8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €
Eine Frau mit großen Träumen, ein Sommer voller Geheimnisse und eine Liebe, so verboten wie leidenschaftlich …
Cape Cod, Sommer 1966. Christina, genannt Tiny, hatte einmal große Träume: Sie wollte Tänzerin werden, und sie wollte sich verlieben. Nun ist sie verheiratet mit einem der begehrtesten Männer des Landes, ihr Leben scheint perfekt – doch warum verspürt Tiny dann den unbändigen Drang, dem schicken Sommerhaus ihrer angeheirateten Familie den Rücken zu kehren und aus allem auszubrechen? Als ihre unberechenbare Schwester Pepper in ihr Leben platzt, im Schlepptau den Mann, dem Tiny einst ihr Herz schenkte, und sie dann auch noch Erpresserbriefe mit kompromittierenden Fotos erhält, begreift Tiny nach und nach, dass ihr makelloses Leben unerwartete Gefahren birgt und sie all ihren Mut aufbringen muss, um ihr Glück endlich selbst in die Hand zu nehmen.
Die East-Coast-Reihe von Beatriz Williams bei Blanvalet:
1. Im Herzen des Sturms
2. Das geheime Leben der Violet Grant
3. Träume wie Sand und Meer
4. Die letzten Stunden des Sommers
5. Unser Traum von Freiheit
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 487
Buch
Cape Cod, Sommer 1966. Christina, von allen Tiny genannt, ist elegant und vor allem immer korrekt, von ihrer Familie dazu erzogen, an der Seite eines mächtigen Mannes zu sein. Ihr Ehemann Frank, gut aussehend, intelligent und wie sie aus reicher Familie, ist für eine politische Karriere prädestiniert. Er steckt mitten im Wahlkampf, um Ende des Jahres in den Senat einzuziehen. Doch hinter der Fassade ist längst nicht alles perfekt. Christina kommen wie schon kurz vor ihrer Hochzeit zwei Jahre zuvor Zweifel, ob das das richtige Leben für sie ist. Damals wollte sie ihre Verlobung lösen, um ihren eigenen Weg zu gehen, hatte einmal in ihrem Leben nicht das Richtige getan, sondern sich in einen anderen Mann verliebt.
Nun platzen ihre unberechenbare Schwester Pepper, und der Cousin ihres Mannes, Caspian Harrison, in ihr Leben – und sie erhält einen Umschlag mit einem kompromittierenden Foto …
Schon bald realisiert Tiny, dass ihre Zweifel berechtigt sind, die Familie ist so krank vor Ehrgeiz für Frank, dass sie zu beinahe allem bereit ist.
Autorin
Beatriz Williams besitzt Abschlüsse der amerikanischen Universitäten Stanford und Columbia. Während sie als Beraterin in London und New York arbeitete, versteckte sie ihre Schreibversuche zunächst auf ihrem Laptop. Heute schreibt sie in ihrem Haus an der Küste Connecticuts, wo sie mit ihrem Mann und ihren vier Kindern lebt.
Weitere Informationen unter: www.beatrizwilliams.com
Von Beatriz Williams bereits erschienen:
Im Herzen des Sturms; Das geheime Leben der Violet Grant
Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet und www.twitter.com/BlanvaletVerlag
BEATRIZ WILLIAMS
Träume wie
Sand und Meer
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Anja Hackländer
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
1. Auflage
Copyright der Originalausgabe
© 2015 by Beatriz Williams
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2016 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de
Umschlagmotiv: © Getty Images/Constance Bannister Corp
ED · Herstellung: kw
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-17670-9V001
www.blanvalet.de
Für all diejenigen, die versehrt aus dem Krieg zurückkehren,
und für die Menschen, die sie lieben.
Tiny, 1966
CAPE COD, MASSACHUSETTS
Das erste Foto erreicht mich an demselben Tag, als mein Mann zur Verleihung der Ehrenmedaille im Fernsehen erscheint. Begleitet wird das Bild von einer kurzen Notiz in Blockschrift. Inzwischen kenne ich die Gepflogenheiten der Politik – und der Familie meines Mannes – gut genug, um instinktiv zu ahnen, dass dies kein Zufall ist.
Der Umschlag hat keinen Absender (das war auch nicht zu erwarten, oder?), aber er wurde einen Tag zuvor in Boston abgestempelt und trägt zwei Fünfcentmarken mit dem Antlitz George Washingtons. Ein schlichter brauner Umschlag, wie er in jedem Büro verwendet wird. Ich wende ihn in den Fingern hin und her, während mein Herz panisch gegen meinen Brustkorb trommelt.
»Tiny, Liebes.« Die Großmutter meines Mannes ruft mich vom Wohnzimmer aus. »Willst du dir die Zeremonie nicht ansehen?«
Sie hat ein erstaunliches Talent, jede noch so beiläufige Frage wie eine gerichtliche Vorladung klingen zu lassen. Und wie eine gerichtliche Vorladung lässt sie sich nicht ignorieren. Ich fahre mit der flachen Hand über den Umschlag, einmal, zweimal – Hokuspokus Fidibus! –, als könnte ich so seinen Inhalt in Luft auflösen. Dann schiebe ich ihn in eines der weniger beachteten Fächer im Sekretär, wo die Haushälterin täglich die Post ablegt.
»Doch, natürlich«, rufe ich zurück.
Das Fernsehgerät wurde eigens für diesen besonderen Anlass angeschafft. Granny Hardcastle hält nicht viel von moderner Technik; selbst mein Mann, Franklin, muss sich auf den Dachboden zurückziehen, um ein Spiel der Red Sox im Radio zu hören. Rundfunkkiste nennt sie das Gerät abfällig, obgleich sie der musikalischen Untermalung von Sinatra und Glenn Miller keineswegs abgeneigt ist, wenn sie sich abends in ihrem geliebten Chintzsessel zurücklehnt, um sich ein Gläschen Cognac zu gönnen. Wenigstens übertöne es das Geräusch des Ozeans, behauptet Granny, was ich nicht ganz begreifen kann. Zum einen übertönt nichts und niemand den tosenden Ozean, der sich unablässig über den hauseigenen Strand wälzt, Welle für Welle, nur fünfzig Meter von den mit Holzschindeln verkleideten Wänden entfernt, ganz gleich wie laut Mr. Sinatras Jazztrompeten schmetterten.
Zum anderen, wer will das schon?
Ich gehe zum Getränkewagen, um mir ein Glas Limonade einzugießen. Dann füge ich einen Schuss Wodka hinzu, wenn auch nur einen kleinen. »Hat es schon angefangen?« Ich bemühe mich, ebenso kühl und gelassen zu klingen, wie ich hoffentlich aussehe. Und Wodka ist meiner Erfahrung nach ein bewährtes Kühlmittel.
»Noch nicht. Sie wollen mir gerade Clorox verkaufen.« Granny Hardcastle drückt ihre Zigarette in dem silbernen Aschenbecher an ihrer Seite aus und sinniert über ihren eigenen Sarkasmus. Sie raucht regelmäßig, doch nur in Gesellschaft von Frauen.
