Die griechische Tragödie und Hamlet - Andreas Mehlstaub - E-Book

Die griechische Tragödie und Hamlet E-Book

Andreas Mehlstaub

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Beschreibung

Die vorliegende Arbeit stellt einen Versuch dar, einige der Konzepte, die der Autor in einer früheren Untersuchung (A. Mehlstaub, 2014) entwickelt hat, auf den konkreten Fall der Tragödie anzuwenden und auf diese Weise deren Validität zu überprüfen. Es wurden zu diesem Zweck Erkenntnisse aus den Bereichen der Philosophie, der griechischen Philologie, der Literaturgeschichte, der Literaturkritik, der Geistesgeschichte, der Geschichte der Psychologie und der Psychoanalyse unter dem Dach der Philosophie vernetzt. Das Ziel war, den Zusammenhang zwischen griechischer, neuzeitlicher und moderner Tragödie und Condition Humaine aufzuzeigen. Bei der psychoanalytischen Interpretation von "Hamlet" wurde ein Zugang gewählt, der am ehesten als phänomenologisch-psychoanalytisch bezeichnet werden kann.

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Für Susanne

1. Auflage 2016 2. vollständig überarbeitete Auflage 2023

VORWORT

Die Idee zur vorliegenden Arbeit entstand im Herbst 2014 und wurde angeregt durch eine Hamlet-Aufführung unter der Regie von Leander Haussmann am Berliner Ensemble. Im Anschluss entwickelte sich eine intensive Diskussion mit einem Freund, die sich um die psychologische Bedeutung der Handlung und der Charaktere drehte, und um die Frage, welcher Zusammenhang zwischen der Handlung von „Hamlet“ und der der „Orestie“ der griechischen Antike besteht. Aus diesen Anfängen entstand in den folgenden Monaten die Idee, die Tragödie „Hamlet“ nicht nur aus literaturwissenschaftlicher und psychologischer, sondern auch aus philosophischer Perspektive zu betrachten, auf der Grundlage der philosophisch-anthropologischen Konzeption, die der Autor in einer früheren Arbeit (A. Mehlstaub, 2014) vorgestellt hatte. In der vorliegenden Untersuchung wurde zusätzlich zum philosophischen und literaturwissenschaftlichen einen psychoanalytischen Zugang zur griechischen Tragödie und zu „Hamlet“ gewählt. Wodurch ergibt sich der Bezug zur Psychoanalyse? Erstens hat die Psychoanalyse einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Tragödie und der Psychologie Hamlets geleistet. Zweitens ist der Autor seit 25 Jahren als Psychiater und psychoanalytischer Psychotherapeut tätig, und konnte sich in dieser Zeit von der theoretischen Stringenz und vom praktischen Nutzen der psychoanalytischen Theorie überzeugen. Wie schon in der oben genannten früheren Publikation reizte den Autor der Gedanke, eine Brücke zwischen verschiedensten Wissenschaften zu schlagen. Es ging uns weniger darum, auf einem bestimmten Gebiet weitere Fortschritte zu erzielen, als zu zeigen, dass die vorliegenden Erkenntnisse ein sinnvolles Ganzes ergeben, wenn sie unter philosophischem Blickwinkel betrachtet werden. Weiter sollten die in der oben genannten Arbeit gewonnen philosophischen Einsichten auf einen konkreten Fall anwendet und auf diese Weise erprobt werden.

Wegen dieses engen philosophischen Bezugs möchten wir an den Anfang einige Vorinformationen stellen, die dem Leser ein Urteil erlauben sollen, ob die folgenden Betrachtungen für ihn interessant sein könnten. (1) In der vorliegenden Arbeit wird die Tragödie als Ausdruck der Condition Humaine verstanden, (2) der philosophische Zugang zur Tragödie ist derjenige der Deduktion aus einem allgemeinen Prinzip, (3) dieses ist, entsprechend des Zusammenhanges zwischen Tragödie und Condition Humaine, ein philosophisch-anthropologisches Prinzip, (4) insofern besteht ein Unterschied zum Vorgehen der modernen Wissenschaft, das induktiv ist und ihren jeweiligen Gegenstand als gegeben voraussetzt, (5) dagegen werden bei unserem Vorgehen die implizierten Voraussetzungen nicht nur mitgedacht, sondern auch explizit gemacht, (6) die „Richtigkeit“ der vorausgesetzten Idee ergibt sich aus ihrer Eignung für das Verständnis des empirisch Gegebenen, (7) die Intention der modernen Wissenschaft betrifft die praktische Beherrschung der Natur, unser philosophischer Zugang dagegen ist zweckfrei und zielt auf die Anschauung des Gegenstandes, (8) die Untersuchung will entsprechend nicht das wissenschaftlich gewonnene Wissen vermehren, sondern dieses zu einem übergeordneten Zusammenhang vernetzen, (9) diesem Vernetzungsgedanken entspricht aus unserer Sicht am besten die Methode des Literaturkommentars, d. h. die Erkenntnisse hervorragender Wissenschaftler werden aus philosophischer Sicht kommentiert, (10) es soll damit nicht bestritten werden, dass durch eine induktiv vorgehende Philosophie originelle und tiefe Einsichten in das Wesen des Menschen gewonnen werden können.

Die Leser, die Freude an einer unzeitgemässen Betrachtung haben, werden also bei der Lektüre unseres Textes auf ihre Rechnung kommen. Zur Illustration des oben zu unserer Methode Gesagten, soll als Beispiel aus der modernen Literatur eine Stelle aus Herbert Rosendorfers „Briefe in die chinesische Vergangenheit“ anführen. Bekanntlich versetzt sich darin ein Mandarin aus dem China des 10. Jahrhunderts mit Hilfe eines Zeit-Reise-Kompasses in die Gegenwart und landet dabei in München. Er schreibt Briefe an einen Kollegen, der weiter in der Vergangenheit in China lebt. Sein dreiunddreissigster Brief handelt vom modernen Bildungssystem und der modernen Philosophie. Unser Chinese kritisiert hier die Vermengung von Sein und Sollen im Denken der modernen Europäer (der sog. Grossnasen). Er meint, dass, nur deshalb, weil alle Menschen gleichbehandelt werden sollen, sie noch lange nicht gleich sind. Die Folge dieses Denkens sei eine Angst, den Dingen ins Auge zu sehen und sie beim Namen zu nennen. Es sei auf eine „augenwischende Philosophie“ (ibid., S. 339) zurückzuführen. „Die grossnäsische Philosophie denkt nicht darüber nach, wie der Mensch und seine Gesellschaft ist, sie befasst sich damit, immer neue Vorschläge zu erfinden, wie der Mensch und seine Gesellschaft sein soll.“ (ibid., S. 340) Man kann sich vorstellen, dass daraus eine „Verbesserungswut“ resultieren kann, die mehr zerstört, als verbessert. Zwar ist das Thema dieses Briefes die moralische Reduktion des Menschen auf das Machbare, man kann sich jedoch vorstellen, dass sich H. Rosendorfers Chinese auch sehr über die naturwissenschaftliche Reduktion der Dinge auf das Zweckmässige gewundert hätte. In ähnlicher Weise wie seinem Zeitreisenden, geht es auch uns in der vorliegenden Arbeit nicht um das weltanschauliche Sollen oder den wissenschaftlichen Nutzen, sondern um die Anschauung der menschlichen Dinge, wie sie sind.

Ich danke Martin Kleinschmidt für anregende Gespräche und meiner Frau für ihre Geduld und aufmunternde Unterstützung.

INHALT

Vorwort

Einleitung

1. Kapitel: Die griechische Tragödie aus philosophischer Sicht

A. Die Philosophie der klassischen Kunstform

Exkurs: Die zeitlose Tragödie: Aias, Macbeth, Ein Volksfeind, Der Ruf des Lebens

B. Die Geburt der Tragödie

C. Die griechische Tragödie aus historischer und philologischer Sicht

1. Allgemeines zur griechischen Tragödie

2. Analyse dreier exemplarischer griechischer Tragödien

Kapitel: Die Tragödie „Hamlet“ aus philosophischer Sicht

A. Die Philosophie der romantischen Kunstform

B. Das Weltbild des elisabethanischen Zeitalters

Exkurs: Die grosse Kette der Wesen

1. Shakespeares Dramaturgie

2. Der elisabethanische Konflikt

C. Die literaturkritische Auseinandersetzung mit „Hamlet“

1. „Hamlet“ als religiöses Drama

2. Tragödie und Vorsehung

3. Tragödie des Gewissens

Kapitel: „Hamlet“ aus psychoanalytischer Sicht

A. Hamlet als Gegenstand der Psychologie

1. Einwände gegen den psychologischen Zugang

2. Die Psychologie im Elisabethanischen Zeitalter

3. Hamlet als Melancholiker

B. Die psychoanalytische Interpretation

1. Das Unbewusste

2. Die psychoanalytische Triebtheorie

Exkurs: Eine Triebtheorie für unsere Zeit

3. Das Instanzenmodell

4. Der intrapsychische Konflikt

5. Abwehr, Gegenbesetzung, Kompromissbildung

6. Die Melancholie

7. Ödipuskomplex, ödipale Situation, ödipale Illusion

8. Das unbewusste Schuldgefühl

Exkurs: S. Freuds „Tragödientheorie“

9. Agieren

C. Hamlet und Orest

Literatur

EINLEITUNG

Inhalt der vorliegenden Arbeit ist zunächst eine philosophische Deutung bzw. ein philosophisches Verständnis der griechischen Tragödie (Kapitel 1). Wir werden uns bei der Darstellung des eigenen Standpunktes an den Werken von G. W. F. Hegel (Vorlesungen über die Ästhetik I-III, 2013), J. Latacz (Einführung in die griechische Tragödie, 1993) und W. Schadewaldt (Die griechische Tragödie, 1996) orientieren. Weiter werden wir auf F. Nietzsches „Die Geburt der Tragödie“ (1993) eingehen. Wir versuchen damit nicht, dem wissenschaftlichen Denken dieser Autoren umfassend und detailliert gerecht zu werden, sondern beschränken uns auf die Diskussion jener Elemente, die unserer Absicht der Vernetzung und der Gewinnung einer übergeordneten, philosophischen Perspektive dienlich sind. Wie erwähnt, wird die Methode der Darstellung die des Literaturkommentars sein, weil uns dieses Vorgehen dem Vernetzungsgedanken am angemessensten erscheint.

