Die Große Transformation - Uwe Schneidewind - E-Book

Die Große Transformation E-Book

Uwe Schneidewind

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Beschreibung

Vom Präsidenten des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie: Eine global verantwortete Zukunftsvision. Konkret und anschaulich! Seit 30 Jahren diskutieren wir die Wende zu einer nachhaltigen Entwicklung: als Energiewende, als Ernährungswende, als Mobilitätswende. Dahinter steht die Idee einer »großen Transformation«. Damit ist der umfassende Umbau von Technik, Ökonomie und Gesellschaft gemeint, um mit den sozialen und ökologischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts umzugehen. Die Blaupausen für die Wende liegen vor. Aber es tut sich wenig. Uwe Schneidewind zeigt mit den Erfahrungen des Wuppertal Institutes auf, wie die Kunst einer Zukunftsgestaltung aussieht, die Zukunftsvisionen mit einem aufgeklärten Innovations- und Transformationsverständnis verbindet.

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Seitenzahl: 508

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Uwe Schneidewind

Die Große Transformation

Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels

FISCHER E-Books

Unter Mitarbeit von:

Manfred Fischedick, Stefan Lechtenböhmer, Christa Liedtke, Stefan Thomas, Henning Wilts, Carolin Baedeker, Christiane Beuermann, Ralf Schüle, Peter Viebahn

 

Christof Ahrens, Karin Arnold, Karoline Augenstein, Bettina Bahn-Walkowiak, Holger Berg, Ben Best, Katrin Bienge, Anja Bierwirth, Katharina Bohnenberger, Johannes Buhl, Valentin Espert, Justus von Geibler, Kathrin Greiff, Hans Haake, Dirk Heinemeier, Lukas Hermwille, Ulrich Jansen, Georg Kobiela, Michael Kopatz, Thorsten Koska, Oliver Lah, Rainer Lucas, Laura Machler, Meghan O’Brien, Wolfgang Obergassel, Thomas Orbach, Willington Ortiz, Hermann Ott, Alexandra Palzkill, Andreas Pastowski, Annika Rehm, Oscar Reutter, Michael Ritthoff, Sascha Samadi, Carolin Schäfer-Sparenberg, Philipp Schepelmann, Clemens Schneider, Melanie Speck, Meike Spitzner, Franziska Stelzer, Paul Suski, Jens Teubler, Johannes Thema, Alina Ulrich, Daniel Valentin, Oliver Wagner, Matthias Wanner, Timon Wehnert, Maria J.Welfens, Klaus Wiesen, Georg Wilke, Christoph Zeiss

Inhalt

Entwürfe für eine Welt mit Zukunft1. »Making Utopia possible«  Eine Einführung in das BuchTEIL A: Ansatz2. Nachhaltige Entwicklung als kulturelle RevolutionUngebrochene globale EntwicklungstrendsFünf Phasen moralischer Revolutionen3. Zukunftskunst – Ein neuer Blick auf die ZivilisationswendeZur Einstimmung in die Zukunftskunst: Warum Nachhaltige Entwicklung eine soziale und kulturelle Frage istNachhaltige Entwicklung als GerechtigkeitsfrageNachhaltige Entwicklung als TransformationsherausforderungAuf dem Weg zur transformativen LiteracyVon der transformativen Literacy zur Zukunftskunst4. Drei Transformationsschulen und die Macht der IdeenIdealisten: Ideen verändern die WeltInstitutionalisten: Menschlicher Fortschritt passiert durch InstitutionenentwicklungInventionisten: Veränderung passiert über neue Technologien und InfrastrukturenZum Zusammenspiel von Idealisten, Institutionalisten und Inventionisten5. Doppelte Entkopplung – Jenseits der »Grünen Ökonomie«Gutes Leben vom Naturverbrauch unabhängiger machen – Warum es einer »doppelten Entkopplung« bedarfAuf dem Weg zu einem erweiterten WohlstandsverständnisThe Great Mindshift – Warum Wohlstand sich zuallererst in unseren Köpfen verändertFazit6. Nachhaltige Entwicklung und die Transformation des modernen globalen KapitalismusWas ist eigentlich Kapitalismus?Kapitalismus als EntbettungsphänomenKapitalismuskritik und NachhaltigkeitWie das kapitalistisch geprägte Wirtschaftssystem weiterentwickeln? Ein Reformprogramm des inkrementellen radikalen WandelsZur institutionellen Reform der modernen WirtschaftsordnungPerspektiven für einen nachhaltigen digitalen KapitalismusAuf dem Weg zum radikalen inkrementellen Wandel der Wirtschaftsordnung7. Nachhaltige Entwicklungsziele (SDGs) – Globaler Kompass für eine nachhaltige WeltVon der Entwicklungs- zur NachhaltigkeitsdebatteEntwicklung und Umwelt zusammendenkenDie 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Quelle: United Nations General Assembly, 2015Warum auch Deutschland ein Entwicklungsland ist8. Von den »Grenzen des Wachstums« zu den »planetaren Grenzen« – Angekommen im Zeitalter des Menschen40 Jahre »Grenzen des Wachstums« und das Öl fließt noch – Hat uns der Club of Rome in die Irre geführt?Die »Meadows-Falle« oder: Vier unbequeme Wahrheiten der heutigen NachhaltigkeitsdebatteDas Anthropozän – Warum wir im erdgeschichtlichen Zeitalter der Menschheit leben9. Die Klimafrage – 2 Grad oder Auf dem Weg zur dekarbonisierten WeltwirtschaftWarum 2 Grad?Dekarbonisierung und Exnovation als Formeln für eine klimagerechte WeltDie Trias einer dekarbonisierten Welt: (Regenerative) Technologien, Effizienz und SuffizienzWie kann der Umbau ökonomisch und politisch funktionieren?10. Die 8-Tonnen-Gesellschaft – Den ökologischen Rucksack verkleinernWarum der ökologische Rucksack der bessere ökologische Kompass istWas ist eine 8-Tonnen-Gesellschaft?Effizienz, Konsistenz, Suffizienz – Vision der unendlichen Stoffkreisläufe?Fazit: Auf dem Weg in eine ressourcenleichte WeltTEIL B: Arenen11. Wohlstands- und KonsumwendeEntrümpelung, Entschleunigung, Entflechtung, Entkommerzialisierung – Zur Kultur des GenugSuffizienzpolitik und Öko-Routine – Damit gutes Leben einfacher wirdSuffizienz als Geschäftsmodell und »lebendige Labore« für soziale InnovationenVom Ressourcenrechner zu Living Labs – Zum Design neuer Produkte und Dienstleistungen für nachhaltigere LebensstileWie weiter mit der Wohlstands- und Konsumwende?12. Energiewende – Suffizient, effizient, regenerativZiele und Herausforderungen einer nachhaltigen Energiewende: Mehr als regenerativer StromTechnologisch: Von der Einzeltechnologie zur SystemtransformationÖkonomisch: Investitionsprogramm, neue Geschäftsmodelle und ExnovationInstitutionell: Neues Marktdesign, Suffizienz- und EffizienzpolitikKulturell: Energiewende als Bürgerprojekt erhalten und als positive gesamtgesellschaftliche Zukunftsvision weiterentwickelnWo steht die Energiewende?13. Ressourcenwende – Auf dem Weg zu einer ressourceneffizienten KreislaufwirtschaftVision KreislaufwirtschaftAbfall – Ein technisch gelöstes Problem?Weniger und nicht mehr Abfall als GeschäftsmodellVon Risiken und Chancen – Die Kunst einer KreislaufwirtschaftspolitikKreativität und kultureller Wandel dringend gesucht – Vom Abfallverursacher zum Gestalter der KreislaufwirtschaftWo steht die Ressourcenwende?14. Mobilitätswende – Umsteuern in einem umkämpften FeldZiele einer nachhaltigen Mobilitätswende: Vermeiden – verlagern – verbessernTechnologisch – Warum Digitalisierung eine »Faktor 10«-Mobilität ermöglichtÖkonomisch: Neue Wettbewerber und neue GeschäftsmodelleInstitutionell: Die Mobilitätswende als ein politisches MehrebenenprojektKulturell: Auf dem Weg zu einer neuen MobilitätskulturWie weiter? Acht Dilemmata der Mobilitätswende überwinden15. Ernährungswende – Umwelt und Gesundheit zusammenbringenZur Ressourcenrelevanz von ErnährungsmusternGesundheit, Umwelt und Lebensqualität in der Ernährung zusammenbringen – Den Nutritional Footprint verringernTechnologisch: Den Produktivitäts-Lock-in überwindenKulturell: Das Erlernen veränderter Ernährungsstile erleichternÖkonomisch: Folgen globaler Produktivitätszwänge begrenzenInstitutionell: Die Ernährungswende als mehrdimensionales PolitikfeldPerspektiven für die Ernährungswende16. Urbane Wende – Stadtentwicklung zwischen Quartier und RegionHinführung – Warum sich Nachhaltige Entwicklung in Städten entscheidetNachhaltigkeit, Teilhabe, Eigenart – Die Trias urbaner ZukunftskunstTechnologien und urbaner Wandel: Nachhaltige »Smart Citys«Wem gehört die Stadt? Zur Notwendigkeit neuer urbaner WohlstandsverständnisseStadtentwicklung zwischen Quartier und Region – Die institutionelle Dimension der Urbanen WendeOrtsidentität und die kulturelle Kraft urbaner TransformationWie weiter mit der Urbanen Wende?17. Industrielle Wende – Grundstoffindustrien zukunftsfest machenZiele der industriellen Wende: Dekarbonisierung und KreislaufführungTechnologisch: Technologische Innovation und industrielle Synergien verknüpfenÖkonomisch: Innovation und Exnovation verknüpfenInstitutionell: Industriepolitik neu denkenKulturell: Neue industrielle NarrativeWie weiter bei der industriellen Wende?TEIL C: Akteure18. Zivilgesellschaft als Taktgeber der Großen TransformationZivilgesellschaftliches Engagement zwischen Kompassfunktion und gesellschaftlicher ErmächtigungZivilgesellschaft und das »Great Turning« – Zur Bedeutung und den Wirkmechanismen der Zivilgesellschaft in der »moralischen Revolution« des 21. JahrhundertsVier zivilgesellschaftliche Gruppen und ihre besonderen RessourcenUmweltverbändeKirchen als Akteure in der TransformationGewerkschaftenSoziale Bewegungen von untenZivilgesellschaftliche Kooperation und Bündnisstrategien19. Politik bewegenScheitert die Große Transformation an politischem Versagen? Politik zwischen Policy, Politics und PolityPolitik als Akzentsetzer und KatalysatorNew Policies – Die Politikfelder der Großen TransformationNew PoliticsNew Polity – Politik in einer globalisierten Welt/Multi-Level-Governance – Zwischen Weltregierung und einer Regierung der BürgermeisterPolitische Zukunftskunst20. Auf dem Weg zum nachhaltigen Unternehmertum – Die Rolle von Unternehmen in der Großen TransformationBusiness Sustainability 3.0 als neuer Kompass für nachhaltiges UnternehmertumUnternehmerische Zukunftskunst in vier DimensionenGeschäftsmodell-ResilienzWarum Unternehmen nicht gleich Unternehmen istEine UnternehmenstypologieDie Rolle unterschiedlicher Branchen in der Großen TransformationFazit: Auf dem Weg zu unternehmerischer Zukunftskunst21. Auf dem Weg zur Möglichkeitswissenschaft – Konturen einer gesellschaftsorientierten WissenschaftWissenschaft als Möglichkeitswissenschaft – Warum moderne Wissensgesellschaften ein angepasstes Wissenschaftsverständnis brauchenWarum sich für eine Transformative Wissenschaft auch Universitäten, Forschungsinstitute und die Wissenschaftspolitik verändern müssenHochschulen: Die »dritte Mission« zur »ersten Mission« machenWissenschaftspolitik als Gesellschaftspolitik: Warum auch Umweltverbände bei der Wissenschaftspolitik mitreden solltenWarum gerade die Wirtschaftswissenschaften transformativ werden müssenModellieren und experimentieren: Zur Bedeutung von »Reallaboren«Fazit22. Pioniere des Wandels als Motoren der Großen TransformationWie gesellschaftlicher, organisatorischer und individueller Wandel zusammenhängenPionierinnen des Wandels: Vom bewussten Konsumenten zum transformativen BürgerWissen, Haltung, Fähigkeiten als Schlüssel für die Veränderung: Wie wird man zum Pionier des Wandels?Haltung: Vision und die Lust auf Veränderung»Selbst denken« als Haltung von Pionieren des WandelsVom »Selbst denken« zum »Selbst handeln«: Transformatives UnternehmertumFähigkeiten: Von der kraftvollen Orientierung an möglichen Zukünften bis zur Fähigkeit zum »Transformationsdesign«Transformatives Lernen23. Kompass für die Zukunftskunst – Das Wuppertaler TransformationsmodellLiteraturverzeichnis