»Limonade?«
»Nein danke. Aber ich hätte gern noch eine Zigarette.«
Ich gehe zum Sofa und öffne die Schublade des Beistelltisches, wo Mrs. Hardcastle ihre Schachtel diskret aufbewahrt. Ich schüttele eine Zigarette heraus, reiche sie ihr und wende mich mit vorgetäuschtem Interesse für Bleichmittel zum Fernsehgerät, um das Zittern meiner Finger zu verbergen, während ich das Feuerzeug entfache. Derartige Details springen Granny Hardcastle sofort ins Auge.
»Setz dich, Liebes«, sagt sie, nachdem sie an ihrer Zigarette gezogen hat. »Du bist rastlos wie eine Katze.«
Na bitte. Was habe ich gesagt? Man muss sich nur vorstellen, den ganzen Sommer mit ihr zu verbringen. Da würde jeder einen Schuss Wodka in seine Limonade geben, das darf man mir glauben!
Die Terrassentüren fliegen auf. »Hat es schon angefangen?«, ruft eine der Cousinen, ich glaube Constance, gefolgt von den übrigen Frauen, allesamt sonnengebräunt, in Rosa und Grün gekleidet und in den Duft von Meer und Kokosnuss gehüllt.
»Noch nicht. Limonade?«
Ich gieße vorsorglich vier oder fünf Gläser ein, während sich die Frauen über den Raum verteilen. Die meisten sind, wie ich, zu Beginn des Sommers eingetroffen; Anhänger des alljährlichen Exodus von Frauen und Kindern aus den Bostoner Vororten. Die übrigen sind eigens zu dem Anlass hergeflogen. Natürlich sind die Männer, mit wenigen Ausnahmen, noch bei der Arbeit – immerhin ist heute erst Mittwoch –, aber sie werden sich morgen Abend dazugesellen, um ihren Kriegshelden mit einem Festessen in Empfang zu nehmen.
Ich fülle ein weiteres Glas Limonade für Franks vierjährige Nichte Nancy und setze mich in die verbliebene Lücke auf dem Sofa, die Fußgelenke brav übereinandergeschlagen, den Rock brav glatt gestrichen. Dank der angereicherten Limonade und dem beruhigenden Geruch von Nikotin und alten Polstern gelingt es mir, meine verkrampfte Nackenmuskulatur zu entspannen. Der stumme Schein der Mattscheibe flackert durch den Raum. Das Bleichmittel verschwindet von der Bildfläche und wird ersetzt durch die klobige schwarze Brille des außerordentlich ernst dreinblickenden Nachrichtensprechers Walter Cronkite.
»Tiny, Liebes, würdest du bitte den Ton einschalten?«
Gehorsam erhebe ich mich von meinem Platz und schreite diagonal über den Teppich. Das Fernsehgerät ist weder groß noch extravagant ausgestattet, wie man es aus gewissen Kreisen kennt. Die meisten Menschen unseres Schlags, wie auch Mrs. Hardcastle, investieren ihr Vermögen freigiebig in Dinge von fortdauerndem Wert – Schmuck, Immobilien, Möbel, die Erziehung der heranwachsenden Hardcastles – und vernachlässigen dafür andere Banalitäten. Wie etwa Fernsehgeräte. Oder Lebensmittel. Wendet man den Blick auf das Tablett zu unserer Linken, entdeckt man eine Auswahl von Ritz-Crackern mit Paprikacreme, Scheiblettenkäse und gummiartige Cocktailwürstchen aus dem Glas. Als ich auf dem Rückweg vom Fernseher daran vorbeikomme, muss ich unwillkürlich an unsere Hochzeitsreise in Südfrankreich denken und möchte am liebsten weinen.
»Du solltest etwas essen«, sagt Constance, als ich neben ihr Platz nehme. Sie selbst ist staksig wie ein junges Fohlen und geht offenbar davon aus, dass sich jede schlanke Frau zwangsläufig zu Tode hungert.
»Ich bin nicht hungrig. Außerdem habe ich ausgiebig gefrühstückt.«
»Schhh. Es ist so weit«, raunt Mrs. Hardcastle. Ihr Sessel steht direkt neben mir, am Ende des Sofas. So nahe, dass ich ihr altmodisches Blumenparfum rieche. Und den penetranten Duft ihres Puders, der allen Frohsinn aus der Luft absorbiert.
Das Fernsehbild wechselt zum Rosengarten des Weißen Hauses, überlagert vom zerknautschten Gesicht des Präsidenten, das die Mattscheibe erfüllt wie das eines mürrischen Säuglings.
»Sieht ja unerträglich heiß aus«, urteilt Constance. Wie im Chor stimmen alle zu, ihre Aussagen werden im Familienkreis gemeinhin als Nachtrag zu den Zehn Geboten verstanden. Constance ist die unumstrittene Anführerin – sozusagen die Bienenkönigin –, und das will bei einer Familie wie dieser schon etwas heißen. Auf ihrem Schoß windet sich ein Säugling in einem rosa Sommerkleidchen, zarte sechs Monate alt und begierig, den Fußboden zu erforschen. »Der arme Frank. Sich so die Beine in den Bauch stehen zu müssen«, setzt sie hinzu, als sich abzeichnet, dass Präsident Johnsons Rede über die Bedeutung der amerikanischen Präsenz in Vietnam und die Heimtücke der Kommunisten so bald kein Ende nehmen wird.
Von der Terrasse schlüpft ein weiterer Schatten in den Raum: Constances Ehemann, Tom, mit Badehose, weißem T-Shirt und einem experimentellen Dreitagebart. Er lehnt sein salziges Haupt gegen den Türflügel und mustert die Szenerie aus Frauen und Kindern und Fernsehgerät. Im Geiste mache ich mir eine kurze Notiz, noch vor dem Zubettgehen die Glasscheibe reinigen zu lassen.
Granny Hardcastle beugt sich zu mir herüber. »Du hättest ihn begleiten sollen, Tiny. Mit einer Ehefrau an seiner Seite sieht ein Mann gleich viel besser aus. Vor allem mit einer hübschen jungen Ehefrau wie dir. Die Kameras lieben hübsche Frauen. Genau wie die Reporter. Du bist wie fürs Fernsehen geschaffen.«
Ihre getragene Altdamenstimme wogt durch den Raum, während die anderen so tun, als hätten sie nichts gehört. Ausgenommen die Kinder, die sich von einem derartigen Kommentar nicht beeindrucken lassen. Kitty kommt auf mich zu und tätschelt mein Knie. »Ich finde dich auch hübsch, Tante Christina.«
»Vielen Dank, meine Süße.«
»Vorsicht mit der Limonade, Kätzchen«, mahnt Constance.
Ich streichele Kittys samtweiches Haar und erwidere leise. »Der Arzt hat mir davon abgeraten, Mrs. Hardcastle.«
»Ach, Liebes. Das ist jetzt eine Woche her. Bei meiner Fehlgeburt bin ich am nächsten Tag zur Taufe meiner Nichte gegangen.«
Das Wort Fehlgeburt springt munter durch den Raum, von Franks rotgesichtigen Cousinen zu Kittys schwappender Limonade, von den runden Bäuchen der Kleinkinder zu den dicken Wurstzehen der Babys auf den Schößen ihrer Mütter. Ein jedes kerngesund und voller Leben, überhäuft mit zahllosen Geschwistern.