Im darauffolgenden Kapitel 2 wird es um die philosophische Deutung der Tragödie der englischen Renaissance, vor allem von W. Shakespeares „Hamlet“ gehen. Schliesslich werden wir, ausgehend von den zuvor gewonnenen Erkenntnissen, eine psychoanalytische Deutung von „Hamlet“ vorlegen (Kapitel 3). Am Schluss des 3. Kapitels wird kurz auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen „Hamlet“ und den Dramen um Orest eingegangen.

Die vorliegende Arbeit stellt eine Anwendung jener philosophischen Konzepte dar, die vom Autor in einer früheren Schrift vorgestellt wurden (A. Mehlstaub, Symmetrie in Philosophie und Einzelwissenschaften, 2014). Es ist deshalb erforderlich, zunächst die dort ausgeführten Überlegungen kurz zu wiederholen.

Es handelt sich um eine ontologische Konzeption, also um eine allgemeine Theorie, die sich auf das Wesen des Menschen sowie das Wesen der organischen und anorganischen Natur und auf deren Zusammenwirken beziehen. Entsprechend dieser Dreiteilung der gesamten Natur ist es von Nutzen, sich drei Seinsstufen als drei untereinander angeordnete Bereiche vorzustellen (gleichsam auf einer vertikalen Achse), beginnend oben mit dem Anorganischen, dem Organischen in der Mitte und dem Bereich des Menschlichen im engeren Sinn unten. In Abb. 1 sind diese Verhältnisse anschaulich gemacht. In diesen Bereichen finden sich die für die jeweiligen Seinsstufe charakteristischen Merkmale. Nun besteht auf jeder Ebene wieder eine Dreiteilung in jeweils Einzelnes, Vermittlung und Allgemeines (auf einer horizontalen Achse). Die von G. W. F. Hegel in seiner Ästhetik verwendeten Begriffe sind in Kursivschrift an den entsprechenden Stellen hinzugefügt. In der Spalte Einzelnes finden wir auf der Ebene des Anorganischen die einzelnen Objekte als solche, auf der Ebene des Organischen das einzelne Lebewesen, z. B. das einzelne Tier, auf der Ebene Mensch das einzelne Ich (Subjekt). In der dritten Spalte (Allgemeines) finden wir die Ideen, die für sich genommen (an sich) nur im Geist / im Denken existieren, nämlich Kosmos als Allgemeines, lebendige Natur bzw. Leben, Mensch an sich (als Gattung). Dazwischen in der Spalte der Vermittlung finden sich das Einzelne, wie es sich in der Wirklichkeit vorfindet, also das unbelebte Objekt in seinem Zusammenhang mit anderen Objekten, zu Systemen vermittelt (z. B. Sonnensystem), die veränderlich sind, die belebten Dinge vermittelt zu Arten (z. B. die Art Steinpilz, oder auch der Mensch als Art), die im Existenzkampf gegeneinander stehen und ebenfalls endlich, vergänglich sind (im Gegensatz zur Idee des Lebens als solcher), und die einzelnen Menschen vermittelt zu „Gruppen“, im Sinn höherer Einheiten, z. B. Familie, Stamm, Volk, Staat etc., die in ihrer Gesamtheit die Kultur bilden und gleichfalls ephemer, einem historischen Wandel unterworfen sind. Diese höheren Einheiten sind in sich vermittelt durch „Kräfte“, im Anorganischen die Kraft als solche, im Organischen der Sexualtrieb, im menschlichen Bereich die geistigen Kräfte. Es „gibt“ also keinen anorganischen Körper ohne Einbindung in ein System, kein Lebewesen ohne Integration ein eine Art und kein Ich ohne geistige Mitgliedschaft in einer Gruppe, unabhängig von Kultur, das Einzelne als solches ist genauso eine Abstraktion, wie das Allgemeine.

Die drei genannten Ebenen sind nicht nur als voneinander getrennt vorzustellen, sondern sie stehen zueinander in einer realen (nicht formalen) dialektischen Beziehung, indem die oberen Stufen in den jeweils darauffolgenden nicht nur überwunden (negiert), sondern zugleich „aufgehoben“ sind, sodass beispielsweise der Mensch die dialektische Einheit von anorganischer, organischer und im engeren Sinn menschlicher Stufe bildet. Ein weiteres verbindendes Moment stellt die auf allen drei Seinsstufen erfolgende Bildung von Arten (bzw. Systemen, Gruppen) dar, also höheren Einheiten, die wir in Zusammenhang mit dem Begriff des Eidos bzw. der Entelechie der platonisch-aristotelischen Tradition gebracht haben. Diese höheren Einheiten entsprechen jeweils „Synthesen“ des Einzelnen und Allgemeinen, wenn auch nur begrenzten und vergänglichen Synthesen. In der „Spalte“ des Allgemeinen dagegen finden wir die genannten Synthesen als unendliche und ewige. Beim Übergang von einer Ebene zur nächsten, z. B. vom Anorganischen zum Organischen, wird die erreichte Vermittlung der vorangehenden Ebene „gebrochen“ und muss auf eine neue, für die jeweilige Stufe typische Art und Weise wiederhergestellt werden. Dieser „Übergang“ ist nicht zeitlich zu verstehen, und die drei Ebenen sind als gleichwertig zu betrachten. Ergänzen müssen wir, dass der Bereich der Vermittlung beim Menschen im weitesten Sinn als Praxis beschrieben werden kann, insofern als auch der theoretische Zugang zu den Dingen als (geistige) Tätigkeit aufgefasst wird. Die Vermittlung kann aber auch unter dem Aspekt der Sprache betrachtetet werden. Das übergeordnete und sich durchhaltende Prinzip dieser drei unterschiedlichen Allgemeinheiten ist die Einheit von Selbst- und Arterhaltung. Diese Begriffe sind aus der Biologie genommen, werden hier jedoch in einem sehr abstrakten Sinn angewendet. Diese Konzeption ist nicht so zu verstehen, dass sich diese Verhältnisse nur für uns, also aus Sicht der 3. Ebene (des endlichen Bewusstseins) so darstellen, sondern dass diese Verhältnisse an sich bestehen (als Struktur der Dinge an sich), und insofern unser Denken mit der Realität an und für sich übereinstimmt. Es ergeben sich aus dieser Auffassung aber keine „letzten Antworten“, diese sind den Religionen bzw. Ideologien zu entnehmen, die jeweils unterschiedliche Konkretisierungen der genannten „höheren Einheit“ für den Glauben anbieten.

Der Ort der Vermittlung zwischen den verschiedenen Seinsstufen wird jeweils durch das Einzelne gebildet, hier treten die jeweiligen Brüche / Schnittstellen auf. So stirbt das Lebewesen (auch der Mensch) immer nur als Einzelnes, die Art als solche / die Idee bleibt zunächst davon unberührt. Auch wenn eine Art „ausstirbt“, stirbt sie nicht selbst, sondern nur insofern, als alle einzelnen Lebewesen einer Art sterben. Schliesslich existiert aber auch die einzelne Art nicht mehr, womit die reale Vergänglichkeit der Arten erwiesen ist. Wenn auf diesem Weg alle Arten ausgelöscht sind, „stirbt“ zuletzt auch die Idee des Lebens. Das, was also niemals untergeht, ist einzig die Idee des Kosmos. Auch jeder Mensch stirbt für sich allein, um den Titel eines bekannten Romans von Hans Fallada abzuwandeln. Entsprechend ist auch der Ort der Vermittlung zwischen typisch menschlicher und organischer Seinsstufe das Subjekt (Ich). Dieses hat gleichsam seine Existenz als Tierart Mensch, also seine Natur, aber auch die Natur insgesamt, in seinem Rücken. Da das menschliche Bewusstsein gleichsam „nach vorne“ / in die Zukunft gerichtet ist, in die Richtung der Vermittlung, also Kultur, Sprache etc., und des Ideals, kann man sagen, dass die eigene Natur, die organische und anorganische „Vergangenheit“ des Menschen und die Natur als Ganze dem Menschen wahrscheinlich grösstenteils unbekannt / unbewusst ist und immer bleiben wird. Die eigene Natur, das Tierhafte des Menschen betrifft nicht nur seinen Körper und dessen biologische und physikalische Bezüge, sondern auch seine tierische Psyche, also dasjenige, was als Triebe / Leidenschaften beschrieben wurde.

Wir wollen hier noch ein wenig beim Übergang vom Organischen zum typisch Menschlichen verweilen. Entsprechend der vom Autor vertretenen Position ist auf der Ebene des Organischen mit dem Auftreten der Arten eine perfekte Synthese von Selbst- und Arterhaltung erreicht. Beim Übergang zur menschlichen Seinsstufe wird diese Synthese gebrochen und muss mit Hilfe der Vermittlung durch die höheren Einheiten der obengenannten menschlichen „Gruppen“ wiederhergestellt werden. Im Rahmen dieser Vermittlung bleibt allerdings eine existenzielle Zerrissenheit bestehen, da erstens das einzelne Ich mit Bewusstsein ausgestattet ist, zweitens sich damit einerseits selbst bewusst ist, andererseits sich bewusst ist, dass es von der Vermittlung getrennt ist, drittens ihm grundsätzlich bewusst ist, dass die Vermittlung nur endlich und unvollkommen ist, und viertens dass somit eine Ideal existiert, mit dem diese Unvollkommenheit aufgehoben ist. Das Allgemeine ist dem Menschen somit grundsätzlich als Ideal bewusst, und dieses Allgemeine ist dem Inhalt nach die „verlorene“ Vermittlung von Selbst- und Arterhaltung. Diesem Ideal als Ideal entspricht eine Notwendigkeit, diesem nachzustreben, eine Notwendigkeit, der sich der Mensch nicht entziehen kann, das Ideal ist ihm als Aufgabe unweigerlich aufgegeben, und sei es auch in Form der Negation.

