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Sie sind zu dritt, und in dieser abgeschiedenen Villa hinter hohen Bäumen sind sie die Königinnen: die Gouvernanten. Auf die Erziehung der ihnen anvertrauten Jungen geben sie wenig, lieber lassen sie sich melancholisch durch die hellen Tage treiben. Manchmal zieht es sie zum goldenen Tor, wo sich, wild vor Verlangen, die Männer drängeln. Erhört werden sie alle nicht, denn hier stellen die Gouvernanten die Regeln auf. Verliert sich aber ein Fremder in den Garten, gehen sie wie im Rausch auf die Jagd, richten ihre Beute unerbittlich zu, verschlingen sie, mit Küssen und mit Bissen … Mit Eleganz, dunkler Sinnlichkeit und subtiler Komik erzählt Anne Serre in diesem fantastischen Märchen von der Macht der Blicke und von weiblichem Begehren. »Die Gouvernanten driften durch ein Fieber aus häuslichem Leben und sexueller Wildheit. Eine sinnliche, surrealistische Tollerei.« Kirkus Review
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Seitenzahl: 105
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Anne Serre
Roman
Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky
BERENBERG
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
DAS HAAR VON SCHWARZEN NETZEN gebändigt, kommen sie plaudernd über die Allee inmitten eines großen Gartens. Um sie herum toben und hüpfen kleine Jungen, die unter den Bäumen Reifen nachjagen. Eine der beiden Frauen drückt ein Buch an ihre Brust. Sie hat einen Finger zwischen die Seiten gesteckt und stützt ihr Kinn auf den Buchrücken. Den Kopf halb gesenkt, wirkt sie verträumt, während sie spricht. Das Leder ihrer gelben Stiefeletten leuchtet, peitscht durch das Gras der Böschung, um dann wie ein aufgescheuchter Hase daraus hervorzuspringen. Die andere Frau presst zwei wackere kleine Hände zusammen, ohne Ring oder Armband, ohne irgendeinen anderen Schmuck als die zehn Perlmuttknöpfe, die ihre Ärmel über die Handgelenke spannen.
Da nähern sie sich nun dem großen hellen Haus. Es ist ein niedriger, zweistöckiger Bau, dessen Seiten hinter hohen Bäumen verborgen sind. Als sie im Salon Platz genommen haben, bekommt ihr Gespräch etwas Majestätisches. Zu dieser Jahreszeit sind sie wahre Königinnen. Offenbar bereiten sie sich in diesem leeren Haus auf einen Ball vor, die armen Närrinnen, einen Ball, der ihnen und den kleinen reifenspielenden Jungen zu Ehren stattfinden soll.
Die Szene im Salon wird von einer einzigen Lampe auf einem Kartentisch in der Mitte des Teppichs spärlich erhellt. Von außen sieht man, wie sich das Haar der beiden jungen Frauen in den Scheiben der Glastüren spiegelt. Ihnen ist heiß, sie legen Broschen und Halstücher ab und haken sich die Mieder ein Stück auf. Man bringt ihnen Tee, den sie bei Kerzenlicht trinken. Selbst in diesem halb entkleideten Zustand sind sie von vorbildlicher Zurückhaltung, glatt wie Kindlein, die man gerade aus der Badewanne gezogen hat.
Éléonore scheint etwas zu rezitieren. Von außen sieht man, wie ihre Lippen sich bewegen, zuweilen recht lebhaft. Manchmal öffnen sie sich für einen langen Moment. In den Scheiben der Glastüren sieht man ihre feuchten Zähne schimmern.
Während die eine spricht, streckt sich die andere behaglich auf dem Sofa aus und legt die Beine hoch, die sie sogleich mit dem unteren Ende ihres langen Rocks bedeckt. Sie isst Gebäck, nimmt die Teilchen wahllos, ohne hinzusehen, mit zwei Fingern vom Sofatisch und steckt sie sich mit halb geschlossenen Augen in den Mund.
Das sind die Gouvernanten. Morgen kommt die Familie zurück, Monsieur und Madame Austeur, die vier Kinder von Monsieur und Madame Austeur, die Hausmädchen und sicherlich noch ein paar Freunde. Sie kommen vom Meer zurück, vom Strand.