Nach einem ausgiebigen Zug von ihrer Zigarette fügt Granny Hardcastle hinzu: »Nur keine Sorge, Liebes. Beim nächsten Mal wird es schon klappen.«
Ich streiche den Saum meines Rockes glatt. »Ich glaube, der Präsident kommt endlich zum Punkt.«
»Die ganze Nation wird es ihm danken«, kommentiert Constance.
Der Bildausschnitt weitet sich und zeigt die gesamte Bühne einschließlich der umstehenden Personen, die vom strahlenden Junisonnenschein beschienen werden. Constance hat recht. Trotz der schwarz-weißen Mattscheibe kann man die Hitze kaum übersehen. Ein schimmernder Schweißfilm liegt auf den weißen Gesichtern. Ich schließe die Augen, umwölkt von Constances Zigarettenqualm, und als ich sie wieder öffne, erblicke ich die vertrauten Züge meines Mannes, feierlich auf den Präsidenten gerichtet, dem Ernst der Situation angemessen.
Was für ein Armleuchter, hat Frank im Schutz des heimischen Wohnzimmers oft über den Präsidenten gesagt, doch kein einziger Zuschauer der landesweiten Übertragung würde ihm seine Meinung in diesem Moment ansehen. Er ist ein attraktiver Mann, Franklin Hardcastle, mehr noch im wahren Leben, wenn seine technicolorblauen Augen einen durchdringen und sein gewelltes Haar das Licht in dreidimensionaler Pracht reflektiert. Seine Arme sind zu neunzig Grad abgewinkelt, seine Hände respektvoll hinter dem Rücken verschränkt.
Ich denke an das schwarz-weiße Foto in seinem Umschlag, versteckt in der Ablage des Sekretärs. Ich denke an die Begleitnotiz, und meine Finger verlieren ihren Halt, sodass die Limonade um ein Haar auf den Wohnzimmerteppich schwappt.
Der sogenannte Armleuchter hat inzwischen seine Brille zurechtgerückt und verliest gerade den Text des Anerkennungsschreibens, das vor ihm auf dem Podium liegt. Ohne zu zögern, zitiert er die fremden asiatischen Ortsnamen in seinem ruhigen texanischen Akzent, als hätte er den gesamten Vormittag über einem vietnamesischen Wörterbuch gesessen.
»… nachdem er seinen verwundeten Kameraden unter schwerem Gefechtsfeuer in Sicherheit gebracht hatte, kehrte er zu dem Maschinengewehrposten zurück, um seinen Männern Deckung zu geben, bis die Stellung bei Plei Me vollständig evakuiert war, ungeachtet der Schwere seiner eigenen Verletzungen.«
Ach, richtig. Die Schwere seiner eigenen Verletzungen. Die Formulierung habe ich schon mal gehört, als das Telegramm – unter großem Kostenaufwand aus der Hauptstadt einer dankbaren Nation übermittelt – in Granny Hardcastles Esszimmer in Brookline verlesen wurde. Ich kann die Liste der Verletzungen mühelos herunterbeten, und das seit dem Moment, als ich sie das erste Mal hörte, zwei Tage nach dem Unglück. Sie haben sich tief in mein Gehirn gebrannt.
Doch das macht es nicht leichter. Meine Glieder verkrampfen, nein, schmerzen, als ich die Worte aus Präsident Johnsons Mund höre. Meine Ohren schrillen, als wollte mein Körper aus irgendeinem Selbsterhaltungstrieb heraus verhindern, die schreckliche Litanei ein weiteres Mal zu hören. Wie ist es möglich, den Schmerz eines anderen Menschen derart zu spüren? Tief in meinem Innern, wo kein Aspirin, kein Wodka, kein Zigarettenqualm ihn erreicht?
Mein Mann lauscht dem Vortrag, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich konzentriere mich auf seine vertrauten Züge inmitten einer Front aus dunklen Anzügen und weißen Gesichtern. Ich bewundere sein Profil, seinen tapferen Kiefer, seine patriotischen Fältchen in den Augenwinkeln.
»Er sieht großartig aus, findet ihr nicht?«, sagt Granny. »Das mit dem Bein würde man niemals ahnen. Kann mir mal jemand die Zigaretten reichen?«
Eine der Frauen greift in die Schublade und reicht die Schachtel von einer zur nächsten. Ohne hinzusehen, übergebe ich Granny Hardcastle die Zigaretten und das Feuerzeug. Die Kamera kehrt zurück zu Präsident Johnsons Gesicht, der in diesem Moment die letzten Zeilen verliest.
Du musst hinsehen, ermahne ich mich. Du musst es dir ansehen.
Ich schließe die Augen. Was die Sache nur noch verschlimmert, denn mit geschlossenen Augen nimmt man die Geräusche deutlicher wahr, man hört sie tief in seinem Gehirn, als kämen sie aus der eigenen Seele.
»Die amerikanische Nation verleiht Ihnen, Major Caspian Harrison, hiermit die höchste Auszeichnung des Landes und schuldet Ihnen ergebenen Dank, für Ihre Tapferkeit, Ihre Opfer und Ihre Selbstlosigkeit gegenüber Kameraden und Heimat. In einer Zeit, in der wahre Helden rar sind, möge Ihr Beispiel uns allen zum Vorbild dienen.«
Auf der anderen Seite des Raums höre ich ein verächtliches Schnauben von Constances Ehemann. Im nächsten Moment quietschen die Scharniere, und ich spüre einen heißen Luftschwall, als sich die Terrassentür öffnet und schließt.
»Tiny, warum hast du die Augen zu? Alles in Ordnung?«
»Mir ist nur ein bisschen schwindelig.«
»Nun komm, reiß dich zusammen. Sonst verpasst du den großen Augenblick.«
Notgedrungen öffne ich die Augen und erblicke Präsident Lyndon Johnson, der dem Ordensträger in diesem Moment die Hand schüttelt.
Dem Ordensträger und Cousin meines Gatten: Major Caspian Harrison, Dritte Infanteriedivision der Vereinigten Staaten von Amerika, mit frisch verliehener Ehrenmedaille auf der breiten Brust.
Sein ernstes Gesicht, das ich zwei Jahre lang nicht gesehen habe, springt mir mit einer solchen Vertrautheit entgegen, dass ich kaum noch schlucken, kaum noch atmen kann. Ich beuge mich vor, um das Limonadenglas auf den Tisch zu stellen, doch mein Blick verweilt bei Caspians sandgrauem Abbild, sodass ich mein Ziel fast verfehle.
An seiner Seite, groß und monochrom, erstaunlich präsidial, steht mein Ehemann mit einem stolzen Lächeln.