Abb. 1

EINZELNES ABSTRAKT

VERMITTLUNG KONKRET

ALLGEMEINES ABSTRAKT

Besonderes

Einzelnes

Allgemeines

Einzelne Himmelskörper z. B. Sterne, Planeten

Systembildung z. B. Sonnensystem vermittelt über Kräfte

Unbelebte Natur, Idee des Kosmos, Idee der Einheit von Materie und Kraft

Einzelne Lebewesen z. B. einzelner Steinpilz

Natürliche Arten vermittelt über Trieb zur Fortpflanzung

Belebte Natur, Idee des Lebens, Idee der Einheit von Individuum und Art

Einzelnes Ich (Subjekt) Bewusstsein

Handeln, Praxis Bildung von Gruppen z. B. Familie, Staat vermittelt über die Kraft des Eros

Substanz, Grund, als Ideal Idee des Menschen, Ideal der Einheit von Selbst- und Arterhaltung

Endliches Subjekt Geist Freiheit Selbständigkeit Bewusstsein Für sich

Konkret Objektivität Wirklichkeit Realisierung An und Für sich

Absolutes Subjekt Absoluter Geist Begriff Idee An sich

HARMONIA PRAESTABILITA LEIBNIZ

Nach dieser einführenden Darstellung der eigenen philosophischen Konzeption, wenden wir uns nun der Aufgabe zu, diese Konzeption auf das Verständnis der griechischen Tragödie anzuwenden. Hierzu ist es einleitend erforderlich, allgemein auf die Ästhetik G. W. F. Hegels einzugehen, da er den Begriff des Ideals, den wir - wie oben erwähnt - für zentral erachten, spezifisch im ästhetischen Bereich verwendet. Wir werden in der Einleitung nur die allgemeinen Konzepte G. W. F. Hegels behandeln, was näher die Tragödie betrifft, wird in den Kapiteln 1 und 2 besprochen.

G. W. F. Hegel unternimmt in seiner Ästhetik eine transzendentale Deduktion des gesamten Inhalts dieser philosophischen Disziplin, wobei er die Transzendentalität als absoluten Geist mit seinen Bestimmungen, die auch in der Exposition der Ästhetik deutlich werden, konkretisiert (Konkretisierung der Transzendentalität, siehe u. a. A. Mehlstaub, 2014). Zunächst (Vorlesungen über die Ästhetik I, 2013, S. 100 f.) gibt G. W. F. Hegel eine Übersicht über den Aufbau gesamten Ästhetik, wobei er so verfährt, dass sich die besonderen Teile logisch aus dem Begriff des Kunstschönen überhaupt ergeben. Dieser besteht darin, die Idee bzw. das Absolute möglichst perfekt in die Form der sinnlich bildlichen Anschauung zu bringen. „die Idee als das Kunstschöne ist nicht die Idee als solche ist, wie sie eine metaphysische Logik als das Absolute aufzufassen hat, sondern die Idee, insofern als sie zur Wirklichkeit fortgestaltet und mit dieser Wirklichkeit in unmittelbar entsprechende Einheit getreten ist“ (ibid., S. 104). Hierbei handelt es sich für Hegel um eine aktive Ausfaltung, wobei die Idee selbst zu ihrer vollendet adäquaten Darstellung drängt.

Es ist somit einerseits die Idee als solche und andererseits die Idee als Kunstschönes zu unterscheiden. Für die Aufgabe der sinnlichen Darstellung des Absoluten sind drei Bedingungen erforderlich: der Inhalt muss der Darstellung fähig sein, der Inhalt der Kunst muss als solcher konkret sein, und drittens demensprechend die sinnliche Form selbst auch konkret sein. Die Kunst ist umso wertvollen, je mehr sich Idee und Gestalt entsprechen und eine Einheit bilden. Unter Konkretheit der Idee versteht Hegel deren Eigenschaft, sich aus der Einheit auseinanderzubreiten und dann wieder zur Einheit zu vermitteln. Dadurch ergibt sich aus der Idee eine Totalität von besonderen Stufen und Formen.

Die Kunst ist damit aber nicht die höchste Weise, das geistig Konkrete zu fassen. Über ihr steht das Denken als solches, das ebenso konkretes Denken sein muss. Wie das Denken als solches eine Entwicklung und Folge von Stufen durchläuft, bis es den ihm entsprechenden Inhalt erreicht, so folgt auch die Kunstdarstellung einer Stufenfolge, die sie zu ihrem Gipfel als dem eigentlichen Inhalt gemässe Form der Darstellung führt. Diese Entwicklung der Kunst ist selbst einerseits eine solche bestimmter Weltanschauungen (Kunstformen), andererseits innerhalb dieser wieder einer Reihe besonderer Künste. Daraus ergibt sich eine Dreiteilung: die Idee des Kunstschönen (das Ideal als solches), die drei Kunstformen und die einzelnen Künste unterhalb der Kunstformen (wobei unsere Prosa von G. W. F. Hegel unter Poesie subsumiert wird).

Zu dem bisher Gesagten ist anzumerken, dass G. W. F. Hegel offenbar davon ausgeht, dass die Situation der vollendeten Entsprechung von Inhalt und Form in der dritten und letzten Kunstform tatsächlich erreicht wird. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass diese „optimale“ Kunstform sich nicht auch wieder auflösen und damit ihrem Untergang anheimfallen muss. An dieser Stelle tut sich für uns freilich ein gewisser Widerspruch in der Konzeption der realen Möglichkeit eines optimalen Entsprechens von Inhalt und Form in der Kunst auf. Es kann auch die Meinung vertreten werden, dass nach der dritten Kunstform die Kunst selbst zu existieren aufhört bzw. sich auf die reine abstrakte Subjektivität zurückzieht. Dieser Standpunkt würde jedenfalls unserer eigenen Konzeption eines unüberbrückbaren Zwiespaltes innerhalb der menschlichen Konstitution entsprechen. Wir werden im 2. Kapitel, bei der Darstellung der Entwicklung der 3. Kunstform bei G. W. F. Hegel, diese Frage des notwendigen Untergangs einer Kunst und Kultur überhaupt weiterverfolgen.

Als nächstes geht es bei G. W. F. Hegel (ibid., S. 127 f.) darum, die allgemeine Stellung des Kunstschönen im Gebiet der Wirklichkeit überhaupt, sowie der Ästhetik im Verhältnis zu anderen philosophischen Disziplinen zu definieren. Er wendet sich an dieser Stelle gegen diejenigen, die behaupten, dass die Kunst überhaupt dem denkenden Verstehen nicht zugänglich ist. „Die Schönheit aber ist nur eine bestimmte Weise der Äusserung des Wahren und steht deshalb dem begreifenden Denken, wenn es wirklich mit der Macht des Begriffes ausgerüstet ist, durchaus nach allen Seiten hin offen.“ (ibid., S. 127). In der Kunst geht es nun um die konkrete Darstellung des absoluten Geistes. Unter diesem versteht Hegel den Geist insofern er nicht der Natur als äusserer gegenübersteht, sondern insofern er die Natur als sein eigenes Produkt selbst setzt, d. h. erschafft. Auf die hier anklingende Doppeldeutigkeit gehen wir nicht ein, schliesslich kann der Mensch nicht wie Gott die Natur erschaffen. Es geht hier aber auch wohl nicht um eine praktische, sondern um eine rein geistige Tätigkeit, mit der die ursprüngliche Schöpfung nachvollzogen werden kann. Zuerst steht der Geist jedenfalls in der Position der Subjektivität, und ist damit der Natur entgegengesetzt. G. W. F. Hegel beschreibt dann das, was wir in unserer Konzeption als Bereich der Vermittlung bezeichnen: „In diese Sphäre fällt die Endlichkeit des theoretischen sowohl als des praktischen Geistes, die Beschränktheit im Erkennen und das blosse Sollen im Realisieren des Guten.“ (ibid., S. 129) Es geht hier um jenen Teil der Vermittlung (Praxis), der die Welt als blosse Erscheinung betrachtet und seinen Zwecken unterwerfen will. „Der Blick, das Bewusstsein, Wollen und Denken erhebt sich deshalb über sie und sucht und findet seine wahre Allgemeinheit, Einheit und Befriedigung anderswo: im Unendlichen und Wahren.“ (ibid., S. 129) Wir würden sagen, das Interesse wendet sich dem Allgemeinen als solchen zu, wobei diese Tätigkeit ebenfalls Teil der Vermittlung als Praxis darstellt. Es ist dabei allerdings eine kontemplative Einstellung gegenüber dem Inhalt vorherrschend (nicht ein Bedürfnis, sich den Gegenstand zu unterwerfen). Dieser Inhalt ist für Hegel der absolute Geist, der als solcher, wie oben erwähnt, die reine Tätigkeit des Erschaffens und wieder Vermittelns darstellt. Dieser Geist kann aber letztlich – wie wir meinen – nur denkend nachvollzogen werden bzw. als künstlerische Darstellung nachempfunden werden.

Das Kunstschöne grenzt Hegel nun nach den beiden oben erwähnten Seiten ab: es „ist weder die logische Idee, der absolute Gedanke, wie er im reinen Elemente des Denkens sich entwickelt [also der Gegenstand der Philosophie], noch ist es umgekehrt die natürliche Idee [der Gegenstand der Wissenschaft und Technik], sondern es gehört dem geistigen Gebiete an, ohne jedoch bei den Erkenntnissen und Taten des endlichen Geistes stehenzubleiben.“ (ibid., S. 130) Damit ist auch klargemacht, warum für die Philosophie ein Zugang zum Wesen der Kunst möglich ist. Weiter heisst es auf S. 131: „Aus diesem Standpunkte, welcher der Kunst in ihrer höchsten, wahrhaften Würde gebührt, erhellt sogleich, dass sie mit Religion und Philosophie sich auf demselben Gebiete befindet.“ Wir finden an dieser Stelle eine Gemeinsamkeit zwischen Kunst, Religion und Philosophie, die letztlich berechtigt, das Allgemeine als Idee, als absoluten Geist oder als Ideal, welchen Begriff Hegel für das Gebiet der Kunst reserviert hat, zu verstehen. Weshalb wir uns in unserer Konzeption für den Begriff „Ideal“ entschieden haben, soll weiter unten näher begründet werden.

