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Hercule Poirot erhält den verzweifelten Hilferuf eines französischen Multimillionärs und macht sich mit Hastings auf die Reise. Als die beiden aber in Frankreich eintreffen, liegt der betuchte Monsieur Renauld bereits in seinem frisch geschaufelten Grab - mitten auf dem Golfplatz. Der Brieföffner in seinem Rücken gehört seiner Frau, womit die Polizei den Fall als geklärt betrachtet. Doch Hercule Poirot weiß, dass die Suche nach dem Mörder gerade erst begonnen hat ...
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Seitenzahl: 291
Agatha Christie
Mord auf dem Golfplatz
Ein Fall für Poirot
Aus dem Englischen von Gabriele Haefs
Atlantik
Für meinen Mann,
der sich ebenfalls für
Detektivgeschichten begeistert
und dem ich für hilfreiche Ratschläge
und Kritik danken möchte.
Ich glaube, es gibt eine bekannte Anekdote über einen jungen Schriftsteller, der sich vornahm, eine Geschichte so überzeugend und originell zu beginnen, dass sie sogar bei einem überaus blasierten Verlagslektor noch Spannung und Neugier wecken würde. Und deshalb brachte er folgenden Satz zu Papier:
»›Zum Teufel‹, sagte die Herzogin.«
Seltsamerweise beginnt meine Geschichte auch so. Nur handelte es sich bei der Dame, die diesen Ausruf tätigte, nicht um eine Herzogin.
Es war Anfang Juni. Ich war geschäftlich in Paris gewesen und wollte mit dem Morgenzug nach London zurückkehren, wo ich mit meinem alten Freund, dem belgischen Exdetektiv Hercule Poirot, in einer Wohnung lebte.
Der Zug nach Calais war außergewöhnlich leer – in meinem Abteil saß nur ein weiterer Fahrgast. Ich hatte mein Hotel in ziemlicher Eile verlassen und wollte mich gerade davon überzeugen, dass ich wirklich alle meine Siebensachen eingepackt hatte, als der Zug anfuhr. Bisher hatte ich kaum auf meine Reisegefährtin geachtet, aber nun wurde ich sehr energisch an ihre Anwesenheit erinnert. Sie sprang auf, zog das Fenster herunter, steckte den Kopf hinaus und zog ihn gleich darauf mit dem kurzen und überzeugenden Ausruf »Zum Teufel!« wieder ein.
Ich bin eigentlich altmodisch. Eine Frau, so sehe ich das, sollte weiblich sein. Ich habe nichts übrig für die neurotische junge Frau von heute, die von früh bis spät auf den Beinen ist, wie ein Schlot qualmt und eine Sprache benutzt, die eine Fischverkäuferin aus Billingsgate erröten lassen würde.
Ich schaute mit leichtem Stirnrunzeln in ein hübsches, freches Gesicht, über dem ein verwegenes Hütchen thronte. Die Ohren waren unter dichten schwarzen Locken verborgen. Ich schätzte mein Gegenüber auf kaum mehr als siebzehn, aber ihr Gesicht war dick gepudert, und ihre Lippen waren von einem unmöglichen Scharlachrot.
Sie hielt meinem Blick unangefochten stand und schnitt eine vielsagende Grimasse.
»Meine Güte, nun haben wir den netten Herrn schockiert«, teilte sie einem imaginären Publikum mit. »Ich möchte mich für meine Ausdrucksweise entschuldigen. Gar nicht damenhaft, aber Himmel, ich habe wirklich Grund genug. Stellen Sie sich vor, ich habe meine einzige Schwester verloren!«
»Wirklich?«, fragte ich höflich. »Wie unangenehm.«
»Er ist unangenehm berührt«, stellte die Dame fest. »Er ist unangenehm berührt – von mir und von meiner Schwester, und Letzteres ist ungerecht, er kennt sie doch gar nicht.«
Ich öffnete den Mund, aber sie kam mir zuvor.
»Schweigen Sie! Niemand liebt mich! Ich werde in den Garten gehen und Würmer essen! Buhuuu, ich bin am Boden zerstört!«
Sie versteckte sich hinter einer großformatigen französischen Illustrierten. Eine oder zwei Minuten später sah ich, dass sie mich über den Zeitschriftenrand hinweg verstohlen musterte. Ich musste unweigerlich lächeln, und gleich darauf ließ sie ihre Zeitschrift sinken und brach in fröhliches Gelächter aus.
»Ich wusste doch, dass Sie nicht so spießig sind, wie Sie aussehen«, rief sie.
Ihr Lachen war so ansteckend, dass ich einfach einstimmen musste, auch wenn mir das Wort »spießig« nicht gerade zusagte.
»Na also. Jetzt sind wir Freunde!«, verkündete die Range. »Sagen Sie, dass Ihnen das mit meiner Schwester leidtut.«
»Ich bin verzweifelt.«
»Braver Junge!«
»Lassen Sie mich ausreden. Ich wollte sagen, dass ich zwar verzweifelt bin, dass ich aber dennoch durchaus mit ihrer Abwesenheit leben kann.« Ich verbeugte mich kurz.
