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Die Romanvorlage für A Haunting in Venice, Kenneth Branaghs neuesten Poirot-Film (Kinostart September 2023) Joyce Reynolds ist kein beliebtes Mädchen. Als sie auf einer Halloween-Party jedem, einschließlich der berühmten Kriminalautorin Mrs Oliver erzählt, dass sie einen Mord beobachtet hat, glaubt ihr niemand. Als sie kurze Zeit später tot in der Bibliothek gefunden wird, ruft man Hercule Poirot herbei. Doch er muss erst einmal herausfinden, ob er einen Mörder oder einen Doppelmörder sucht.
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Seitenzahl: 269
Agatha Christie
Die Halloween-Party
Ein Fall für Poirot
Roman
Aus dem Englischen von Hiltgunt Grabler
Atlantik
Die Kindergesellschaft bei den Drakes sollte am Abend stattfinden. Ariadne Oliver begleitete ihre Freundin Judith Butler, bei der sie einige Tage zu Besuch war, um bei den Vorbereitungen zu helfen.
Im Augenblick herrschte heilloses Durcheinander. Frauen liefen energisch hin und her, trugen Stühle, kleine Tische und Blumenvasen von einem Zimmer ins andere und verteilten große Mengen von Kürbissen über das ganze Haus.
Es war Halloween, der Tag vor Allerheiligen, der in England mit Maskeraden und lustigen Umzügen begangen wird, und die geladenen Gäste dieses Abends waren zwischen zehn und siebzehn Jahre alt.
Mrs Oliver hielt sich geschickt vom Zentrum der fieberhaften Aktivität fern. An die Wand gelehnt, hielt sie einen großen gelben Kürbis in die Höhe, betrachtete ihn kritisch und sagte: »Zum letzten Mal habe ich welche in Amerika gesehen, letztes Jahr, und da gleich Hunderte. Das ganze Haus war voll.«
»Oh – entschuldige«, sagte Mrs Butler, die über Mrs Olivers Füße gestolpert war.
Mrs Oliver drückte sich enger an die Wand.
»Meine Schuld«, sagte sie. »Ich stehe hier rum und bin im Weg. Aber die vielen Kürbisse waren wirklich eindrucksvoll. Man sah sie überall, in den Geschäften, in den Häusern, ausgehöhlt und von innen mit Kerzen beleuchtet. Aber das war nicht an Halloween, sondern beim Erntedankfest, und das ist später, erst in der dritten Novemberwoche.«
Die meisten der umhereilenden Frauen fielen früher oder später über Mrs Olivers Füße, hörten ihr aber nicht zu. Sie waren alle viel zu beschäftigt.
Es waren in der Hauptsache Mütter und eine oder zwei tüchtige Junggesellinnen. Ein paar größere Jungen kletterten auf Leitern und Stühle und dekorierten Wände und Schränke mit Kürbissen und Lampions. Mädchen zwischen elf und fünfzehn standen in Gruppen herum und kicherten.
Mrs Oliver plauderte weiter und ließ sich auf einen Sofaarm nieder, um sich gleich wieder zerknirscht zu erheben.
»Ich bin wirklich keine große Hilfe. Ich sitze hier herum und rede dummes Zeug über Kürbisse« – und schone meine Füße, dachte sie mit leichten Gewissensbissen, aber ohne allzu große Schuldgefühle.
»So, was kann ich jetzt tun?«, fragte sie, und dann: »Was für prächtige Äpfel!«
Jemand hatte gerade eine große Schüssel mit Äpfeln ins Zimmer gebracht. Mrs Oliver hatte eine Schwäche für Äpfel.
»Sie sind nicht besonders gut«, sagte Rowena Drake, die Gastgeberin, eine gut aussehende Frau mittleren Alters. »Aber sie sehen hübsch und festlich aus. Sie sind fürs Apfelschnappen gedacht und ziemlich weich, damit die Kinder leichter reinbeißen können. Trag sie doch bitte in die Bibliothek, Beatrice. Beim Apfelschnappen gibt’s immer eine große Überschwemmung, aber bei dem Teppich in der Bibliothek kommt es nicht drauf an. Oh, danke, Joyce.«
Joyce, eine kräftige Dreizehnjährige, hatte die Schüssel ergriffen. Zwei Äpfel fielen herunter und blieben, wie von einem Zauber gebannt, genau vor Mrs Olivers Füßen liegen.
»Sie mögen Äpfel, nicht wahr?«, sagte Joyce. »Ich hab davon gelesen. Sie sind doch die Frau, die Kriminalromane schreibt, oder?«
»Ja«, sagte Mrs Oliver.
»Eigentlich müssten Sie was organisieren heute Abend, irgendwas mit Mord. Zum Beispiel einer wird ermordet, und alle müssen den Täter finden.«
»Nein, danke«, sagte Mrs Oliver. »Nie wieder.«
»Was heißt das, nie wieder?«
»Na ja, ich habe so was mal gemacht, und es war kein großer Erfolg«, sagte Mrs Oliver.
»Aber Sie haben doch massenhaft Bücher geschrieben«, sagte Joyce. »Sie kriegen eine Menge Geld dafür.«
»Gewiss«, sagte Mrs Oliver und dachte an die Einkommensteuer.