Entwürfe für eine Welt mit Zukunft

Das 19. und 20. Jahrhundert waren die Epoche der expansiven Moderne. Immer weitere Teile der Welt folgten dem industriegesellschaftlichen und wachstumswirtschaftlichen Pfad, ihre Bewohnerinnen und Bewohner erlebten materiellen und vor allem auch immateriellen Fortschritt: Die Gesellschaften demokratisierten sich, wurden freiheitliche Rechtsstaaten, Arbeitsschutzrechte, Bildungs-, Gesundheits- und Sozialversorgung wurden erkämpft. Im 21. Jahrhundert, da die Globalisierung fast den ganzen Planeten in den wachstumswirtschaftlichen Sog gezogen, aber dabei keineswegs überall Freiheit, Demokratie und Recht etabliert hat, stehen wir vor der Herausforderung, den erreichten zivilisatorischen Standard zu sichern, denn dieser gerät immer mehr unter den Druck von Umweltzerstörung, Ressourcenkonkurrenz, Klimaerwärmung – um nur einige der gravierendsten Probleme zu nennen. Wie sieht eine moderne Gesellschaft aus, die nicht mehr dem Prinzip der immerwährenden Expansion folgt, sondern gutes Leben mit nur einem Fünftel des heutigen Verbrauchs an Material und Energie sichert? Das weiß im Augenblick niemand; einen Masterplan für eine solche Moderne gibt es nicht. Wir brauchen daher Zukunftsbilder, die die Lebensqualität in einer nachhaltigen Moderne vorstellbar machen und mit den Entwürfen einer anderen Mobilität, einer anderen Ernährungskultur, eines anderen Bauens und Wohnens die Veränderung der gegenwärtigen Praxis attraktiv und nicht abschreckend erscheinen lassen.

Deshalb haben wir für die Buchreihe »Entwürfe für eine Welt mit Zukunft« Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gebeten, konkrete Utopien künftiger Wirtschafts- und Lebenspraktiken zu skizzieren. Konkrete Utopien, das heißt: Szenarien künftiger Wirklichkeiten, die auf der Basis heute vorliegender technischer und sozialer Möglichkeiten herstellbar sind. Erst vor dem Hintergrund solcher Zukunftsbilder lässt sich abwägen, welche Entwicklungsschritte heute sinnvoll sind, um sich in Richtung einer wünschenswerten Zukunft aufzumachen. Anders gesagt: Ohne Zukunftsbilder lässt sich weder eine gestaltende Politik denken noch die Rolle, die die Zivilgesellschaft für eine solche Politik spielt. Wenn Politik und Zivilgesellschaft wie Kaninchen vor der Schlange ausschließlich auf die Bewahrung eines fragiler werdenden Status quo fixiert sind, verlieren sie die Fähigkeit, sich auf ein anderes Ziel zuzubewegen. Sie verbleiben in der schieren Gegenwart, was in einer sich verändernden Welt eine tödliche Haltung ist.

Nach 18 Bänden der ebenfalls im Fischer Taschenbuch Verlag erschienenen Vorgängerreihe, die unter großer öffentlicher Resonanz eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme des naturalen Status quo der Erde in den einzelnen Dimensionen von den Ozeanen bis zur Bevölkerungsentwicklung vorgelegt hat, wenden wir nun also den Blick von der Gegenwart in die Zukunft – in der Hoffnung, konkrete Perspektiven für die Gestaltungsmöglichkeiten einer nachhaltigen modernen Gesellschaft aufzuzeigen, Perspektiven, die der Politik wie den Bürgerinnen und Bürgern Mut machen, ihre Handlungsspielräume zu nutzen und Wege zum guten Leben einzuschlagen.

 

Harald Welzer & Klaus Wiegandt

1. »Making Utopia possible«  Eine Einführung in das Buch

Wird die Welt des Jahres 2050 eine bessere und nachhaltigere sein? Wer und was entscheidet eigentlich, in welche Richtung sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten entwickeln? Werden neue Technologien oder ein massiver kultureller Wandel die Hoffnungen auf eine Zivilisation befeuern, die Menschen gleiche Entwicklungschancen überall auf der Welt ermöglicht – trotz begrenzter ökologischer Ressourcen? Hat angesichts zunehmender ökologischer und sozialer Herausforderungen der Kapitalismus in seiner heutigen Form noch eine Zukunft? Oder wird er gerade zur Lösung der Herausforderungen gebraucht? All das sind Fragen, mit denen sich die Diskussion zur »Großen Transformation« beschäftigt.

Eines scheint dabei klar: Das 21. Jahrhundert verspricht ein weiteres Jahrhundert des massiven Umbruchs in der Menschheitsgeschichte zu werden. Oft scheint uns die Zukunft dabei »zu ereilen« – mit technologischen, ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen und ökologischen Dynamiken. Ist es möglich, die aktuellen systemischen Dynamiken so zu verstehen, dass sie sich von Akteuren in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft in konstruktive Impulse umwandeln lassen? Was sind wissenschaftlich basierte »Erzählungen«, die Orientierung geben für die Gestaltung eines menschengerechten 21. Jahrhunderts?

Das vorliegende Buch stellt sich diesen Fragen und baut mit seinem Titel auf zwei prominenten Schlüsselpublikationen der letzten 70 Jahre auf: Karl Polanyis »Great Transformation« und der dort gelieferten grandiosen Analyse der Entbettungsmechanismen des modernen Kapitalismus sowie dem Hauptgutachten »Welt im Wandel« des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) aus dem Jahr 2011. Letzteres nutzte den Begriff der »Großen Transformation«, um die Epochenumbrüche des 21. Jahrhunderts im Lichte einer Nachhaltigen Entwicklung zu kennzeichnen, und hat damit die Nachhaltigkeitsdebatte der letzten Jahre sehr beeinflusst.

Der Begriff der »Großen Transformation« in der 2011 vom WBGU eingebrachten Form wird damit zur Grundlage für ein identitätsstiftendes transdisziplinäres Narrativ. Es verdichtet ökologische, technologische, ökonomische, sozial- und kulturwissenschaftliche Erkenntnisse zu einem Hoffnung gebenden Gestaltungsprogramm. Es ist eng verbunden mit dem Selbstverständnis des Wuppertal Instituts, das seit seiner Gründung Anfang der 1990er Jahre ökologische, technologische, ökonomische und gesellschaftliche Perspektiven verbindet, um die Utopie einer Nachhaltigen Entwicklung zu ermöglichen. Dieses Buch führt in die Erzählung der »Großen Transformation« ein und stützt sich dabei auf zentrale Konzepte und Theoriebausteine der Debatte sowie die Erfahrungen des Wuppertal Instituts.

Mit dem Anspruch, diese unterschiedlichen Aspekte des Nachhaltigkeits- und Transformationsdiskurses aufeinander zu beziehen, wagen wir ein ambitioniertes Unterfangen – ähnlich tollkühn, wie es schon der WBGU2011 mit seiner Referenz auf Karl Polanyi getan hat. Die Arbeit des Wuppertal Instituts ist aber von der Überzeugung getragen, dass nur systemische Herangehensweisen, die auch einen breiten inter- und transdisziplinären Brückenschlag nicht scheuen, Orientierung in einer komplexer werdenden Wirklichkeit bieten. Dies gilt umso mehr in einer Zeit, in der im Wissenschaftssystem angesichts zunehmender Spezialisierung der Mut zu solchen Entwürfen eher ab- als zunimmt. Daher freuen wir uns, dass Sie sich als Leserin und Leser auf diese Reise einlassen.

Vor diesem Hintergrund greift das Buch das Konzept der Großen Transformation auf: Die Große Transformation beschreibt einen massiven ökologischen, technologischen, ökonomischen, institutionellen und kulturellen Umbruchprozess zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Dieser Prozess ist keine gesichtslose systemische Dynamik, sondern von Menschen initiiert und geprägt und damit grundsätzlich auch gestaltbar. Den Kompass und die Ansatzpunkte für diese Gestaltung zu verstehen und zu nutzen, bedarf es vieler Akteurinnen und Akteure und einer besonderen (transformativen) »Literacy«, d.h. einer Kompetenz, diese Dimensionen in ihrem Zusammenspiel zu verstehen, und der Kunstfertigkeit, dieses Verständnis in Beiträge zu einer Nachhaltigen Entwicklung umzusetzen. Diese »Zukunftskunst« in ihrer Mehrdimensionalität wird im Zentrum des Buches stehen.