Doch dieses wahrlich unberechenbare Geschöpf runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
»Lassen Sie das. Mir ist die ›würdevolle Entrüstungs‹-Nummer lieber. Ach, wenn Sie Ihr Gesicht sehen könnten. ›Gehört nicht zu uns‹, hat es gesagt. Und da haben Sie ja auch recht, obwohl, wissen Sie, das ist heute gar nicht so leicht zu sagen. Nicht jeder sieht den Unterschied zwischen einer Halbseidenen und einer Herzogin. Oh, ich glaube, jetzt habe ich Sie schon wieder schockiert. Sie sind wirklich im Hinterwald ausgegraben worden, guter Mann. Aber das macht nichts. Wir könnten durchaus ein paar mehr von Ihrer Sorte gebrauchen. Unverschämte Männer kann ich nicht leiden. Die machen mich wütend!«
Energisch schüttelte sie den Kopf.
»Und wie sind Sie, wenn Sie wütend werden?«, fragte ich lächelnd.
»Eine richtige kleine Teufelin! Dann ist es mir egal, was ich sage oder tue. Einmal hätte ich fast einen Mann umgebracht. Ja, wirklich. Und eigentlich hatte er es nicht besser verdient.«
»O bitte«, flehte ich, »werden Sie nicht zornig auf mich!«
»Werde ich nicht. Ich mag Sie – ich habe Sie auf den ersten Blick gemocht. Aber Sie haben ein so missbilligendes Gesicht gezogen, dass ich nicht dachte, wir könnten jemals Freunde werden.«
»Das haben wir jedenfalls geschafft. Erzählen Sie mir ein bisschen von sich.«
»Ich bin Schauspielerin. Nein, nicht die Sorte, an die Sie jetzt denken. Ich habe schon mit sechs Jahren auf der Bühne gestanden – oder bin dort gefallen.«
»Wie?«, fragte ich verwirrt.
»Haben Sie noch nie von Kindern gehört, die als Akrobaten auftreten?«
»Ach, ich verstehe.«
»Ich wurde in Amerika geboren, habe aber fast mein ganzes Leben in England verbracht. Wir haben jetzt eine neue Show …«
»Wir?«
»Meine Schwester und ich. Wir singen und tanzen und schwatzen ein bisschen, und wir machen auch ein paar von den alten Sachen. Diese Art von Show ist ziemlich neu und kommt immer gut an. Und sie wird Geld bringen …«
Meine neue Bekannte beugte sich vor und fuhr fort mit ihrer lebhaften Schilderung, wobei ich viele ihrer Ausdrücke ganz einfach unverständlich fand. Und doch entdeckte ich in mir ein wachsendes Interesse an dieser Frau. Sie schien eine sehr seltsame Mischung aus Frau und Kind zu sein. Zwar absolut weltgewandt und, wie sie selbst sagte, durchaus imstande, auf sich aufzupassen, aber ihr schlichtes Weltbild und ihr unumstößlicher Entschluss, es zu etwas zu bringen, hatten doch etwas überraschend Naives.
Wir passierten Amiens. Dieser Name weckte viele Erinnerungen in mir. Und meine Reisegefährtin schien meine Gedanken erraten zu können.
»Denken Sie an den Krieg?«
Ich nickte.
»Sie waren dabei, nehme ich an?«
»Das können Sie wohl sagen. Ich bin einmal verwundet und nach der Schlacht an der Somme für kriegsuntauglich befunden worden. Jetzt bin ich eine Art Privatsekretär bei einem Parlamentsabgeordneten.«
»Du meine Güte! Da müssen Sie aber gescheit sein.«
»Nein, so anspruchsvoll ist dieser Posten nicht. Eigentlich habe ich gar nicht viel zu tun. Normalerweise reichen ein paar Stunden pro Tag. Und langweilig ist die Arbeit auch. Ich wüsste wirklich nicht, was ich machen sollte, wenn ich nicht noch eine andere Beschäftigung hätte.«
»Sagen Sie bloß nicht, dass Sie Insekten sammeln!«
»Nein. Ich wohne mit einem sehr interessanten Mann zusammen. Einem belgischen Exkommissar. Er betätigt sich jetzt in London als Privatdetektiv und hat außergewöhnlich viel Erfolg. Er ist wirklich ein wunderbarer kleiner Mann. Immer wieder findet er eine Lösung, wo die offizielle Polizei versagt hat.«
Die Augen weit aufgerissen, hörte meine Reisegefährtin zu.
»Das ist wirklich interessant. Ich finde Verbrechen wunderbar! Ich sehe mir jeden Kriminalfilm an. Und wenn von einem Mord berichtet wird, dann verschlinge ich die Zeitungen geradezu.«
»Erinnern Sie sich an den Fall Styles?«, fragte ich.