»Und Ihr Detektiv ist ein Finne.«
Diese Tatsache leugnete Mrs Oliver nicht. Ein kleiner, phlegmatisch wirkender Junge, der nach Mrs Olivers Dafürhalten noch nicht zehn Jahre alt war, sagte streng: »Warum ein Finne?«
»Das habe ich mich oft schon selbst gefragt.«
Mrs Hargreaves, die Frau des Organisten, kam keuchend mit einem großen, grünen Plastikeimer ins Zimmer.
»Wie wäre der fürs Apfelschnappen?«, fragte sie. »Ich dachte, das sieht ganz lustig aus.«
Miss Lee, die Arzthelferin, sagte: »Ein Metalleimer ist besser. Der kippt nicht so leicht um. Wo soll es denn stattfinden, Mrs Drake?«
»Am besten in der Bibliothek. Der Teppich dort ist alt. Es läuft immer ziemlich viel Wasser über.«
»Gut, bringen wir die Äpfel in die Bibliothek. Und hier ist noch ein Korb voll, Rowena.«
»Lassen Sie mich den tragen«, sagte Mrs Oliver.
Sie hob die beiden heruntergerollten Äpfel auf. Geistesabwesend biss sie in einen kräftig hinein. Mrs Drake nahm ihr den zweiten energisch weg und legte ihn in die Schüssel zurück. Dann redete alles wieder durcheinander.
»Schön, aber wo soll der Feuerdrachen sein?«
»Den Feuerdrachen müsste man in der Bibliothek machen, da ist es am dunkelsten.«
»Nein, den machen wir im Esszimmer.«
»Dann muss man aber was über den Tisch legen.«
»Erst wird ein grünes Filztuch draufgelegt, und drüber kommt die Plastikdecke.«
»Was ist mit den Spiegeln? Können wir da wirklich unsere zukünftigen Ehemänner drin sehen?«
Mrs Oliver befreite sich unauffällig von ihren Schuhen und sank, immer noch emsig kauend, wieder auf das Sofa. Sie betrachtete die vielen Menschen im Zimmer mit kritischem Blick und dachte bei sich: Wenn ich über die Leute hier ein Buch schreiben würde, wie würde ich das machen? Es scheinen nette Leute zu sein – aber wer kann sich da schon sicher sein!
Eigentlich war es gerade spannend, dass sie nichts über sie wusste. Sie wohnten alle in Woodleigh Common, und von manchen konnte sie sich schon ein undeutliches Bild machen, weil Judith ihr dies und das erzählt hatte. Miss Johnson – hatte was mit der Kirche zu tun, nicht die Schwester vom Pfarrer. O natürlich, die Schwester vom Organisten. Rowena Drake, die offensichtlich die erste Geige in Woodleigh Common spielte. Dann die schnaufende Frau, die den Eimer gebracht hatte, einen besonders abscheulichen Plastikeimer. Aber Mrs Oliver konnte Plastik nun einmal nicht leiden. Und dann die Kinder, Teenager.
Bis jetzt waren es nur Namen für Mrs Oliver. Es gab eine Nan und eine Beatrice und eine Cathie, eine Diana und eine Joyce, die eine Angeberin war und impertinente Fragen stellte. Joyce mag ich nicht besonders, dachte Mrs Oliver. Ein Mädchen hieß Ann, sie war groß und wirkte überlegen. Zwei Jünglinge waren auch da, die offensichtlich das Neueste an Frisuren ausprobierten. Das Ergebnis war nicht sehr glücklich.
Ein kleinerer Junge betrat schüchtern das Zimmer.
»Mami schickt die Spiegel und lässt fragen, ob sie genügen«, sagte er ein wenig atemlos.
Mrs Drake nahm sie ihm ab.
»Vielen Dank, Eddy«, sagte sie.
»Das sind ja nur ganz gewöhnliche Handspiegel«, sagte das Mädchen, das Ann hieß. »Können wir da wirklich unsere Ehemänner drin sehen?«
»Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht«, sagte Judith Butler.
»Haben Sie jemals das Gesicht Ihres Mannes gesehen, wenn Sie zu einer Party gehen – ich meine, zu so einer Party wie heute?«
»Natürlich nicht«, sagte Joyce.
»Vielleicht doch«, sagte die überlegene Beatrice. »Das nennt man übersinnliche Wahrnehmung«, fügte sie selbstzufrieden hinzu. Sie kannte sich aus in den modernen Fachausdrücken!
»Ich hab mal einen Roman von Ihnen gelesen«, sagte Ann zu Mrs Oliver. »Der sterbende Goldfisch. Ich fand ihn gut«, fügte sie mit liebenswürdiger Herablassung hinzu.
»Ich nicht«, sagte Joyce. »Es kam nicht genug Blut vor. Bei einem Mord muss massenhaft Blut dabei sein.«
»Nicht sehr appetitlich«, sagte Mrs Oliver, »findest du nicht auch?«
»Aber aufregend«, sagte Joyce.
»Nicht immer«, erwiderte Mrs Oliver.
»Ich hab mal einen Mord gesehen«, sagte Joyce.
»Sei nicht albern, Joyce«, sagte Miss Whittaker, die Lehrerin.
»Aber es stimmt«, sagte Joyce.
»Wirklich?«, fragte Cathie und sah Joyce mit aufgerissenen Augen an. »Hast du wirklich und wahrhaftig einen Mord gesehen?«
»Natürlich nicht«, sagte Mrs Drake. »Red nicht so albernes Zeug, Joyce.«
»Ich hab aber einen Mord gesehen«, sagte Joyce. »Jawohl. Jawohl. Jawohl.«
Einer der größeren Jungen blickte interessiert von seiner Leiter auf Joyce hinunter.