Hegel analysiert anschliessend den Begriff des Schönen resp. der Kunst nach seinen wesentlichen Momenten: erstens der Inhalt, den Zweck, die Bedeutung, zweitens den Ausdruck, die Erscheinung und Realität dieses Inhalts, und drittens die beiden Seiten so voneinander durchdrungen, dass das Äussere, Besondere, ausschliesslich als Darstellung des Inneren erscheint. (ibid., S. 132) Diese drei Momente das Allgemeine, das Besondere und das Einzelne, ziehen sich durch die gesamte Darstellung der Ästhetik und bilden die eigentlichen formellen Komponenten des Hegelschen dialektischen Denkens überhaupt. Es liegt natürlich nahe diese Momente in Analogie zu unserer Unterscheidung des Allgemeine, Einzelnen und der Vermittlung zu setzen. Allerdings ist diese Dreiteilung bei G. W. F. Hegel mit einer Aktivität des Allgemeinen (des absoluten Geistes) selbst verbunden, mit der er diese Dreiheit setzt, während unsere Dreiteilung nicht als vom Allgemeinen gesetzt, sondern gleichsam nur in ihm nur gespiegelt wird. Allerdings kommt ein weiterer wesentlicher Aspekt in Betracht, den G. W. F. Hegel folgendermassen einführt: „… -, sondern die als blosser Inhalt abstrakte Bedeutung hat in sich selbst die Bestimmung, zur Ausführung zu kommen und sich dadurch konkret zu machen. Damit tritt wesentlich ein Sollen ein.“ (ibid., S 132, 133) Und genau dieses Sollen hatten wir als die imperative Wirksamkeit des Allgemeinen als Ideal auf das menschliche Leben bezeichnet. G. W. F. Hegel geht nun offenbar davon aus, dass sich diese Notwendigkeit grundsätzlich in Form von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit manifestiert, was nur die Realisierung im unserem Bereich der Vermittlung betreffen kann, der dialektische Dreischritt ist somit nur die Art und Weise (der Prozess), wie die Notwendigkeit auf die Ebene der Vermittlung einwirkt und dort ihre Realisierungen hervorbringt.

Interessant ist, dass diese Wirkung des Allgemeinen in Analogie zur christlichen Vorstellung der göttlichen Dreieinigkeit gedacht ist. Demensprechend ist für G. W. F. Hegel in der christlichen Religion das Wirken des absoluten Geistes am besten veranschaulicht. Weiter wird der Inhalt von G. W. F. Hegel als das Subjektive, Innere begriffen, als unbefriedigtes Bedürfnis, das danach strebt, sich zu objektivieren und sich damit aufzuheben und zu befriedigen. An sich ist das Subjektive nämlich das Totale, nämlich die Einheit des Subjektiven und des Objektiven. An diesen Stellen scheint Hegel die Notwendigkeit, mit der sich das Allgemeine im Bereich der Vermittlung realisiert, in Analogie zum Biologischen, als triebhaftes Streben zu sehen. „Diesen Prozess des Gegensatzes, Widerspruches und der Lösung des Widerspruches durchzumachen ist das höhere Vorrecht lebendiger Naturen;“ (ibid., S. 134) Dieser Aussage G. W. F. Hegels müssen wir widersprechen, indem wir den gleichen Prozess der Notwendigkeit im Bereich des Anorganischen als wirksam erkennen, wo er vom Allgemeinen des Kosmos ausgeht, und zwar noch deutlicher ausschliesslich von dieser Seite, indem die anorganischen Objekte in sich die Aktivität des Lebendigen und des Geistes nicht aufbringen, mit der sie sich dem äusseren Zwang schöpferisch entgegenstellen könnten. Die genannte Auffassung G. W. F. Hegels scheint dem Umstand zuzuschreiben, dass er nicht wirklich klar zwischen der Schöpfung Gottes und der Schöpfungen des menschlichen Geistes unterscheidet. Sein absoluter Geist ist letztlich nur das Allgemeine, wie es sich auf der menschlichen Seinsstufe dem menschlichen Bewusstsein darstellt und hat damit nicht die Macht die reale Natur zu erschaffen. Es ist dies auch der wesentliche Grund, weshalb wir es vorziehen, auf der menschlichen Seinsstufe vom Allgemeinen als „blossem“ Ideal zu sprechen. Richtig ist allerdings, dass es nur in Identifikation mit diesem Ideal möglich ist, die Natur künstlerisch nachzubilden.

Andererseits unterscheiden sich die Arten der Notwendigkeit auch wieder deutlich je nach der Seinsstufe, auf der diese wirksam wird. Die je unterschiedlichen Arten der Notwendigkeit sind jedoch untereinander wieder dialektisch verknüpft. Diesen Seinsstufen-typischen Unterschieden geht G. W. F. Hegel auf S. 134 f. nach, indem er feststellt: „Den höchsten Inhalt nun, welchen das Subjektive in sich zu befassen vermag, können wir kurzweg die Freiheit nennen.“ Diese hat das Vernünftige zu ihrem Inhalt, z. B. die Sittlichkeit im Handeln, die Wahrheit im Denken. Ihr entgegen jedoch stehen die (blinde) Naturnotwendigkeit und im Inneren des Menschen die Triebe. „Die Tiere leben in Frieden mit sich und den Dingen um sie her, doch die geistige Natur des Menschen treibt die Zweiheit und Zerrissenheit hervor, in deren Widerspruch er sich herumschlägt.“ (ibid., S. 135) Die Philosophie kann den Gegensatz gedanklich erfassen und in allgemeiner Weise lösen, aber der Mensch in seinem Alltag sucht die unmittelbare Befriedigung, die ihn, weil sie nicht absolut ist, letztlich unbefriedigt lässt. Selbst die Befriedigungen der Wissbegier und die Ausübung des freien Willens lassen den Menschen letztlich unbefriedigt, weil der Inhalt trotzdem endlich und beschränkt bleibt. Hier kommt nun die Notwendigkeit ins Spiel, die mit der Suche nach einer höheren, substanzielleren Wahrheit verbunden ist. „In ihr hat der Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit, von Geist und Natur, von Wissen und Gegenstand, Gesetz und Trieb, der Gegensatz und Widerspruch überhaupt, welche Form er auch annehmen möge, als Gegensatz und Widerspruch keine Geltung und Macht mehr.“ (ibid., S. 137/138) Diese Wahrheit kann man wirklich nur als Ideal bezeichnen! Dass G. W. F. Hegel selbst dies gesehen hat, kommt in folgendem Satz zum Ausdruck: „Der Geist als wahrer Geist ist … kein der Gegenständlichkeit abstrakt-jenseitiges Wesen, sondern innerhalb derselben im endlichen Geiste die Erinnerung [Hervorhebung durch den Autor] des Wesens aller Dinge: das Endliche in seiner Wesentlichkeit sich ergreifend und somit selber wesentlich und absolut.“ (ibid., S. 139). Diese Äusserungen deuten darauf hin, dass G. W. F. Hegel den Geist in seiner (menschlichen) Endlichkeit nur als Erinnerung des eigentlichen absoluten Geistes begreift. Er unterscheidet nun drei Formen des Ergreifens der Wesentlichkeit: als erste die sinnliche (Kunst), als zweite die vorstellende (Religion) und als dritte die denkende Form (Philosophie).

Wir wenden uns nun G. W. F. Hegels Darstellung des Begriffs des Schönen zu (ibid., S. 145 f.). Wir haben schon erwähnt, dass in der Kunst die Idee sinnlich dargestellt wird, und die Idee in dieser Form der künstlerischen Darstellung nennt G. W. F. Hegel Ideal. Der Begriff Idee selbst wird nun von G. W. F. Hegel definiert als das Gesamt (Totalität) von Begriff, Realisierung desselben und der Einheit der beiden. Hierbei ist der Begriff die Seite des Allgemeinen und damit das Führende (gegenüber Besonderheit und Einzelheit des Begriffs), er entspricht dem Aktiven, Schöpfer. Die Idee stellt nur die Seite der Einzelheit dar, die sich aus dem Begriff als Allgemeinem entwickelt. Die Totalität (die Idee) ist also nur ein Moment des Allgemeinen selbst. Zugleich sind sie insofern voneinander unterschieden, als die Idee konkreter ist. Sie ist der Begriff als objektivierter, also in die selbständige Objektivität getreten. Die Idee soll eben nicht nur allgemeine Idee für das Denken sein, sondern sich auch äusserlich realisieren. An dieser Stelle kommt die Unterscheidung zwischen Begriff als Subjektivität und Begriff als Objektivität hinein. Die Idee als Totalität kann also allgemein sein oder äusserlich in Erscheinung treten. Diese Realisierung gibt sich aber der Begriff nur selbst. In dieser Objektivität muss sich deshalb auch der Begriff als das Allgemeine (das Besondere ist eigentlich nur der Prozess der Schöpfung) vorhanden sein. Diese sinnlich fassbare Einheit von Allgemeinem und Besonderem (Realität) ist nun das Schöne, das sinnliche Scheinen der Idee. Der schöne Gegenstand ist nicht mehr Gegenstand der theoretischen Erkenntnis (blosse Erscheinung im Kant’schen Sinn), sondern „… der schöne Gegenstand lässt in seiner Existenz seinen eigenen Begriff als realisiert erscheinen und zeigt an ihm selbst die subjektive Einheit und Lebendigkeit.“ (ibid., S. 155) Was das praktische Verhältnis zum Kunstwerk angeht, so treten gegenüber diesem die persönlichen Bedürfnisse (Aspekt des Nutzens) zurück, „… das Subjekt hebt seine Zwecke gegen das Objekt auf und betrachtet dasselbe als selbständig in sich, als Selbstzweck.“ (ibid.) Das schöne Objekt muss zwei Aspekte verbinden: erstens wirkt es wie aus sich selbst geschaffen, nicht künstlich erzeugt, auch die Form wirkt nicht künstlich, sondern von der Idee durchdrungen, zweitens muss aber das Objekt den Schein selbständiger Freiheit bewahren, hinter dem die Idee verborgen bleibt. „Beides muss im schönen Objekte vorhanden sein: die durch den Begriff gesetzte Notwendigkeit im Zusammengehören der besonderen Seiten und der Schein ihrer Freiheit als für sich und nicht nur für die Einheit hervorgegangener Teile.“ (ibid., S. 156).