»Lassen Sie mich nachdenken, war das die vergiftete alte Dame? Irgendwo unten in Essex?«
Ich nickte. »Das war Poirots erster großer Fall. Ohne ihn wäre der Mörder zweifellos ungeschoren davongekommen. Er hat wirklich großartige Detektivarbeit geleistet.«
Ich erwärmte mich für mein Thema und fasste die Geschichte kurz zusammen, um dann zur triumphierenden und unerwarteten Auflösung zu kommen.
Mein Gegenüber lauschte hingerissen. Wir waren so vertieft in unser Gespräch, dass wir gar nicht gleich merkten, dass unser Zug schon in den Bahnhof von Calais eingefahren war.
Ich winkte zwei Träger herbei, und wir verließen den Zug. Auf dem Bahnsteig streckte meine Reisegefährtin die Hand aus.
»Auf Wiedersehen, und in Zukunft werde ich besser darauf achten, was ich sage.«
»Ach, darf ich mich denn auf der Fähre nicht um Sie kümmern?«
»Vielleicht nehme ich die Fähre gar nicht. Ich muss erst einmal feststellen, ob meine Schwester den Zug doch noch erwischt hat. Aber haben Sie auf jeden Fall vielen Dank.«
»Ach, wir sehen uns doch sicher wieder. Und wollen Sie mir nicht einmal Ihren Namen verraten?«, rief ich, als sie sich abwandte.
Sie schaute sich kurz um.
»Cinderella«, sagte sie lachend.
Und ich konnte damals wirklich nicht ahnen, wann und unter welchen Umständen ich Cinderella wiedersehen würde.
Am folgenden Morgen betrat ich um fünf nach neun unser gemeinsames Wohnzimmer, um zu frühstücken. Mein Freund Poirot, pünktlich wie immer, klopfte gerade die Schale seines zweiten Eis auf. Er strahlte mich an.
»Sie haben gut geschlafen, ja? Sie haben sich von der entsetzlichen Überfahrt erholt? Es ist ein Wunder, heute Morgen sind Sie fast pünktlich. Pardon, aber Ihre Krawatte hängt schief. Bitte, lassen Sie mich sie gerade rücken.«
Ich habe Hercule Poirot schon an anderer Stelle beschrieben. Ein außergewöhnlicher kleiner Mann! Einen Meter zweiundsechzig groß; mit leicht schräg gehaltenem eierförmigem Kopf; Augen, die grün leuchten, wenn er in Erregung gerät; ein steifer militärischer Schnurrbart und eine Ausstrahlung von immenser Würde. Immer sah er adrett und elegant aus. Er brachte überhaupt jeglicher Ordnung ein leidenschaftliches Interesse entgegen. Ein schiefstehender Ziergegenstand, ein paar Staubkörner, eine kleine Nachlässigkeit in der Kleidung, das alles bedeutete für den kleinen Mann wahrhafte Folter, solange er die Sache nicht geraderücken konnte. Seine Gottheiten hießen »Ordnung« und »Methode«. Er brachte greifbaren Indizien wie Fußspuren oder Zigarettenasche eine gewisse Verachtung entgegen und erklärte immer wieder, solche Fundstücke allein könnten einen Detektiv niemals zur Lösung eines Falls befähigen. Hatte er das gesagt, tippte er sich mit absurder Selbstzufriedenheit an seinen Eierkopf und bemerkte mit tiefer Befriedigung:
»Die wirkliche Arbeit geschieht im Kopf. Die kleinen grauen Zellen – vergessen Sie niemals die kleinen grauen Zellen, mon ami.«
Ich nahm Platz und bemerkte als Antwort auf Poirots Begrüßung lässig, die einstündige Überfahrt von Calais nach Dover habe wohl kaum die Bezeichnung »entsetzlich« verdient.
»Irgendwelche interessante Post?«, fragte ich dann.
Mit unzufriedener Miene schüttelte Poirot den Kopf.
»Ich habe meine Briefe noch nicht gelesen, aber heutzutage kommt einfach keine interessante Post mehr. Die großen Kriminellen, die Kriminellen, die mit Methode arbeiten, die gibt es nicht mehr.«
Er schüttelte traurig den Kopf, und ich brüllte vor Lachen.
»Kopf hoch, Poirot, das wird sich auch wieder ändern. Lesen Sie Ihre Briefe! Sie können doch nicht ahnen, ob nicht schon ein großer Fall am Horizont heraufzieht.«
Poirot lächelte, griff zu seinem eleganten kleinen Brieföffner und schlitzte mehrere Briefumschläge auf, die neben seinem Teller gelegen hatten.
»Eine Rechnung. Noch eine Rechnung. Ich werde wirklich extravagant auf meine alten Tage. Aha! Eine Mitteilung von Japp.«
»Ach?« Ich spitzte die Ohren. Inspektor Japp von Scotland Yard hatte uns mehr als einmal auf interessante Fälle aufmerksam gemacht.
»Er will sich nur auf seine Weise für eine Kleinigkeit in dieser Geschichte in Aberystwyth bedanken, bei der ich ihn auf den richtigen Weg gebracht habe. Ich bin entzückt, ihm zu Diensten gewesen zu sein.«
Mit gelassener Miene las Poirot seine restliche Korrespondenz.