»Was für einen Mord?«, fragte er.
»Ich glaub das nicht«, sagte Beatrice.
»Natürlich nicht«, sagte Cathies Mutter. »Das hat sie sich ausgedacht.«
»Das hab ich mir nicht ausgedacht, Ich hab es gesehen.«
»Warum bist du nicht zur Polizei gegangen?«, fragte Cathie.
»Weil ich zuerst nicht wusste, dass es ein Mord war. Erst viel später hab ich es gemerkt. Jemand hat was gesagt, erst vor ein paar Monaten, und da hab ich plötzlich gedacht: Natürlich, das war ein Mord, den ich da gesehen habe.«
»Da sieht man’s ja«, sagte Ann, »sie spinnt sich das alles zusammen. Purer Unsinn.«
»Wann soll das denn passiert sein?«, fragte Beatrice.
»Vor Jahren«, sagte Joyce. »Ich war damals noch ziemlich klein«, fügte sie hinzu.
»Wer hat denn wen ermordet?«, sagte Beatrice.
»Das sag ich nicht«, sagte Joyce. »Ihr seid alle widerlich.«
Miss Lee kam mit einem zweiten Eimer, und die Unterhaltung wandte sich dem Thema zu, ob Metall- oder Plastikeimer besser für das Apfelschnappen geeignet seien. Die Mehrzahl der Helfer begab sich in die Bibliothek, um die Sache an Ort und Stelle zu prüfen. Haare wurden nass, Wasser wurde vergossen, man rief nach Tüchern zum Aufwischen. Schließlich entschied man, dass ein Metalleimer besser sei.
Mrs Oliver brachte eine weitere Schüssel mit Äpfeln, woraus der Vorrat für den Abend wieder aufgefüllt werden sollte, und nahm sich wieder einen.
»Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Sie so gern Äpfel essen«, sagte eine anklagende Stimme. Mrs Oliver war sich nicht sicher, ob es Anns oder Susans war.
»Das ist bei mir schon eine Gewohnheitssünde«, sagte Mrs Oliver.
»Melonen würden viel mehr Spaß machen«, wandte ein kleiner Junge ein. »Die sind so schön saftig. Denk mal, was das für eine Schweinerei gäbe«, sagte er und betrachtete genießerisch den Teppich.
Mrs Oliver, die sich der öffentlichen Zurschaustellung ihrer Gier ein wenig schämte, machte sich auf die Suche nach einem bestimmten Ort, dessen Lage im Allgemeinen leicht zu ermitteln ist. Sie ging die Treppe hinauf. Als sie auf dem ersten Absatz um die Ecke bog, stieß sie fast mit einem Pärchen zusammen, das innig umschlungen an der Tür gerade des Raumes lehnte, den Mrs Oliver suchte. Das Paar nahm keinerlei Notiz von ihr. Sie seufzten und knutschten. Mrs Oliver überlegte, wie alt sie waren. Der Junge vielleicht fünfzehn, das Mädchen zwölf, obgleich gewisse Rundungen wesentlich reiferer Natur schienen.
»Verzeihung«, sagte Mrs Oliver laut und deutlich.
Das Paar hielt sich noch enger umschlungen und küsste sich hingebungsvoll.
»Verzeihung«, wiederholte Mrs Oliver. »Würdet ihr mich bitte vorbeilassen? Ich möchte gern hier hinein.«
Das Paar trennte sich nur unwillig. Beide sahen Mrs Oliver böse an. Sie ging hinein, knallte die Tür zu und schob den Riegel vor. Die Tür schloss nicht besonders gut, und sie konnte undeutliche Worte verstehen.
»Ist das nicht mal wieder typisch?«, sagte eine etwas wackelige Tenorstimme. »Man konnte doch wohl sehen, dass wir nicht gestört werden wollten.«
»Die Leute sind so egoistisch«, piepste eine Mädchenstimme. »Sie denken immer nur an sich.«
»Rücksichtslos«, sagte der Junge.
Ein Kinderfest macht meist sehr viel mehr Arbeit als eine Gesellschaft für Erwachsene. Gutes Essen, diverse Alkoholika, ein paar Flaschen Saft in Reserve – das genügt meist. Es mag mehr kosten, macht aber unendlich weniger Mühe. Darüber waren sich Ariadne Oliver und ihre Freundin Judith Butler einig.
»Und Teenager-Partys?«, fragte Judith.
»Damit habe ich wenig Erfahrung«, sagte Mrs Oliver.
»Im Grunde hat man damit am wenigsten Arbeit«, sagte Judith. »Sie schmeißen uns Erwachsene raus und sagen, sie machen alles allein.«
»Und tun sie das dann auch?«
»Na ja, nicht so, wie wir uns das vorstellen«, sagte Judith. »Die Sachen, die unbedingt nötig sind, vergessen sie, dafür kaufen sie lauter Zeug, das kein Mensch mag. Erst schmeißen sie uns raus, und dann beschweren sie sich, dass wir sie nicht besser versorgt haben. Sie machen einen Haufen Gläser und Geschirr kaputt, und dann ist immer irgendein ungebetener Gast dabei, oder jemand bringt einen unerfreulichen Freund mit.«
»Klingt ja deprimierend«, sagte Mrs Oliver.