Abb. 1.1:

Die vier Dimensionen der Zukunftskunst. Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Schneidewind, 2013, S. 83

In diesem Sinne stützen wir uns auf bestehende konzeptionelle und theoretische Zugänge, die einen Hinweis darauf geben, wie die Umbruchphase im 21. Jahrhundert in eine menschengerechte Vision münden kann: gleiche und hinreichende Entfaltungschancen für die Menschen auf diesem Planeten, heute und zukünftig – innerhalb der bestehenden planetaren Grenzen. Genau das steckt hinter der ursprünglichen Nachhaltigkeitsdefinition der Brundtland-Kommission aus dem Jahr 1987. Die Kommission bezeichnete Nachhaltige Entwicklung als eine Entwicklung, »die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen.« Heute ist die Welt von einer solchen Vision noch weit entfernt: in ökologischer Hinsicht, mit Blick auf soziale Gerechtigkeit und in der Art des globalen Wirtschaftens.

Wir werden unter Rückgriff auf aktuelle Debatten aufzeigen, wie ein Umsteuern dennoch gelingen kann, wie sich Wirtschaftsordnung und technologische Möglichkeiten weiterentwickeln können, wie diese Veränderungen in geeignete institutionelle Rahmen und insbesondere in einen kulturellen Wandel einzubetten sind. Wir werden einen Blick auf die Rolle werfen, die dabei Politik, Unternehmen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zukommen, und darauf, mit welchen Ressourcen und welcher Haltung sich jeder individuell als Pionierin und Pionier des Wandels in den Prozess der Großen Transformation einbringen kann.

Drei Besonderheiten zeichnen das Buch als Beitrag zur aktuellen Nachhaltigkeitsdebatte aus:

Es ist integrativ: Es liefert einen übergeordneten Rahmen, aus dessen Blickwinkel eine große Zahl bestehender Konzepte der aktuellen Nachhaltigkeits- und Transformationsdebatte aufeinander bezogen werden.

Es ist ökonomisch pluralistisch: Es setzt sich – hier ganz im Sinne Karl Polanyis – aktiv mit der Zukunft unserer Wirtschaftsordnung als einem Kernelement einer gelingenden Nachhaltigkeitstransformation auseinander.

Es ist akteursorientiert: Es stellt aufbauend auf seiner Analyse am Ende Akteure ins Zentrum und definiert die Anforderungen an Politik, Unternehmen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft in der Großen Transformation.

Das Buch versteht sich als Beitrag zu einer »transformativen Wissenschaft«. Damit ist eine Wissenschaft gemeint, die Veränderungsprozesse informieren und auch aktiv anstoßen möchte. Es liefert ein »Narrativ«,[1] einen hermeneutischen Versuch, der aufbauend auf sehr unterschiedlichen Theorieansätzen Akteuren in der Transformation eine Orientierung gibt.

Das Buch gliedert sich in drei Teile, um seinen Anspruch einzulösen (vgl. Abb. 1.2):

Abb. 1.2:

Aufbau des Buches

(1) Teil A entwickelt den spezifischen Ansatz des Buches: Er führt in Nachhaltigkeit als eine kulturelle Revolution und als ein zentrales Zivilisationsprojekt des 21. Jahrhunderts ein. Auf dieser Grundlage entwickelt er das den Leser durch das gesamte Buch begleitende Konzept der »Zukunftskunst«. Schließlich legt er die theoretischen Grundlagen dafür, Transformationsprozesse zu verstehen, und zeigt in diesem Lichte, warum die aktuelle Wirtschaftsordnung ein Dreh- und Angelpunkt für eine »Große Transformation« ist. Die dann folgenden Kapitel ordnen die Eckpunkte der aktuellen Nachhaltigkeitsdebatte in den entwickelten Bezugsrahmen ein. Es wird deutlich, warum die Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) den zentralen Kompass für den Nachhaltigkeitsdiskurs markieren, warum das Denken in »planetaren Grenzen« so wichtig für eine »Zukunftskunst« ist und wie sich dies in Visionen auf der Energie- (»Dekarbonisierung«) und Ressourcen-Ebene (»8-Tonnen-Gesellschaft«) übersetzen lässt.

 

(2) Teil B beschreibt die Arenen der Großen Transformation. Sieben spezifische »Wenden« bilden den Kern der Großen Transformation: Die Kombination aus einer (1) »Wohlstands- und Konsumwende« auf der einen sowie einer (2) »Energiewende« und einer (3) »Ressourcenwende« auf der anderen Seite bilden die grundlegenden Sphären der Großen Transformation. Diese übergeordneten Transformationen vollziehen sich in oft eng miteinander vernetzten Sektorwenden, wie insbesondere der (4) Mobilitätswende und der (5) Ernährungswende sowie in zentralen Transformationsräumen – hier insbesondere der (6) Urbanen Wende sowie der (7) Industriellen Wende. In all diesen Wenden gilt es nach dem kunstvollen Zusammenspiel von Kultur-, Institutionen-, Technologie- und ökomischem Wandel zu suchen.

 

(3) Teil C wendet sich den Akteuren der Großen Transformation zu: Was bedeutet Zukunftskunst für Politik, für Unternehmen, für die Wissenschaft, für die Zivilgesellschaft, aber auch für jede einzelne Pionierin und jeden einzelnen Pionier des Wandels, die den Prozess der Großen Transformation mitgestalten wollen? Welche geteilte Verantwortung kommt diesen Akteuren zu? Was sind relevante Ansatzpunkte für ihr Handeln?

 

Einer Wissenschaft, die durch ihr Wirken Wege zu einer Nachhaltigen Entwicklung aufzeigt, ist das Wuppertal Institut seit über 25 Jahren verpflichtet. Insofern gibt dieses Buch auch einen Einblick in die »Transformations-DNA« des Wuppertal Instituts. Sie hat uns lange Zeit eher als ein impliziter Kompass begleitet und wird mit diesem Buch explizit entwickelt. Darum mündet das Buch am Ende auch in einen thesenförmigen »Wuppertaler Kompass der Großen Transformation«.

Das Buch ist in engem Austausch mit vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Wuppertal Instituts in den letzten Jahren entstanden. Die wichtigsten Mitwirkenden sind vorne aufgeführt. Darüber hinaus hat unsere Arbeit durch intensive Diskussionen mit vielen Köpfen im Institut und seinem Umfeld an Klarheit gewonnen. Hier geht ein Dank an die Mitglieder und die Geschäftsstelle des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) für den inspirierenden Austausch in den letzten Jahren, an Maja Göpel, Manfred Linz, Hans-Jochen Luhmann, Wolfgang Sachs, Gerhard Scherhorn, Uta von Winterfeld und viele weitere Inspiratorinnen und Inspiratoren. Ein besonderes Dankeschön gebührt dem Kernteam für dieses Buchprojekt – bestehend aus Katharina Bohnenberger, Hans Haake, Laura Machler und Annika Rehm, die den Diskussionsprozess im Institut sowie die Fertigstellung des Manuskriptes in den letzten Monaten ermöglicht haben.

Insbesondere dankt das Wuppertal Institut mit diesem Buch aber allen, die in den zurückliegenden knapp 30 Jahren mit dem und im Wuppertal Institut an der Vision einer Nachhaltigen Entwicklung gearbeitet haben, und lädt dazu ein, uns dabei weiterhin aktiv zu begleiten.

 

Uwe Schneidewind

Wuppertal, im April 2018

TEIL A: Ansatz

Nachhaltigkeit als kulturelles Projekt

Teil A skizziert den grundlegenden Ansatz des Buches: Es versteht die Idee Nachhaltiger Entwicklung als eine im Kern kulturelle Revolution. Vor diesem Hintergrund wird das das Buch prägende Konzept der »Zukunftskunst« entwickelt. Zukunftskunst bezeichnet die Fähigkeit von Politik, Zivilgesellschaft, Unternehmen, Wissenschaft und allen Pionieren des Wandels, grundlegende Transformationsprozesse von der kulturellen Vision der Nachhaltigkeit her zu denken und von dort institutionelle, ökonomische und technologische Perspektiven zu entwickeln. Getragen ist ein solcher Ansatz von der Zuversicht, dass Zukunft mitgestaltbar und nicht lediglich das Ergebnis technologischer und ökonomischer Dynamiken ist. Die theoretische Grundlage dafür liefern »Transformationsschulen«, die die Kraft von Ideen in Veränderungsprozessen unterstreichen. Das führt zwangsläufig zur Auseinandersetzung mit dem modernen Wirtschaftssystem, das den Weg einer nicht nachhaltigen Zukunftsgestaltung oft als alternativlos erscheinen lässt. Ist eine Ökonomie denkbar, die gutes Leben für zehn Milliarden Menschen auf diesem Planeten ermöglicht, ohne die globalen ökologischen Grenzen zu überschreiten? Was heißt das für die Weiterentwicklung eines modernen globalen Kapitalismus?

In den so entwickelten Ansatz des Buches lassen sich dann die zentralen Eckpunkte des internationalen Nachhaltigkeitsdiskurses einordnen: Dazu gehört an erster Stelle die »Agenda 2030« der Vereinten Nationen, mit den von ihnen definierten 17 Nachhaltigen Entwicklungszielen (SDGs), die genau auf das Zusammenspiel von ökologischer und humanitärer Entwicklung zielen. Das Konzept der »Planetaren Grenzen« ist essentiell, um zu verstehen, warum eine Welt, die sich bisher nur ökonomisch expansiv definiert, nicht mehr als kultureller Kompass im 21. Jahrhundert taugt. Die Ziele der »Dekarbonisierung« sowie einer »8-Tonnen-Gesellschaft« machen die Leitplanken für das Transformationsprogramm einer Welt innerhalb planetarer Grenzen plastisch. Sie markieren die Landkarte für die konkreten Wenden, die im weiteren Verlauf des Buches entfaltet werden.

2. Nachhaltige Entwicklung als kulturelle Revolution

Im Kern handelt es sich bei der Idee Nachhaltiger Entwicklung um ein kulturelles Projekt. Nachhaltige Entwicklung beschreibt einen weiteren Schritt in der Entwicklung menschlicher Zivilisation hin zu einer Welt, in der die Würde und die Entfaltungsmöglichkeiten von Menschen überall auf dieser Welt heute und in Zukunft Kompass für gesellschaftliches, politisches und ökonomisches Handeln sind. Philosophen wie Kwame Anthony Appiah oder Steven Pinker sensibilisieren dafür, dass in der Menschheitsgeschichte solch moralisch-zivilisatorischer Fortschritt immer wieder stattgefunden hat und daher auch die Hoffnung besteht, dass die Idee einer Nachhaltigen Entwicklung keine Utopie bleiben muss.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts befindet sich die Menschheit in einem Epochenumbruch. Durch ihre ökonomischen Aktivitäten ist sie erstmalig in der Menschheitsgeschichte in der Lage, globale geoökologische Prozesse selbst zu beeinflussen. Aktuell droht sie dabei eine Reihe von »planetaren Grenzen« zu überschreiten, deren Einhaltung eine zentrale Grundlage für die menschliche Entwicklung in der bisherigen Erdgeschichtsphase waren. Erdgeschichtsforscher bezeichnen die neue Epoche deswegen auch als »Anthropozän«, d.h. das vom Menschen getriebene Erdzeitalter. Der menschlich beeinflusste Klimawandel, die Übersäuerung der Ozeane, der massive Abbau der Biodiversität oder das flächendeckende Einbringen von Kunststoffen und anderen Chemikalien in die Ökosysteme sind Ausdruck der naturzerstörenden Produktions- und Lebensformen der Menschheit. Aus dieser Wirkmacht leitet sich eine neue Dimension der Verantwortung im Umgang mit planetaren Grenzen ab. Die Diskussionen über den Klimawandel und eine Nachhaltige Entwicklung spiegeln den Umgang mit dieser Verantwortung.