»Die hiesigen Pfadfinder möchten, dass ich bei ihnen einen Vortrag halte. Die Gräfin von Forfanock würde sich über meinen Besuch freuen. Zweifellos geht es wieder um einen Schoßhund! Und hier ist der letzte Brief. Ah!«
Ich schaute auf, denn sein Tonfall hatte sich geändert. Poirot war in seinen Brief vertieft. Gleich darauf hielt er mir den Bogen hin.
»Außergewöhnlich, mon ami. Lesen Sie selbst!«
Eine kühne, eigenwillige Handschrift auf einer Sorte Papier, wie sie in England nicht verwendet wurde.
Villa Geneviève
Merlinville-sur-Mer
Frankreich
Sehr geehrter Herr,
aus Gründen, auf die ich später noch eingehen werde, benötige ich die Dienste eines Detektivs, möchte jedoch nicht zur Polizei gehen. Ich habe von verschiedenen Seiten von Ihnen gehört und dabei den Eindruck gewonnen, dass Sie nicht nur ein äußerst fähiger, sondern auch ein sehr diskreter Mann sind. Ich möchte der Post keine Einzelheiten anvertrauen, aber da ich ein Geheimnis kenne, fürchte ich jeden Tag um mein Leben. Ich bin davon überzeugt, dass mir jederzeit Gefahr drohen kann, und deshalb bitte ich Sie, so bald wie möglich nach Frankreich zu kommen. Wenn Sie mir Ihre Ankunft mitteilen, werde ich Sie in Calais abholen lassen. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie alle anderen Fälle aufschieben und sich ganz und gar meinen Interessen widmen könnten. Ich werde jegliche Entschädigungssumme zahlen. Vermutlich werde ich Ihre Dienste für einige Zeit in Anspruch nehmen müssen; möglicherweise müssen Sie sich nach Santiago begeben, wo ich mehrere Jahre meines Lebens verbracht habe. Ich bitte Sie, mir Ihre Honorarvorstellungen zu nennen.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass die Sache keinen Aufschub duldet.
Mit vorzüglicher Hochachtung,
P.T. Renauld
Unter der Unterschrift befand sich noch eine eilig hingekritzelte, kaum zu entziffernde Zeile: »Um Himmels willen, kommen Sie!«
Mein Puls ging schneller, als ich Poirot den Brief zurückgab.
»Endlich!«, sagte ich. »Das ist nun wirklich sehr außergewöhnlich!«
»In der Tat«, erwiderte Poirot nachdenklich.
»Sie fahren natürlich hin«, sagte ich.
Poirot nickte. Er war in Gedanken versunken. Endlich schien er einen Entschluss gefasst zu haben und schaute auf die Uhr. Er machte ein sehr ernstes Gesicht.
»Sehen Sie, mein Freund, wir haben keine Zeit zu verlieren. Der nächste Zug fährt um elf von Victoria ab. Aber bleiben Sie ganz ruhig. Wir brauchen nicht zu hetzen. Gönnen wir uns zehn Minuten, um die Sache zu besprechen. Sie begleiten mich, n’est-ce pas?«
»Also …«
»Sie haben mir selbst erzählt, dass Ihr Arbeitgeber Sie in den nächsten beiden Wochen nicht braucht.«
»Ja, das stimmt. Aber dieser Mr Renauld betont doch immer wieder, dass er die Sache geheim halten möchte.«
»Ta-ta-ta! Mit Monsieur Renauld werde ich schon fertig. Der Name kommt mir übrigens bekannt vor.«
»Es gibt einen bekannten südamerikanischen Millionär, der Renauld heißt. Allerdings weiß ich nicht, ob das derselbe sein kann.«
»Aber zweifellos. Das erklärt, warum er Santiago erwähnt. Santiago liegt in Chile, und Chile liegt in Südamerika. Ah, wir machen schon Fortschritte. Sie haben doch das PS gesehen? Was haben Sie davon für einen Eindruck?«
Ich dachte nach.
»Als er den Brief schrieb, hatte er sich offenbar unter Kontrolle, aber diese Selbstdisziplin konnte er doch nicht ganz durchhalten, und aus einem Impuls heraus hat er diese verzweifelten fünf Wörter hingekritzelt.«
Doch mein Freund schüttelte energisch den Kopf.
»Sie irren sich. Sehen Sie nicht, dass die Tinte der Unterschrift fast schwarz, die des PS dagegen ziemlich bleich ist?«
»Und?«, fragte ich verwirrt.