Damit ist nun die Darstellung des Begriffs des Schönen bei G. W. F. Hegel abgeschlossen, der in ihrer Grossartigkeit nichts hinzugefügt werden kann. Dennoch bleiben auch an den zuletzt betrachteten Stellen einige Unklarheiten bestehen. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass sich G. W. F. Hegel in seiner Konzeption stark auf das christliche „Paradigma“ der göttlichen Dreieinigkeit und Erschaffung der Welt abzustützen scheint. So wird sein Begriff zu einer Abstraktion dieser Glaubensinhalte, die letztlich auf den menschlichen Geist nicht oder nur per analogiam anwendbar ist. So gehen denn in seinem Konzept des absoluten Geistes unsere Allgemeinheiten des Kosmos und der Idee des Menschen immer wieder durcheinander. Seine Dreiheit von Momenten ist deshalb eine geniale Beschreibung der Entstehung der unbelebten Natur aus der Idee des Kosmos. Auch die Idee, dass derselbe Vorgang bei der Schaffung grosser Kunstwerke durch den Künstler wesentlich ist, ist genial. Nur sind die Objekte der Kunst nicht mit Objekten der Natur gleichzusetzen, wie es bei G. W. F. Hegel immer wieder der Fall zu sein scheint. In unserem philosophischen Konzept wird vom Aspekt der Entstehung der beschriebenen Konstellation des Anorganischen, Organischen und Menschlichen gänzlich abstrahiert. Dadurch sind auch die letzten Reste christlich-religiöser Vorstellungen, die sich bei Hegel noch finden, beseitigt. Es ist in unserer Konzeption einerlei, ob dieselbe als Ergebnis eines göttlichen Schöpfungsaktes oder des Urknalls vorgestellt wird. Allerdings ist das Moment der Zeitlichkeit nicht eliminiert, es kommt aber ausschliesslich auf der Ebene der Vermittlung zum Tragen, als Entstehen und Vergehen kosmischer Systeme, als Entstehung und Untergang von Tierarten (inkl. der biologischen Tierart Mensch) und als historische Entstehung und Untergang von Kulturen.

Die Idee G. W. F. Hegels, dass Entstehung und Untergang der Kulturen auf das Walten des absoluten Geistes und des ihm immanenten Dreischritts zurückzuführen ist, entspricht unserer Konzeption, dass das Ideal auf der menschlichen Seinsstufe die historische Entwicklung und den Einzelnen in seinem Handeln mit unausweichlicher Notwendigkeit bestimmt. G. W. F. Hegel beschreibt diese Notwendigkeit besonders eindrucksvoll im Bereich der Kunst. Im Bereich der menschlichen Praxis scheint tatsächlich der genannte Dreischritt eine wesentliche Bedeutung zu haben. Dass es sich bei diesem absoluten Geist um ein Ideal handelt, geht daraus hervor, dass die auf diese Weise entstandenen Realisationen immer wieder zerfallen (z. B. beim Untergang der jeweiligen Kunstformen). Und das Gelingen der beschriebenen, wahrhaft „schönen“ Synthesen ist historisch ein seltener Fall, auf wenige Ausnahmepersönlichkeiten und möglicherweise nur ganz bestimmte historische Epochen beschränkt. Es würde auch der Zeitlichkeit der menschlichen Existenz im Geistigen entgegen sein und einem Stillstand der Geschichte entsprechen, wenn die genannten gelungenen Synthesen (künstlerisch, kulturell) von Dauer wären. Stattdessen ist die Dynamik das Reale, besonders in der heutigen Zeit, in der sich die Geschichte atemlos beschleunigt zu haben scheint. Andererseits scheint heute die Geschichte auch stillzustehen, wenn wir die kulturelle Entwicklung als Ganze betrachten. Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Konsequenz, den von Hegel verwendeten Begriff des Begriffs oder absoluten Geistes auf der menschlichen Seinsstufe durch den des Ideals zu ersetzen. Dennoch ist derselbe sehr gut geeignet, das Gemeinsame des Allgemeinen der drei Seinsstufen zu bezeichnen.

Nachdem wir nun den Begriff des Schönen bei G. W. F. Hegel betrachtet haben, wenden wir uns nun seinem Begriff des Ideals zu (ibid., S. 202 f.). Unter den allgemeinen Begriff des Schönen kommen das Naturschöne und das Kunstschöne. Wir beschränken uns hier natürlich auf die Besprechung des Kunstschönen, das mit dem Ideal gleichgesetzt wird.

G. W. F. Hegel hebt für die Realisierung des Kunstschönen drei wesentliche Aspekte hervor. Erstens muss das künstlerische Produkt zugleich mit seiner Beschränktheit an sich selbst einen substanziellen Gehalt manifestieren. Zweitens: um dem höheren Zweck gerecht zu werden, reinigt die Kunst das Kunstobjekt von aller Zufälligkeit und Äusserlichkeit, und realisiert damit das Ideal. Drittens: die Wendung ins Innere geht nicht bis zum Gedanken, sondern nur bis zur Synthese von Äusserlichem und Innerlichem. Was sich dadurch ergibt, ist die lebendige Individualität. Dieser Begriff ist zweideutig, er kann auf der Ebene des Organischen die künstlerische Darstellung des Eidos, der Entelechie meinen, oder auf der Ebene des Menschlichen derjenigen des Ideals des Menschen als Menschen entsprechen. Der übergeordnete Begriff ist für uns der der Synthese von Selbst- und Arterhaltung, oder in Hegels Terminologie der Synthese von Bestimmtem und Allgemeinem. Wir werden weiter unten sehen, dass das unterschiedliche Verständnis dieser Synthese als (organisches) Eidos oder als (humanes) eigentliches Ideal den Unterschied der künstlerischen Darstellung des Menschen in der klassischen und der sog. romantischen Kunstform ausmacht. An dem Begriff der lebendigen Individualität wird der Aspekt der Lebendigkeit, der das Allgemeine ausmacht, und derjenige der Individualität, der das Besondere bezeichnet, unterschieden. „Dadurch allein steht das Ideal im Äusserlichen in sich selbst zusammengeschlossen frei auf sich beruhend da, als sinnlich selig in sich, seiner sich freuend und geniessend.“ (ibid., S. 207) Zum künstlerischen Ideal gehört also die Darstellung der Insichreflektiertheit in der Besonderheit, die sich in den unterschiedlichen Kunstformen unterschiedlich ausprägt, so in der klassischen Kunstform das Sich-Selbstbleiben der Götter und Heroen trotz ihrem Scheitern am Schicksal, in der sog. romantischen Kunstform in einer inneren Seligkeit trotz endlichem Leiden und Schmerz.

Wir sind nun am Ende der einleitenden und allgemeinen Diskussion des Schönen und des Ideals bei G. W. F. Hegel angelangt, und können uns der philosophischen Betrachtung der griechischen Tragödie (Kapitel 1) und von Shakespeares „Hamlet“ zuwenden (Kapitel 2). Bei beiden Unternehmungen wird uns aber das Denken G. W. F. Hegels weiter begleiten und inspirieren.

1. KAPITEL: DIE GRIECHISCHE TRAGÖDIE AUS PHILOSOPHISCHER SICHT

Wir beginnen unsere Ausführungen mit einer Diskussion von G. W. F. Hegels Theorie der griechischen Tragödie. Er behandelt dieses Thema auf drei Ebenen: derjenigen der allgemeinen Voraussetzungen der Tragödie, derjenigen der sog. klassischen Kunstform bzw. Weltanschauung und derjenigen der griechischen Tragödie als einzelner Kunst als solcher.

Die allgemeinen Voraussetzungen der griechischen Tragödie werden unter dem Titel „Die Bestimmtheit des Ideals“ (G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Band I, S. 229 f.) abgehandelt. Das Ideal der Kunst muss sich bestimmen, und dies ist nur in Form idealer Objekte möglich. Wie kann dabei das Ideal sich trotz Heraustreten in die Bestimmtheit erhalten, und, umgekehrt, wie muss die Endlichkeit beschaffen sein, um das Ideal in sich aufnehmen zu können?

Mittelpunkt der Darstellung in der Kunst ist das Göttliche. Mit dem Sich-bestimmen der göttlichen Substanz an sich (des Allgemeinen) zerbricht diese in eine Vielheit selbständiger Götter. Weiter ist das Göttliche in seiner bestimmten Erscheinung in den Menschen gegenwärtig und wirksam. Damit hält in der Kunst auch die menschliche Partikularität Einzug, schliesslich soll das Ideal im konkreten Leben dargestellt werden.