Mehrere Stunden später ruft Frank mich aus seinem Hotelzimmer in Boston an. »Hast du es gesehen?«
»Natürlich. Du sahst fantastisch aus.«
»Ein bewegender Tag. Cap hat eine gute Figur gemacht. Zum Glück.«
»Wie geht es seinem Bein?«
»Du solltest eins wissen, Liebling: Mein Cousin beschwert sich nie.« Frank lacht vergnügt. »Aber es geht ihm erstaunlich gut, kaum ein Hinken zu bemerken. Ein Wunder der modernen Medizin. Ich bin stolz auf ihn.«
»Das habe ich gesehen.«
»Er steht direkt neben mir, falls du ihm gratulieren willst.«
»Ach, nein! Nicht nötig. Er ist bestimmt erschöpft. Bestell ihm … bestell ihm liebe Grüße. Sag ihm, wir sind alle sehr stolz auf ihn.«
»Hey, Cap!«, sagt Frank mit gedehnter Stimme. »Tiny lässt dich grüßen und sagt, sie sind alle stolz auf dich. Ich glaube, sie haben sich die Verleihung zusammen angesehen. Hat Granny tatsächlich einen Fernseher gekauft?« Letzteres dringt klarer durch die Leitung, offenbar erneut an mich gerichtet.
»Hat sie. Connies Ehemann hat ihr bei der Auswahl geholfen.«
»Großartig. Endlich haben wir einen Fernseher im Haus. Wir sind dir was schuldig, Cap!«
Erstickte Worte dringen durch den Hörer. Caps Stimme.
Frank lacht erneut auf. »Darauf kannst du Gift nehmen. Davon mal abgesehen, hast du meinen Umfragewerten heute einen ordentlichen Schub versetzt, indem du deine hübsche Visage so nett zur Schau gestellt hast.«
Weiteres Gemurmel. Ich versuche, nicht zu lauschen. Was bringt das schon?
Was immer Caspian da von sich gibt, ist offenbar sterbenskomisch. »Du kleiner Mistkerl«, erwidert Frank lachend. Und dann (immer noch lachend): »Entschuldige, Liebling. Nur ein kleiner Schlagabtausch unter Männern. Du wirst nie erraten, wen wir dir morgen mitbringen.«
»Wen denn?«
»Deine Schwester. Pepper.«
»Pepper?«
»Genau die. Sie ist in Washington mit uns in den Flieger gestiegen und übernachtet heute bei einem Bekannten.«
»Wie ungewöhnlich«, bemerke ich.
»Was – dass sie bei einem Bekannten übernachtet? Bietet sich doch an, oder?« Wieder dieses Lachen. So viel Lachen. Er ist erstaunlich ausgelassen. Der Adrenalinrausch des öffentlichen Triumphs.
»Nein, dass sie uns einfach so besuchen kommt, ohne sich vorher anzukündigen. Sie war doch noch nie hier.« Eine beschönigende Art, um auszudrücken, dass wir nicht gerade die dicksten Freundinnen sind. Dass wir uns bestenfalls tolerieren, seit wir in unserer Jugend feststellen mussten, dass Pepper mit Kerosin läuft und ich mit Leichtbenzin. Und derartige Maschinen – Düsenjets und Cadillacs – laufen nun mal nicht nebeneinander, ohne einander bleibende Schäden am Fahrwerk zuzufügen.
»Die Schuld liegt wohl bei mir. Wir sind uns auf dem Empfang begegnet, und sie wirkte irgendwie niedergeschlagen, da habe ich sie kurzerhand eingeladen. Zu meiner Verteidigung muss ich gestehen, ich hätte nie erwartet, dass sie Ja sagt.«
»Müsste sie nicht eigentlich arbeiten?«
»Ich habe ihrem Chef gesagt, sie bräuchte mal ein paar Tage frei.« Franks Stimme klingt mit einem Mal süffisant und selbstgefällig. Peppers Arbeitgeber ist der frisch gewählte Juniorsenator des Bundesstaats New York, und als waschechter Hardcastle nutzt Frank jede Gelegenheit, um einem politischen Rivalen ins Handwerk zu pfuschen.
»Na, von mir aus. Dann lasse ich noch ein weiteres Gästezimmer herrichten. Hat sie angedeutet, wie lange sie bleiben will?«
»Nein«, erwidert Frank. »Mit keiner Silbe.«
Erst gegen zehn Uhr abends, im Schutz des Schlafzimmers, umgeben vom stillen Duft frischer Hyazinthen und dem ruhigen Rauschen des Ozeans, widme ich mich erneut jenem mysteriösen Umschlag.
Doch zuerst verriegele ich die Tür. Wenn Frank außer Haus ist, was nicht selten vorkommt, hat seine Großmutter die lästige Angewohnheit, vor dem Zubettgehen auf einen kleinen Plausch vorbeizuschauen. Manchmal klopft sie an, manchmal auch nicht. Liebes, beginnt sie mit zittriger Stimme in ihrem gepflegten neuenglischen Akzent. Dann folgt ihre Lektion – gespickt mit elliptischer Rhetorik und sokratischen Fragen, die jeden Anwalt vor Neid erblassen ließen –, um mich zu einer würdigeren Person zu formen, die an der Seite ihres Enkels, Franklin Hardcastle junior, glänzt, während dieser seine Kandidatur zu irgendeinem Amt bekannt gibt, höher und höher, bis er den strahlenden Zenit erreicht. Kurz bevor meine fotogenen Reize den Wechseljahren zum Opfer fallen, und mit ihnen die Fähigkeit, fremde Staatsoberhäupter mit meinem fließenden Spanisch und Französisch, meinem tadellosen Benimm und Stil, meiner hart erarbeiteten Anmut zu umgarnen.
Als Kind hatte ich mich stets nach einer Mutter gesehnt, die aktives Interesse an der Erziehung ihrer Kinder zeigt. Einer Mutter, die sich als vollendete Künstlerin versteht und aus dem rohen Lehm ihrer Töchter zarte Geschöpfe von feinem Porzellan formt, statt die mühsame Arbeit einem Gefolge von gut ausgebildeten und schlecht bezahlten Kindermädchen, Köchen und Chauffeuren zu überlassen. Einer Mutter, die morgens früh aufsteht, um ihren Kindern Frühstück zu machen, ihre Kleidung und Hausaufgaben zu kontrollieren, statt ihrer ältesten Tochter aufzutragen, ihr morgens um acht Uhr dreißig eine Tasse Kaffee oder eine Aspirin oder einen Drink nach ihrem Spezialrezept zu bringen, um ihr im Gegenzug einen halbherzigen Abschiedskuss auf die Wange zu drücken.
Inzwischen weiß ich, dass ein vornehmes Desinteresse durchaus seine Vorteile hat. Es ist deutlich leichter, einem teleskopisch fernen Stern von mütterlicher Aufmerksamkeit entgegenzustreben, als sich unter dem mikroskopischen Scharfblick von – nennen wir das Kind ruhig beim Namen – Mrs. Hardcastle zu winden.
Aber ich schweife ab.
Ich verriegele die Tür und ziehe meine Pantoffeln aus – selbige werden im Haus nur getragen, wenn kein Mann zugegen ist, um die empfindlichen Läufer und Parkettböden zu schonen –, dann gönne ich mir einen Drink von Franks Getränketablett. Der Umschlag liegt sicher in meiner Wäscheschublade, unter mehreren Lagen von Baumwolle und Seide, wo ich ihn vor dem Abendessen versteckt habe. Ich nippe tapfer an meinem Scotch – dabei hasse ich Scotch! – und starre unverwandt auf den Griff der Kommode, bis das Glas leer ist und meine Zunge taub.