»Mon Dieu, mon ami, nutzen Sie doch Ihre kleinen grauen Zellen! Liegt es nicht auf der Hand? Monsieur Renauld hat diesen Brief geschrieben. Er hat kein Löschblatt benutzt, sondern ihn noch einmal in aller Ruhe gelesen. Danach, nicht aus einem Impuls heraus, sondern ganz bewusst, hat er den Nachsatz hinzugefügt und dann zum Löschpapier gegriffen.«
»Aber warum?«
»Parbleu! Damit es genau den Eindruck erweckt, den Sie hatten.«
»Was?«
»Mais oui! Er wollte sichergehen, dass ich komme! Er hat seinen Brief noch einmal gelesen und war nicht zufrieden. Es war nicht dringlich genug!«
Er verstummte und fügte dann, während aus seinen Augen das grüne Licht leuchtete, das immer innere Erregung anzeigte, hinzu:
»Und deshalb, mon ami, weil er das PS nicht aus einem Impuls heraus, sondern ganz kaltblütig hinzugefügt hat, ist die Sache sehr dringend, und wir müssen so schnell wie möglich zu ihm fahren.«
»Merlinville«, murmelte ich nachdenklich. »Das habe ich schon einmal gehört, glaube ich.«
Poirot nickte.
»Es ist ein ziemlich kleiner Ort – aber schick! Liegt auf halber Strecke zwischen Boulogne und Calais. Monsieur Renauld hat auch in England ein Haus, nehme ich an?«
»Ja, am Rutland Gate, wenn ich mich richtig erinnere. Außerdem hat er einen großen Landsitz, irgendwo in Hertfordshire. Aber ich weiß sehr wenig über ihn, er führt kein besonders geselliges Leben. Er macht wohl gute Geschäfte mit Südamerika und hat bisher vor allem in Chile und Argentinien gelebt.«
»Na, das wird er uns alles selber erzählen. Kommen Sie, lassen Sie uns packen. Jeder einen kleinen Koffer, dann nehmen wir ein Taxi zur Victoria Station.«
Um elf Uhr verließen wir die Victoria Station in Richtung Dover. Vor unserer Abreise hatte Poirot noch ein Telegramm aufgegeben, um Mr Renauld unsere Ankunftszeit mitzuteilen.
»Es überrascht mich, dass Sie ohne ein Mittelchen gegen Seekrankheit auskommen, Poirot«, bemerkte ich boshaft beim Gedanken an unser Frühstücksgespräch.
Mein Freund, der besorgt das Wetter in Augenschein nahm, sah mich missbilligend an.
»Haben Sie denn tatsächlich die exzellente Methode von Laverguier vergessen? Ich halte mich stets an sein System. Vielleicht erinnern Sie sich, dabei hält man die Balance, indem man den Kopf von links nach rechts wendet, ein- und ausatmet und zwischen jedem Atemzug bis sechs zählt.«
»Hm«, sagte ich zögernd. »Ziemlich anstrengend, die Balance zu halten und bis sechs zu zählen, bis man Santiago, Buenos Aires oder irgendeinen anderen Hafen angelaufen hat.«
»Quelle idée! Glauben Sie im Ernst, dass ich nach Santiago reisen werde?«
»Mr Renauld scheint in seinem Brief davon auszugehen.«
»Er weiß nicht, wie Herule Poirot arbeitet. Mir liegt es fern, um die halbe Welt zu reisen und mich dabei zu verausgaben. Meine Arbeit erfolgt im Inneren – hier.« Er tippte sich bedeutungsschwer an die Stirn.
Wie üblich, brachten mich seine Worte in Streitlaune.
»Das kann ja sein, Poirot, aber mir scheint, Sie tendieren dazu, gewisse Dinge zu schnell abzutun. Selbst ein Fingerabdruck hat bisweilen schon zur Überführung und Verurteilung eines Mörders geführt.«
»Und zweifellos schon mehr als einen Unschuldigen am Galgen enden lassen«, antwortete Poirot trocken.
»Aber mit Sicherheit leistet die Analyse von Finger- und Fußabdrücken, Zigarettenasche, unterschiedlichen Erdrückständen und sonstigen Hinweisen, die zu einer genauen Untersuchung gehört, einen entscheidenden Beitrag.«
»Natürlich. Ich habe niemals etwas anderes behauptet. Das geschulte Auge eines Experten ist ohne Frage hilfreich. Die anderen aber, die Hercule Poirots, sind über jeden Experten erhaben! Für sie sind Experten dazu da, Fakten zusammenzutragen, ihnen selbst aber geht es um die Art des Verbrechens, um seine innere Logik und die korrekte Verknüpfung der Fakten. Vor allem geht es ihnen um die psychologische Seite eines Falls. Sie waren doch schon auf Fuchsjagd, ja?«
»Hin und wieder«, sagte ich, verwirrt von dem abrupten Themenwechsel. »Wieso?«
»Eh bien, bei dieser Jagd auf den Fuchs, da braucht man Hunde, nicht wahr?«
»Jagdhunde«, korrigierte ich ihn milde. »Aber natürlich.«
»Und doch«, Poirot wedelte mit dem Finger, »sind Sie nicht vom Pferd gestiegen, haben am Boden geschnüffelt und dabei laut gejault.«
Gegen meinen Willen prustete ich los. Poirot nickte wissend.
