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Die vorliegende Arbeit stellt den Versuch dar, eine Verbindung zwischen Philosophie einerseits und Natur- und Geisteswissenschaften andererseits herzustellen, ohne diesen Disziplinen ihre jeweilige Eigenständigkeit streitig zu machen. Wir hoffen, es ist uns gelungen zu zeigen, dass und in welcher Weise der Symmetriebegriff ein geeignetes philosophisches Brückenkonzept darstellt, das es erlaubt, sowohl die Seinweisen des Anorganischen, Organischen und Menschlichen stringent zu fassen als auch den Zusammenhang zwischen Erkenntnissen der Philosophie (bzw. der philosophischen Anthropologie) und der Einzelwissenschaften zu vermitteln. Hierbei ging es um die Frage, warum gewisse einzelwissenschaftliche Theorien in der Naturerklärung erfolgreicher sind als andere und dadurch zu dauerhafter Bedeutung gelangen.
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Seitenzahl: 279
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Für Susanne
Die Idee zu der vorliegenden Arbeit entstand im Sommer 2013. Ich hatte mich längere Zeit mit Fragen der Grundlagenphysik beschäftigt und war dabei auf den Begriff Symmetrie gestossen. Der Gedanke reizte mich, den Symmetriebegriff auf zentrale Fragen der Philosophie anzuwenden. Ich wollte allerdings ursprünglich kein Buch schreiben, denn es sollte nicht um die weitere Vermehrung von Spezialwissen gehen, sondern um eine Würdigung und Vernetzung von bereits Bestehendem. Wegen des Umfangs der Arbeit liess sich dann die Form eines Buchs letztlich doch nicht vermeiden – ich hoffe aber, dass es mir gelungen ist, den Gedanken der Vernetzung zu verdeutlichen. Neben meinem Medizinstudium in den 1980er-Jahren in Wien hatte ich auch einige Semester Philosophie inskribiert und war dabei Erich Heintel begegnet. Sein Denken und seine Anschauungen übten einen starken und nachhaltigen Eindruck auf mich aus. So nahm ich nun sein unvollendetes Buch über Grundlagenphilosophie (bzw. Ontologie) zur Hand, um in der Orientierung an seinem Gedankengang meine eigenen Ideen zu entwickeln. Im Weiteren wird sich die vorliegende Arbeit auch mit der Anwendung des Symmetriebegriffs auf Theorien der Biologie und vor allem der Psychoanalyse beschäftigen. Wie komme ich gerade auf das Thema Psychoanalyse? Ich bin seit ca. 25 Jahren als Psychiater und psychoanalytischer Psychotherapeut tätig und konnte mich in dieser Zeit von der theoretischen Stringenz und vom praktischen Nutzen zentraler psychoanalytischer Theorien überzeugen. Und es reizte mich, mithilfe der Philosophie eine Brücke zwischen Human- und Naturwissenschaften zu schlagen.
Ich danke Martin Kleinschmidt für seine wertvollen Hinweise, meinem Lektor Christof Rostert für seine sorgfältige Arbeit und meiner Frau für ihre Geduld und aufmunternde Unterstützung.
VORWORT
1 EINLEITUNG
2 PHILOSOPHIE UND ARTERHALTUNG
3 SYMMETRIE IN PHYSIK UND PHILOSOPHIE
4 SYMMETRIE IN DER PSYCHOANALYSE
5 ZUSAMMENFASSUNG
LITERATUR
Im Folgenden wird dargelegt werden, wie der moderne Symmetriebegriff, der vor allem in der neuzeitlichen Physik an Bedeutung gewonnen hat, als zentraler Begriff der philosophischen Anthropologie eingeführt werden kann. Er stellt hier das metaphysische Fundament für oftmals revolutionäre Erkenntnisse in den Einzelwissenschaften dar und bildet den Brückenbegriff für so gänzlich unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen wie Physik, Biologie und Psychoanalyse.
Allerdings muss an dieser Stelle kurz auf ein naheliegendes Missverständnis eingegangen werden. Wir entnehmen den Begriff „Symmetrie“ aus der Physik. Seine Anwendung auf andere Wissenschaften ist jedoch nicht so zu verstehen, dass die Erkenntnisse der Physik „wahrer“ sind als diejenigen anderer Wissenschaften und dass deren Erkenntnisse auf die der Physik reduziert werden könnten oder sollten. Vielmehr eröffnet dieser Begriff in den genannten anderen Disziplinen eine genuin neue Perspektive. Es sind somit grundsätzlich alle Wissenschaften insofern als gleichwertig zu betrachten, als keine näher an der Wahrheit ist als die andere und alle gleichermassen auf methodischen Abstraktionen fussen. Entsprechend sind auch deren Erkenntnisse nicht absolut und dem historischen Wandel unterworfen.
Als ich mich vor längerer Zeit mit einem früheren Schulkollegen, heute Physiker, darüber austauschte, dass ich Korrelationen zwischen physikalischen und psychologischen Theorien finden wolle, stimmte er mir zu, dass diese Idee einigermassen verrückt sei. Er meinte, menschliches Verhalten sei so komplex und mit so vielen Zufälligkeiten behaftet, dass es eine „fundamentale Theorie“ nicht gebe und vermutlich nicht geben könne. Nun, ich denke, das Problem der Komplexität ist eines des jeweiligen Blickwinkels, und man kann sich vorstellen, dass dem Physiker humanwissenschaftliche Theorien komplex erscheinen müssen, zumal ihm nur das eigene, begrenzte wissenschaftliche Rüstzeug zur Verfügung steht. Mit der Anwendung des Letzteren z. B. in der Biologie oder Soziologie ist es zwar möglich, „erfolgreich“ zu den Theorien eines „komplexeren“ wissenschaftlichen Bereichs beizutragen, es ist aber auf diese Weise nicht möglich, diesen wirklich in seiner Eigenart zu verstehen. Tatsächlich sind die Dinge nicht so kompliziert, wenn die angemessene Herangehensweise gewählt wird.