»Na, die Gesellschaft heute Abend wird jedenfalls ein Erfolg. Dafür sorgt Rowena Drake schon. Sie ist ein ganz großer Organisator, Sie werden sehen.«
»Ich glaube, ich habe gar keine Lust, zu einer Party zu gehen«, seufzte Mrs Oliver.
»Legen Sie sich doch eine Stunde hin. Es wird Ihnen bestimmt Spaß machen, wenn Sie erst mal dort sind. Zu dumm, dass Miranda Fieber hat – das arme Kind ist so schrecklich enttäuscht, dass sie nicht hingehen kann.«
Die Kindergesellschaft fing um halb acht an, und Ariadne Oliver musste zugeben, dass ihre Freundin recht hatte. Alle fanden sich pünktlich ein, und das Fest verlief reibungslos und genau wie geplant. Die Treppen waren rot und blau beleuchtet und mit einer Unzahl gelber Kürbisse dekoriert. Die Mädchen und Jungen brachten geschmückte Besenstiele für einen Wettbewerb mit. Nach der Begrüßung gab Rowena Drake das Programm für den Abend bekannt. »Zuerst werden die Besenstiele begutachtet«, sagte sie. »Es gibt drei Preise. Dann gehen wir zum Mehlschneiden in den kleinen Wintergarten. Dann kommt Apfelschnappen – dort drüben hängt eine Partnerliste an der Wand –, und dann wird getanzt. Jedes Mal, wenn das Licht ausgeht, müssen die Partner ausgetauscht werden. Dann gehen die Mädchen in die kleine Bibliothek zum Spiegelgucken. Danach gibt’s Abendbrot, die Preisverteilung und zum Schluss den Feuerdrachen.«
Wie die meisten Partys kam auch diese zuerst nur schwer in Gang. Die Besen, meist kleine Puppenbesen, wurden bewundert, obgleich keine der Dekorationen mehr als bescheidenes Mittelmaß erreichte … »Was die ganze Sache sehr vereinfacht«, sagte Mrs Drake leise zu einer Freundin. »Das Ganze ist überhaupt sehr nützlich, denn es gibt immer ein oder zwei Kinder, von denen man genau weiß, dass sie bei keinem der anderen Spiele einen Preis gewinnen, und hier kann man dann ein bisschen schummeln.«
»Wie skrupellos, Rowena!«
»Ganz und gar nicht. Der springende Punkt ist doch, dass jedes Kind irgendetwas gewinnen möchte.«
»Was ist denn Mehlschneiden?«, fragte Mrs Oliver.
»Man füllt ein Wasserglas mit Mehl, presst es fest hinein, stürzt es auf ein Brett und legt ein Geldstück obendrauf. Dann muss jeder ganz vorsichtig eine Scheibe davon abschneiden, ohne dass die Münze hinunterfällt. Der, bei dem sie fällt, scheidet aus. Wer übrig bleibt, bekommt das Geldstück. So, und jetzt los.«
Und es ging los. Aufgeregtes Quietschen schallte aus der Bibliothek, in der Apfelschnappen gespielt wurde, und die Wettkämpfer kehrten mit nassen Haaren und in generell angefeuchtetem Zustand zurück.
Das größte Ereignis – jedenfalls für die Mädchen – war die Ankunft der Hexe, die von Mrs Goodbody, einer Putzfrau aus dem Ort, gespielt wurde. Mrs Goodbody hatte nicht nur die unerlässliche Hakennase und das der Nasenspitze entgegenstrebende Kinn, sondern konnte auch mit unheimlicher Singsangstimme sprechen und magische Knittelverse erfinden, etwa dieser Art:
»Abrakadabra, was sehen wir heut? Den Mann im Spiegel, der Beatrice freit. Blick in den Spiegel, Beatrice fein, der, den du dort siehst, wird dein Mann einst sein.«
Von einer hinter einem Wandschirm verborgenen Leiter aus wurde ein starker Lichtstrahl auf genau den Fleck an der Wand geworfen, der in dem Spiegel zu sehen war, den Beatrice aufgeregt festhielt.
»Oh!«, rief Beatrice. »Ich hab ihn gesehen. Ich hab ihn gesehen! Ich kann ihn im Spiegel sehen!«
Der Lichtstrahl verlosch, das Licht ging wieder an, und ein farbiges Foto flatterte von der Decke herab. Beatrice hüpfte aufgeregt herum.
»Das war er! Das war er! Ich hab ihn gesehen«, rief sie. »Oh, er hat einen tollen roten Bart.«
Sie rannte zu Mrs Oliver, die am nächsten stand.
»Sehen Sie doch, sehen Sie doch bitte. Finden Sie ihn nicht toll? Er sieht wie Eddie Presweight aus, wie der Popstar. Finden Sie nicht?«
Mrs Oliver gab zu, dass er Ähnlichkeit mit einem der Gesichter hatte, die sie zu ihrem Leidwesen jeden Morgen in ihrer Zeitung vorfand. Der Bart, fand sie, war ein genialer Einfall.
»Woher kommen denn all diese Fotografien?«, fragte sie Judith.
»Nicky hat sie für Rowena gemacht. Sein Freund Desmond half ihm dabei. Er beschäftigt sich viel mit Fotografieren und experimentiert herum. Er und zwei Freunde haben sich zurechtgemacht, mit Perücken und angeklebten Koteletten und Bärten. Das Ganze mit Gegenlicht fotografiert, und die Mädchen überschlagen sich vor Entzücken.«
»Ich kann mir nicht helfen«, sagte Ariadne Oliver, »aber heutzutage scheinen die Mädchen wirklich albern zu sein.«
»Meinen Sie nicht, dass das immer so war?«, fragte Rowena Drake.