Schließlich stelle ich das Glas beiseite und ziehe den Umschlag hervor.
Erst die Notiz.
Die Handschrift erscheint mir fremd, aber das ist wohl der Sinn einer Blockschrift, oder? Die Tinte ist tiefblau, jeder Buchstabe scharf gestochen, das Papier dünn und unliniert. Schreibmaschinenpapier, wie es für jeden gewöhnlichen Geschäftsbrief verwendet wird. Der Bogen liegt steif und makellos in meinen Fingern, während ich ihn an die Nase führe, um möglicherweise einen verräterischen Geruch aufzuspüren.
WEISS DEIN MANN VON DER SACHE?
WAS WÜRDEN DIE ZEITUNGEN SCHREIBEN?
WARTE AUF WEITERE ANWEISUNGEN DEINES GÖNNERS.
P.S.: ICH ERBITTE EINE KLEINE ZUWENDUNG IN HÖHE VON 1.000$ IN UNMARKIERTEN SCHEINEN.
J. SMITH
PO BOX 55255
BOSTON, MA
Reizend, nicht? Ich bin noch nie zuvor erpresst worden, aber genau so stelle ich es mir vor. Dieser Mr. Smith – ich bin überzeugt, dass jenes ominöse J. für einen Mann steht, die ganze Angelegenheit erscheint mir männlichen Ursprungs, selbst die scharfen Blockbuchstaben wirken irgendwie männlich – ist also im Besitz eines kompromittierenden Fotos, das er hiermit zu Geld machen will. Er hätte ebenso gut Frank erpressen können, doch Frauen sind in der Regel die leichteren Opfer. Ängstlich und bereit, einem Erpresser das verlangte Geld zu zahlen, um zu einer diplomatischen Lösung, einem Kompromiss zu gelangen, statt dem Kontrahenten offen den Krieg zu erklären. Zumindest würde ein männlicher Missetäter dieses Verhalten von mir erwarten. Eine Mutmaßung, basierend auf meiner gesellschaftlichen Stellung, meiner Rolle als öffentliche Person: die junge hübsche Gattin eines Kongressanwärters für den Staat Massachusetts, deren liebreizendes Gesicht auf Hunderten von Wahlkampffotos hingebungsvoll zu ihrem Gatten aufblickt. Gewiss nicht die Art von Frau, die vor der alles entscheidenden ersten Kongresswahl ihres Mannes zulassen würde, dass ein solches Foto auf der Titelseite des Boston Globe erscheint.
Doch hat er damit recht?
Die Frage führt mich unweigerlich zu dem Foto selbst.
Ich erhebe mich vom Bett und gönne mir einen weiteren Fingerbreit Scotch. Leider befindet sich auf dem Tablett kein Wodka – aufgrund der verklärenden, irrigen Annahme, dass Franks Ehefrau vor dem Zubettgehen nichts trinkt. Ich lasse die goldene Flüssigkeit im Glas kreisen und schnuppere daran. Genau das ist mein Problem: Scotch riecht viel besser, als er schmeckt. Würzig, mächtig, magisch. Genauso ging es mir als Kind mit Kaffee, bis ich den Geschmack irgendwann noch mehr zu lieben lernte als den Duft.
Wenn ich nur genug davon trinke, wenn ich mir jeden Abend ein bis zwei Gläschen von Franks edlem Single-Malt gönne, um den bitteren Nachgeschmack von Granny Hardcastles ermüdenden Lektionen herunterzuspülen, dann werde ich den Geschmack vielleicht eines Tages zu schätzen wissen.
Ich stelle das unberührte Glas zurück und lege mich quer übers Bett, den Bauch von einer dicken, weichen Daunendecke gepolstert, die Zehen frei über der Bettkante schwebend. Dann ziehe ich das Foto aus dem Umschlag und erblicke mich selbst.
Mich. Tiny, vor zwei Jahren. Eine Tiny, die nur kurze Zeit existierte: noch unverheiratet, schlank und blass, feingliedrig und gelenkig, vor einem dunklen Sofa, dessen Fasern ich noch heute vor mir sehe.
Im Begriff, den verheerendsten Fehler meines Lebens zu begehen.
Caspian, 1964
BOSTON, MASSACHUSETTS
Die fleckige Uhr über dem Eingang des Cafés zeigte Punkt elf, dann Viertel nach elf, doch von Jane keine Spur.
Nicht, dass er auf sie wartete. Nicht, dass sie Jane hieß.
Oder doch. Warum eigentlich nicht? Jane war ein gängiger Name, ein femininer Name. Der Name einer Frau, die man ohne Bedenken seiner Mutter vorstellen kann, wenn man denn eine hat. Wäre es nicht zum Brüllen, wenn er sich eines Tages an ihren Tisch setzte, um nach ihrem Namen zu fragen, und Miss Namenlos würde ihn über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg mit glänzenden schokoladenbraunen Augen ansehen und sagen: Ichheiße Jane. Einfach so?
Ja. Genau so.
Nicht, dass er es jemals gewagt hätte, sich an ihren Tisch zu setzen. Wenn Jane sich täglich um Punkt zehn Uhr auf ihren angestammten Platz in Boylan’s Coffee Shop setzte und feinsten kolumbianischen Kaffee mit Zucker und Sahne bestellte, begleitet von einem warmen Aprikosenplunder, errichtete sie zugleich ein tödliches Spannungsfeld, das nur die Bedienung mit einer frischen Kanne Kaffee und der gute alte Boylan, grauhaarig und ergeben, gefahrlos durchschreiten konnten. Nur ansehen, nicht anfassen. Verehren, nicht verführen. Ich brauche keinen rohen, heißblütigen Junggesellen, vielen Dank der Nachfrage, und deine lüsternen Pranken kannst du gleich bei dir behalten.
»Noch einen Kaffee, Cap?«
Er betrachtete die dicke weiße Tasse auf ihrer dicken weißen Untertasse. Seine lüsternen Pranken hielten sie krampfhaft umklammert. Der traurige Rest seines Kaffees, bereits zum vierten Mal aufgefüllt, lag schwarz und leblos am Grund der Tasse. Hoffnungslos unterkühlt. Er ließ die Tasse los und griff in seine Gesäßtasche. »Nein danke, Em. Ich muss los.«
»Wie du willst.«
Er legte zwei Dollarnoten auf den Resopaltisch – eins fünfzig für Speck und Eier und fünfzig Cent für Em, die neben ihren zwei Kindern einen betrunkenen Ehemann zu versorgen hatte, über den sie sich hinter dem Tresen bei ihren Kolleginnen beschwerte –, dann steckte er sein Buch in das Seitenfach der Kameratasche. Das Café war inzwischen still und verlassen, seiner letzten Frühstücksgäste beraubt, im Begriff, Atem zu schöpfen, bevor der große Mittagsansturm begann. Er rutschte aus der Sitznische heraus und schwang seine Tasche über die Schulter. Seine Schritte hallten über den kahlen Linoleumboden.