Doch zuvor das Fest! Die Gala, die seit gut drei Wochen vorbereitet wird. Inès, ins Haus gegenüber entsandt, um den greisen Herrn zu pflegen, weinte gestern noch vor Sorge, diesen Abend zu verpassen, die Ärmste. Sie kochte Kräutertee im stickig heißen Zimmer und blickte dabei immer wieder aus dem Fenster. Sie sah den Park, die Allee inmitten der grauen Rasenflächen, ein winziges Eckchen von der Bank, das unter dem Laubdach hervorlugte, einen kleinen Jungen, der als Letzter hinter seinem Reifen herjagte. Als der greise Herr seinen Kräutertee ausgetrunken, seine Brille aufgesetzt und sein großes Buch aufgeschlagen hatte, nahm sie am Fenster Platz. Im großen grauen Park bebten die Kronen der alten Bäume, und die jungen Bäume bebten von oben bis unten. In der Ferne wurde das winzige Haus nur in der Mitte von einem schwachen Lämpchen erhellt. Was trieben ihre beiden Freundinnen? Bereiteten sie wenigstens das Fest vor?
Im Haus gegenüber, in den Tiefen des nachdunklen Parks, spielen die Gouvernanten Karten. Éléonore, die doch so einen ernsthaften Eindruck machte, lacht aus vollem Halse. Sie hat ganz rosige Wangen. Wirft den Kopf zurück und schüttelt ihr feuchtes Haar. Einer der kleinen Jungen hat sich im Salon in einen breiten Ledersessel verkrochen. Er stützt sich auf seinen Reifen wie auf die Reling eines Schiffsdecks und sieht den beiden Gouvernanten zu, während sie Karten spielen und seidenzarte kleine Zigaretten rauchen. Ab und zu pickt er mit einer Hand eine Olive aus der großen Keramikschale neben dem Sessel, mit der anderen hält er seinen Reifen fest.
Unter der laut schlagenden Standuhr befindet sich ein anderer kleiner Junge. Aufrecht in seinen kurzen Hosen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, neigt er sich leicht vor, um zu überprüfen, ob seine Füße exakt in der Parkettfliese stehen, ohne den Rand zu übertreten. Eine dicke glatte Haarsträhne verdeckt die rechte Seite seines Gesichts.
Überall im Haus, auf den Treppen und Treppenabsätzen, sind noch mehr kleine Jungen unterwegs, sie gehen nach oben, nach unten, begegnen einander wortlos. Gelegentlich rollt ein Reifen die Stufen hinunter und schlägt in der großen Eingangshalle auf. Einmal rollt er ungehindert weiter, quer durch den Salon, und stößt dabei eine Vase von einem der Beistelltische. Dann strömen die Kinder dutzendweise herbei, um die Scherben aufzusammeln.
Wollte man sich allein auf diesen Abend stützen, um die Eignung der Gouvernanten zu bewerten, würde man wohl zu dem Schluss gelangen, dass Monsieur und Madame Austeur sehr nachlässig waren, als sie so leichtsinnige junge Damen einstellten. Womöglich ging es sogar nicht mit rechten Dingen zu.
Man muss ihnen allerdings zugestehen, dass sie unschlagbar sind, wenn es ums Feiern geht. Unter allen anderen Umständen – soweit sich das beurteilen lässt, seit sie im Dienste von Monsieur und Madame Austeur stehen – mutet ihre Fantasie eher träge an, verhüllt von einer seltsamen Schamhaftigkeit. Doch sobald von einem Fest die Rede ist, einem Geburtstag oder jedem anderen Jubiläum, erwacht diese Fantasie aus dem Schlaf der Gerechten, entfaltet sich, breitet die Arme aus, wirft die Beine in die Luft und springt mit anmutigem Schwung über Bord.