Mrs Oliver nickte. »Sie haben wohl recht.«
»So, Kinder«, rief Mrs Drake, »Abendbrot!«
Das Essen war ein großer Erfolg. Es gab Cremetorten, scharf gewürzte Häppchen, Krabben, Käse und Konfekt. Alles stopfte sich begeistert voll.
»Und jetzt«, sagte Rowena, »der Abschluss des Abends. Feuerdrachen. Geht alle mal da rüber, durch die Küche. So, und nun die Preisverteilung.«
Die Preise wurden verteilt, und dann erklang ein lautes Heulen. Die Kinder stürmten durch die Halle zurück ins Esszimmer. Das Essen war fortgeräumt. Der Tisch war mit einem grünen Filztuch bedeckt, und dann wurde eine Riesenschüssel mit in brennendem Weinbrand schwimmenden Rosinen hereingetragen. Alles drängte sich kreischend heran und griff nach den brennenden Rosinen. »Au! Ich hab mich verbrannt! Oh, wie herrlich!« Allmählich begann der Feuerdrachen zu flackern, und schließlich erstarb die Flamme. Die Lichter gingen wieder an. Das Fest war zu Ende.
»Es war ein großer Erfolg«, sagte Rowena.
»Das sollte es aber auch sein nach all der Mühe, die Sie sich gemacht haben.«
»Es war sehr schön«, sagte Judith leise. »Und jetzt«, fügte sie seufzend hinzu, »müssen wir ein bisschen aufräumen. Wir können nicht alles den armen Putzfrauen überlassen.«
In einer Wohnung in London klingelte das Telefon. Der Besitzer der Wohnung, Hercule Poirot, hob lauschend den Kopf. Ein Gefühl der Enttäuschung überkam ihn. Er wusste, was dieser Anruf bedeutete. Sein Freund Solly, mit dem er den Abend verbringen und die nie endende Diskussion über den wahren Täter der Stadtbadmorde fortsetzen wollte, sagte wahrscheinlich ab. Poirot, der inzwischen eifrig Beweismaterial für seine eigene, etwas weit hergeholte Theorie gesammelt hatte, war enttäuscht. Es war sehr ärgerlich, wenn Solly heute Abend nicht kam. Andererseits hatte Solly heute Morgen schon einen ekelhaften Husten gehabt, als sie telefoniert hatten.
»Er hat eine scheußliche Erkältung«, sagte sich Hercule Poirot, »und würde mich bestimmt anstecken. Besser, er kommt nicht. Tout de même«, fügte er seufzend hinzu, »das heißt, dass ich einen sehr langweiligen Abend von mir habe.«
In letzter Zeit waren viele Abende langweilig, dachte Hercule Poirot. So brillant sein Verstand auch war (diese Tatsache hatte er noch nie angezweifelt), brauchte er doch Anregung von außen. Philosophische Weltbetrachtungen hatten ihm noch nie gelegen. Sein Diener George betrat das Zimmer.
»Das war Mr Solomon Levy, Sir.«
»Ah ja«, sagte Hercule Poirot.
»Er bedauert es sehr, aber er liegt mit einem schweren Grippeanfall im Bett.«
»Er hat nicht die Grippe«, sagte Hercule Poirot. »Er hat nur eine schwere Erkältung. Alle denken immer, sie haben die Grippe. Das klingt bedeutender. Die Leute haben dann mehr Mitgefühl mit einem.«
»Trotzdem gut, dass er nicht kommt, Sir«, sagte George. »Es wäre nicht das Richtige, wenn Sie sich auch mit einer hinlegen müssten.«
»Es wäre außerordentlich lästig«, stimmte Poirot zu.
Das Telefon läutete zum zweiten Mal.
»Und wer hat jetzt eine Erkältung?«, fragte er. »Ich habe niemand mehr eingeladen.«
George ging zum Telefon.
»Ich nehme schon ab«, sagte Poirot. »Ohne Zweifel wird es irgendetwas Uninteressantes sein. Aber« – und er zuckte die Achseln – »die Zeit vergeht wenigstens.«
George sagte: »Wie Sie meinen, Sir«, und verließ das Zimmer.
Poirot streckte seine Hand aus und hob den Hörer von der Gabel.
»Hier spricht Hercule Poirot«, sagte er mit einer Würde, die den Anrufer, wer immer es sein mochte, beeindrucken sollte.
»Das ist ja wunderbar«, sagte eine lebhafte weibliche Stimme atemlos. »Ich dachte nicht, dass Sie zu Hause sein würden.«
»Warum haben Sie das gedacht?«, fragte Poirot.
»Weil ich das Gefühl habe, dass heutzutage dauernd unangenehme Sachen passieren. Man braucht jemand, es ist furchtbar eilig, man kann auf keinen Fall warten – und dann muss man warten. Ich wollte Sie dringend erreichen – Dringlichkeitsstufe eins!«
»Und wer sind Sie?«, fragte Hercule Poirot.
Die weibliche Stimme klang überrascht. »Wissen Sie das denn nicht?«
»Doch, ich weiß es«, sagte Hercule Poirot. »Sie sind meine Freundin Ariadne.«
»Und ich bin in einer fürchterlichen Verfassung«, sagte Ariadne.