Ungebrochene globale Entwicklungstrends

Über die letzten 25 Jahre wissenschaftlicher, technologischer und ökonomischer Entwicklung sind die Lösungsbausteine entstanden, um mit der neuen Verantwortung umzugehen: Teil B des Buches wird zeigen, wie sich die globale Energieversorgung auf der Grundlage erneuerbarer Energien gestalten lässt, wie eine CO2-neutrale Mobilität aussehen kann, wie sich die meisten Produkte und Stoffe im Kreislauf führen lassen, wie Passivenergiehäuser gebaut werden müssen, wie eine Welternährung für zehn Milliarden Menschen möglich wird, die die ökologischen Bedingungen des Planeten einhält. All diese Lösungen bestehen in der Regel aus einer Kombination von technologischen Innovationen, Strategien der Effizienzsteigerung und einer Anpassung und Weiterentwicklung unserer Lebensstile.

Nimmt man den Club-of-Rome-Bericht zu den Grenzen des Wachstums aus dem Jahr 1972 als ersten Warnruf, so kann man sagen: Seit knapp 50 Jahren sind die besonderen Herausforderungen des Anthropozäns bekannt, hat sich die Weltgemeinschaft dieser Herausforderung spätestens vor gut 25 Jahren auf der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 vergewissert und verfügt die Menschheit faktisch auch seit dieser Zeit über die wichtigsten Lösungsbausteine zum Umgang mit den Herausforderungen.

Dennoch verlaufen die globalen Entwicklungsprozesse weiterhin mehr als schleppend. Nicht nur von der Einhaltung der klimatisch notwendigen CO2-Ziele ist man weit entfernt. Selbst der Umbau zu einer regenerativen Stromversorgung passiert in den meisten Ländern nur zögerlich: Die Beharrungskräfte und die Bedeutung fossiler Energieträger sind auch in diesem Sektor weiter stark. Die Einführung einer CO2-freien Mobilität steht erst ganz am Anfang. In den Ernährungsmustern diffundiert der fleisch- und damit CO2-intensive Ernährungsstil der westlichen Industriestaaten in die neuen Mittelschichten vor allem (Süd-)Ostasiens. Die Kreislaufquoten in den meisten Branchen- und Produktsegmenten sind äußerst gering.

Wie kann diese Beharrung überwunden werden? Genau hier setzt das an, was wir im Folgenden als »Zukunftskunst« entwickeln werden: Es bedarf eines Verständnisses des Charakters, der Verläufe und der Rhythmik solcher komplexen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, mit denen die Weltgemeinschaft derzeit konfrontiert ist.

Dabei ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass es sich bei den aktuellen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen um eine »moralische Revolution« (Appiah, 2011) handelt. Das heißt: Bei den aktuellen Veränderungen geht es nicht einfach nur um einen Erkenntnisprozess, sondern um eine fundamentale Erweiterung und institutionelle Verankerung eines neuen Wertegefüges in der Weltgemeinschaft und darauf basierend um eine Veränderung des moralischen Verhaltens. Hinter der Idee einer Nachhaltigen Entwicklung steckt ein umfassendes Zivilisationsprojekt. In den Worten von Bruno Latour ließe sich formulieren: »Gemeinsam müssen wir ein Territorium finden, das für uns alle bewohnbar ist. Darin liegt die neue Universalität.« (Latour, 2017, S. 138) Das ist auch der Grund, warum der WBGU in seinem 2011 erschienenen Hauptgutachten zur »Großen Transformation« von der Notwendigkeit eines »neuen Gesellschaftsvertrages« (WBGU, 2011) spricht.

Um zu verstehen, wie solche fundamentalen Zivilisationsprojekte verlaufen, hilft ein historischer Blick, denn es ist nicht das erste Mal in der Geschichte, dass die Menschheit solche moralischen Revolutionen durchläuft: Die Einführung der Demokratie, die Abschaffung der Sklaverei oder die Einführung des Frauenwahlrechtes sind Ausdruck für die Durchsetzung erweiterter Zivilisationsstandards – getragen von einem Humanismus, wie er sich am prominentesten in der UN-Menschenrechtscharta manifestiert.

Das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung liegt – wie im ersten Kapitel gezeigt – genau auf dieser zivilisatorischen Entwicklungslinie: Es ist eine systematische Erweiterung der Idee der Menschenrechte, indem sie allen Menschen auf diesem Planeten sowie auch zukünftigen Generationen die gleichen Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen möchte. Es beschreibt ein wachsendes Verständnis des Respektes gegenüber anderen Menschen, global und intergenerationell. Ihm zugrunde liegen moralische Werte, »Werte, die uns leiten, wenn es um die Frage geht, was wir anderen Menschen schulden« (Appiah, 2011, S. 10).

Fünf Phasen moralischer Revolutionen

Der Philosoph und Historiker Kwame Anthony Appiah hat zum Verlauf von moralischen Revolutionen eine eindrucksvolle Analyse vorgelegt. Er hat dazu die Entwicklung moralischer Revolutionen wie die Abschaffung der Sklaverei oder die Einführung des Frauenwahlrechtes näher betrachtet. Bei all diesen moralischen Revolutionen zeigt sich, dass sie entscheidende Eigenschaften gemeinsam hatten und einen Ablauf entlang von fünf Phasen beschreiben (Appiah, 2011).

Phase I: Ignoranz – Problem wird nicht gesehen Diese Phase erklärt die tiefe Verwurzelung einer Tradition oder Praktik wie die der modernen Sklaverei, die mit einem Normkodex einhergeht, der von der gesellschaftlichen Mehrheit nicht in Frage gestellt wird. Moralische Argumente gegen die herrschenden Praktiken sind jedoch bereits weithin bekannt. So mussten sich Menschen in keiner der vorherigen moralischen Revolutionen komplett neuen moralischen Argumenten beugen.

Phase II: Anerkennung, aber kein persönlicher Bezug Für Appiah spielt in allen großen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen die »Ehre« eine wichtige Rolle. Mit der zweiten Phase verweist Appiah auf Veränderungen im herrschenden Verständnis von Ehre. Diese Veränderungen stellen eine etablierte Praktik als schlecht und gar verwerflich dar, und die Gefahr für die Anerkennung und Stabilität des geltenden Regelwerks wird erkannt. So spielten zum Beispiel aufkommende Vorstellungen von nationaler Ehre und der Ehre arbeitender Menschen eine wichtige Rolle bei der Abschaffung der modernen Sklaverei. Dennoch setzt sich die Praktik in dieser Phase erst einmal weiter fort.

Phase III: Anerkennung des persönlichen Bezuges, aber Nennung von Gründen, warum kein Handeln möglich ist Die soziale Identität, die Identifikation mit Familien, ethnischen Gruppen, Religionen und Nationen verbindet uns in Stolz oder Scham mit anderen Menschen. Identität verbindet moralische Revolutionen demnach mit einem Aspekt der menschlichen Psychologie; der tiefen und beständigen Sorge um Status und Respekt bzw. unser menschliches Bedürfnis nach Anerkennung. So bezogen Bewegungen zur Abschaffung der Sklaverei einen Teil ihrer Energie aus dem Streben nach Anerkennung. Diese Phase beschreibt Verhaltensänderungen von Teilen der Bevölkerung, da man anfängt, sich für alte Praktiken zu schämen, und diese verachtet. Es entstehen immer mehr widerständische Praktiken wie Boykotte oder Versammlungen und Auflehnungen, die neue Möglichkeiten aufzeigen und attraktiv machen.

Phase IV: Handeln Erst in der vierten Phase jedoch geschieht die revolutionäre Wandlung. Träger des alten Normsystems verlieren ihre zentrale Stellung im öffentlichen Leben, und Gesellschaften bringen Regelwerke hervor, die den neuen Verhaltens- und Gefühlsmustern zugrunde liegen.

Phase V: Im Rückblick: Unverständnis, dass die alte Praxis je bestehen konnte Die letzte Phase einer moralischen Revolution zeigt sich schließlich darin, dass Menschen nicht nur alte Praktiken für falsch und neue für richtig erklären, sondern sie erkennen auch, dass die alten Praktiken etwas Schändliches an sich hatten. So schreibt Appiah: »Im Rückblick und selbst über eine Zeitspanne von einer einzigen Generation fragen die Menschen sich: »Was haben wir da nur gedacht? Wie konnten wir das all die Jahre tun?« (Appiah, 2011, S. 9)

Appiah macht deutlich, dass die Prozesse, die in moralische Revolutionen münden, keine zügig und reibungslos verlaufenden Prozesse sind. Sie erstrecken sich über lange Zeiträume, sie erleben Widerstände und Rückschläge. Sie bedürfen engagierter Vorreiter, neuer Lösungsansätze und einer institutionellen Verfestigung. Aber insgesamt machen die Ergebnisse Appiahs Mut: Sie zeigen, dass es so etwas wie das Fortschreiten moralischer Entwicklungen gibt.

Die Analyse Appiahs deckt sich mit vergleichbaren Arbeiten. So beschreiben Martha Finnemore und Kathryn Sikkink (1998) ein ähnliches Phasenmodell der Normentstehung. Steven Pinker (2012) hat mit seiner Rekonstruktion der »vier Engel« des moralisch-zivilisatorischen Fortschritts (Empathie, Selbstkontrolle, Moralität, Vernunft) entscheidend das Vertrauen in die Existenz eines solchen moralischen Fortschritts gestärkt. Und auch empirische Erkenntnisse wie die Befragungen des World Value Survey, der regelmäßig die Entwicklung von Wertvorstellungen weltweit misst (Running, 2012), begründen ein solches Vertrauen ebenso wie die moderne Forschung zu globaler Kooperation (Messner & Weinlich, 2016). Dort wird deutlich: Je weiter wirtschaftlich entwickelt eine Gesellschaft ist, desto stärker nehmen Präferenzen für altruistische Werte wie Umwelt- und Klimaschutz zu.