Ems Stimme folgte ihm zur Tür. »Ich wette, morgen ist sie wieder da, Cap. Sie wohnt gleich um die Ecke.«
»Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst, Em.« Mit einem nervenaufreibenden Gebimmel stieß er die Tür auf.
»Ich bin nicht von gestern«, rief Em ihm hinterher.
Draußen stieg ihm der vertraute sommerliche Gestank von Back Bay in die Nase: Autoabgase, Ausdünstungen und glühender Asphalt. Eine verfrühte Hitzewelle, wie der Radiosprecher heute Morgen verkündet hatte, und man spürte bereits die erdrückende Hitze, die vertraute Schwüle des tropischen Urwalds, welche sich über die süßen Maienknospen senkte. Also auf zum Hafen. Zivilen Maßstäben zufolge ein ausgedehnter Spaziergang, doch verglichen mit den Fünfzehnkilometermärschen durch elendes Sumpfgebiet an der Grenze zu Laos, eine M16 und einen Zwanzigkilorucksack auf dem Buckel, während einem der Schweiß beißend in die Augen rann, ständig den gottverdammten Vietcong im Nacken, der hinter jedem zweiten Busch lauerte, erschien ihm der Fußweg zum Bostoner Hafen wie ein Sonntagsspaziergang zu den Pforten des Paradieses.
Nur nicht so aufregend, aber er konnte mal eine Weile auch ohne Aufregung leben. So wie jeder normale Mensch.
Sein Rücken klebte vor Schweiß, die Reaktion eines konditionierten Tiers. Je durchtrainierter der Athlet, desto effektiver der Kühlmechanismus, das hatte er mal irgendwo gelesen. Seine Hand griff automatisch nach seinem nicht vorhandenen Helm und traf auf dichtes, etwas zu langes Haar.
Er bog nach links in die Commonwealth Avenue ein, und bei Gott, sowie er um die Ecke trat, erblickte er sie, Jane Namenlos höchstpersönlich, mit ihrer unsichtbaren Aura von femininem Flair, den Blick auf ihre Armbanduhr gerichtet, während ihr gelb gemustertes Seidentuch, mit dem sie sich das dunkle Haar zurückgebunden hatte, im Wind flatterte.
Er blieb abrupt stehen, und sie prallte unversehens mit ihm zusammen. Im letzten Moment packte er ihre zarten spitzen Ellbogen.
»Oh Gott, verzeihen Sie!«
»Meine Schuld.«
Sie blickte langsam an ihm auf, bis sie sein Gesicht erreichte. »Oh!«
Er lächelte. Er konnte nicht anders. Wie hätte er sich ein Lächeln verkneifen sollen, wenn sie ihn mit ihren erstaunten Rehaugen und rosaroten Lippen ansah, als wollte sie ihn fragen: Kennen wir uns nicht von irgendwoher?
»Aus dem Café um die Ecke«, sagte er. Seine Hände hielten immer noch ihre Ellbogen. Sie trug eine makellos weiße Bluse, dazu eine marineblaue Caprihose und eine zierliche goldene Halskette mit drei funkelnden Anhängern, die sich in die Vertiefung ihrer Kehle schmiegten. Anmutig und zart wie ein Rehkitz. Er hätte sie mühelos in den Himmel heben können.
»Ich weiß.« Sie lächelte höflich. Die zarten Enden ihres gelben Seidentuchs umschmeichelten ihren Hals wie purer Sonnenschein. »Dürfte ich jetzt meine Ellbogen zurückhaben?«
»Wenn es sein muss.«
»Muss es.«
Ihre Handtasche war bei dem Zusammenstoß heruntergerutscht. Sie befreite ihren linken Arm, um den Riemen zurück auf die rechte Schulter zu schieben. Im selben Moment fiel die vorwitzige Sonne auf einen Diamanten an ihrem Ringfinger und ließ ihn im Licht explodieren, als wäre Cap unerwartet auf eine Mine getreten.
Ach, zur Hölle. Es war doch immer das Gleiche, oder? Man sah die Katastrophe nie kommen!
Tiny, 1966
Als ich am nächsten Morgen von meinem Strandspaziergang zurückkehre, sitzt Franks Vater am Kopfende des Frühstückstisches und isst einen Pfannkuchen.
»Guten Morgen, Mr. Hardcastle.« Ich lasse mich auf meinen angestammten Platz sinken. Die Terrassentüren in meinem Rücken sind weit geöffnet, und die salzige Brise breitet sich warm über meine Schultern.
Mein Schwiegervater lächelt mich über den Rand seiner Zeitung an. »Guten Morgen, Tiny. Hast du etwa schon einen Spaziergang gemacht?«
»Ach, Sie kennen mich doch. Außerdem weckt mich Percy ohnehin in aller Früh, damit ich mit ihm Gassi gehe.« Ich tätschele den Kopf des Rüden, und er lässt sich mit einem zufriedenen Seufzer neben meinem Stuhl nieder. »Sie haben wohl gestern erst spät Feierabend gemacht?«
»Ja, ich war noch im Wahlkampfbüro und bin erst zu nachtschlafender Stunde losgefahren. Ich hoffe, ich habe niemanden geweckt.«
»Ganz bestimmt nicht.« Die Haushälterin ist nirgends zu sehen, daher greife ich selbst zur Kaffeekanne. »Wie war denn die Veranstaltung? Wir haben uns das Ganze im Fernsehen angeschaut.«
»Großartig. Du hättest dabei sein sollen.«
»Der Arzt hat mir davon abgeraten.«
Mr. Hardcastles Miene wird ernst. »Aber natürlich. Ich wollte nicht sagen, dass du tatsächlich hättest mitkommen sollen – schon gar nicht bei den Strapazen einer Flugreise.« Auf dem weißen Tischtuch tätschelt er sanft meine Hand, so wie ich gerade Percy getätschelt habe. »Wie fühlst du dich?«
»Schon viel besser, danke. Wie lange bleiben Sie?«
»Nur bis zum Abendessen. Danach muss ich zurück nach Boston. Der Wahlkampf nähert sich der heißen Phase.« Er zwinkert mir zu.
»Frank weiß Ihre Unterstützung sicher zu schätzen.«
»Er hat ein Recht auf meine Unterstützung, Tiny. Dafür ist eine Familie schließlich da. Wir sitzen alle im selben Boot. Genau das macht uns stark.« Er lässt seine Tageszeitung sinken, faltet sie sorgfältig zusammen und greift nach dem Kaffee. »Soweit ich weiß, waren die drei gestern Abend aus. Frank und Cap und deine Schwester.«
»Ach, wirklich?«
»Im Flieger haben sie für eine Bombenstimmung gesorgt, fast hätten sie den alten Vogel zum Absturz gebracht. Ich glaube, vor heute Nachmittag brauchen wir nicht mit ihnen zu rechnen.«
»Sollen sie nur. Major Harrison kann die Ablenkung gewiss gebrauchen, nach allem, was er durchmachen musste. Ich hoffe, Frank hat ihn an einen flotten Ort ausgeführt, und sie hatten ihren Spaß.«
»Es macht dir gar nichts aus? Dass sie sich ohne dich amüsieren?«
»Ach, wie meine Mutter schon sagte, Männer sind eben so. Sollen sie sich ruhig austoben.«
Die Schwingtür zur Küche wird aufgestoßen, und Mrs. Crane schiebt sich mit einem voll beladenen Tablett und einer Kanne Kaffee rückwärts hindurch. Der Toasthalter balanciert gekonnt an ihrem ausgestreckten Daumen. »Bitteschön, Mrs. Hardcastle«, sagt sie höflich.