Eine Bemerkung noch zur Forderung nach Präzision. Auch diese muss an der jeweiligen methodischen Abstraktion der jeweiligen Wissenschaft gemessen werden. Die Wissenschaften vom Menschen streben nach immer grösserer Präzision, diese kann nicht nur in einem mathematischen Sinn verstanden werden. Welchen Massstab sollen wir dann aber wählen? Etwa unsere wissenschaftliche Redlichkeit oder die Geschichte (das wissenschaftliche Erbe) oder philosophische Massstäbe? Die philosophische Tradition im Sinn einer philosophia perennis (Leibniz) ist im 20. Jahrhundert wohl unterbrochen worden. An diese soll jedoch mit dem hier entwickelten philosophischen Symmetriebegriff angeknüpft werden.
Eine weitere Vorbemerkung bezieht sich auf die hier verwendete Methode. In den Einzelwissenschaften wird oft von „wilder Spekulation“ gesprochen, wenn die philosophischen Verirrungen ihrer Mitglieder kritisiert werden. Dieser Verdacht wird z. B. dann aufkommen, wenn behauptet wird, es sei heute möglich, die alten philosophischen Einsichten mathematisch zu präzisieren (Mainzer, 1988). Demgegenüber ist die hier angewandte Methode am ehesten als „geordnete Spekulation“ zu bezeichnen, also als Spekulation im positiven Sinn. Auf diese Weise ist es möglich, die einzelwissenschaftliche Perspektive zu transzendieren und auf ein Gebiet vorzustossen, das mit Recht das Gebiet der Metaphysik genannt werden darf. Je nachdem, ob man das historisch Bleibende und Wahre der Erkenntnis hervorheben will oder das Wandelbare und Unvollkommene derselben, wird man die Methode eher als positive Dialektik (Heintel, 1968) oder eher als aporetische Dialektik (Martin, 1965) bezeichnen.
Eine abschliessende Erläuterung verdient noch meine Art der Darstellung. Diese kann am ehesten als Methode des Literaturkommentars charakterisiert werden. Dadurch soll zum Ausdruck kommen, dass es für die hier diskutierten Fragestellungen weniger auf eine Vermehrung einzelwissenschaftlicher Erkenntnis ankommt als auf die Verknüpfung des bereits vorhandenen Wissens zu einem philosophischen Ganzen. Die folgenden Ausführungen werden sich also eng an ausgewählter Literatur zu den einzelnen Fachgebieten orientieren, und die beigefügten Kommentare werden den hier vertretenen Standpunkt verdeutlichen.
Nun aber wollen wir uns in medias res begeben. In den folgenden zwei Kapiteln wird der Symmetriebegriff im Bereich der Philosophie implementiert. Zunächst wird (im 2. Kapitel) anhand der Besprechung relevanter Stellen aus „Die beiden Labyrinthe der Philosophie“ von E. Heintel (1968) der philosophisch-anthropologische Standpunkt skizziert. Hier werden sich einige Vorgriffe auf das Thema „Symmetrie“ nicht vermeiden lassen.
Im 3. Kapitel wird zunächst der Symmetriebegriff in der modernen Physik ausführlicher diskutiert, vor allem in Orientierung an dem umfassenden und grundlegenden Werk von K. Mainzer (1988). Hierbei geht es nicht um die Diskussion der Details der physikalischen Theorien, die sich bis heute deutlich verändert haben und ständig weiterentwickeln, sondern um die Auseinandersetzung mit den grundlegenden Prinzipien der physikalischen Forschung. Anschliessend wird der physikalische Symmetriebegriff auf den Bereich der Ontologie übertragen und mit den entwickelten philosophisch-anthropologischen Thesen synthetisiert.
Das 4. Kapitel schliesslich widmet sich der Anwendung des Symmetriebegriffs auf wichtige theoretische Konzepte der Freud’schen Psychoanalyse.
In diesem Abschnitt wird die eigene philosophisch-anthropologische Position entwickelt, ausgehend von dem grundlegenden Werk Erich Heintels, „Die beiden Labyrinthe der Philosophie“, Band 1, 1968. In diesem ursprünglich auf drei Bände angelegten Werk sollte es um die Darlegung der Gesamtthematik von „Substanz und Freiheit“ (der beiden Labyrinthe) in ihren wichtigsten Aspekten und zuletzt um eine Synthese von Aristotelismus und Transzendentalismus gehen. Für unseren Zweck werden wir Teile der Einleitung heranziehen. Vervollständigt wird der philosophische Standpunkt in Anlehnung an die Werke von Gottfried Martin „Allgemeine Metaphysik“, 1965, und „Leibniz“, 1967. Weiter orientieren sich die entwickelten anthropologischen Thesen an Helmuth Plessner („Die Stufen des Organischen und der Mensch“, 1928). Zuletzt wird in diesem Kapitel auf Arnold Gehlens „Der Mensch“, 1940 (1950) und auf Sigmund Freuds „Totem und Tabu“, 1912–13, eingegangen. Zwei Exkurse sind Kants „Kritik der Urteilskraft“ und der „Metaphysik“ des Aristoteles gewidmet.
