergewöhnlich groß aussieht, und schließt die Finger darum. Sophie tritt zurück. Julies Begleiter nimmt den rechten Arm nach hinten, dann lässt er ihn nach vorn schnellen. Der Lippenstift schießt wie eine Pistolenkugel durch die Luft und zerschmettert die Scheibe in der unteren Hälfte des Schieberahmens von Virginias Fenster. Einen Augenblick später regnet es kleine Glasscherben aufs Pflaster.

»Ach du liebe Güte«, sagt Julie.

Ty stellt den Fuß aufs Trittbrett des Taxis. »Du hast gesagt, ich soll die Scheibe treffen. Ich habe die Scheibe getroffen. Können wir jetzt bitte weiterfahren, bevor meine Frau im Hotel anruft, um mir einen guten Morgen zu wünschen?«

Sophie blickt nervös an der Fassade empor und ringt ihre mit Fäustlingen behandschuhten Hände. Ihr Handtäschchen baumelt an ihrem Ellbogen. Die Vorhänge teilen sich, ein lautes Nach-Luft-Schnappen ist bis auf den Gehsteig unten zu hören. »Sophie? Bist du das?«

»Ja!«, flüstert Sophie so laut sie kann. In der frostigen Morgenluft ist ihre Stimme gut zu hören. »Die Tür ist verschlossen.«

»Es ist sechs Uhr morgens!«

»Tatsächlich?«

»Du hast mein Fenster kaputt gemacht!«

»Das war ich nicht. Das war Ty.«

»Wer ist Ty?«

Ty ist bereits im Taxi verschwunden und hat mit einem dumpfen Knall die Tür hinter sich zugezogen. »Kommst du?«, knurrt er durch das einen Spaltbreit geöffnete Fenster in Julies Richtung.

»Ja, ja«, murrt Julie. »Schaffst du es jetzt allein, Süße?«

»Ich denke schon. Virginia?«

Ihre Schwester stößt einen so gewaltigen Seufzer aus, dass er wie ein tiefes Stöhnen an Sophies Ohr dringt. »Ich komme«, sagt sie, dann verschwindet ihr Kopf hinter den Vorhängen. Im selben Moment fährt das Taxi vom Bordstein weg.

»Wer war der schreckliche Mann, der mein Fenster zerbrochen hat?«, fragt Virginia und stellt ein Glas warme Milch auf die Marmorplatte des Küchentischs, an dem Sophie sitzt. Oder vielmehr: auf dem sie den Oberkörper ausgestreckt hat. Es ist einer dieser ausgedehnten Momente, wenn man nach einer schandhaften Nacht in der Stadt bei Tagesanbruch heimkommt – der Kopf schmerzt, Arm- und Beinknochen haben sich in Sand verwandelt.

Der Raum ist winterlich kühl – das Mädchen ist gerade erst aufgestanden, um Feuer im Ofen zu machen –, weshalb Sophie lediglich den neuen Nerzkragen abnimmt, den Vater ihr zu Weihnachten geschenkt hat, und ihren langen schwarzen Mantel zugeknöpft lässt. Ihre Handschuhe liegen unordentlich übereinander auf dem Tisch neben ihrer blutroten Handtasche, die ebenfalls neu ist, und über die offenbar jemand etwas verschüttet hat. Sophie kann sich nicht vorstellen, was. Der daraus resultierende lila Fleck mäandert über die Seide und erinnert ein wenig an Italien und die dazugehörigen Inseln – der Tupfen dort auf der Seite könnte Capri sein –, und Sophie geht stark davon aus, dass die kleine Handtasche ruiniert ist. Aber ist das nicht im Grunde egal? Genauso schnurzpiepegal wie das zerbrochene Fenster.

»Keine Ahnung. Er ist ein Baseball-Spieler, den Julie kennt, und er war über Neujahr in der Stadt.« Sophie trinkt die Milch in kleinen Schlucken und schließt die Augen, und auf einmal trinkt sie ihre Milch nicht mehr in der neu eingerichteten Küche, während sich eine Fremde an dem glänzenden Wedgwood-Herd zu schaffen macht, sondern an dem gemütlichen Holztisch der provisorischen Küche oben – jetzt ein anständiges Esszimmer –, liest und isst frisch gebackene Kekse, während vom Salon her die hohl klingenden Geräusche des Grammofons zu ihr herüberwehen. Es läuft eine Melodie aus HMS Petticoat, Vaters Lieblingsstück.

»Nun, er war nicht sehr nett.«

Sophie öffnet die Augen. Virginia lässt sich auf den Stuhl neben ihrer Schwester fallen und prostet ihr zu, ebenfalls mit einem Glas Milch. Sie trägt einen smaragdfarbenen Seidenkimono über ihrem Negligé, und die Falten in ihrem Gesicht deuten darauf hin, dass sie in der Nacht nicht gerade viel Schlaf bekommen hat.

»Nein, das ist er auch nicht«, pflichtet Sophie ihr bei. »Julie sagt, er sei eine falsche Schlange.«

»Und warum geht sie dann mit ihm aus?«

Sophie schließt die Finger ums Glas. Nimmt einen kleinen Schluck. Jetzt ist sie wieder nüchtern – so beschwipst war sie allerdings gar nicht, Sophie trinkt nicht wirklich gern Cocktails –, und die Milch bildet einen angenehm dicken Film auf ihren malträtierten Magenwänden. »Ich glaube, es gefällt ihr. Die Gefahr, meine ich.«

»Sie sollte sich vorsehen.«

»Oh, er verlässt am Freitag die Stadt. Kehrt nach Georgia zurück zu seiner Frau und den Kindern.«