»Haben Sie vielen Dank, Mrs. Crane.«
Während ich zu Messer und Gabel greife, verrät mir ein leises Kribbeln, dass ich beobachtet werde. Ich wende den Kopf und begegne dem musternden Blick meines Schwiegervaters. Seine Augen sind leicht verengt, seine Mundwinkel schräg nach oben gezogen, sodass sich eine Welle von Fältchen über seine Wangen breitet.
»Was ist denn?«, frage ich.
Sein Lächeln wird breiter und erinnert an das beste Wahlkampflächeln seines Sohnes. Das Lächeln, mit dem Frank mir damals den Heiratsantrag machte.
»Nichts Besonderes«, erwidert er. »Mir wird nur einmal mehr bewusst, dass du die perfekte Ehefrau abgibst. Frank kann sich glücklich schätzen, dich zu haben.« Er greift nach seiner Zeitung und schlägt sie auf. »Wir alle können uns glücklich schätzen.«
Gegen ein Uhr nachmittags fährt Franks gelbes Cabriolet mit einem satten Röhren und stiebendem Schotter am Rondell des Haupthauses vor. Wir anderen haben gerade im Schutz der Veranda mit Blick aufs Meer zu Mittag gegessen.
Ich hatte mir geschworen, bis zu seinem Eintreffen weder zu rauchen, noch zu trinken, so groß die Versuchung auch sein mochte, und es ist mir tatsächlich gelungen. Nüchtern und gelassen und nach Limonade duftend trete ich meinem Mann entgegen. »Hallo Liebling!«, rufe ich und nehme ihn in meinem rosafarbenen Shiftkleid in Empfang. Meine flachen Absätze bohren sich knirschend in den Schotter, und ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss zu geben.
»Na, hallo!« Er ist gut gelaunt wie gestern Abend, doch die vergangene Nacht hat seinem Teint und seinen technicolorblauen Augen sichtbar zugesetzt. »Du darfst jetzt deine Schwester begrüßen!«
»Immer schön sachte.« Mit schimmernden Beinen und mandarinfarbenem Minikleid steigt Pepper aus dem Wagen und nimmt behutsam ihre Sonnenbrille ab. »Deine Schwester hat einen Mordskater.«
Ich glaube, ich habe Pepper noch nie so geliebt wie in diesem Moment, als sie aus Franks Cabriolet klettert, um mir in diesem Taubenschlag von Verwandten zur Seite zu stehen. Eine ferne Erinnerung durchdringt mein Gedächtnis – ausgelöst durch das knallige Kleid oder Peppers vertraute Bewegungen –, die Erinnerung an einen seltenen Partyabend mit meinen Schwestern Pepper und Vivian anlässlich irgendeiner Abschlussfeier vor ein paar Jahren, bei der ich zu viel Champagner getrunken hatte und mich auf dem Gang eines schäbigen Nachtklubs in Gesellschaft eines zudringlichen Bekannten von Pepper wiederfand, hilflos und unfähig, mich mit höflichen Ausreden aus der Affäre zu ziehen, bis Pepper uns schließlich entdeckte und den Kerl das Fürchten lehrte. Du kannst deinen gierigen kleinen Schwanz in irgendeinem betrunkenen Schulmädchen versenken – oder ähnlich elegant ausgedrückt –, aber halt dich verdammt noch mal von meiner Schwester fern, capito?
Und damit trollte er sich. Capito.
Pepper. Kein Verlobter oder Ehemann ist vor ihr sicher, aber wenn es um ihre eigene Familie geht, wird sie zur Furie.
Mit offenen Armen trete ich ihr entgegen und umarme sie mit einer Herzlichkeit, die uns beide verblüfft. Mehr noch verblüfft mich die Tatsache, dass sie die Umarmung ebenso herzlich erwidert. Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange und weiche ein Stück zurück, um die Hände auf ihre Schultern zu legen. Dann sage ich etwas, das ich noch nie in meinem Leben gesagt habe, vielleicht aus einer Intuition heraus: »Geht es dir gut, Pepper?«
Sie ist unglaublich hübsch, unsere Pepper, sogar oder gerade nach einer zweistündigen Autofahrt in Franks offenem Roadster. Der zerzauste Look steht ihr ausgesprochen gut, ganz im Gegensatz zu mir. Ihre Augen scheinen das Blau des Himmels zu reflektieren. Etwas zu strahlend, denke ich mir. »Absolut blendend, Schwesterherz«, sagt sie. »Abgesehen davon, dass ich beim Frühstück keinen Bissen runterbekommen habe und seit der Sagamore Bridge derart ausgehungert bin, dass ich das verbliebene Bein deines Cousins verschlingen könnte, so charmant er auch sein mag.«
Offenbar sieht man mir mein Entsetzen an, denn Pepper lacht plötzlich los. »Nur keine Sorge. Aber ein Sandwich könnte ich schon vertragen. Und einen Wodka Tonic. Mit Betonung auf Wodka. Dein Mann fährt wie ein Besessener.«
»Mach gleich zwei daraus«, verkündet Frank aus der Versenkung des Kofferraums, den er gerade entlädt.
»Wo ist eigentlich Major Harrison?« Ich bringe es nicht fertig, ihn Caspian zu nennen. Beiläufig sehe ich mich um, als hätte ich seine Abwesenheit gerade erst bemerkt.
»Wir haben ihn nebenan abgesetzt. Nettes kleines Haus. Wenn auch längst nicht so nobel wie deins.« Pepper deutet auf das stattliche Haupthaus. »Aber er hat bestimmt keine großen Ansprüche als eingefleischter Junggeselle.«
»Wie schade. Ich hatte mich so darauf gefreut, ihn endlich kennenzulernen.«
Frank reiht die Koffer neben uns auf. »Ach, stimmt ja. Er war bei unserer Hochzeit gar nicht dabei, oder?«
»Na, dafür kann ich garantieren!« Pepper lacht. »So ein Prachtexemplar von einem Mann wäre mir garantiert aufgefallen!«
Selbst mit einem Kater ist Pepper immer noch Pepper, die gar nicht anders kann, als hemmungslos mit meinem Gatten zu flirten, indem sie anzügliche Bemerkungen über einen anderen Mann macht. Ich packe entschlossen ihren Arm und lasse Frank mit den Koffern stehen. Diese schlichte Handlung erfüllt mich mit einem euphorischen Kribbeln. »Aber er kommt doch zum Abendessen, oder?«
Frank schaltet sich von hinten ein. »Das will ich doch hoffen. Er ist immerhin der Ehrengast!«
»Wenn er um sechs noch nicht da ist«, sagt Pepper, »gehe ich gern rüber und helfe ihm beim Anziehen.«
Der Gast geht immer vor, und somit führe ich Pepper zuerst in ihr Zimmer. Ich zeige ihr das Bad, den Kleiderschrank, die Handtücher, das Badesalz, die Karaffe mit Trinkwasser, in der ein paar Eiswürfel träge gegen die Zitronenscheiben prallen. Gerade will ich ihr die altertümliche Badewannenarmatur erklären, als sie mich zur Tür hinausschiebt. »Meine Güte, raus mit dir. Ich weiß, wie man einen Wasserhahn bedient. Geh und begrüß deinen Ehemann, gönnt euch ein kleines Schäferstündchen.« Sie zwinkert vielsagend. Anscheinend hat Mum ihr nichts von der Fehlgeburt erzählt. Oder auch doch, und Pepper sind die Konsequenzen nur nicht ganz bewusst.