Heintel stellt seinem Buch als Motto einen Ausspruch von Leibniz (Brief an Redmond, 26. VIII. 1714) voran: „Wenn man die Spuren der Wahrheit bei den Alten, oder, um allgemeiner zu reden, bei den Vorgängern kenntlich machte, so würde man das Gold aus dem Kot, den Diamanten aus seiner Mine und das Licht aus der Finsternis ziehen, und es wäre in der Tat perennis quaedam philosophia.“ Heintel übernimmt den Begriff der „philosophia perennis“ im Sinn eines übergeordneten Zusammenhangs der gesamten philosophischen Tradition von den Ursprüngen bei den Griechen bis in die Gegenwart des Denkens. Hierbei geht es für ihn vor allem um die erwähnten „beiden Labyrinthe“, historisch repräsentiert durch die beiden Überlieferungen der Formmetaphysik (Aristotelismus) und Ichmetaphysik (Transzendentalismus). „… es gibt zwei Labyrinthe für den menschlichen Geist: das eine betrifft die Zusammensetzung des Kontinuums, das andere das Wesen der Freiheit. Das eine wie das andere aber entspringt aus derselben Quelle, nämlich aus dem Begriff des Unendlichen… [Denn] man muss vor allem wissen, dass alle Geschöpfe einen Stempel der göttlichen Unendlichkeit in sich tragen, und dass dies der Ursprung der vielen wundersamen Dinge ist, die den menschlichen Geist in Staunen setzen.“ (Leibniz: Über die Freiheit, II/499, und Theodizee, Vorrede, IV/7, zit. nach Heintel, 1968, S. 11) Aus der Sicht Heintels denkt Leibniz bei seiner „Monade“ nicht nur an die aristotelische Usia (die substanzielle Form), sondern auch an das „Ich“ der neuzeitlichen Transzendentalphilosophie (den aus Freiheit existierenden Begriff im Sinn Hegels). In beiden Hinsichten ist die Monade „eigentliche“ („wahre“ und „innerliche“) Einheit, in der ersten im Unterschied zum materiellen Aggregat (dem bloss „erscheinenden und nur äusserlich“ Zusammengesetzten), in der zweiten im Unterschied zu einer bloss aggregathaft verstandenen „Identität der Persönlichkeit“.
Die folgenden begrifflichen Klärungen aus der Einleitung bei Heintel (1968, Par. 2, S. 12) sind für unsere weitere Diskussion wesentlich: Leibniz bezeichnet die Monade ebenso als „Entelechie“ wie als „Ich“, als Entelechie repräsentiert sie jenes Allgemeine, das bei Aristoteles als unteilbares Eidos nicht nur logische, sondern auch ontologische Relevanz besitzt. Diese Art von Monade nennt Leibniz formales Atom, ihre Art des Repräsentierens „perzeptiv“. Das Ich dagegen ist die (sich) wissende und motivierende Monade, ihre Art des Repräsentierens heisst „apperzipierend“. Heintel unterscheidet „naturische“ Monade und „geistige“ Monade. „Der Unterschied von naturischer und geistiger Monade innerhalb der Monadizität überhaupt auf der einen, die Aufhebung dieses Unterschiedes in dem aus Freiheit existierenden Begriff auf der anderen Seite – weiterhin die mit diesen Fragen verbundenen Aporien sind es, die das fundamentalphilosophische Grundproblem Leibnizens ausmachen.“ (Heintel, 1968, S. 12) Und – wie wir ergänzen können – dasjenige Heintels.
Zum Begriff des Unendlichen führt Heintel aus (ibid., S. 16), dass die von Leibniz als Quelle beider Labyrinthe eingeführte Unendlichkeit die wahrhafte Einheit darstellt, im Unterschied zur „schlechten“ Unendlichkeit des als unendliche Ausdehnung gedachten Raums und der von ihm her formlos (nur geometrisch) gefassten Materie. Ohne diese innere Einheit wäre die Materie keine bestimmte Materie (z. B. ein Kristall) und würde als blosse räumliche Ausdehnung dahinschwinden. Sie ist die innere Einheit, der fundierende Begriff einer äusserlich erscheinenden Vielheit.
Nun noch einige Bemerkungen zur Kritik des Nominalismus bei Heintel. Dieses Thema ist u. a. im Zusammenhang unserer Diskussion des Begriffs „Potenzial“ weiter unten und in Kapitel 2 wichtig. Heintel geht auf dieses Thema an verschiedenen Stellen ein, wir greifen Par. 6 der Einleitung und Par. 26, Kap. 2 heraus. In Par. 6 geht es um das Universalienproblem. Dieses bezieht sich im herkömmlichen Sinn auf die Frage nach dem Seinswert des Allgemeinen überhaupt im Gegensatz zum Einzelnen. Für Heintel geht es dabei aber um die Frage nach dem ontologisch relevanten Allgemeinen, das die Differenzen des Repräsentierens der Form (organische Natur) und des Repräsentierens der Freiheit (Mensch) umfasst. Diese beiden Arten des Allgemeinen unterscheidet er vom bloss nominalistischen Allgemeinen. In der Neuzeit komme es zu einer vollständigen Disjunktion zwischen Nominalismus und Realismus (Platonismus). In dieser stehen sich das Allgemeine als ein Ideelles und Abstraktes und das Einzelne als ein Reales und Konkretes unversöhnlich gegenüber. Hierbei kommt es zu der absurden Situation, dass von dem so verstandenen Einzelnen eigentlich gar nichts mehr ausgesagt werden kann. Par. 26 ist der Diskussion des Zusammenhangs zwischen Nominalismus und neuzeitlicher Philosophie und Naturwissenschaft gewidmet. Heintel führt aus, dass sowohl Transzendentalismus als auch Positivismus (Empirismus) für das Problem des ontologisch relevanten Allgemeinen (gleichermassen bei Platon und Aristoteles) blind sind. Insofern stehe „hinter beiden Richtungen die Grundhaltung der neuzeitlichen Naturwissenschaft und ihre methodisch so bedeutsame Geisteraustreibung aus der Natur (Natur ohne Innerlichkeit)“ (S. 496).
Nach diesen einführenden Definitionen wenden wir uns der Diskussion derjenigen Stellen in der Einleitung der „beiden Labyrinthe“ zu, die für die Darstellung des eigenen philosophisch-anthropologischen (bzw. naturphilosophischen) Standpunkts relevant sind.