In Anbetracht dieser besonderen Begabung haben Monsieur und Madame Austeur, die durchaus gern feiern, die Gouvernanten gewissermaßen befördert, wobei ihr höherer Posten noch einer genauen Definition harrt; es könnte sich um so etwas handeln wie »Beauftragte für Lustbarkeiten aller Art«. Großzügig wie immer, überließ das Paar seinen kreativen Köpfen die geräumigen Empfangszimmer im oberen Stockwerk, damit sie dort ihre Büros einrichten und alle Requisiten lagern, Lampions, Reifen, Statisten, »bei Bedarf auch Akrobaten«, wie Monsieur Austeur gnädig hinzufügte, verzaubert von einem Talent, das ihm selbst leider schon vor langer Zeit abhandengekommen war.
Dennoch hat er wohl einen Fehler begangen, als er den Gouvernanten die Schlüssel zu sämtlichen Zimmern und Vorzimmern, zu den Schränken im Erdgeschoss und den Schubladen des Frisiertisches anvertraute, ohne Madame darüber in Kenntnis zu setzen. Angesichts dieser ungeahnten Freigebigkeit zeigte sie sich betrübt. Den ganzen Tag streifte Madame in ihrem langen grauen Kleid im Garten umher und rupfte Blüten ab. Nachdem Monsieur Austeur sie am Abend zwischen Eingangshalle und Speisezimmer mit einer flüchtigen Liebkosung besänftigt hatte, strahlte sie während des ganzen Essens.
Heute sind Monsieur und Madame Austeur am Meer. Morgen kommen sie zurück, zusammen mit den Hausmädchen und sicherlich noch ein paar Freunden, im langen Wagen, der den kleinen Jungen so gut gefällt.
Die Feste beginnen immer gleich. Die Gouvernanten ziehen sich ein paar Abende lang in ihre Zimmer zurück, bekommen Hitzewallungen, Herzrasen und rote Flecken. Einmal – tatsächlich nur ein einziges Mal – kam es sogar zu Ohnmachtsanfällen in der Halle und auf der Treppe. Monsieur Austeur rannte auf der Suche nach Riechsalz hin und her, Julie (seine Gattin) wand ihre weißen Arme, während die Gouvernanten zu ihren Füßen darniederlagen. Doch in der Regel geht es harmloser zu. Sie erröten also, klimpern beim Abendessen mit den Wimpern, werfen eine Suppenschüssel um, brechen unvermittelt in Tränen aus und flüchten in ihre Zimmer. Dann summt Madame Austeur ein kitschiges Liedchen und zwinkert Monsieur Austeur verschwörerisch zu. »Sie gehören unter die Haube, sie gehören unter die Haube«, summt nun Monsieur Austeur verschmitzt. Und die beiden Eheleute lächeln sich an wie weise Eltern, deren Töchter zum ersten Mal verliebt sind.
Bleiben wir aber bei den Gouvernanten. Sie sind doch keine sechzehn mehr! Und in der Regel wenig verträumt. Was soll also dieses ganze Theater?
Éléonore und Laura pflegen ein gutes Verhältnis zu Inès, der das Konversieren so leichtfällt. Beide ermutigen sie, diese Begabung zu stärken, »die ihr schöne Erfolge einbringen wird«, wie sie freundlich sagen. Manchmal, wenn der greise Herr ein Schläfchen macht oder eine Patience legt, gehen sie zu dritt gemächlich im Garten spazieren, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Inès klagt, sie habe nur selten Gelegenheit, ihre Kunst zu erproben: Der greise Herr schweige meistens, während das Personal nicht auf der Höhe sei. Nur im Beisein ihrer Freundinnen habe sie Gelegenheit, ihre Fähigkeiten ein wenig zu erweitern, ihren Esprit zu entfalten und zu verfeinern.
Dann reden sie über Männer, das bevorzugte Thema ihrer Konversationsübungen. Wenn man sie hört, könnte man meinen, sie hätten immer nur jenseits des Gartentors welche zu Gesicht bekommen. Sie beschreiben den Weg, den die Männer einschlagen, ihre Handzeichen, ergänzen manche Details, dichten etwas hinzu, wenn ein wesentliches Element fehlt, befragen sich gegenseitig. Sie vergleichen die Männer mit Monsieur Austeur, suchen nach Ähnlichkeiten, nach Unterschieden, und wenn der Nachmittag vorbei ist und es gegen sechs im Park und in seiner Umgebung kühl wird, kleben sie schließlich alle drei wie große tote Falter am Gartentor.