»Ja, ja, das höre ich. Sind Sie außerdem auch noch gerannt? Sie sind ziemlich außer Atem.«
»Gerannt bin ich nicht gerade. Es ist die Aufregung. Kann ich jetzt gleich zu Ihnen kommen?«
Poirot ließ einige Augenblicke verstreichen, ehe er antwortete. Seine Freundin Mrs Oliver klang äußerst aufgeregt. Mochte los sein mit ihr, was wollte, auf jeden Fall würde sie Stunden damit verbringen, sich all ihre Klagen, ihre Frustration von der Seele zu reden. Wenn sie sich erst einmal in Poirots geheiligten vier Wänden niedergelassen hätte, würde sie schwerlich ohne einen gewissen Grad von Unhöflichkeit zum Heimgehen zu bewegen sein. Mrs Oliver regte sich über so zahlreiche und häufig so unerwartete Dinge auf, dass man nur mit großer Vorsicht darauf eingehen durfte.
»Sie haben sich aufgeregt?«
»Ja. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich weiß nicht … Ich habe das Gefühl, ich muss kommen und Ihnen erzählen, was passiert ist, weil Sie der Einzige sind, der vielleicht weiß, was zu tun ist. Kann ich also kommen?«
»Aber gewiss, aber gewiss. Es wird mir eine Freude sein, Sie zu empfangen.«
Am anderen Ende fiel der Hörer schwer in die Gabel. Poirot rief George, überlegte einige Minuten und ließ dann ein Glas Zitronenlimonade und für sich selbst ein Glas Cognac kommen.
»Mrs Oliver kommt in etwa zehn Minuten«, sagte er.
Dann wappnete er sich mit einem vorsichtigen Schluck Cognac gegen die Prüfungen, denen er in Kürze ausgesetzt sein würde.
»Es ist jammerschade«, murmelte er vor sich hin, »dass sie so verrückt ist. Und trotzdem hat sie eine gewisse Originalität. Es kann sein, dass es mir sogar Spaß macht, ihr heute Abend zuzuhören. Es kann aber auch sein« – er überlegte eine Minute –, »dass es den ganzen Abend in Anspruch nimmt und sich um außerordentlich törichtes Zeug handelt. Eh bien, man muss im Leben was riskieren.«
Es klingelte. Diesmal an der Wohnungstür.
Er hörte, wie George die Tür öffnete, doch bevor der Besuch gemeldet werden konnte, flog die Wohnzimmertür auf, und Ariadne Oliver stürmte herein, in etwas gehüllt, das wie ein Südwester und das Ölzeug eines Fischers aussah.
»Um Gottes willen, was haben Sie denn an?«, sagte Hercule Poirot. »Lassen Sie es sich von George abnehmen. Es ist sehr nass.«
»Natürlich ist es nass«, sagte Mrs Oliver. »Draußen ist es auch sehr nass. Ich habe früher nie über Wasser nachgedacht. Es ist scheußlich, daran zu denken.«
Poirot beobachtete sie mit Interesse.
»Möchten Sie eine Zitronenlimonade?«, fragte er. »Oder kann ich Sie zu einem kleinen Glas eau de vie überreden?«
»Ich hasse Wasser«, sagte Mrs Oliver.
Poirot sah überrascht aus.
»Ich hasse Wasser. Ich habe früher nie darüber nachgedacht. Was es alles tun kann – und überhaupt.«
»Liebe Freundin«, sagte Hercule Poirot, während George sie aus den steifen Falten ihres Ölzeugs schälte. »Kommen Sie, setzen Sie sich. Lassen Sie George das nehmen – was ist es?«
»Ich hab es in Cornwall gekauft«, sagte Mrs Oliver. »Ölzeug. Richtiges, authentisches Ölzeug für Fischer.«
»Die es zweifellos gut gebrauchen können«, sagte Poirot. »Aber für Sie doch wohl nicht ganz das Richtige. Viel zu schwer. Kommen Sie, setzen Sie sich und erzählen Sie.«
»Ich weiß nicht, wie«, sagte Mrs Oliver und sank in einen Sessel. »Wissen Sie, manchmal habe ich das Gefühl, es kann gar nicht wahr sein. Aber es ist passiert.«
»Erzählen Sie«, sagte Poirot.
»Jetzt, wo ich hier bin, ist es so schwierig, weil ich nicht weiß, wo ich anfangen soll.«
»Mit dem Anfang«, schlug Poirot vor. »Oder ist das zu konventionell?«
»Ich weiß nicht, wann es angefangen hat. Das kann vor langer Zeit gewesen sein.«
»Beruhigen Sie sich erst einmal«, sagte Poirot. »Sammeln Sie die verschiedenen Fäden dieser Sache und erzählen Sie dann. Was hat Sie so aufgeregt?«
»Sie hätte es auch aufgeregt«, sagte Mrs Oliver. »Jedenfalls nehme ich das an.« Sie schien leise Zweifel zu hegen. »Man weiß bei Ihnen nie, was Sie aufregen würde. Sie nehmen so vieles mit Gelassenheit.«
»Das ist oft das Beste«, sagte Poirot.