Zunächst müssen wir uns mit Par. 5 (Daseiender und existierender Begriff) beschäftigen. Hier geht es um die Eröffnung des Problems der Naturphilosophie in der Auseinandersetzung mit Hegel. Von Leibniz her unterscheidet Hegel die unmittelbare „In-sich-Reflektiertheit“ des (naturischen) Organismus von der (sich) wissenden und motivierenden „In-sich-Reflektiertheit“ des (geistigen) Menschen. Beides ist für ihn „Begriff“, ähnlich wie bei Leibniz unter den allgemeinen Begriff von Perzeption überhaupt sowohl Perzeption (im engeren Wortsinn) als auch Apperzeption fallen. Letztere bezeichnet Hegel als den aus Freiheit „existierenden“ Begriff. Heintel übernimmt diese Diktion und unterscheidet davon den „daseienden“ oder „unmittelbaren“ Begriff, wobei darunter für ihn sowohl Organisches als auch Anorganisches gefasst sind. Zum Wesensunterschied zwischen Menschlichem und „Naturischem“ äussert er sich folgendermassen (S. 73): „Es bildet einen bemerkenswerten Unterschied im ‚Repräsentieren‘… des (bloss) daseienden und des (auch) existierenden Begriffs, dass der erstere nur ein Allgemeines (‚seine‘ natürliche Art, species, eidos), der letztere im Rahmen dieser seiner ‚Art‘ nur jeweils ein Allgemeines ‚vorstellt‘, tatsächlich also in vielen allgemeinen Bezügen – sie zum Bewusstsein bringend und sich von ihnen her bestimmend – steht. Gewissermassen ist der Mensch ‚von Natur aus‘… das ‚pluralistische‘ Geschöpf, bei dem es so schwer ist, sein ‚Wesen‘ (seinen Wesensbegriff als…) zu bestimmen, weil er zwar wie jedes andere Tier nur ein Eidos repräsentiert, auf dieses aber nicht festgelegt und nicht festzulegen ist. Die ‚Ewigkeit‘ des Eidos im Ganzen der ‚ewigen‘ Ordnung der Physis (des ‚Kosmos‘) musste daher – sieht man allenfalls von der Einsicht in den Wandel der ‚Arten‘ ab – durch nichts so sehr in Frage gestellt werden als durch diesen im Freiheitsgedanken zum Bewusstsein kommenden gewissermassen ‚natürlichen‘ Pluralismus des Menschen, von dem her schliesslich jeder im Eidos (in ontologisch relevanter Allgemeinheit) fundierte Ordnungsgedanke und alle dazu analog verstandene ‚wesentliche‘ Bindung in der Beliebigkeit und der Willkür der sich in Schwebe bloss möglichen Handelns (vermeintlicher Freiheit) verstehenden Subjektivität vernichtet werden konnte.“ Der Absatz wurde vollständig zitiert, weil hier die anthropologische Grundposition Heintels am deutlichsten zum Ausdruck kommt.
In Abgrenzung dazu gehen wir in unserer naturphilosophischen Position davon aus, dass erstens Anorganisches und Organisches als verschiedene Seinsformen zu unterscheiden sind und zweitens dem Anorganischen eine spezielle Art von In-sich-Reflektiertheit zuzusprechen ist. Dieses „Sein“ des Anorganischen kann jedoch nicht im mikroskopischen, sondern nur im makroskopischen Bereich gefunden werden. Erstens muss sich Philosophie immer in der Anschauung bewähren bzw. hat sich einer ihr eigentümlichen (philosophischen) Methode zu befleissigen (wir werden unten bei der Diskussion der Frage der Methodik darauf zurückkommen) – sie kann nicht theoretisieren und experimentieren wie die Physik –, und zweitens deutet auch die Entwicklung der modernen Physik in eine solche Richtung. Zunächst hat sich gezeigt, dass in der „Quantentheorie“ die konkreten Einzelindividuen miteinander infolge Superposition und Korrelation „verschmelzen“. Der Begriff des „Einzelnen“ bzw. der „Monade“ verlangt aber nach konkreter Abgegrenztheit. Weiter schreitet die moderne Physik konsequenterweise in Richtung einer immer weitergehenden „Symmetrisierung“ (siehe Kapitel 3) voran, d. h. in Richtung einer Vereinheitlichung von Kraft und Materie, z. B. in der Theorie der Supergravitation, und damit in Richtung einer vollständigen Auflösung der „Monaden“ als unterscheidbarer Einzelner. Wie die Betrachtung der kosmischen Erscheinungen lehrt – und wir werden beinahe wöchentlich in den Zeitungen mit neuen spektakulären Bildern konfrontiert –, besteht der anorganische Kosmos aus Himmelskörpern sowie deren Vorstufen und Zerfallsprodukten als letzten Einheiten. In dem Entstehen und Vergehen dieser Objekte, in deren Geburt in den Spiralarmen der Galaxien als deren „Müttern“ und in deren „Begräbnis“ in den Zentren der Schwarzen Löcher oder anderen dunklen Materiefeldern erscheint die lebenszyklische Entwicklung im Bereich der organischen Monaden präformiert. Also kann man am ehesten diese Objekte als unbelebte „Monaden“ ansprechen (davon ausgehend, dass die Galaxien nur die Verbindung dieser Objekte mit deren Vorstufen und Endprodukten darstellen). Die „Himmelskörper“ sind somit als letzte Einheiten des Kosmos anzusehen.