Die Euphorie beginnt zu verpuffen, und als ich unser Schlafzimmer betrete und mein Blick beiläufig zur Kommode wandert, hochpoliert und fest verschlossen, ist das Hochgefühl gänzlich verflogen.
Frank ist gerade im Bad, bei laufendem Wasserhahn. Die Tür steht einen Spaltbreit offen, und dichte Dampfschwaden steigen zur Decke empor. Ich gehe zu seinem Koffer, der geöffnet auf dem Bett liegt, und nehme die dreckigen Hemden heraus.
Mein Mann weiß wirklich, wie man einen Koffer packt. Fast alle Kleidungsstücke sind getragen. Kein überflüssiger Ballast. Ich werfe seine Hemden und Unterhosen in den Wäschekorb, breite den Gürtel und die Seidenkrawatten über einen Ständer im Kleiderschrank, hänge die Anzüge an ihren angestammten Platz, säuberlich nach Schattierung geordnet, von Hellgrau bis Tiefschwarz.
Ich fasse grundsätzlich nicht in seine Taschen, weil ich mich weigere, zu der Art von Frauen zu zählen. Aber als ich zum Koffer zurückkehre, springt mir ein metallisches Glänzen ins Auge. Bestimmt ein Manschettenknopf, denke ich und fische das schimmernde Objekt zwischen Franks schmutzigen Socken hervor.
Es ist kein Manschettenknopf, sondern ein Schlüssel.
Ein Haustürschlüssel, um genau zu sein, zumindest sieht er nicht gerade so aus, als könnte man damit ein Auto starten oder ein Schließfach öffnen. Ich fahre mit dem Finger über den Bart. Der Schlüssel hat weder eine Markierung noch einen Anhänger.
Ich schreite über den weichen blauen Teppich zur Badezimmertür und drücke sie auf. Frank steht mit nacktem Oberkörper vor dem Spiegel und rasiert sich mit einer silbernen Klinge das Kinn. Ein paar Streifen Rasierschaum zieren seine männlichen Wangen, die vom warmen Wasser und der Hitze gerötet sind.
»Ist das dein Schlüssel, Liebling?« Ich halte das Fundstück zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe.
Frank wirft einen flüchtigen Blick auf mein Spiegelbild. Seine Augen weiten sich. Er dreht sich um und schnappt mir den Schlüssel mit links aus der Hand, während seine Rechte die Klinge auf Kinnhöhe gepackt hält. »Wo hast du den her?«
»Aus deinem Koffer.«
Er lächelt. »Der muss sich von meinem Bund gelöst haben, das ist der Schlüssel zum Wahlkampfbüro. Ich habe neulich bis spät in die Nacht gearbeitet.«
»Soll ich ihn mit runternehmen und wieder dranstecken?«
Er legt den Schlüssel auf den Waschtisch, dicht neben die Rasierseife, und widmet sich erneut seinen glatten Wangen. »Nicht nötig, das mache ich schon.«
»Es ist doch kein Aufwand.«
Frank setzt die Klinge an. »Ist wirklich nicht nötig.«
Als ich den Koffer geleert und seinen Inhalt verstaut habe, ist Frank mit dem Rasieren fertig und kommt aus dem Bad, ein Handtuch um den Nacken geschlungen, mit dem er sich die Wangen abtupft.
»Danke, Liebling.« Er küsst mich auf die Stirn. Seine Haut ist feucht und zart. »Ich habe dich vermisst.«
»Ich dich auch.«
»Du siehst bezaubernd aus in dem Kleid.« Er wendet sich dem Schrank zu. »Meinst du, ich hätte vor dem Abendessen noch Zeit für einen kleinen Segeltörn?«
»Ich habe nichts dagegen. Das heißt, wenn du es schaffst, an deiner Großmutter vorbeizukommen. Sie kann es gar nicht erwarten, alles über eure Reise zu erfahren. Insbesondere die pikanten Details zu späterer Stunde.«
Er macht ein abschätziges Geräusch, für das ich ihn beneide. »Willst du mitkommen?«
»Nein, nicht vor dem großen Familienessen.« Ich schließe den Reißverschluss seines Koffers. Frank wirft das Handtuch aufs Bett, um sich anzuziehen. Ich hebe es auf und bringe es ins Bad. Frank knöpft sich sein Hemd zu. Ich komme zurück und greife nach dem Koffer.
»Lass doch. Ich mach das schon.« Er schiebt meine Hand sanft beiseite und schnappt sich den Koffer. Das Gepäckstück ist nicht sonderlich schwer, doch seine Geste zeugt von Ritterlichkeit, und mir wird bewusst, wie glücklich ich mich schätzen kann, mit einem Mann verheiratet zu sein, der mir schwere und sperrige Gegenstände abnimmt. Oder der mir seine Jacke leiht, wenn der Wind unerwartet auffrischt. Frank verstaut den Koffer im Schrank neben den Schuhen. Ich stehe am Bettende und atme den schweren Duft der für die Jahreszeit untypischen Hyazinthen ein, während ich mich frage, was eine gute Ehefrau in diesem Moment sagen würde.
»Wie war die Fahrt?«
»Ganz angenehm. Nicht viel Verkehr.«
»Und dein Cousin? Hat es ihm etwas ausgemacht?«
Frank lächelt mich an. »Er heißt Cap. Du kannst ihn ruhig beim Namen nennen. Von mir aus Caspian, wenn dir das lieber ist.«
»Caspian.« Während ich den Namen ausspreche, streiche ich über mein rosafarbenes Kleid.
»Ich weiß, ihr seid euch noch nie begegnet, aber er ist ein netter Kerl, ganz ehrlich. Er sieht vielleicht beängstigend aus, aber er ist einfach nur groß und eher zurückhaltend. Ein ganz normaler Kerl, der gern mal einen Hamburger isst oder ein Bier trinkt.«
»Ach? Ein ganz normaler Kerl, der zufälligerweise eine Tapferkeitsmedaille verliehen bekommen hat?« Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Wissen wir überhaupt, wie viele Männer er in Vietnam getötet hat?«
»Vermutlich eine ganze Menge. Aber das ist eben Krieg, Tiny. Er wird bestimmt nicht vom Tisch aufspringen und im Esszimmer ein Maschinengewehr auspacken.«
ENDE DER LESEPROBE