»Na schön«, sagte Mrs Oliver. »Es fing mit einer Gesellschaft an, einer Kindergesellschaft.«
»Ah ja«, sagte Poirot erleichtert, dass ihm etwas so Alltägliches und Normales wie eine Gesellschaft präsentiert wurde. »Eine Gesellschaft. Sie sind auf ein Kinderfest gegangen, und dann ist etwas passiert.«
»Wissen Sie, was an Halloween los ist?«, fragte Mrs Oliver.
»Ja«, sagte Poirot mit einem Augenzwinkern. »Dann reiten die Hexen auf dem Besen.«
»Besen waren auch da«, sagte Mrs Oliver. Sie wurden prämiert.«
»Prämiert?«
»Ja, für die beste Dekoration.«
Poirot sah sie etwas skeptisch an.
»Ich gestehe, ich verstehe nicht ganz, wovon Sie sprechen«, sagte er.
Mrs Oliver holte tief Luft und fing noch einmal an.
»Im Grunde fing es mit den Äpfeln an«, sagte sie.
»Ah ja«, sagte Poirot, »natürlich. Bei Ihnen fängt es wohl immer damit an, nicht wahr?«
Er dachte an ein kleines Auto auf einem Hügel und an eine dicke Frau, die aus dem Auto ausstieg, und an eine Tüte mit Äpfeln, die zerriss, und an die Äpfel, wie sie den Hügel hinunterrollten.
»Apfelschnappen«, sagte Mrs Oliver. »Das ist eines von den Spielen, die man auf solchen Kindergesellschaften spielt.«
»Ah ja, ich glaube, ich habe schon davon gehört, ja.«
»Es wurde alles Mögliche gespielt. Apfelschnappen und Mehlschneiden und dann das Spiegel-Orakel …«
»Bei dem das Gesicht des zukünftigen Liebsten im Spiegel erscheint?«
»Ah«, sagte Mrs Oliver. »Endlich fangen Sie an zu verstehen.«
»Im Grunde alles alte Volksbräuche«, sagte Poirot. »Und all das fand auf Ihrer Kindergesellschaft statt.«
»Ja, und es war ein Riesenerfolg. Zuletzt kam der Feuerdrachen. Sie wissen ja, in einer großen Schüssel werden Rosinen verbrannt. Ich glaube«, sie stockte, »ich glaube, das muss der genaue Zeitpunkt gewesen sein, an dem es passiert ist.«
»An dem was passiert ist?«
»Der Mord. Nach dem Feuerdrachen gingen alle nach Hause«, sagte Mrs Oliver. »Und da konnte sie niemand finden.«
»Wen?«
»Joyce. Alle riefen nach ihr und fragten, ob sie schon mit jemand anders nach Hause gegangen war, und ihre Mutter wurde ziemlich ärgerlich. Aber trotzdem konnten wir sie nicht finden.«
»Und, war sie schon nach Hause gegangen?«
»Nein«, sagte Mrs Oliver, »sie war nicht nach Hause gegangen …« Ihre Stimme wurde unsicher. »Schließlich fanden wir sie dann doch. In der Bibliothek. Dort ist sie … dort muss es passiert sein. Apfelschnappen. Der Eimer war da. Ein großer Metalleimer. Den aus Plastik wollten sie nicht nehmen. Wenn sie ihn genommen hätten, wäre es vielleicht nicht passiert. Er wäre nicht schwer genug gewesen. Vielleicht wäre er umgekippt …«
»Was war denn passiert?«, sagte Poirot. Seine Stimme klang scharf.
»Dort haben wir sie gefunden«, sagte Mrs Oliver. »Jemand, wissen Sie, jemand hatte ihren Kopf in das Wasser mit den Äpfeln gehalten. Hatte den Kopf festgehalten, sodass sie tot war. Ertrunken. Ertrunken. In einem nicht ganz vollen Metalleimer. Kniet sich hin und beugt ihren Kopf herunter, um nach einem Apfel zu schnappen. Ich hasse Äpfel«, sagte Mrs Oliver. »Ich will nie wieder einen Apfel sehen …«
Poirot sah sie an. Er streckte seine Hand aus und füllte ein kleines Glas mit Cognac.
»Trinken Sie«, sagte er.
Mrs Oliver stellte das Glas ab.
»Sie hatten recht«, sagte sie. »Das … das hat geholfen. Ich war hysterisch.«
»Sie haben einen Schock erlitten, das ist mir jetzt klar. Wann ist das alles passiert?«
»Gestern Abend. War es erst gestern Abend? Ja, ja natürlich.«
»Und Sie sind zu mir gekommen.«
»Ich dachte, Sie könnten mir helfen«, sagte Mrs Oliver. »Wissen Sie, es ist nämlich … es ist nicht so einfach.«
»Ja und nein«, sagte Poirot. »Das kommt drauf an. Sie müssen mir noch mehr erzählen. Ich nehme an, die Polizei hat den Fall übernommen. Ein Arzt wurde natürlich gerufen. Was hat er gesagt?«
»Dass der Fall gerichtlich untersucht werden muss.«
»Natürlich.«
»Morgen oder übermorgen ist die Untersuchung.«
»Dieses Mädchen, diese Joyce – wie alt war sie?«
»Ich weiß es nicht genau. Zwölf oder dreizehn.«
»Klein für ihr Alter?«
»Nein, nein, ziemlich reif. Rund.«
»Gut entwickelt? Sie meinen anziehend?«
»Ja. Aber ich glaube nicht, dass es so ein Verbrechen war. Ich meine, das wäre vergleichsweise einfach.«
»Es ist jedenfalls ein Verbrechen«, sagte Poirot, »von dem man fast jeden Tag in der Zeitung liest. Ein Mädchen wird belästigt, ein Schulkind überfallen – ja, jeden Tag. Das hier ist in einem Privathaus passiert, insofern macht es einen gewissen Unterschied. Doch sei dem, wie ihm wolle, ich bin bis jetzt nicht ganz sicher, dass Sie mir alles erzählt haben.«
»Nein, das glaube ich auch nicht«, sagte Mrs Oliver. »Ich habe Ihnen den Grund noch nicht gesagt, ich meine, den Grund, warum ich hier bin.«
»Sie haben diese Joyce gut gekannt?«
»Ich habe sie überhaupt nicht gekannt. Ich will Ihnen lieber erst mal erklären, wie ich überhaupt dort hingekommen bin.«
»Wohin?«
»Ach so – ein kleiner Ort, er heißt Woodleigh Common.«
»Woodleigh Common«, sagte Poirot nachdenklich. »Wo habe ich denn gerade …« Er brach ab.