Nun weiter zur Diskussion des Unterschieds der organischen von der menschlichen Natur (der Zusammenhang zwischen beiden steht in dem vorstehenden Zitat – noch – nicht zur Diskussion). Hier wird gesagt, dass der daseiende Begriff nur ein Eidos repräsentiert – der existierende Begriff dagegen repräsentiere sowohl jeweils ein Allgemeines als auch ein Eidos, sei auf dieses aber nicht festgelegt und nicht festzulegen. Wie kann nun dieser Widerspruch zwischen jeweils Einem und allgemein nur Einem aufgelöst werden? Offenbar geht es hier um den Unterschied von Realität und Idealität. Im nur Organischen ist die Einheit von Einzelnem und Allgemeinem (Art) durch das Einzelindividuum realisiert, beim Menschen hingegen stellt diese Einheit ein Ideal dar, dem er als Einzelindividuum nur jeweils auf seine Art gerecht werden kann – anders ausgedrückt, das er als Einzelindividuum nur auf jeweils seine begrenzte Art repräsentieren kann. Gleichzeitig handelt es sich bei diesem Ideal aber nicht um etwas Beliebiges, es handelt sich eben nicht um etwas, das „in der Beliebigkeit und der Willkür der sich in Schwebe bloss möglichen Handelns (vermeintlicher Freiheit) verstehenden Subjektivität vernichtet werden konnte“. Auf diese Weise vernichtet könnte es nur dann werden, wenn es eine „absolute“ Freiheit und ein „mögliches“ Handeln in der Realität gäbe. Aber es gibt kein „mögliches“ Handeln (wir kommen auf den Begriff des menschlichen Handelns später zurück) und keine „absolute“ Freiheit – vielmehr steht der Mensch unter dem Ideal und muss dem Ideal nachleben („nachhandeln“), er kann sich dem Ideal „Mensch“ nicht entziehen, selbst wenn er sich negativ zu diesem einstellt. Im Gegensatz zum organischen Lebewesen ist allerdings die Beziehung zwischen Einzelnem (Ich) und Ideal (Allgemeinem) vermittelt (über einen Zwischenbereich, den wir hier grob Kultur nennen). Aber wie gesagt, diese Ausführungen beziehen sich nur auf das typisch Menschliche und auf das typisch Organische und lassen vorläufig die Integration der Seinsweisen (des Anorganischen, des Organischen und des Menschlichen) ausser Acht.
In Vorwegnahme des Folgenden soll hier doch auch das Gemeinsame der drei oben unterschiedenen Seinsweisen erwähnt werden, weil sonst die weiteren Kommentare zu Heintels Ausführungen schwer verständlich wären. Das Gemeinsame der drei obenstehenden Seinsweisen ist im Begriff der „Erhaltung“ zu sehen. Die Beziehung dieses Begriffs (eigentlich dessen Äquivalenz) zu dem der Symmetrie werden wir im Kapitel 3 behandeln. Nun gibt es zwei Möglichkeiten, beim Individuum von Erhaltung zu sprechen: Selbsterhaltung oder Arterhaltung (bzw. Symmetrie). Im Bereich der Monadizität dient letztlich die Selbsterhaltung der Arterhaltung als der eigentlichen Synthesis von Individuum und Artbegriff. An dieser Stelle möchten wir einen häufig gegen eine solche Position geäusserten Einwand zurückweisen, nämlich, dass damit der Aufopferung des Einzelnen für die Allgemeinheit das Wort geredet werde. Es geht hier nicht um eine normative Aussage, sondern nur um die philosophisch-anthropologische Feststellung, dass der Mensch, indem er existiert, nicht anders kann, als sich aufzuopfern. Indem wir handeln, handeln wir also unausweichlich nach einem Ideal der Arterhaltung, wobei wir in der Praxis darin mehr oder weniger erfolgreich sein können. Im Bereich des Anorganischen ist die Selbsterhaltung offensichtlich der Arterhaltung untergeordnet. Der Untergang eines einzelnen Sterns erschüttert nicht das Ganze des Kosmos. Ebenso sind in der organischen Welt die Selbsterhaltungsprozesse der Arterhaltung untergeordnet, ja erreichen in dieser erst ihr eigentliches Ziel (ihren Zweck). Nur so lässt sich sinnvoll die Tatsache der Fortpflanzung erklären, und nur so die Spannung zwischen dem unausweichlichen Tod des einzelnen Individuums und dem „Weiterleben“ des Individuums in Form seiner Nachkommen – wobei diese die Einheit von Individuum und Art in einer aus der Sicht des Einzelnen abstrakteren Form repräsentieren als das Individuum selbst. Im Unterschied zur anorganischen Welt handelt es sich um eine aktive Form der Arterhaltung, nicht nur um das jeweilige Repräsentieren der Art; mit seinem Leben und Tod geht das Individuum also aktiv in seiner Art auf und gewinnt damit ein „ewiges“ Leben. Das organische Individuum bewegt sich somit in dieser Spannung zwischen einzelnem und allgemeinem („ewigem“) Leben, und mit seinem individuellen Leben und Sterben (dem Durchlaufen seines Lebenszyklus) dient es der „Ewigkeit“ seiner Art.