Nimmt man das Phasenschema Appiahs, so befindet sich die globale Diskussion über den Klimawandel derzeit in Phase III: Nach langer Ignoranz und Unkenntnis (Phase I), die durch Berichte des Club of Rome und dann insbesondere der Klimaforschung überwunden wurden, gab es eine Phase, in der viele Nationen zwar das naturwissenschaftliche Phänomen erkannten, nicht aber dessen Verursachung durch Menschen bzw. durch ihre konkrete Wirtschaftsweise (Phase II). Inzwischen ist das Problem als solches und die Verursachung durch die Art der aktuellen globalen Wirtschaftstätigkeit anerkannt. Die UN-Konferenz in Rio de Janeiro, aber auch die Pariser Klimakonferenz im Jahr 2015 haben das eindrucksvoll belegt (Phase III): Die meisten Länder haben sich zu konkreten Reduktionszielen (NDCs – National Determined Contribution) und daraus abgeleiteten Aktionsplänen verpflichtet. Dennoch gibt es in den meisten Ländern intensive Diskussionen darüber, warum ein konsequenter und engagierter Klimaschutz aufgrund anderer Prioritäten nicht möglich ist. Die meisten der Bedenken sind dabei ökonomischer Natur: die Sorge vor Verlust von Wettbewerbsfähigkeit, von Arbeitsplätzen, vor regionalen Strukturwandelprozessen z.B. in Regionen der fossilen Energiegewinnung oder der klassischen Automobilproduktion. Am massivsten vertreten werden diese Argumente von der aktuellen amerikanischen Regierung und begründen den Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen. Um in einem Bild von Kwame Anthony Appiah zu bleiben: Mit dem Klimawandel befindet sich die Welt in der Phase der Sklavenhaltung, in der die moralische Verwerflichkeit des Sklavenhandels zwar breit anerkannt war, aber die Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Baumwollwirtschaft zu massivem Widerstand führte, den Sklavenhandel auch wirklich abzuschaffen.

In dieser Phase moralischer Revolutionen geht es darum, durch Übersetzung der moralischen Intuitionen in ein ethisches Regelsystem,[2] durch innovative Lösungen und Institutionalisierungen den zivilisatorischen Sprung zu stabilisieren und ihm zum endgültigen Durchbruch zu verhelfen. Wie kann das gelingen? Durch ein Mehr an Idealismus, dem Betonen und Diffundieren der hinter der moralischen Revolution stehenden Werte? Durch technologischen Fortschritt, der neue Gestaltungsoptionen schafft, um die bestehenden Dilemmata der Umsetzung aufzulösen? Durch politische und institutionelle Regelungen, die eine Umsetzung der neuen moralischen Standards Stück für Stück einfordern und ihnen zum Durchbruch verhelfen?

Um diese Fragen zu beantworten, hilft ein Blick auf unterschiedliche »Transformationsschulen«, mit denen in den Sozialwissenschaften entsprechende Transformationsprozesse erklärt werden. Ihnen werden wir uns im übernächsten Kapitel widmen. Zuvor wird das nächste Kapitel einen etwas tieferen Blick in das Wesen und die Dimensionen der Zukunftskunst werfen.

3. Zukunftskunst – Ein neuer Blick auf die Zivilisationswende

Zukunftskunst stellt das Schlüsselkonzept des vorliegenden Buches dar. Das dritte Kapitel führt in die Idee der Zukunftskunst ein. Mit Zukunftskunst ist die Kompetenz gemeint, das Zusammenspiel von technologischen, ökonomischen, politisch-institutionellen und kulturellen Dynamiken in Prozessen der Großen Transformation zu verstehen und sie für das Projekt einer Nachhaltigen Entwicklung fruchtbar zu machen.

Wir nehmen das Motiv der Großen Transformation auf und möchten es einem noch breiteren Publikum zugänglich machen. Wir nähern uns ihm aus einer Gestaltungsperspektive und zeigen, dass hinter den umfassenden gesellschaftlichen Transformationsprozessen weder eine unabänderliche Entwicklungsdynamik moderner Gesellschaften steckt noch ein technokratischer gesellschaftlicher Umbauplan für eine ökologiegerechte Gesellschaft lauert.

Die Große Transformation gilt es als einen Prozess zu verstehen, der von vielen Akteuren gestaltet wird. Ausgestattet mit einem klar definierten normativen Kompass geht es um die Fähigkeit, in komplexen gesellschaftlichen, kulturellen, ökonomischen und technologischen Prozessen zu navigieren. Diese Kompetenz wird von uns als Zukunftskunst bezeichnet, als die Kunstfertigkeit, wünschenswerte Zukünfte zu ermöglichen.

Das Buch will in diesem Sinne einen Beitrag zu einer verbesserten »Literacy« in Transformationsprozessen leisten. Zu lange waren große Teile der Nachhaltigkeits-Community »Transformationsanalphabeten« und glaubten daran, dass die Welt sich schon ändern würde, wenn wir die Größe der ökologischen und Entwicklungsherausforderungen nur plastisch genug beschreiben, technologische Lösungen und dazu passende Policy-Empfehlungen vorlegen. Die Weltgemeinschaft hat die Probleme auch wahrgenommen, viele Innovationen im Kleinen sind passiert, aber geändert hat sich insgesamt nur wenig – in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft (K.-W. Brand, 2017).

Wenn im 21. Jahrhundert eine Große Transformation hin zu einer Welt mit einem guten Leben für zehn Milliarden Menschen innerhalb planetarer Grenzen möglich werden soll, dann gilt es, das Wesen solcher Transformationsprozesse besser zu verstehen.

Zur Einstimmung in die Zukunftskunst: Warum Nachhaltige Entwicklung eine soziale und kulturelle Frage ist

Wenn über Klimawandel und Nachhaltige Entwicklung gesprochen wird, geht es häufig erst einmal um naturwissenschaftliche Phänomene: Um wachsende Durchschnittstemperaturen und steigende Meeresspiegel, um das 2-Grad-Ziel, um den Rückgang von Biodiversität oder knapper werdende Ressourcen. Diese ökologischen Themen lassen schnell vergessen, dass dahinter das Handeln von Menschen und dessen Folgen stehen. Oder zugespitzt formuliert: dass die Klimaherausforderung letztlich eine soziale Frage ist – und das gleich in zweifacher Weise: (1) Nachhaltige Entwicklung und die Herausforderung des Klimawandels handeln von Gerechtigkeit – im weltweiten Maßstab und zwischen Generationen. (2) Der Umgang mit Klimaherausforderungen erfordert die Anpassung menschlichen Handelns, von Politik, von Wirtschaften, denn soziale und ökonomische Dynamiken haben großen Einfluss auf den Klimawandel und auf mögliche Lösungswege. Es geht um eine gesellschaftliche Transformation. Die ökologischen Veränderungen sind dann erst die Folge dieser gesellschaftlichen Transformation. Beiden Aspekten sei im Folgenden ein vertiefter Blick gewidmet:

Nachhaltige Entwicklung als Gerechtigkeitsfrage

Ein Schlüsseldokument der Diskussion über Nachhaltige Entwicklung ist der 1987 erschienene Brundtland-Report (Brundtland, 1987). Er bereitete konzeptionell die 1992 in Rio de Janeiro veranstaltete Weltkonferenz über Umwelt und Entwicklung vor. Die Brundtland-Kommission definierte Nachhaltige Entwicklung als eine Entwicklung, »die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen«. Kern des Brundtland-Berichtes und der dann folgenden Rio-Konferenz war es, Entwicklungs- und Umweltdebatte in neuer Form zusammenzudenken: Wie kann es gelingen, dass für alle Menschen auf diesem Planeten ausreichende ökonomische Entwicklungschancen (»Bedürfnisse befriedigen«) bestehen, ohne dass die knappen Ressourcen und Umweltgüter so beansprucht werden, dass genau diese Bedürfnisbefriedigung kommenden Generationen erheblich erschwert wird?

Nimmt man dieses Verständnis als Grundlage, dann wird schnell klar, dass es sich bei Nachhaltiger Entwicklung um eine Gerechtigkeitsfrage handelt: Wie gehen Menschen heute im globalen Maßstab miteinander in Bezug auf die Nutzung knapper Ressourcen um, und in welcher Form berücksichtigen sie dabei die Ansprüche von Menschen, die erst in mehreren Jahrzehnten und Jahrhunderten geboren werden? Auch die Klimafrage ist dann eine solche Gerechtigkeitsfrage: Es sind die Wirtschafts- und Lebensweisen bestimmter Teile der Menschheit, die Klimafolgen wie steigende Meeresspiegel, vermehrte Dürreperioden oder Extremwetterereignisse auslösen, die es heutigen und kommenden Generationen in anderen Teilen der Welt kaum noch möglich machen, ihre Bedürfnisse angemessen befriedigen zu können.

Jürg Minsch (1993) brachte es in den 1990er Jahren sehr schön auf den Punkt, als er formulierte, dass die Idee der Nachhaltigen Entwicklung letztlich eine konsequente Verlängerung der Idee der Menschenrechte ist: Das Recht auf Würde, Entfaltung und Entwicklungschancen billigen wir nicht nur allen Menschen innerhalb eines Staates zu, sondern jedem Menschen auf der Welt, ganz gleich, ob er heute oder erst in Hunderten von Jahren geboren wird. Das ist die faszinierende und gleichzeitig so anspruchsvolle Zivilisationsidee, die hinter der Klimafrage und der Forderung nach Nachhaltiger Entwicklung steht. Sie ist deswegen faszinierend und herausfordernd zugleich, weil sie 1992 von einer Weltgemeinschaft formuliert und gemeinsam getragen wurde, die sich gerade einmal 50 Jahre davor noch mitten im Zweiten Weltkrieg und damit in einer der schlimmsten Zivilisationskatastrophen der Menschheitsgeschichte befunden hatte.

Nachhaltige Entwicklung als Transformationsherausforderung

Wenn es bei Nachhaltiger Entwicklung um die Frage geht, wie Menschen dieser und kommender Generationen im globalen Maßstab miteinander umgehen, dann ist damit die Ebene des »Gesellschaftsvertrages« (WBGU, 2011, S. 293), d.h. der grundlegenden gesellschaftlichen Ordnung im globalen Maßstab, adressiert: Nach welchen normativen Prinzipien gestaltet die Menschheit ihr Zusammenleben? Was heißt das für die institutionelle und ökonomische Ordnung sowie die Ausgestaltung der technologischen Zivilisation?

Angesichts der Massivität, mit der die Menschheit derzeit die ökologischen Grundlagen ihrer Zivilisation beeinträchtigt, sind die notwendigen gesellschaftlichen, ökonomischen und technologischen Veränderungen erheblich, um die mit einer Nachhaltigen Entwicklung verbundenen Ziele zu erreichen. Das ist der Grund, warum sich der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) in seinem Hauptgutachten 2011 mit der Großen Transformation auseinandersetzte. Er definierte »Große Transformation« dabei in Anlehnung an Polanyi (1944) »als umfassenden Wandel, der einen Umbau der nationalen Ökonomien und der Weltwirtschaft innerhalb […] [der planetarischen] Leitplanken vorsieht, um irreversible Schädigungen des Erdsystems sowie von Ökosystemen und deren Auswirkungen auf die Menschheit zu vermeiden« (WBGU, 2011, S. 417).