»Na bitte. Sie überlassen die Arbeit der H…, der Jagdhunde den Jagdhunden. Aber von mir, Hercule Poirot, verlangen Sie, mich lächerlich zu machen und mich flach hinzuwerfen (wohl noch auf feuchtes Gras, wie?), um mutmaßliche Fußabdrücke zu untersuchen und Zigarettenasche aufzukehren, obwohl ich nicht mal deren unterschiedliche Sorten auseinanderhalten kann. Erinnern Sie sich doch an den Fall im Plymouth-Express. Der gute Japp stieg aus, um die Gleise zu untersuchen. Als er zurückkam, konnte ich ihm, ohne mein Abteil je verlassen zu haben, genau sagen, was er herausgefunden hatte.«
»Dann glauben Sie also, Japp hat seine Zeit verschwendet.«
»Ganz und gar nicht, da seine Beweise meine Theorie nur untermauern konnten. Ich hingegen hätte sehr wohl meine Zeit verschwendet, wenn ich selbst hinausgestiegen wäre. Und ebenso verhält es sich mit diesen sogenannten ›Experten‹. Denken Sie nur an das handgeschriebene Geständnis im Fall Cavendish. Seine Überprüfung durch den Anklagevertreter zeigt Übereinstimmungen auf, die Verteidigung beweist Abweichungen. Es fällt lauter technisches Vokabular. Und wozu? Um zu bestätigen, was uns allen schon von vornherein klar war: Das Schriftbild glich deutlich dem von John Cavendish. Dabei stellt sich dem psychologisch geschulten Geist natürlich die Frage nach dem Warum. Etwa weil es tatsächlich seine Handschrift war? Oder weil jemand wollte, dass wir sie für die seinige hielten? Ich habe diese Frage sehr wohl korrekt zu beantworten gewusst, mon ami.«
Damit lehnte sich Poirot, der mich noch nicht überzeugt, aber wenigstens zum Schweigen gebracht hatte, zufrieden zurück.
Auf der Fähre war ich nicht so dumm, meinen Freund aus seiner Einsamkeit zu reißen. Das Wetter war wunderbar, die See so glatt wie der sprichwörtliche Mühlenteich, und es überraschte mich kaum, als sich mir in Calais ein lächelnder Poirot anschloss. Eine Enttäuschung erwartete uns, kein Wagen war uns entgegengeschickt worden, aber Poirot nahm an, das Telegramm sei wohl einfach zu spät angekommen.
»Wir mieten einen Wagen«, schlug er munter vor. Und wenige Minuten darauf schaukelten und huckelten wir im ramponiertesten Mietwagen aller Zeiten in Richtung Merlinville.
Ich war in ausgesprochen guter Stimmung, während mein kleiner Freund mich mit ernster Miene musterte.
»Sie sind das, was im alten Aberglauben als Vorspuk bezeichnet wurde, Hastings? Ein Vorspuk kündigt eine Katastrophe an.«
»Unsinn. Jedenfalls scheinen Sie weniger gut aufgelegt.«
»Ich habe Angst.«
»Angst wovor?«
»Das weiß ich nicht. Aber ich habe eine Vorahnung – eine je ne sais quoi.«
Das sagte er in so ernstem Ton, dass ich wider Willen beeindruckt war.
»Ich habe das Gefühl«, sagte er langsam, »dass das ein großer Fall sein wird – ein langwieriges, ärgerliches Problem, das sich nicht leicht lösen lassen wird.«
Ich hätte ihm gern noch weitere Fragen gestellt, aber inzwischen näherten wir uns der kleinen Stadt Merlinville und drosselten unser Tempo, um uns nach dem Weg zur Villa Geneviève zu erkundigen.
»Geradeaus, Monsieur, durch die Stadt. Die Villa Geneviève liegt einen knappen Kilometer weiter auf der anderen Seite. Sie können sie nicht verfehlen. Ein großes Haus mit Meerblick.«
Wir bedankten uns für diese Auskunft und durchquerten die Stadt. An einer Abzweigung hielten wir abermals. Ein Bauer kam auf uns zugetrottet, und wir wollten ihn, wenn er auf unserer Höhe war, noch einmal nach dem richtigen Weg fragen. Am Straßenrand stand zwar ein Haus, aber es war zu klein und zu heruntergekommen, als dass es unser Ziel hätte sein können. Während wir noch warteten, öffnete sich eine Tür, und eine junge Frau trat auf die Straße.
Nun hatte der Bauer uns erreicht, und unser Fahrer lehnte sich aus dem Fenster, um sich nach dem Weg zu erkundigen.
»Die Villa Geneviève? Nur ein paar Schritte weiter und dann rechts. Wenn die Kurve nicht wäre, hätten Sie sie schon gesehen, Monsieur.«
Der Fahrer bedankte sich und ließ den Motor wieder an. Ich betrachtete fasziniert die junge Frau, die eine Hand auf dem Tor liegen hatte und uns beobachtete. Ich bewundere Schönheit, und an dieser hier hätte niemand schweigend vorbeigehen können. Sehr groß, mit den Proportionen einer jungen Göttin; ihre unbedeckten goldenen Haare funkelten im Sonnenschein, und ich hätte geschworen, dass sie eins der schönsten jungen Mädchen war, die ich je gesehen hatte. Als wir die holprige Straße hochfuhren, drehte ich mich um, um sie noch einmal zu sehen.