Das organische Wesen (wir nehmen jetzt beispielhaft dieses) steht also unter der Entelechie, seinem Eidos, wir haben das oben ausgeführt. Dieses Eidos – wenn wir es für sich betrachten wollen und annehmen, dass dies in philosophischer Intention gestattet ist – beinhaltet nicht nur die jeweilige Art, sondern die Einheit von Einzelnem und Allgemeinem (Art). Wie ist dieses Eidos im Einzelwesen verwirklicht und „repräsentiert“? Die „konkreten“ wirklichen Abläufe beim organischen Wesen (und auf seine Art auch beim anorganischen) sind in „idealer“ Weise harmonisch aufeinander abgestimmt, wobei zwei grosse Gruppen von Funktionen unterschieden werden können, nämlich diejenigen, die der Selbsterhaltung, und jene, die der Arterhaltung im engeren Sinn (also der Fortpflanzung) dienen. Wir werden auf diesen Punkt noch zurückkommen, wenn wir Plessners (1928) Anthropologie diskutieren. Etwas Ähnliches dürfen wir für den Bereich des Anorganischen annehmen, wenn wir uns gestatten, die obigen Überlegungen auf diesen Bereich anzuwenden. Nur müssen wir hier freilich wichtige Differenzierungen vornehmen, die wir hier nur andeuten werden (Näheres dazu bei der Diskussion von Plessner). Wir können annehmen, dass im Anorganischen das genannte Ideal (der Einheit von Einzelnem und Art) nicht innerlich vermittelt wird wie beim Lebewesen, das als Einzelindividuum „unter“ einem Ideal steht, dass vielmehr im anorganischen Bereich die einzelne Monade (z. B. ein Stern) die Formidee selbst nicht repräsentiert, sondern diese (die Einheit von Einzelnem und Art) unmittelbar ist und die (aktive) Vermittlung ausser sich hat. Wenn wir uns nun dem Menschen in seiner typischen Seinsweise zuwenden, so ist zunächst festzustellen, dass auf der Ebene der Konkretisierung die harmonische Einheit und Synthese von Selbst- und Arterhaltung gebrochen ist. Selbst- und Arterhaltung oder, anders ausgedrückt, Egoismus und Altruismus sind in der Realität voneinander abgekoppelt. Oder, wie es Heintel oben ausdrückt: „Gewissermassen ist der Mensch ‚von Natur aus‘… das ‚pluralistische‘ Geschöpf, bei dem es so schwer ist, sein ‚Wesen‘ (seinen Wesensbegriff als…) zu bestimmen, weil er zwar wie jedes andere Tier nur ein Eidos repräsentiert, auf dieses aber nicht festgelegt und nicht festzulegen ist.“ Beim Menschen muss die genannte Einheit und Harmonie durch ein Drittes vermittelt werden, was wir hier global als Kultur bezeichnen (im Gegensatz zur Natur), und die Einheit von Individuum und Art (bzw. von Egoismus und Altruismus) bleibt ein bewusstes Ideal, aber als solches ein zwingendes und unausweichliches, sodass das Individuum in seiner Freiheit nicht anders kann, als dieses auf jeweils seine eigene Art (wie wir sehen werden im Handeln) zu verwirklichen bzw. zu repräsentieren.
Im Fortgang seiner Ausführungen in Par. 5 der Einleitung fragt Heintel (S. 76), ob „unter das, was hier als ontologisch relevantes Allgemeines ‚Begriff‘ heisst, der unmittelbare einerseits, der existierende Begriff andererseits ‚subsumierbar‘ sind, d. h., ob Natur und Freiheit überhaupt in einem Allgemeinen vermittelt werden können, obwohl oder gerade weil sie es im existierenden Begriff ohnehin immer schon sind, sofern dieser ‚ist‘. In diesem ‚ist‘ steckt freilich die Frage, ob es in einer bloss theoretischen Intention überhaupt fassbar ist, wobei diese Formulierung ohnehin nur die andere Seite der Frage nach einem Allgemeinen darstellt, unter das Natur und Freiheit subsumierbar wären.“ Und im Weiteren (S. 77) stellt er fest: „Doch ist jedenfalls schon in theoretischer Intention kritisch der Unterschied der In-sich-Reflektiertheit des unmittelbaren Begriffs (‚Inneres‘ entelechial als forma corporis gedacht) von derjenigen des ‚existierenden Begriffs‘ (‚Inneres‘ transzendental als forma formarum und ‚praktisch‘ als Selbstbestimmung durch Freiheit gedacht) zu beachten.“ Weiter unten (S. 504) äussert sich Heintel zu Kant und dessen Transzendentalphilosophie folgendermassen: „Trotzdem vermochte er über die allen Nominalismus sprengenden allgemeinen und gegenstandskonstitutiven (insofern auch ontologisch relevanten) ‚Verstandesformen‘ und ihre ‚transzendentale Deduktion‘ nicht zu dem ontologisch (und insofern auch transzendental deduzierbaren) relevanten Allgemeinen des Aristotelismus durchzustossen: die ‚Idee‘ hat in der Erkenntnis nur ‚regulativen‘ Charakter, der ‚Naturzweck‘ bleibt das Als-ob der nur ‚reflektierenden‘ Urteilskraft.“ Es ist nur möglich, in theoretischer Intention sowohl den unmittelbaren als auch den existierenden Begriff unter den Begriff des Begriffs zu subsumieren, wenn wir uns des Begriffs der Arterhaltung bedienen; dabei darf es allerdings nicht beim bloss logischen Subsumieren bleiben, weil sonst nicht verständlich gemacht werden kann, dass und auf welche Weise – und es ist entscheidend, beides darzustellen – der Mensch sowohl das typisch Menschliche als auch das typisch Organische und das typisch Anorganische in sich vereinigt – ein Sachverhalt, der nur dialektisch dargestellt werden kann. Es handelt sich hierbei um einen wahren dialektischen Prozess insofern, als dieser reale ontologisch relevante Allgemeinheiten miteinander verknüpft. Auf der jeweils folgenden Stufe bleibt das Ideal der vorherigen erhalten, allerdings in gebrochener Form. Ein Beispiel dafür haben wir bereits oben gesehen, beim „Übergang“ vom Organischen zum typisch Menschlichen, als die Einheit von Selbst- und Arterhaltung beim organischen Lebewesen beim Menschen in gebrochener Form erhalten blieb. Ganz wird dieser dialektische Prozess aber erst mithilfe des philosophischen Symmetriebegriffs verständlich werden, wie er im nächsten Kapitel entwickelt wird.