Die Suche nach Wegen zu einer Nachhaltigen Entwicklung ist daher eine Transformationsherausforderung. Auch wenn eine globale Transformationsherausforderung gemeint ist, sollte der Blick auf soziale Differenzierungen nicht verstellt werden. Mit Blick auf historische und strukturelle Bedingungen von Armut, Ungleichheit, unterschiedlicher Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen und die ungleich verteilten Lasten und Vorteile des Klimaschutzes sind die konkreten Verantwortungen unterschiedlich verteilt (vgl. Bauriedl, 2016). Dabei ist das Aufdecken der naturwissenschaftlichen Zusammenhänge, die erklären, wie durch menschliches Handeln die »planetarischen Leitplanken« – seien es Klimawandel oder Biodiversität – beeinträchtigt werden, nur ein vorbereitender Schritt im Umgang mit diesen Herausforderungen. Zentral ist es zu verstehen, wie sich technologische, ökonomische, institutionelle und kulturelle Bedingungen verändern lassen, um ein gerechtes Miteinander im globalen Maßstab auf diesem Planeten zu ermöglichen.

Die Einhaltung planetarer Leitplanken ist das Ziel der Veränderungen. Im Kern geht es aber um einen umfassenden technologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Wandel, der im Rahmen einer Großen Transformation zu bewältigen ist (WBGU, 2011, S. 91f.). Die Möglichkeiten und Bedingungen für einen solchen Wandel hin zu einem »guten Leben« für alle stehen im Zentrum des vorliegenden Buches.

Auf dem Weg zur transformativen Literacy

Wenn Klima- und Nachhaltigkeitsfragen eine Transformationsherausforderung sind, dann braucht es »Transformationskompetenz«, um mit ihnen umzugehen. Dieser und den unterschiedlichen Dimensionen einer solchen Kompetenz widmet sich das vorliegende Buch. Es nutzt dafür den Begriff der Zukunftskunst, um diese Kompetenz zu beschreiben. Er ist inspiriert durch den englischen Begriff der »Literacy«.

Der »Literacy«-Begriff stammt ursprünglich aus dem Bereich des Spracherwerbs, des Umgangs mit geschriebener Sprache. »Literat« ist danach jemand, der lesen und schreiben kann. Lesen- und Schreiben-Können sind dabei hochkomplexe Prozesse: Sie erfordern nicht nur eine Kenntnis von Buchstaben und Worten, sondern auch von Grammatik und Kontexten, um das Gelesene oder das Geschriebene richtig einzuordnen.

Die Vielschichtigkeit der notwendigen Kompetenz ist auch der Grund, warum der Begriff der Literacy in den letzten Jahren gerne in andere Bereiche übertragen wurde: So sprechen wir von »computer literacy«, um die Fähigkeit zu beschreiben, in angemessener Weise mit Computern umzugehen. Oder auch von »environmental literacy« (Scholz, 2011), um die Fähigkeit zu kennzeichnen, Umweltwirkungen angemessen zu erkennen und einzuordnen.

Übertragen auf komplexe Transformationsprozesse bezeichnet eine »transformative Literacy« demnach die »Fähigkeit, Transformationsprozesse adäquat in ihrer Vieldimensionalität zu verstehen und eigenes Handeln in Transformationsprozesse einzubringen« (Schneidewind, 2013, S. 83). Letztlich geht es dabei um die Frage, wie sich Veränderungen im Sinne einer Großen Transformation in Gesellschaften auslösen lassen. Welche Rolle spielt der Einzelne, welche Rolle spielen Strukturen? Treiben uns Technologien oder ökonomische Logiken? Welche Rolle spielt die Politik? Wie wirken alle diese Dimensionen zusammen? Im übertragenen Sinne sind diese Bausteine einzelne Buchstaben und Worte, die es zu sinnvollen Texten zusammenzufügen gilt. Diese transformative Literacy wird im Buch als Zukunftskunst bezeichnet. Sie bezeichnet ebendiese Kunstfertigkeit, mit der Vieldimensionalität von Transformationsprozessen umzugehen (vgl. dazu auch den Kasten »Kunst und Transformation«).

Kunst und Transformation

Der Rückgriff auf den Kunstbegriff ist für unser Anliegen bewusst gewählt. Kunst als Ausdruck eines kreativen Handelns und Sich-in-der-Welt-Orientierens spielt gerade in der Auseinandersetzung mit Transformationsprozessen eine besondere Rolle. In komplexen Veränderungsprozessen ist es notwendig, verschiedene Formen des Wissens und unterschiedliche Perspektiven kreativ aufeinander zu beziehen (die vier Dimensionen der Zukunftskunst sind Ausdruck davon). Rein instrumentelle und analytische Vernunft stößt hier an Grenzen. Die Große Transformation ist vielmehr auf Erzählungen und auch auf Experimente angewiesen, um ihre Wege zu finden. Der Kunstbegriff steht damit auch für das erweiterte reflexive und intervenierende Wissens- und auch Wissenschaftsverständnis des Buches (vgl. dazu auch Kapitel 21 sowie Elsen, 2015). Für einen aus Wuppertal wirkenden Transformations-Think-Tank ist der Kunstbezug zudem faktisch unausweichlich: Wirkten und wirken doch in dieser idealtypischen Transformationsstadt Künstlerinnen und Kunsttheoretiker wie Else Lasker-Schüler, Pina Bausch, Tony Cragg und Bazon Brock.

Dabei spielen für eine transformative Literacy bzw. die Zukunftskunst vier Dimensionen (vgl. Abb. 3.1) eine zentrale Rolle, um komplexe gesellschaftliche Transformationsprozesse adäquat zu verstehen und sich aktiv in sie einzubringen:

Eine technologische Dimension. Sie beschreibt die technologischen Möglichkeiten und Potentiale, um mit Nachhaltigkeitsherausforderungen umzugehen.

Eine ökonomische Dimension. Sie kennzeichnet die ökonomische Einordnung von Lösungsstrategien. Viele vermeintlich überzeugende technologische Lösungen scheitern schon auf dieser Ebene. Zudem ist ein umfassendes Verständnis unseres Wirtschaftssystems notwendig, um Transformationserfordernisse auf dieser Ebene richtig einzuordnen.

Eine institutionelle Dimension. Dies ist der Bereich möglicher politischer Steuerungsinstrumente, um Veränderungsprozesse auszulösen und zu begleiten.

Eine kulturelle Dimension. Viele Veränderungsprozesse greifen tief in die kulturelle »DNA« unserer Gesellschaften ein. Wer z.B. die automobile Kultur oder eine fleischbetonte Ernährung verändern will, muss diese kulturellen Dynamiken sehr gut verstehen.

Die vier Dimensionen werden uns durch das Buch begleiten: Zunächst werden wir sehen, dass die technischen und ökonomischen Lösungen für eine große Transformation längst vorliegen. Dass sich sehr genau beschreiben lässt, wie der Umgang mit Klimawandel und Ressourcenknappheit technologisch und auch gesamtwirtschaftlich gelingen kann. Bei all den vorliegenden Szenarien bleiben aber oft die sozialen, institutionellen und kulturellen Dynamiken unterbelichtet. Das erklärt, warum sich trotz aller gestiegenen naturwissenschaftlichen und technologischen Kompetenz bisher so wenig verändert hat.

Die vier Dimensionen der Zukunftskunst werden uns aber auch genauso in allen konkreten Wenden begegnen: in der Energiewende, der Mobilitätswende, der Ernährungswende genauso wie in der Ressourcenwende oder der urbanen Wende. Erst im Zusammenspiel von technologischen, ökonomischen, institutionellen und kulturellen Dynamiken können diese Wenden gelingen.

Das Wuppertal Institut hat mit dem Bezugsrahmen der transformativen Literacy in den letzten Jahren sehr gute Erfahrungen gemacht (Göpel, 2016a; Schneidewind, 2013; Singer-Brodowski & Schneidewind, 2014). Das vorliegende Buch will einen Beitrag dazu leisten, die »transformative Literacy« in der Nachhaltigkeits- und Klimadebatte zu verbessern, Zukunftskünstler in Zivilgesellschaft, Politik, Unternehmen und Wissenschaft in ihrer Orientierung und ihrem Handeln zu unterstützen.

Von der transformativen Literacy zur Zukunftskunst

Der besondere Charakter der Großen Transformation im 21. Jahrhundert liegt – im Gegensatz zu den beiden vorgelagerten großen Umbrüchen der Menschheitsgeschichte, der neolithischen und der industriellen Revolution – darin, dass diese nicht alleine durch neue technologische und ökonomische Möglichkeiten angetrieben ist, sondern von einer kulturellen Leitidee getragen wird: nämlich der Vision, ein gutes Leben für weltweit knapp zehn Milliarden Menschen auch innerhalb gegebener planetarer Leitplanken organisieren zu können. Sie nimmt daher einen normativen Kompass als Ausgangspunkt und Maßstab und steht vor der Herausforderung, für diesen einen institutionellen Rahmen zu entwickeln sowie bestehende ökonomische und technologische Potentiale zu entfalten, so dass sich die zivilisatorische Vision verwirklichen kann (vgl. Abb. 3.1).

Abb. 3.1:

Zum Perspektivwechsel der Zukunftskunst. Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Schneidewind, 2013, S. 83

Vor diesem Hintergrund bedeutet Zukunftskunst, auf der Grundlage einer transformativen Literacy (d.h. dem Wissen um das Zusammenspiel von technologischen, ökonomischen, institutionellen und kulturellen Dynamiken) aktive Beiträge zur Gestaltung einer am Leitbild der Nachhaltigkeit orientierten Zivilisation zu leisten.

Die zentrale Botschaft des Buches lautet: Auch wenn Technologien, Geschäftsmodelle und Politik wichtig sind – am Ende verändern Ideen und neue Wertvorstellungen die Welt. Jede große Transformation ist letztlich eine moralische Revolution. Erst in ihrem Windschatten verändern sich Politik, Wirtschaftssysteme, Technologien und Infrastrukturen. Und eines ist klar: Unser heutiges Wirtschaftssystem ist der in ökonomische Mechanismen und Institutionen gegossene Glaube an unbegrenztes materielles Wachstum. Die Beharrungskraft – auch die ideelle – der gegenwärtigen gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmung, innerhalb der die natürlichen Grenzen außer Acht gelassen werden, muss daher eine zentrale Rolle spielen. Ohne eine offensive Debatte über einen ökonomischen »Great Mindshift« und ohne eine Weiterentwicklung des heutigen Wirtschaftssystems werden sich die Umbrüche im 21. Jahrhundert nicht humanitär gestalten lassen. Das Buch scheut diese Diskussion nicht, weil sie für eine Zukunftskunst unerlässlich ist.