Wie kann sich nun das Ideale in dieser Bestimmtheit äussern? Dies erfolgt erstens in Form einer unvergänglichen, unantastbaren Hoheit der Gestalten, trotz aller Verwicklungen in das endliche Leben. Die hierin zum Ausdruck kommende geistige Freiheit muss sich in diesem Beruhen auf sich selbst als die Möglichkeit von allem zeigen. Zweitens kann sie sich so äussern dass irgendein substanzieller Zweck, der den Menschen ausfüllt, das nur Partikuläre seiner Subjektivität beherrscht. Wenn nun drittens zu dieser ruhenden Bestimmtheit des Ideals das Prinzip der Entwicklung hinzukommt, so äussert sich das Ideal als Handlung. Mit dieser tritt das in sich ruhende Ideal in die Verwicklungen des menschlichen Lebens in seiner Zeitlichkeit ein. Es fragt sich nun, wie diese äussere Welt beschaffen sein muss, um der Individualität des Ideals zu entsprechen. Dieser Frage geht Hegel nach drei Seiten nach, und untersucht erstens den allgemeinen geistigen Weltzustand, zweitens die speziellere Situation und schliesslich die Handlung als solche.

Was den allgemeinen geistigen Weltzustand angeht, ergibt sich die Forderung dass dieser in der Form der Selbständigkeit erscheinen muss. Dies ist so zu verstehen, dass in diesem Zustand die Allgemeinheit selbst die Gestalt der Subjektivität (Selbständigkeit) hat. Die Selbständigkeit muss sich aber im allgemeinen Zustand unmittelbar ausdrücken, womit sogleich die Eigenschaft der Zufälligkeit des Willens verbunden ist. Konkret handelt es sich um eine Welt deren geistige Ordnung nicht durch die Herrschaft allgemeiner Gesetze geregelt ist, sondern in der die Existenz der sittlichen Inhalte allein auf den einzelnen Individuen mit ihrem Charakter und Gemüt beruht. Hier ist auch der Unterschied von Strafe und Rache begründet. Es handelt sich also um einen staatenlosen Zustand, wie er der Heroenzeit zugeschrieben wird. So macht für die alten Griechen in der Heroenzeit die Tugend den Grund der Handlungen aus. Hierbei besteht eine unmittelbare Einheit von Substanziellem und Individualität, sodass das Individuum selbst das Gesetz ist. Die griechischen Heroen treten in einem vorgesetzlichen Zeitalter auf oder werden selbst Stifter von Staaten. Von dieser Art ist auch das Lehnsverhältnis und Rittertum des Abendlandes. Man kann sagen, dass in diesem Weltzustand das Subjekt (das allgemeine Subjekt des Rechts) noch nicht von seinem Wollen und Handeln unterschieden wird. Deshalb muss und will das Individuum der Heroenzeit auch ungeteilt für das einstehen, was als Folgen aus seinem Tun entspringt (z. B. Antigone). Es spielt also keine Rolle, ob das Individuum als Subjekt von seiner Handlung gewusst hat (z. B. im „König Ödipus“). Dies ist sozusagen für die Anschauung der alten Griechen normal und muss also bei modernen Interpretationen mit berücksichtigt werden. Unsere Ansicht ist also moralischer, insofern als im Moralischen Wissen und Absicht eine wichtige Rolle spielen. Ebenso sieht sich das heroische Individuum in unmittelbarer Einheit mit dem sittlichen Ganzen, trennt nicht zwischen persönlichen Zwecken und Zwecken der Gesamtheit (z. B. der Familie). Deshalb gilt hier auch der Grundsatz der Sippenhaftung (Familienschuld). Man sieht aber auch, dass dieser „Zustand“ unserer Zeit durchaus nicht so fremd ist, und dass unter der Schicht der Geltung des positiven Rechts diese Haltung, z. B. im Bereich unzivilisierter Gesellschaften, durchaus fortbestehen kann. Allerdings gelten uns diese Phänomene keineswegs als heroische Einheit von Subjektivität und Gesetz, sondern als Ausdruck blosser Unvernunft und primitiver Selbstüberschätzung.

Die Idealität des Weltzustands wirkt sich auch auf die Wahl der Charaktere aus. Diese sind vorzugsweise wegen der Freiheit ihres Willens und Handelns Angehörige der Aristokratie. So bildet in der griechischen Tragödie der Chor nur den individualitätslosen, allgemeinen Boden der Gesinnungen, auf dem sich die individuellen Charaktere der handelnden Personen, die der Herrscherschicht angehören, bewegen. (ibid., S. 251) Diese Vorliebe für mächtige Individuen deutet auf den innigen Zusammenhang zwischen Tragödie und Politik hin. In rechtlich geordneten Verhältnissen manifestiert sich die Freiheit nicht so sehr in den Handlungen einzelner Individuen, als in den Aktionen grösserer Einheiten, z. B. ganzer Staaten. So ist es erklärbar, dass die Tragödie im alten Athen durchaus eine Institution für alle Bürger Athens war und damit mindestens implizit eine politische Veranstaltung. Und es lässt sich auch verstehen, dass in Athen, wo das positive Recht politische Realität war, die Zuschauer sich trotzdem mit den auf der Bühne agierenden Heroen sehr gut identifizieren konnten. Schliesslich war der Heros ein Repräsentant eines Gemeinwesens, ebenso wie der Zuschauer und Bürger ein Repräsentant Athens mit seiner demokratischen Verfassung. Schliesslich sind auch die Heroen der Vorzeit wesentlich nicht nur Gründer politischer Einheiten, sondern auch Repräsentanten von Volksstämmen oder Königreichen (z. B. Agamemnon der Herrscher von Argos). Wir werden uns mit der Frage des Zusammenhanges von Tragödie und Politik weiter unten näher beschäftigen.

Der ideale Weltzustand repräsentiert nur das selbständige Dasein in seiner Allgemeinheit und stellt damit nur die Möglichkeit der individuellen Gestaltung dar und nicht diese selbst. Dieser allgemeine (ideale) Boden schliesst sich nun für die Individuen zu besonderen Konstellationen auf, die die Möglichkeit bilden, dass sich die Individuen in ihrem Handeln als ideale Gestalten erweisen können. Dazu muss aber ein enger Zusammenhang zwischen idealem Weltzustand und idealen Individuen erhalten bleiben. Schliesslich sollen dem Handeln des Heros dieselben ewigen, weltbeherrschenden Mächte (derselbe substanzielle Gehalt) zugrunde liegen, die auch den allgemeinen Weltzustand erzeugen. Es kommt zum Auseinandertreten der Mächte, die im allgemeinen Weltzustand noch miteinander verbunden sind in einzelne Individuen, in denen das Allgemeine scheinbar entzweit ist, gleichzeitig aber als Allgemeines in Erscheinung tritt. Dieses Auseinandertreten kann aber nur unter bestimmten Umständen und Zuständen geschehen. Diese sind nur insofern wichtig, als sie den Individuen den Anlass geben, sich die substanziellen sittlichen Mächte als Motive ihres Handelns zu setzen und damit zu individuellen Repräsentanten dieser Mächte zu werden. Diese nähere Veranlassung für die Äusserung dessen, was im allgemeinen Weltzustand unentwickelt enthalten ist, ist die Situation. Zur Situation werden die Umstände und Verhältnisse, indem sie durch die Leidenschaft, die Gefühle ergriffen werden. Sie ist die Mittelstufe zwischen dem allgemeinen Weltzustand und der konkreten Handlung. Zunächst ist die Situation nur insoweit bestimmt, als sie den substanziellen Inhalt nur wie ein harmloses Spiel zum Ausdruck bringt. Aus diesem wird erst Ernst, sobald sich in der Situation eine wesentliche Differenz auftut, die im Gegensatz zu etwas anderem steht und eine Kollision begründet. „Die Kollision hat in dieser Rücksicht ihren Grund in einer Verletzung, welche nicht als Verletzung bleiben kann, sondern aufgehoben werden muss; sie ist eine Veränderung des ohne sie harmonischen Zustandes, welche selbst wieder zu verändern ist.“ (ibid., S. 267)

In dieser Passage kommt schön zum Ausdruck, welche die eigentliche Verletzung und damit Kollision darstellt, nämlich jene zwischen den einzelnen Bestimmtheiten und dem dahinter stehenden Allgemeinen, also der höheren Einheit, in der die einzelnen Bestimmtheiten bzw. einzelnen sittlichen Inhalte „aufgehoben“ sind. Wir werden weiter unten diesen „Konflikt“ als das eigentliche Wesen des Tragischen beschreiben. Inhaltlich handelt es sich um den Konflikt zwischen den handlungsleitenden Prinzipien der Selbst- und Arterhaltung. Der konflikthafte einzelne ethische Inhalt ist Inhalt der jeweils individuellen Hamartia, die am Ideal als solchem scheitert. Dieses Ideal ist die eigentliche Synthese der genannten Prinzipien. An dieser Stelle wird der tragische Konflikt jedoch erst auf der Ebene der Voraussetzungen der Handlung, also im Zusammenhang mit der Situation, zum Thema. Da die Kollision einer Auflösung bedarf, die dem Kampf von Gegensätzen folgt, ist die kollisionsvolle Situation vornehmlich der Gegenstand der dramatischen Kunst. „Durch die Darstellung solcher Verletzung wird daher das Ideal selber verletzt, und die Aufgabe der Kunst kann hier nur darin liegen, dass sie einerseits in dieser Differenz die freie Schönheit nicht untergehen lässt, und andererseits die Entzweiung und deren Kampf nur vorüberführt, damit sich aus ihr durch Lösung der Konflikte die Harmonie als Resultat ergebe und in dieser Weise erst in ihrer vollständigen Wesentlichkeit hervorsteche.“ (ibid., S. 268) G. W. F. Hegel unterscheidet folgende Arten von Kollisionen: erstens die rein physisch bzw. natürlich begründeten, zweitens die geistigen Kollisionen, die auf Naturgrundlagen beruhen (natürliche Geburt, Temperament / Charakter) sowie drittens die eigentlich interessanten geistigen Gegensätze, die aus der eigenen Tat der Menschen hervorgehen.