»Beim Zeus, Poirot«, rief ich. »Haben Sie diese junge Göttin gesehen?«
Poirot hob die Augenbrauen.
»Ça commence«, murmelte er. »Schon haben Sie eine Göttin gesehen.«
»Aber zum Henker, sie ist doch eine!«
»Schon möglich, ich habe nicht darauf geachtet.«
»Aber Sie haben sie doch bestimmt gesehen?«
»Mon ami, zwei Menschen sehen nur selten dasselbe. Sie beispielsweise haben eine Göttin gesehen. Ich dagegen …« Er zögerte.
»Ja?«
»Ich habe nur ein Mädchen mit ängstlichen Augen gesehen«, sagte Poirot ernst.
In diesem Moment hielten wir vor einem großen grünen Tor und stießen wie aus einem Munde einen überraschten Ruf aus. Vor dem Tor stand ein imposanter sergent de ville. Er hob die Hand, um uns den Weg zu versperren.
»Sie können hier nicht durch, Messieurs.«
»Aber wir möchten zu Mr Renauld«, rief ich. »Wir sind mit ihm verabredet. Das ist doch sein Haus, oder?«
»Das schon, Monsieur, aber …«
Poirot beugte sich vor.
»Aber was?«
»Monsieur Renauld ist heute Morgen ermordet worden.«
Poirot sprang aus dem Wagen. Seine Augen leuchteten vor Aufregung.
»Was sagen Sie da? Ermordet? Wann? Wie?«
Der sergent de ville richtete sich auf.
»Ich darf keinerlei Fragen beantworten, Monsieur.«
»Natürlich. Ich verstehe.« Poirot dachte kurz nach. »Aber zweifellos ist der Kommissar hier?«
»Ja, Monsieur.«
Poirot zog eine Visitenkarte hervor und kritzelte einige Worte darauf.
»Voilà! Hätten Sie vielleicht die Güte, dem Kommissar unverzüglich diese Karte bringen zu lassen?«
Der Mann nahm die Karte, schaute sich um und pfiff. Sofort erschien ein Kollege und nahm Poirots Mitteilung in Empfang. Wir warteten einige Minuten, und dann kam ein kleiner, beleibter Mann mit gewaltigem Schnurrbart auf das Tor zugeeilt. Der sergent de ville salutierte und trat beiseite.
»Mein lieber Monsieur Poirot«, rief der Neuankömmling. »Welche Freude, Sie zu sehen. Und Sie kommen wie gerufen.«
Poirot strahlte. »Monsieur Bex! Das ist wirklich eine Freude.« Er drehte sich zu mir um. »Das ist ein englischer Freund. Captain Hastings – Monsieur Lucien Bex.«
Der Kommissar und ich verbeugten uns höflich voreinander, und dann wandte sich Bex wieder Poirot zu.
»Mon vieux, wir haben uns seit 1909 in Ostende nicht mehr gesehen. Wissen Sie irgendetwas, das uns weiterhelfen könnte?«
»Das wissen Sie vermutlich schon. Ihnen ist bekannt, dass ich hergebeten worden bin?«
»Nein. Von wem?«
»Von dem Toten. Offenbar wusste er, dass sein Leben in Gefahr schwebte. Leider hat er mich zu spät informiert.«
»Sacré tonnerre!«, rief der Franzose. »Er hat den Mord also vorausgesehen! Das stürzt unsere Theorien nun wirklich um. Aber kommen Sie herein!«
Er öffnete das Tor, und wir gingen auf das Haus zu. Unterwegs erzählte Monsieur Bex:
»Der Untersuchungsrichter, Monsieur Hautet, muss sofort informiert werden. Er hat gerade den Tatort besichtigt und wollte nun mit den Verhören beginnen.«
»Wann ist das Verbrechen begangen worden?«, fragte Poirot.
»Der Leichnam wurde heute Morgen gegen neun gefunden. Madame Renaulds Aussage und die des Arztes ergeben, dass der Tod gegen zwei Uhr nachts eingetreten sein muss. Aber kommen Sie doch bitte ins Haus.«
Wir hatten die Treppe erreicht, die zum Haupteingang der Villa führte. In der Diele saß ein weiterer sergent de ville. Als er den Kommissar erblickte, sprang er auf.
»Wo befindet sich Monsieur Hautet?«, fragte dieser.
»Im Salon, Monsieur.«
Monsieur Bex öffnete eine Tür auf der linken Seite der Diele, und wir traten in das dahinter liegende Zimmer. Monsieur Hautet und sein Schreiber saßen an einem großen runden Tisch. Sie schauten auf, als wir hereinkamen. Der Kommissar stellte uns vor und erklärte, warum wir gekommen waren.