Dass sich diese Botschaft dabei auch auf viele sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zu gesellschaftlichen Transformationsprozessen stützen kann, ist das Thema des folgenden Kapitels.

4. Drei Transformationsschulen und die Macht der Ideen

Kann eine Große Transformation gelingen, die von einer Zivilisationsidee inspiriert ist? Wer oder was treibt eigentlich umfassende gesellschaftliche Veränderungen? Das ist eine Kernfrage sozialwissenschaftlicher Forschung. In der Geschichte der Sozialwissenschaften sind dazu viele »Schulen« mit unterschiedlichen Antwortbausteinen entstanden. Drei Schulen haben eine besondere Bedeutung: (1) Idealisten, (2) Institutionalisten und (3) Inventionisten. Alle drei Schulen finden sich prominent in der aktuellen Nachhaltigkeitsdebatte. Je genauer man ihr Zusammenspiel versteht, desto besser lassen sich die Ansatzpunkte identifizieren, mit denen sich die moralische Revolution einer Nachhaltigen Entwicklung befördern lässt.[3]

Idealisten: Ideen verändern die Welt

Der gern zitierte Satz von Victor Hugo: »Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist«, kann als Leitorientierung der idealistischen Schule dienen. Sie vertraut auf die Kraft der Ideen bei gesellschaftlichen Veränderungen.

Aufklärung, Freiheit, Solidarität: Es sind die grundlegenden humanistischen Ideen, die sich in der gesellschaftlichen Entwicklung letztlich Bahn brechen. Man mag sie über längere Zeiträume, z.B. durch autoritäre Regime, unterdrücken, letztlich bleiben sie aber der zentrale Antrieb gesellschaftlicher Entwicklung. Nur so ist zu erklären, dass heute trotz aller Herausforderungen so viele Menschen wie nie zuvor in individueller Freiheit und Wohlstand leben.

Aus einer idealistischen Sicht heraus stellt das Prinzip der Nachhaltigen Entwicklung, d.h. der gleichen Entwicklungschancen für jeden Menschen auf diesem Planeten heute genauso wie in Zukunft, die nächste Stufe dieser humanistischen Fortentwicklung dar. Die Große Transformation schöpft daher aus dem Werben für diese Ziele und deren Mobilisierung ihre Überzeugungskraft. Die Herausforderung besteht darin, globale Gerechtigkeitsvorstellungen und Verantwortung zu kultivieren, um einem nächsten zivilisatorischen Entwicklungsschritt zum Durchbruch zu verhelfen. Die ökologische Bewegung der letzten 30 Jahre war von diesem Idealismus getragen und damit äußerst erfolgreich. Umwelt und Nachhaltige Entwicklung gehören heute zum selbstverständlichen Wertekanon vieler Gesellschaften und sind inzwischen fester Bestandteil der Programme aller demokratisch orientierten politischen Parteien Deutschlands.

Trotz dieser Erfolge stagniert aber die politische Umsetzung, werden andere politische Anliegen gegenüber den moralisch hochstehenden Prinzipien einer Nachhaltigen Entwicklung priorisiert. Es zeigt sich daher, dass Idealismus alleine für eine Große Transformation nicht ausreichend erscheint.

Institutionalisten: Menschlicher Fortschritt passiert durch Institutionenentwicklung

Hier kommen die Institutionalisten ins Spiel. Sie streiten die Bedeutung von Ideen und die Möglichkeit für Idealismus nicht ab. Sie halten es aber für naiv, alleine auf die Kraft von Ideen zu setzen. Sie haben einen nüchternen Blick auf das Wesen des Menschen. Auch noch so viele Ideale ändern nichts daran, dass das tägliche Handeln von sehr viel kurzfristigeren Nutzeninteressen und von Routinen geprägt ist. Das gilt für uns als Konsumenten genauso wie als Arbeitnehmerinnen, Manager, Politikerinnen, Journalisten oder Wissenschaftlerinnen. Zivilisiert werden wir nicht alleine aus einer inneren idealistischen Kraft heraus, sondern letztlich nur durch Regeln, die wir uns als Gesellschaft geben. Sie gewährleisten, dass wir als Individuen ausreichend Anreize verspüren, uns nach übergeordneten Prinzipien zu verhalten. Institutionen unterstützen mithin unser zivilisatorisches Lernen und bringen Interessenkonflikte mit anderen Motivationen zu einem Ausgleich.

Zukunftskunst umfasst daher auch, humanistische Ideale wie diejenigen einer Nachhaltigen Entwicklung in verbindliche institutionalisierte Regelsysteme zu übersetzen. Die globalen Klimaverhandlungen versuchen genau das. Sie suchen nach Lösungen, um trotz der Eigeninteressen von Nationen, Branchen und Bürgern zu Regelsystemen zu kommen, die eine klimagerechte Welt ermöglichen.

Aus institutioneller Sicht gilt es, sich dabei insbesondere mit dem Institutionensystem auseinanderzusetzen, das der stärkste Garant moderner Wohlstandsgesellschaften in den letzten Jahrzehnten war, aber zugleich einer der Motoren vieler der aktuell zu beobachtenden globalen Umweltveränderungen ist: die bestehende internationale Wirtschaftsordnung, die auf das Primat von Freihandel und internationalem Wettbewerb setzt (Minsch, Feindt, Meister, Schneidewind & Schulz, 1998). Die Herausforderung Nachhaltiger Entwicklung bedeutet daher insbesondere eine institutionelle Weiterentwicklung auch unseres Wirtschaftssystems. Das ist der Grund, warum wir uns in Kapitel 6 mit der Weiterentwicklung des modernen Kapitalismus auseinandersetzen.

Die Institutionenforschung zeigt, dass Institutionen gerade in Umbruchphasen viererlei leisten müssen (vgl. Abb. 4.1): Sie müssen »Reflexivität« erhöhen, d.h. das Wissen über Folgen der aktuellen Handlungsmuster, sie müssen »Machtausgleich« gewährleisten und damit sicherstellen, dass nicht bisher dominante Interessen Veränderungen weitgehend blockieren, sie müssen die »Selbstorganisation und Kooperation« von Akteuren steigern, um neue Lösungskoalitionen für die entstandenen Herausforderungen zu bilden, und sie müssen »Innovationen« fördern, d.h. neue technologische, aber auch institutionelle Lösungen, die Transformationsprozesse unterstützen.

Abb. 4.1:

Vier Anforderungen an Institutionen in nachhaltigen Transformationsprozessen. Quelle: Nach Schneidewind u.a., 1997, S. 185

Institutionen stabilisieren Idealismus auf einer gesellschaftlichen Ebene. Daher ist die Erosion etablierter Institutionen wie in den USA unter der Trump-Administration oder auch in einigen europäischen Staaten für eine Nachhaltige Entwicklung bedenklich. Mit ihrer Umgestaltung sind auch grundlegende Ideen wie Meinungs- und Redefreiheit oder Rechtsstaatlichkeit auf dem Rückzug.

Inventionisten: Veränderung passiert über neue Technologien und Infrastrukturen

Noch nüchterner sind Inventionisten. Der Begriff lehnt sich hier an das Wort »Invention« (»Erfindung«) an. Inventionisten erkennen zwar an, dass umfassende institutionelle Weiterentwicklungen für die Durchsetzung einer Nachhaltigen Entwicklung hilfreich wären. Der Blick auf die enttäuschende Dynamik in den globalen Klimaverhandlungen oder die nur bescheidenen realen Fortschritte in den Klimaschutzpolitiken vieler Länder nährt jedoch ihre Skepsis, dass solche institutionellen Veränderungen wirklich gelingen können. Gerade der 2017 angekündigte Ausstieg der USA aus dem Weltklimaabkommen verdeutlicht ihnen, wie schnell auch einmal erreichte Fortschritte zugunsten anderer – ökonomischer – Interessen wieder hinfällig werden können.

Für die Inventionisten gibt es daher nur eine Antwort auf die Herausforderung des Klimawandels: technologischer Fortschritt. Denn wenn man davon ausgeht, dass sich die Konsumpräferenzen und damit auch die Wachstumspolitiken weltweit nicht werden ändern lassen, dann kann die Lösung nur in einer Veränderung der technologischen Basis liegen. Wenn Energien regenerativ produziert werden, Menschen sich nur noch mit Elektroautos fortbewegen, in Passivhäusern wohnen und die Produktivität der Landwirtschaft durch Agrochemie massiv gesteigert wird, dann lässt sich die bestehende ökonomische Entwicklung – so die Hoffnungen der Inventionisten – mit ökologischen Zielen verbinden. Dieser Ansatz wird heute unter Begriffen wie »Grünes Wirtschaften« oder »Grünes Wachstum« verhandelt und dominiert die internationale politische Agenda über fast alle politischen Lager hinweg. Die seit 1992 in der Debatte stehende und durch die SDGs im Jahr 2015 bekräftigte Aufgabe, Entwicklungs- und Umweltagenda zusammenzubringen, soll durch ein ökonomisches Wachstum gelöst werden, das im Wesentlichen auf grünen Technologien beruht.

Auch wenn die empirischen Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass die ökologischen (Effizienz-)Effekte dieser inventionistischen Strategie (u.a. durch den Reboundeffekt, vgl. Kap. 5) durch ein überproportionales Wachstum überkompensiert werden, bleiben technologische Lösungen ein Ansatzpunkt in der Gestaltung der Großen Transformation. Dies gilt gerade im Hinblick auf die Potentiale der Digitalisierung, die mit ihren Möglichkeiten auch weit in die institutionelle Struktur unserer Wirtschaftsordnung eingreift.

Zum Zusammenspiel von Idealisten, Institutionalisten und Inventionisten

Schon in der Erläuterung der drei Transformationsschulen wurde deutlich, dass eine Große Transformation erst im Zusammenspiel aller drei Ansätze gelingen kann: Ohne die Kraft der Ideen werden auch keine entsprechenden Institutionen zu gestalten und weiterzuentwickeln sein. Technologische Optionen helfen, institutionelle Veränderungen leichter durchzusetzen, weil sie neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen. So hat der technologische und ökonomische Durchbruch regenerativer Energien überhaupt erst dazu geführt, dass sich viele Länder auf Klimaziele eingelassen haben, die auf den Umbau ihrer fossilen Energiesysteme hinauslaufen.