Die betrachteten Kollisionen bilden nur die Gelegenheit, aus denen sich die Kämpfe zwischen den eigentlichen geistigen Lebensmächten entwickeln. Als geistige Differenzen müssen sie aber selbst geistig, also allein aus dem menschlichen Handeln entsprungen sein. Es liegt somit einerseits eine Verletzung vor, die dem Handeln des Menschen entspringt, andererseits eine Verletzung an sich sittlich berechtigter Interessen und Mächte. Hegel unterscheidet drei Hauptfälle: erstens den Fall von Ödipus und Ajax, wo das Natürliche noch insofern hereinspielt, als sich der Widerstreit zwischen Bewusstsein bei der Tat und dem anschliessenden Bewusstsein von der Tat an sich ergibt, zweitens den Fall, dass zwei geistige Mächte bewusst miteinander in Konflikt geraten, was Leidenschaft als Ausgangspunkt nicht ausschliesst (z. B.in der Orestie). Unter geistiger Macht ist dabei etwas an und für sich Sittliches, Wahrhaftiges, Heiliges zu verstehen. Der dritte Fall ist der, wo die Tat nicht an sich schon kollidierend ist, sondern es erst durch die bewusst in Kauf genommenen Konsequenzen wird, z. B. in Romeo und Julia.

Nachdem sich auf diese Weise die allgemeinen Umstände zur Kollision entwickelt haben und es zur Verletzung berechtigter sittlicher Kräfte gekommen ist, fühlt sich die Leidenschaft veranlasst, auf die entstandene Verletzung zu reagieren. Damit kommt es zum Kampf der aus der Harmonie herausgetretenen Interessen gegeneinander. Da die vereinzelten Interessen aber einer gemeinsamen sittlichen Substanz entstammen, muss der Widerspruch notwendig wieder aufgelöst werden. Damit befinden wir uns aber allgemein auf einer neuen Ebene, nämlich der der Handlung. Diese setzt die früheren Stufen, allgemeine Umstände und Situation, voraus. Andererseits ist erst die Handlung die klarste Enthüllung des Individuums hinsichtlich seiner Gesinnung und Motive, und die vorher genannten Faktoren dürfen nur im Hinblick darauf für die Gestaltung von Bedeutung sein. An der Handlung (eines Stücks) unterscheidet G. W. F. Hegel nun erstens den wesentlichen Gehalt und Zweck, zweitens die handelnden Individuen und drittens, als die Vereinigung beider Seiten, den sog. Charakter. An dieser Stelle wird einmal mehr deutlich, dass G. W. F. Hegel immer drei Stufen für den Fortgang seiner Darstellung verwendet, wobei die erste jeweils das Allgemeine, die zweite das Besondere und die dritte die Synthese beider in der Einzelheit darstellt. Die übergeordnete Dreiheit der Darstellung bildet (1) die Idee des Kunstschönen oder das Ideal allgemein, (2) die besonderen historischen Kunstformen (z. B. die klassische und die sog. romantische), und (3) die besonderen Künste (z. B. die Architektur). Wir bewegen uns im Augenblick immer noch auf der allgemeinen Ebene, die erst in einem zweiten Schritt in die kulturhistorische Konkretisierung als bestimmte Kunstform übergeht. Anzumerken ist auch, dass die sog. romantische Kunstform nichts mit Romantik in unserem Sinn zu tun hat, sondern die Kunst des Abendlandes bezeichnen soll. Zuletzt werden wir uns dann noch mit der griechischen Tragödie als besonderer Kunst beschäftigen müssen.

Nun aber zu den allgemeinen Merkmalen der Handlung. Erstens müssen die sich bekämpfenden Interessen selbst vernünftig und berechtigt d. h. ideal sein. Inhaltlich handelt es um „die ewigen religiösen und sittlichen Verhältnisse: Familie, Vaterland, Staat, Kirche, Ruhm, Freundschaft, Stand, Würde, in der Welt der Romantischen besonders die Ehre, Liebe usf.“ (ibid., S. 286) Die genannten Mächte sind aber nicht als dem Subjekt äussere zu verstehen, sondern sind zugleich „Mächte des menschlichen Gemüts, welche der Mensch, weil er Mensch ist, anzuerkennen, in sich walten zu lassen und zu betätigen hat.“ (ibid.) G. W. F. Hegel führt in diesem Zusammenhang als Beispiel die Antigone an, in der Wohl der Stadt und Familienpietät gegeneinander stehen. Anzumerken ist hier aber, dass der genannte Konflikt nicht als moralischer in unserem Sinn gemeint ist, sondern dass hier das sog. Subjekt noch nicht als von den allgemeinen Grundsätzen unterschieden verstanden und dargestellt ist. Das Subjekt ist also innerlich ganz mit den sittlichen Grundsätzen identifiziert, die Welten der Triebe und des Gewissens noch nicht getrennt. Dies impliziert, dass das nur Böse und nur Schlechte als Inhalt der Handlung in der klassischen Kunstform ausscheidet, es muss immer auch das Element der sittlichen Berechtigung enthalten sein.

Zweitens müssen die auf der Grundlage der genannten Interessen, sittlichen Antriebe handelnden selbständigen Individuen nicht nur als von den höheren Interessen bestimmt, sondern auch als frei dargestellt werden, weil sie sonst unlebendig wirken würden. Es geht hier also um die Darstellung des Verhältnisses des Göttlichen zum Menschen. „Das echte ideale Verhältnis besteht in der Identität der Götter und Menschen, welche auch dann noch durchblicken muss, wenn die allgemeinen Mächte den handelnden Personen und deren Leidenschaften als selbständig und frei gegenübergestellt werden.“ (ibid., S. 195) Die Götter scheinen zwar das dem Menschen Fremde zu vollbringen, verrichten aber eigentlich nur dasjenige, was die Substanz seines inneren Gemüts ausmacht. Diese Präsenz der Götter, der sittlichen Mächte im Inneren des Menschen wird von den alten Griechen als Pathos bezeichnet. „Das Pathos in diesem Sinne ist eine in sich selbst berechtigte Macht des Gemüts, ein wesentlicher Gehalt der Vernünftigkeit und des freien Willens.“ (ibid., S. 301) Die Darstellung des Pathos ist das hauptsächlich Wirksame am Kunstwerk und im Zuschauer. „Denn das Pathos berührt eine Saite, welche in jedes Menschen Brust widerklingt, jeder kennt das Wertvolle und Vernünftige, das in dem Gehalt eines wahren Pathos liegt, und erkennt es an.“ (ibid., S. 302) Wir können ergänzen, dass dies auch der Grund ist, weshalb uns die Werke der alten Griechen oder Shakespeares immer noch bewegen und begeistern, nämlich weil sie bei aller Partikularität der Darstellung in dieser allgemein-menschlichen Seite verwurzelt sind. Zu dem obigen können wir anmerken, dass mit den Ausführungen G. W. F. Hegels über den Charakter der allgemeinen Mächte des Handelns als innerer und seine Definition des Pathos W. Schadewaltds Beschreibung des Daimonischen als dem Individuum sowohl äusserlicher, als auch innerlicher göttlicher Macht vorweggenommen wird.

Drittens erfordert ein solches Pathos nun wesentlich dass es als solches eine Darstellung und Ausmalung erhält, es muss also um konkret zu sein, in Gestalt eines reichen und totalen Geistes in Erscheinung treten. Diese Darstellung fasst G. W. F. Hegel mit dem Begriff des Charakters. Dieser bildet in dem dargestellten Gedankengang formal die Synthese der allgemeinen und individuellen Momente der Handlung. Der Charakter als solcher hat nun wieder drei Bestimmungen, die in der Beziehung Allgemeines, Besonderes und Individuelles zueinander stehen. Erstens muss der Charakter sich also als Vielseitigkeit und Reichtum unterschiedlicher substanzieller Interessen zeigen. Zweitens ist neben der inneren Differenzierung eine nähere Besonderung und Individualität des Charakters erforderlich, weil es sonst nicht zu einer Handlung mit Konflikt und Auflösung kommen kann. Drittens schliesslich muss diese Besonderheit mit der Subjektivität (Partikularität) zur Einheit verbunden werden, was dem Charakter seine Kraft und Festigkeit verleiht. In Abb. 2 sind die allgemeinen Voraussetzungen der Tragödie in einem Überblick zusammengefasst.

Abb. 2

A. DIE PHILOSOPHIE DER KLASSISCHEN KUNSTFORM

Nach der Beschreibung der allgemeinen Elemente des Schönen, können wir uns der Darstellung der sog. klassischen Kunstform zuwenden. Diese umfasst die weltanschaulichen Grundlagen der Kunst der alten Griechen. Wir werden die Überlegungen G. W. F. Hegels hier nur so weit behandeln, als sie sie für unser Thema relevant sind. Die der klassischen vorangehende Kunstform bezeichnet G. W. F. Hegel als symbolische, und er versteht darunter die Kunst des alten Orients, Indiens etc. Wir werden diese nur soweit einbeziehen, als es zur Charakterisierung der klassischen Kunstform erforderlich ist.