Dabei sind sie keineswegs naiv. Éléonore war sechs Jahre mit Tom zusammen, Laura hatte sieben Liebschaften und Inès mindestens genauso viele.
Alle drei tragen sie gelbe Kleider, abends am Gartentor. Unmittelbar davor führt die Landstraße über eine Kuppe und macht gleich danach einen Knick. Das ist nicht gerade günstig, wenn man die Mienen der Passanten beäugen möchte. Am besten gelingt es, wenn sie zu Fuß unterwegs sind. Dann haben die drei genug Zeit, um sie kommen zu sehen und sie von vorn zu betrachten, bevor sie selbst entdeckt werden. Bleiben die Passanten am Tor stehen, die Hände in den Hosentaschen, wissen die Gouvernanten bereits eine Menge über sie. So ist Inès beispielsweise sicher, dass der da nicht ihr Fall ist. Éléonore zieht den Gürtel enger, stellt sich auf die Fersen und bauscht ihr Haar auf. Laura lässt sich die eine oder andere Frage einfallen.
Gelegentlich hält beim Anblick der drei großen Falter ein Wagen an, und der Mann, der ihm entsteigt, macht ihnen überaus eindeutige Zeichen. Er rüttelt am Tor, will sich Zugang verschaffen. Sie weichen kein bisschen zurück. Manchmal brüllt der Mann, weil er sie begehrt, und beginnt ein quälendes Gespräch. Sie antworten gemeinsam oder nacheinander, doch so gut wie einstimmig. Es kommt vor, dass der Mann weint, und dann bieten sie ihm eine Pobacke an, eine Brust, einen Mund, ein paar Hände. Weil sie zu dritt sind, holt er Freunde, weitere Männer hinzu. Eine solche Gelegenheit darf man sich nicht entgehen lassen. Sie fahren mit Wagen vor, zehn, fünfzehn Männer, und so werden ganze Abende zugebracht: drei gelbe Gouvernanten am Gartentor, lauter Männer in abendgrauer Landschaft, unter hohen Bäumen am Rand der Straße, die über eine Kuppe führt und dann einen Knick macht.
Dabei sind sie keineswegs käuflich oder flatterhaft oder in irgendeiner Weise anrüchig. Sie sind auch nie wegen peinlicher Gerüchte in Verruf geraten. Es hat eher den Anschein, als wären sie von der allzu großen Stille in den Häusern ihrer Herrschaft überreizt. Diese Stille mag der Lektüre, der Meditation, der Erziehung von kleinen Jungen und begnadeten Reifenspielern, dem Schläfchen des greisen Herrn, der verglimmenden Liebe von Monsieur und Madame Austeur zuträglich sein, aber manchmal setzt sie sich so hartnäckig unter den hohen Bäumen im Garten fest, in den Fluren und Salons, dass es den Gouvernanten Angst macht, dort zu wohnen. Und dann suchen sie nach Ablenkung.
Selbstverständlich dürfen sie ausgehen. Aber wohin? Sie haben weder Familie noch Eltern und auch so gut wie kein Vorleben, denn das alles starb an dem Tag, als sie in den Dienst von Monsieur und Madame Austeur traten. An diesem Tag mussten sie alles hinter sich lassen. Und das ging so: Die Bäume aus ihrem Schulhof, zum Beispiel, die Bäume ihrer Großeltern und die am Rand der Straße, die sie zum Strand führte, all diese Bäume und auch sämtliche anderen sind in den Park von Monsieur und Madame Austeur gestürmt, um sich an die Ulmen und Eichen zu schmiegen, mit ihnen zu verschmelzen und in ihnen aufzugehen. Genau das passierte auch mit den Häusern, Scheunen, Schlössern und Städten. Alles drängte sich am Morgen ihrer Ankunft durch das weit geöffnete Tor, fiel in das Haus der Herrschaften ein, und kaum war es Abend geworden, hatte das Anwesen von Monsieur und Madame Austeur eine beträchtliche Menge an Stützbalken, Dachziegeln, Schornsteinen und noch schlagenden Wanduhren verschlungen.