Transformative Kräfte müssen sich mit bestehenden Interessen und sozialen und strukturellen Machtstrukturen auseinandersetzen, die der sozial-ökologischen Transformation im Weg stehen. Wandel hat daher immer auch etwas mit Macht zur Gestaltung zu tun. Lena Partzsch (2015) sensibilisiert dafür, dass in Transformationsprozessen drei Formen von Macht von zentraler Bedeutung sind: »Macht mit« (Power with), »Macht zu« (Power to) und »Macht über« (Power over). »Macht mit« bezeichnet die Macht, die dadurch entsteht, dass auch andere mobilisiert und mitgerissen werden und dadurch kraftvolle Bewegungen entstehen. Idealismus ist von der »Macht mit« getragen. Er nimmt andere mit und entwickelt dadurch Gestaltungskraft. »Macht zu« ist die Macht zur Gestaltung neuer Handlungsräume. Erfindungen und Technologien vermitteln die »Macht zu«. Sie eröffnen erweiterte Zukunftsräume. »Macht über« ist schließlich die klassische Form von Macht. Es ist z.B. die Macht von Regeln und Gesetzen und die Fähigkeit, sie durchzusetzen, um ein bestimmtes Handeln zu erzwingen. Institutionen schaffen den Rahmen für eine »Macht über«. Sie ist in politischen Prozessen auszuhandeln.

Letztlich braucht es alle diese drei Machtformen, um Transformationsprozesse auf den Weg zu bringen. In Teil C des Buches wird es darum gehen, welche Rollen unterschiedlichen Akteursgruppen in der Gestaltung von Veränderungsprozessen zukommen. Dort beginnen wir bewusst mit den zivilgesellschaftlichen Kräften. Sie bringen neue Ideen und Ideale in die Welt und erkämpfen und erproben wünschenswerte Zukünfte auf deren Basis. Sie mobilisieren die »Macht mit«, die in der Politik in verbindliche Institutionen übersetzt wird. Unternehmen, insbesondere mit ihrem technologischen und ökonomischen Innovationspotential, bringen eine »Macht zu« in die Veränderungsarenen. Damit schaffen sie ebenfalls eine wichtige Grundlage für die Weiterentwicklung von Institutionen. Politik ist gefordert, diese Impulse aufzunehmen und in verbindliche Formen der »Macht über« weiterzuentwickeln.

Das Verständnis dieses Zusammenspiels ist ein weiterer wichtiger Baustein einer transformativen Literacy in einer Welt im Umbruch.

Kulturelle Revolutionen und das Zusammenspiel unterschiedlicher Transformationsebenen (Multi-Level-Perspektive)

In der Auseinandersetzung mit komplexen soziotechnischen Transformationsprozessen ist mit dem Nachhaltigen Transition-Management in den letzten Jahren ein breit etablierter konzeptioneller Ansatz entstanden (Grin, Rotmans & Schot, 2010; Loorbach, 2010; Markard, Raven & Truffer, 2012). Er ergänzt sich hervorragend mit den gerade skizzierten Transformationsschulen.

Ein zentrales Element dieses Ansatzes ist die sogenannte Multi-Level-Perspektive. Sie dient als strukturierende Heuristik zum Verständnis komplexer Veränderungsprozesse und unterscheidet drei grundlegende Ebenen von Systemübergängen (vgl. auch Abb. 4.2 mit der Illustration der drei Ebenen am Beispiel der Mobilitätstransformation):

Die »Landscape«-Ebene, die grundlegende übergreifende Entwicklungen und Trends beschreibt,

die »Regime«-Ebene, die institutionelle Strukturen bezeichnet, und

die »Nischen«-Ebene, die auf Veränderungen zielende (zumeist technologische) Innovationen beschreibt.

Abb. 4.2:

Multi-Level-Perspektive und idealtypischer Transfer auf den Automobilsektor. Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Fraedrich, Beiker & Lenz, 2015, S. 11

Vor dem Hintergrund der Multi-Level-Perspektive sind in den letzten Jahren eine Großzahl von Arbeiten entstanden (Geels, 2006a, 2006b), um insbesondere schon stattgefundene umfassende Transformationsprozesse besser zu verstehen.

Die drei in den ersten Abschnitten skizzierten Transformationsschulen lassen sich gut mit den Ebenen in Beziehungen setzen: (1) Die Nischen verkörpern »Inventionen« und Innovationen, die gesellschaftliche Veränderungsprozesse auslösen. (2) Das »Regime« steht für institutionelle Veränderungsprozesse, um Veränderungen langfristig zum Durchbruch zu verhelfen. (3) Grundlegende gesellschaftliche Ideen und Mindsets sind ein zentraler Bestandteil der Landscape-Ebene.

Während das Transition-Management aus der Inventionisten-Perspektive Veränderungsprozesse »von unten« über Nischeninnovationen und deren Diffusion zu verstehen sucht, nähert sich das vorliegende Buch dem Phänomen der Großen Transformation von der anderen Seite: Wenn der Wandel zu einer Nachhaltigen Entwicklung eine moralische Revolution beschreibt, dann sind die Umbrüche auf der Landscape-Ebene und damit u.a. grundlegender Mindsets zentral, um die Bedingungen für die Möglichkeit von Veränderungsprozessen zu schaffen. Erst dieser Mindshift bereitet den Boden dafür, dass viele einzelne Innovationsprozesse zum Katalysator für einen auch institutionellen Wandel werden.

5. Doppelte Entkopplung – Jenseits der »Grünen Ökonomie«

»Doppelte Entkopplung« ist ein Schlüsselkonzept der Nachhaltigkeitsdebatte. Es sensibilisiert dafür, dass Nachhaltige Entwicklung nur als Kombination aus technologischen Effizienzsteigerungen und neuen Wohlstandsmodellen sowie Konsumstilen möglich sein wird. Das Kapitel führt in den Ansatz der doppelten Entkopplung ein und gibt einen ersten Einblick in ein erweitertes Wohlstandsverständnis.

Wenn die Große Transformation zu einer Nachhaltigen Entwicklung im Kern eine kulturelle und institutionelle Wende ist, dann ist es unabdingbar, sich dem modernen ökonomischen System zuzuwenden. Stellt es doch die heute am intensivsten verankerte kulturelle und institutionelle globale Ordnung dar. Ein großer Trugschluss der Umweltdebatte in den letzten 30 Jahren war die Hoffnung, dass sich eine ökologische Wende im Wesentlichen mit einem technologischen Innovationsprogramm in der bestehenden Wirtschaftsordnung umsetzen lässt. Die Beherrschung lokaler Umweltprobleme wie Abwasser- und Luftbelastungen im Zuge steigenden ökonomischen Wohlstands hatten diese Hoffnung genährt. Die globalen ökologischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sind anderer Natur (vgl. dazu insbesondere auch die Ausführungen zu den planetaren Grenzen in Kap. 8). Sie steigen mit wachsendem Wohlstand an. Die seit 1992anhaltende beeindruckende Wohlstandsentwicklung hat weder die Klimabelastungen noch die Ressourcenverbräuche oder den Verlust an Biodiversität bremsen können – im Gegenteil, all diese Belastungen haben sich massiv verschärft. Es scheint eine unmittelbare und enge Korrelation zwischen ökonomischem Wachstum und Umweltbelastung zu geben.

Ein Grund dafür sind sogenannte »Rebound«-Effekte klassischer ökologischer Innovationen. Öko-Effizienz bedeutet häufig auch ökonomische Effizienz. Das macht sie für Unternehmen und Konsumenten attraktiv. Gleichzeitig führt dies aber zu einem inhärenten Wachstumsimpuls (vgl. die Ausführungen weiter unten).

Es wird immer deutlicher, dass alleine die Hoffnung auf »Grünes Wirtschaften« und »Grünes Wachstum« nicht reichen wird, um die planetaren Leitplanken einzuhalten und gleichzeitig zehn Milliarden Menschen im 21. Jahrhundert ein gutes Leben zu ermöglichen.

Dies führt automatisch zum Konzept der »doppelten Entkopplung«, das die Arbeit des Wuppertal Instituts schon seit den 1990er Jahren begleitet: Die Idee der doppelten Entkopplung kombiniert technologische Öko-Innovationen mit einer Diskussion über neue Lebensstile und Wohlstandsmodelle. Sie zielt damit auf ein umfassenderes und systemisches Innovationsverständnis. Zentral ist dabei der Ansatz, zwei Arten der Entkopplung zu unterscheiden: 1. die »klassische« Entkopplung des Wirtschaftswachstums vom Umweltverbrauch durch zumeist technologische Innovationen und 2. die erweiterte Entkopplung von Lebensqualität und gutem Leben von klassischem Wirtschaftswachstum. In der intelligenten Kopplung beider Ansätze liegt das Potential, die Chance auf ein gutes Leben für zehn Milliarden Menschen innerhalb der planetaren Leitplanken zu bewahren.

Zudem wird das nächste Kapitel zeigen, dass sich die Systematik der doppelten Entkopplung anbietet, um besser zu verstehen, wo sich derzeit die stärksten Dysfunktionalitäten des modernen globalen Wirtschaftssystems zeigen. Diese Analyse liefert dann die Ansatzpunkte für die künftige Weiterentwicklung eines modernen nachhaltigkeitsorientierten Kapitalismus.

Gutes Leben vom Naturverbrauch unabhängiger machen – Warum es einer »doppelten Entkopplung« bedarf

»Doppelter Wohlstand bei halbem Umweltverbrauch« war eine Formel, die Ernst Ulrich von Weizsäcker als Gründungspräsident des Wuppertal Instituts mit seinem Buch »Faktor Vier« (Weizsäcker, Lovins & Lovins, 1995) in den 1990er Jahren populär machte. Dahinter stand die Idee einer »Effizienzrevolution«: Künftiger Wohlstand lässt sich demnach mit immer weniger Umweltverbrauch erzeugen. »Faktor Vier« zeigte viele technologische Beispiele auf, mit denen das damals schon möglich war. Bis heute prägt die Idee einer technologischen Effizienzrevolution die Umweltdebatte. Heute heißen die Begriffe dafür »Grünes Wirtschaften« oder »Grünes Wachstum«. Sie finden sich in den Zukunftsstrategien der UN (UNEP2011a) und der OECD (OECD, 2011) genauso wie auch in den Programmen der meisten Parteien in Deutschland. Es sind etablierte Formeln, um Ökonomie und Ökologie auszusöhnen und ökologischen Fortschritt mit einer ökonomischen Wachstumsstrategie zu verknüpfen. Das International Resource Panel hat in zwei großen Berichten (UNEP, 2011b, 2014b) die Entkopplung von Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum untersucht und dabei festgestellt, dass eine Entkopplung in vielen Bereichen zumindest prinzipiell denkbar wäre, faktisch aber ausbleibt.

Dabei wird häufig übersehen, dass es schon in »Faktor Vier« um mehr als nur technologische Innovationen ging. Im Buch wurden viele Beispiele vorgestellt, in denen die gleiche Lebensqualität mit anderen Formen von Dienstleistungen erbracht wird (Weizsäcker u.a., 1995