In der symbolischen Kunstform standen Bedeutung und Gestalt nur im Verhältnis der blossen Verwandtschaft und Andeutung, sodass erst die klassische Kunstform das Ideal des Schönen als Totalität der in sich abgeschlossenen Einheit von Inhalt und der ihm perfekt angemessenen Gestalt ausdrückt. Die klassische Kunstform nimmt aber auch das ihr Vorausgehende auf und verarbeitet dieses sozusagen auf einer höheren Ebene. Sie wird dadurch erreicht, dass sich das innere, geistige Moment gleichsam in der ihm gemässen Äusserlichkeit, Gestalt entfaltet, und gleichzeitig die besondere (konkrete) Gestalt als in sich reflektiert (selbständig) und damit geistig dargestellt wird. Diese bestimmte (selbständige) Gestalt, die zugleich Individuum ist, ist der Mensch, wobei dessen Objektivität, um dem Ideal gemäss zu sein, von den Merkmalen der Endlichkeit (auch des realen Todes) gereinigt ist. „Deshalb macht das Menschliche den Mittelpunkt und Inhalt der wahren Schönheit und Kunst aus; aber als Inhalt der Kunst, wie im Begriff des Ideals bereits entwickelt worden ist, unter der wesentlichen Bestimmung konkreter Individualität und der ihr adäquaten äusseren Erscheinung, welche in ihrer Objektivität von den Gebrechen der Endlichkeit gereinigt ist.“ (G. W. F. Hegel, Ästhetik II, S. 19 / 20) „Diese Gestalt ist wesentlich die menschliche, weil die Äusserlichkeit des Menschen allein befähigt ist, das Geistige in sinnlicher Weise zu offenbaren.“ (ibid., S. 21)

Der Begriff des Geistigen, wie er hier verwendet wird, unterscheidet jedoch noch nicht zwischen dem Geist an sich und dem Geist für sich (selbst). Wir werden sehen, dass der Geist für sich selbst erst in der romantischen Kunstform dargestellt wird. Der Geist an sich aber, wie er hier in der klassischen Kunstform auftritt, entspricht, wie wir später näher begründen wollen, dem Geist des Menschen in Analogie zu den (anderen) Tieren, also ohne seine wesenhafte Zerrissenheit als sich selbst bewusstes Wesen. Im klassischen Ideal ist demnach die für den Menschen wesentliche Differenz zwischen Ich, Vermittlung und allgemeinem Inhalt in eine Einheit aufgehoben, wie sie nur im Bereich des Organischen (z. B. Tierreich) als Immanenz des Allgemeinen realisiert ist. Anders ausgedrückt, ist die menschliche Zerrissenheit weggelassen, weggereinigt. Die klassische Kunst wird damit dem „realen“ Wesen des Menschen nicht ganz gerecht. Da selbst der reale Tod die klassischen Heroen nicht anficht, werden sie durchaus in ihrer Leiblichkeit im Hades wandelnd vorgestellt, allerdings als Menschen, die unter dem Verzicht auf die Möglichkeit des Handelns leiden. In der symbolischen Kunstform dagegen, wie bei den alten Ägyptern, wird der tote Herrscher mumifiziert und - in einem unerschütterlichen Gebäude beigesetzt - in das Bild der anorganischen Natur erhoben, aber als ewiger, wobei er mit dem Allgemeinen des Begriff des Kosmos vereinigt wird. Zur Darstellung dieser Verbindung ist dann eine abstrakte Gestaltung der Figur am angemessensten (wie an den ägyptischen Grabwänden). Wir sollten diese Kunst nicht verachten, auch sie stellt etwas sehr Wahres dar, nämlich den Menschen als letztlich auch anorganische Substanz. Sie stellt das heroische Bemühen dar, diese Seite seines Wesens möglichst adäquat darzustellen und damit (mit der Rückkehr ins Allgemeine des Kosmos, Ansich) zugleich zu überwinden. Aus einer übergeordneten Perspektive betrachtet, versucht also auch diese (die sog. symbolische) Kunstform nichts anderes, als die Einheit von Selbst- und Arterhaltung ästhetisch darzustellen.

Erwähnt werden muss noch der Aspekt, dass bei den alten Griechen Kunst und Religion eng verknüpft sind, indem die Kunst einerseits der höchste Ausdruck für das Religiöse und andererseits die griechische Religion eine Religion der Kunst selbst war. Der griechische Künstler bildet deshalb bei seiner Gestaltung auch den Inhalt unmerklich und unscheinbar fort. Überhaupt ist der griechische Künstler als freier Gestalter seiner Kunst anzusehen. Bei der Definition des Begriffs des Klassischen wendet sich G. W. F. Hegel gegen dessen Verallgemeinerung im Sinn von Kunstvollendung, und beschränkt ihn auf den griechischen Kunsttypus. Die Darstellung der klassischen Kunstform gliedert sich in drei Teile: erstens die Entwicklung der klassischen Kunstform aus der symbolischen, zweitens das Ideal der klassischen Kunstform und drittens die Auflösung der klassischen Kunstform. Im ersten Teil wird ausgeführt, wie die klassische Kunst die Inhalte der früheren Stufe in sich aufnimmt und verarbeitet, wobei sie dem Primat der in sich freien Individualität unterworfen werden. Die einzelnen Inhalte sollen hier nur angedeutet werden: die Tieropfer, die Jagden, die Verwandlungen, das Orakel, die alten Götter, ihre Besiegung, die Mysterien, die Naturgrundlage der neuen Götter. Infolge dieser Integration des Alten bleibt den griechischen Göttern und Heroen allerdings auch etwas Naturhaftes an ihnen selbst erhalten.

Näher beschäftigen wollen wir uns mit dem Ideal der klassischen Kunstform. Dieses „besteht nur darin, dass die klassische Kunst das, was ihren innersten Begriff ausmacht, wirklich erreicht und herausstellt.“ (ibid., S. 74), das heisst, zur Darstellung (Objektivität) bringt. „Als Inhalt ergreift sie auf diesem Standpunkt das Geistige, insofern es die Natur und deren Mächte in sein eigenes Bereich hereinzieht …“ (ibid.), das heisst sich mit den sittlichen Mächten innerlich identifiziert und mit ihnen unmittelbar Eins ist. „zur Form aber nimmt sie die menschliche Gestalt, Tat und Handlung, durch welche das Geistige in vollständiger Freiheit klar hindurchscheint …“. (ibid., S. 74/75) Wie in den anderen Abschnitten wird dieses Ideal dann in seiner Allgemeinheit, Besonderheit und Individualität betrachtet.

Wie sind nun die Götter des klassischen Ideals beschaffen? Erstens zeigen sie sich in ihrer konzentrierten Individualität als geistige Mächte und stehen als besonderer Charakter eigentlich in der Mitte zwischen Allgemeinheit und Besonderheit. Zweitens haben sie als schöne Gestalten Symbolisches und Naturhaftes nur als Beigaben und sollen nicht erhaben wirken, sondern sollen nur von Zufälligkeiten äusserer Bestimmtheit befreit sein. Drittens sollen sie den Adel und die Hoheit des Geistes zeigen, der sich von aller Bedürftigkeit des Endlichen löst. Es zeigt sich ein Widerspruch zwischen seliger Hoheit und Leiblichkeit, der letztlich als Beiklang von Trauer in ihrer göttlichen Heiterkeit aufgehoben ist. In optimaler Weise findet dieses Ideal von Göttlichkeit seine äussere Gestaltung in der Plastik.

Als Götter für die sinnliche Anschauung ist diese Göttlichkeit zudem in eine Vielheit von individuellen Göttern aufgespalten. „Dem Prinzip der klassischen Kunst ist der Polytheismus schlechthin wesentlich …“ (ibid., S. 88) Die einzelnen Götter sind Individuen allerdings nicht im Sinn blosser Allegorien, sondern jeder einzelne Gott hat zugleich in seiner Totalität auch die Eigenschaften der anderen Götter. „Denn jede Gestalt, als göttlich, ist immer auch das Ganze.“ (ibid., S. 88) Diese Vielheit von Göttern ist weder systematisch gegliedert, noch auch konsequent durchgeführt, sodass es zu Überlappungen der jeweiligen Zuständigkeiten kommt.

Schliesslich kann sich die Darstellung der Individualität aber nicht mit dieser immer noch relativ abstrakten Besonderheit des Charakters begnügen. „Indem nun das klassische Ideal nicht bei der in sich beruhenden Individualität verharrt, sondern dieselbe auch in Bewegung zu setzen, mit anderem in Verhältnis zu bringen und darauf wirksam zu zeigen hat, so bleibt auch der Charakter der Götter nicht bei der in sich selbst noch substanziellen Bestimmtheit stehen, sondern tritt in weitere Besonderheiten ein.“ (ibid., S. 93) Woher bezieht der Künstler den Stoff für diese speziellen Besonderheiten? Zunächst kommen die Naturreligionen in Frage, aus denen sich die griechische Mythologie entwickelt hat. Weiter sind es lokale Bezüge, wie lokale Sagen oder historische Geschehnisse oder bestimmte Kulthandlungen, die eine Quelle darstellen. Schliesslich ist es die Beziehung der Götter zu den Naturerscheinungen, menschlichen Taten und Begebenheiten im konkreten Umfeld, die auf die Auffassung und Charakteristik der Götter Einfluss haben. „Das Künstlerische auf dieser Stufe besteht darin, die Götterindividuen lebendig mit den menschlichen Handlungen zu verflechten und das Einzelne der Begebenheiten stets in die Allgemeinheit des Göttlichen zusammenzufassen …“ (ibid., S. 101) Dies geschieht nun in der Kunst auf die Weise, dass der göttliche Einfluss nur den inneren Leidenschaften der Menschen entspricht. Zugleich mit dieser Zufälligkeit der Charakteristik muss in der klassischen Kunst die Darstellung der Götter und Menschen aber auch immer die affirmative sittliche Grundlage zeigen. „Die Subjektivität bleibt mit dem substanziellen Inhalt ihrer Macht immer noch in Einheit.“ (ibid., S. 105)

Schliesslich kommt es infolge der beschriebenen Subjektivierung zur Auflösung der klassischen Kunstform. Mit der zunehmenden Individualisierung der Göttergestalten, geht ihnen an ihnen selbst das Gemeinsame verloren und tritt ihnen von aussen als eigene Macht, als Schicksal, entgegen. Dieses bleibt ohne Gestaltung und Individualität und ist nur abstrakt die Notwendigkeit als solche, der Götter und Menschen, wenn sie sich über ihre Grenze und Befugnis erheben, unterliegen. Indem nun dieses Allgemeine nicht mehr in den Göttern selbst vorhanden ist, sondern nur noch über ihnen schwebt, bemächtigt sich der unabhängig gewordenen sinnlichen Gestaltung ein Anthropomorphismus, der die Götter zum Gegenteil dessen macht, was sie an sich sind. Dieser Anthropomorphismus kann das religiöse Bedürfnis nicht mehr befriedigen, sodass sich das Bewusstsein von der objektiven Äusserlichkeit ab- und der subjektiven Innerlichkeit zuwendet.