»Es ist nicht sehr weit von London entfernt, fünfzig bis sechzig Kilometer. In der Nähe von Medchester. Es ist einer von den Orten, wo es ein paar schöne Häuser gibt und in letzter Zeit viel gebaut worden ist. Ein reiner Wohnort. In der Nähe ist eine gute Schule, und die Leute können leicht mit dem Vorortzug nach London oder Medchester fahren.«
»Woodleigh Common«, sagte Poirot wieder nachdenklich.
»Ich war dort bei einer Freundin zu Besuch. Judith Butler. Sie ist verwitwet. Ich habe in diesem Jahr eine Seereise nach Griechenland gemacht, und Judith war auch auf dem Schiff, und wir haben uns angefreundet. Sie hat eine Tochter, sie heißt Miranda, zwölf oder dreizehn Jahre alt. Jedenfalls hatte sie mich eingeladen, und dann hat sie mir erzählt, dass Freunde von ihr die Kindergesellschaft geben. Sie meinte, ich könnte vielleicht ein paar interessante Einfälle beisteuern.«
»Aha«, sagte Poirot, »sie hat nicht vorgeschlagen, dass Sie ein Mörderspiel arrangieren sollten oder so?«
»Um Himmels willen, nein«, sagte Mrs Oliver. »Glauben Sie wirklich, dass ich mich darauf noch einmal einlassen würde?«
»Ich halte es für unwahrscheinlich.«
»Aber trotzdem ist es passiert, das ist so entsetzlich dabei«, sagte Mrs Oliver. »Ich meine, es kann doch nicht passiert sein, nur weil ich dabei war?«
»Das glaube ich nicht. War den anderen bekannt, wer Sie sind?«
»Ja«, sagte Mrs Oliver. »Eins von den Kindern hat irgendetwas über meine Bücher gesagt und dass sie gern Mordgeschichten liest. So kam es … Ich meine, das führte dann dazu … zu dieser Sache, deretwegen ich zu Ihnen gekommen bin.«
»Und worüber Sie mir noch nichts gesagt haben.«
»Na ja, zuerst habe ich nicht dran gedacht. Nicht gleich jedenfalls. Kinder tun doch manchmal verrückte Sachen. Ich meine, es gibt doch Kinder, bei denen irgendwas nicht ganz stimmt und die früher wahrscheinlich in Heime gekommen wären, aber heutzutage werden sie wieder nach Hause geschickt, und es wird gesagt, sie sollen ein normales Leben führen oder so, und dann gehen sie und tun so etwas.«
»Waren auch größere Jungen dabei?«
»Ja, zwei, so zwischen sechzehn und achtzehn.«
»Einer von ihnen könnte es wohl getan haben. Ist das die Meinung der Polizei?«
»Das verraten sie nicht«, sagte Mrs Oliver. »Aber sie haben so ausgesehen, als wenn sie das dachten.«
»War diese Joyce attraktiv?«
»Ich glaube nicht«, sagte Mrs Oliver. »Sie meinen doch, wirkte sie anziehend auf Jungen, nicht wahr?«
»Nein«, sagte Poirot. »Ich glaube, ich habe es im allgemeinen Sinne gemeint.«
»Ich kann mir nicht denken, dass sie ein nettes Mädchen war«, sagte Mrs Oliver. »Kein Kind, mit dem man sich gern unterhielt. Sie war eine von denen, die sich immer in den Vordergrund spielen müssen. Sie war natürlich in einem dummen Alter. Es klingt so unfreundlich, was ich über sie sage, aber …«
»Bei einem Mord ist es nicht unfreundlich, wenn man sagt, wie das Opfer war«, sagte Poirot. »Es ist sogar sehr notwendig. Der Grund für manch einen Mord ist die Persönlichkeit des Opfers. Wie viele Leute waren zu diesem Zeitpunkt im Haus?«
»Bei der Gesellschaft? Tja, fünf oder sechs Frauen, ein paar Mütter, eine Lehrerin, eine Arztgattin oder seine Schwester, glaube ich, ein mittelalteriges Ehepaar, die beiden Jungen zwischen sechzehn und achtzehn, ein fünfzehnjähriges Mädchen, zwei oder drei Elf- oder Zwölfjährige – na ja, und so weiter. Alles in allem etwa fünfundzwanzig oder dreißig Personen.«
»Irgendwelche Unbekannte?«