Zu den Ausführungen Heintels zu Kant ist anzumerken: Kant konnte den Nominalismus sprengen, weil er das naiv in der Erfahrung Gegebene (und dem Allgemeinen in vollständiger Disjunktion Entgegengesetzte) des naturwissenschaftlichen Nominalismus philosophisch fundieren bzw. rechtfertigen konnte, aber seine Kategorien sind zu allgemein und abstrakt, um das ontologisch relevante Allgemeine des Aristoteles zu deduzieren. Dementsprechend kritisiert Heintel, dass die Ideen eines Aristoteles und eines Platon für Kant nur regulativen Charakter haben (im Rahmen der „Kritik der Urteilskraft“). Tatsächlich aber verhält es sich so, dass die „Ideen“ eines Platon und eines Aristoteles für den Menschen „nur“ regulativen Charakter haben, eben als Ideal, aber nicht nur im Rahmen der Urteilskraft, sondern im Rahmen des Handelns überhaupt, und dass dieser Status ihren für die Praxis zwingenden Charakter ausmacht – wobei unter „Praxis“, wie wir später noch sehen werden, auch die einzelwissenschaftliche Erkenntnis fällt. Das Ich steht nicht allein und verloren auf weiter Flur da, sondern ist eben immer schon in einen sozialen Zusammenhang hineingeboren, der ihm Ideale vermittelt. Die Rechnung geht aber freilich nur auf, wenn wir die „Arterhaltung“ (genauer die Einheit von Selbst- und Arterhaltung) und damit den „Naturzweck“ als Ideal des Menschen setzen. Dieses Ideal können wir in philosophischer Wesensschau erkennen (wir kommen darauf bei der Diskussion des Begriffs der Anamnesis zurück), und in der Praxis ist es jeweils immer schon auf „pluralistische“ Weise realisiert.
An dieser Stelle bietet sich ein kurzer Exkurs in Kants „Kritik der Urteilskraft“ an. Wir beziehen uns hierbei auf die „Einleitung“ (XI bis LVIII). Kant beschreibt zunächst eine Einteilung der Philosophie in Natur- und Moralphilosophie auf der Grundlage der den Erkenntnisvermögen zugeordneten Prinzipien (Gesetzmässigkeit und Endzweck) und Begriffen (Naturbegriffe und Freiheitsbegriff), wie sie die kritische Philosophie in ihrem Bestreben, den jeweiligen Geltungsbereich der Erkenntnisvermögen zu bestimmen, zu begrenzen und zu schützen, als gegenstandskonstitutiv gefunden hat. Den Erkenntnisvermögen Verstand und Vernunft, die mit ihren jeweiligen Begriffen a priori gesetzgebend sind, wird jeweils ein Gebiet zugeordnet: dem Verstand das Gebiet der Erscheinungen, der Vernunft dasjenige der Dinge an sich. Wir haben also aus transzendentalphilosophischem Blickwinkel zwei Reiche: dasjenige der Theorie (inkl. Technische Praxis, das Sinnliche) und dasjenige der moralischen Praxis (das Übersinnliche). Obwohl zwischen beiden eine tiefe Kluft besteht, soll doch das Reich des Freiheitsbegriffs auf dasjenige der Gesetzmässigkeit (Kausalität im neuzeitlich-naturwissenschaftlichen Sinn) Einfluss ausüben können. „[…] nämlich der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen, und die Natur muss folglich auch so gedacht werden können, dass die Gesetzmässigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme.“ (XX) Jenes Übersinnliche, das der (als Erscheinung verstandenen) Natur (als Ding an sich) zugrunde liegt und das der Freiheitsbegriff praktisch enthält, bildet die beide Welten verbindende Einheit und stellt zugleich den Bereich dar, der einem dritten Erkenntnisvermögen zugeordnet wird, nämlich dem der Urteilskraft. Diese „logische“ Begründung der Urteilskraft ergänzt Kant durch eine psychologische. Er unterscheidet drei Seelenvermögen – das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen – und ordnet dem Gefühl der Lust und Unlust die Urteilskraft zu. Damit ist ein weiterer Grund für die Rolle der Urteilskraft als Vermittlerin zwischen Verstand und Vernunft gegeben. „… und da mit dem Begehrungsvermögen notwendig Lust oder Unlust verbunden ist (es sei, dass sie, wie beim unteren, vor dem Prinzip desselben vorhergehe, oder wie beim oberen, nur aus der Bestimmung desselben durch das moralische Gesetz folge), [die Urteilskraft] ebensowohl einen Übergang vom reinen Erkenntnisvermögen, d. i. vom Gebiete der reinen Naturbegriffe, zum Gebiete des Freiheitsbegriffs bewirken werde, als sie im logischen Gebrauche den Übergang vom Verstande zur Vernunft möglich macht.“ (XXV)
Was ist nun unter Urteilskraft zu verstehen? „Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken.“ (XXVI) Dabei unterscheidet Kant bestimmende und reflektierende Urteilskraft. „Ist das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert,… bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloss reflektierend.“ (XXVI) Während die Urteilskraft (als bestimmende) für das Subsumieren kein eigenes Prinzip braucht, da ihr hierfür die allgemeinen Kategorien des Verstands zur Verfügung stehen, benötigt die reflektierende Urteilskraft sehr wohl ein solches. „Die reflektierende Urteilskraft, die von dem Besonderen in der Natur zum Allgemeinen aufzusteigen die Obliegenheit hat, bedarf also eines Prinzips, welches sie nicht von der Erfahrung entlehnen kann, weil es eben die Einheit aller empirischen Prinzipien unter gleichfalls empirischen, aber höheren Prinzipien und also die Möglichkeit der systematischen Unterordnung derselben untereinander begründen soll.“ (XXVII) Als dieses Prinzip führt Kant nun die Zweckmässigkeit ein. „Weil nun der Begriff von einem Objekt, sofern er zugleich den Grund der Wirklichkeit dieses Objekts enthält, der Zweck [heisst], und die Übereinstimmung eines Dinges mit derjenigen Beschaffenheit der Dinge, die nur nach Zwecken möglich ist, die Zweckmässigkeit der Form derselben heisst, so ist das Prinzip der Urteilskraft, in Ansehung der Form der Dinge der Natur unter empirischen Gesetzen überhaupt, die Zweckmässigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit.“ (XXVIII) Wichtig für uns ist, dass dieses Prinzip allgemein bzw. formal ist, dass also darin von den konkreten Gegenständen abstrahiert wird. Anschliessend wird dieses Prinzip von Kant als transzendentales Prinzip deduziert. Er unterscheidet zunächst die allgemeinen Gesetze (Kategorien) des Verstands von den besonderen der empirischen Wissenschaften. Diese bilden eine potenziell unendliche Mannigfaltigkeit von Gesetzen, in der die Urteilskraft zu ihrer Orientierung gezwungen ist, als Prinzip a priori eine Einheit anzunehmen, die als Zweckmässigkeit der Natur als Ganzer vorgestellt wird, „dass nämlich nach ihnen eine erkennbare Ordnung der Natur möglich sei…“ (XXXV) Hierzu ist zunächst anmerken, dass das Fortschreiten der reflektierenden Urteilskraft zu immer höheren (und damit wohl abstrakteren) Einheiten sehr viel zu tun hat mit meinen Begriff der Arterhaltung bzw. Symmetrie. Wir werden darauf in Kapitel 3 näher eingehen. So viel sei aber schon hier angemerkt: Das Fortschreiten zu immer höheren Einheiten (Symmetrien) stellt ein hervorstechendes Merkmal der Entwicklung der neuzeitlichen Naturwissenschaft dar und hat nicht nur Bezug zur Zweckmässigkeit, sondern auch zum Streben nach theoretischer Erkenntnis und Wahrheit.
Da der Urteilskraft somit ein eigenes transzendentales Prinzip (dasjenige der Zweckmässigkeit) zukommt, sie aber im Unterscheid zu den anderen Erkenntnisvermögen über kein eigenes Herrschaftsgebiet bzw. keinen eigenen Gegenstandsbereich verfügt, ist sie rein subjektiv. „Die Zweckmässigkeit der Natur ist also ein besonderer Begriff a priori, der lediglich in der reflektierenden Urteilskraft seinen Ursprung hat. Denn den Naturprodukten kann man so etwas, als Beziehung der Natur an ihnen auf Zwecke, nicht beilegen, sondern diesen Begriff nur brauchen, um über sie in Ansehung der Verknüpfung der Erscheinungen in ihr, die nach empirischen Gesetzen gegeben sind, zu reflektieren.“ (XXVIII) Mit dieser Subjektivität der Zwecke (oder Formalisierung der Zweckmässigkeit) geht freilich das ontologisch relevante Allgemeine (die organische und anorganische In-sich-Vermitteltheit), indem es mit dem nominalistischen Allgemeinen gleichgesetzt wird, für die Erkenntnis verloren. Die Zweckmässigkeit hat keine Beziehung zum Objekt, sondern ausschliesslich zum Erkenntnisvermögen des Subjekts. „Diese Zusammenstimmung der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen wird von der Urteilskraft, zum Behuf ihrer Reflexion über dieselbe nach ihren empirischen Gesetzen, a priori vorausgesetzt; indem sie der Verstand zugleich objektiv als zufällig anerkennt, und bloss die Urteilskraft sie der Natur als transzendentale Zweckmässigkeit (in Bezug auf das Erkenntnisvermögen des Subjekts) beilegt…“ (XXXVI) Und weiter unten: „Die Urteilskraft hat also auch ein Prinzip a priori für die Möglichkeit der Natur, aber nur in subjektiver Rücksicht, in sich, wodurch sie nicht der Natur (als Autonomie), sondern ihr selbst (als Heautonomie) für die Reflexion über jene ein Gesetz vorschreibt, welches man als Gesetz der Spezifikation der Natur in Ansehung ihrer empirischen Gesetze nennen könnte…“ (XXXVII) Es bietet sich an, dieses „Gesetz der Spezifikation der Natur“ in Gesetz der Einheit von Selbst- und Arterhaltung (unter dem Primat der Arterhaltung) umzubenennen und es dem Prinzip der Zweckmässigkeit überzuordnen. Entsprechend dem subjektiven Charakter der Urteilskraft ist ihre erfolgreiche Ausübung mit dem (subjektiven) Gefühl der Lust verbunden. „… so ist anderseits die entdeckte Vereinbarkeit zweier oder mehrerer empirischen heterogenen Naturgesetze unter einem sie beide befassenden Prinzip der Grund einer sehr merklichen Lust, oft sogar einer Bewunderung…“ (XL) Interessant ist, dass mit dem Bezug der Urteilskraft auf das Gebiet des Übersinnlichen (des Ansich) eine Gemeinsamkeit zwischen moralisch-praktischer Vernunft und Urteilskraft hergestellt wird, der für die Erstere nicht unwesentlich ist, orientiert sich doch auch die moralische Praxis am Prinzip der Einheit von Selbst- und Arterhaltung (unter dem Primat der Arterhaltung). Weiter finden sich Gemeinsamkeiten zwischen Verstand und Urteilskraft, indem Ersterer als gegenstandskonstitutiv für den Bereich der Erscheinungen sich in dialektischer Beziehung zum Bereich des „Ansich“ (des Übersinnlichen) befindet, auf den sich die Zweite gerade in theoretischer Intention bezieht. Entsprechend formuliert Kant (LVI): „Die Urteilskraft verschafft durch ihr Prinzip a priori der Beurteilung der Natur, nach möglichen besonderen Gesetzen derselben, ihrem übersinnlichen Substrat (in uns sowohl als ausser uns) Bestimmbarkeit durch das intellektuelle Vermögen.“ Womit einmal mehr ihre Funktion als Vermittlung zwischen Verstand und Vernunft angesprochen ist. Zudem rechnet die Urteilskraft zur theoretischen Philosophie. Letztlich verschwimmen also gleichsam die verschiedenen Erkenntnisvermögen in der Einheit des Übersinnlichen.