Monsieur Hautet, der juge d’instruction, war ein hochgewachsener, hagerer Mann mit durchdringenden dunklen Augen und einem gepflegten grauen Bart, den er beim Reden immer wieder streichelte. Vor dem Kamin stand ein älterer Mann mit leicht hängenden Schultern, der uns als Dr. Durand vorgestellt wurde.
»Höchst ungewöhnlich«, meinte Monsieur Hautet, nachdem der Kommissar ihm alles erzählt hatte. »Sie haben den Brief bei sich, Monsieur?«
Poirot reichte ihm den Bogen, und der Ermittler las.
»Hm. Er erwähnt ein Geheimnis. Wie schade, dass er sich nicht genauer ausgedrückt hat. Wir stehen in Ihrer Schuld, Monsieur Poirot. Ich hoffe, Sie werden uns die Ehre erweisen, uns bei unseren Ermittlungen zu helfen. Oder müssen Sie gleich nach London zurückkehren?«
»Monsieur le juge, ich bleibe hier. Ich bin zu spät gekommen, um den Tod meines Mandanten zu verhindern, aber ich fühle mich doch verpflichtet, seinen Mörder ausfindig zu machen.«
Der Untersuchungsrichter verbeugte sich.
»Dieses Gefühl ehrt Sie. Und sicher wird auch Madame Renauld weiterhin an Ihren Diensten gelegen sein. Monsieur Giraud von der Sûreté in Paris kann jeden Moment eintreffen, und ich bin sicher, Sie und er werden sich bei den weiteren Ermittlungen gegenseitig unterstützen. Außerdem hoffe ich, dass Sie mir die Ehre erweisen, bei meinen Verhören anwesend zu sein, und ich brauche wohl kaum zu sagen, dass Ihnen alles zur Verfügung steht, was Sie für Ihre Arbeit brauchen.«
»Ich danke Ihnen, Monsieur. Sie verstehen sicher, dass ich im Moment noch im Dunkeln tappe. Ich weiß wirklich gar nichts.«
Monsieur Hautet nickte dem Kommissar zu, und dieser fuhr fort:
»Heute Morgen stellte die alte Dienerin Françoise, als sie nach unten kam, um mit ihrer Arbeit zu beginnen, fest, dass die Haustür offen stand. Sie dachte sofort an einen Einbruch und sah im Esszimmer nach, doch da das Silber noch vorhanden war, nahm sie einfach an, ihr Arbeitgeber sei früh aufgestanden, um einen Spaziergang zu machen.«
»Pardon, Monsieur, hat er das häufiger gemacht?«
»Nein, eigentlich nie, aber die alte Françoise hegt die üblichen Vorurteile gegen die Engländer – dass sie verrückt sind und dass ihnen alles zuzutrauen ist. Als die junge Zofe Léonie ihre Herrin aufsuchte, fand sie diese zu ihrem Entsetzen gefesselt und geknebelt vor, und gleich darauf traf die Nachricht ein, dass Monsieur Renauld mit einem Messer im Rücken tot aufgefunden worden sei.«
»Wo denn?«
»Das gehört zu den seltsamsten Aspekten dieses Falls. Monsieur Poirot, der Leichnam lag mit dem Gesicht nach unten in einem offenen Grab!«
»Was?«
»Ja. Das Grab war frisch ausgehoben – nur wenige Meter von diesem Grundstück entfernt.«
»Und wie lange war er schon tot?«
Diese Frage wurde von Dr. Durand beantwortet.
»Ich habe den Leichnam heute Morgen um zehn untersucht. Der Tod muss zwischen sieben und zehn Stunden vorher eingetreten sein.«
»Hm. Also zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens.«
»Genau, und nach Madame Renaulds Aussage muss es nach zwei Uhr geschehen sein, was den Spielraum noch verkleinert. Der Tod ist offenbar sofort eingetreten, und Selbstmord kann es nicht gewesen sein.«
Poirot nickte, und der Kommissar fuhr fort:
»Die entsetzten Dienstbotinnen haben Madame Renauld von ihren Fesseln befreit. Sie war ungeheuer geschwächt, fast ohnmächtig durch die erlittenen Schmerzen. Offenbar sind zwei maskierte Männer in ihr Schlafzimmer eingedrungen und haben sie gefesselt und geknebelt und ihren Mann entführt. Das wissen wir aus zweiter Hand vom Personal. Als Madame Renauld die tragische Nachricht erhielt, geriet sie in einen Zustand gefährlicher Erregung. Dr. Durand, der bereits gerufen worden war, gab ihr sofort ein Beruhigungsmittel, und wir haben sie noch nicht befragen können. Doch zweifellos wird sie, wenn sie erwacht, ruhiger und den Strapazen eines Verhörs gewachsen sein.«
Der Kommissar legte eine Pause ein.
»Und wer wohnt in diesem Haus, Monsieur?«
»Die alte Françoise, die Haushälterin, die vorher viele Jahre bei den früheren Besitzern der Villa Geneviève in Diensten stand. Zwei junge Mädchen, Schwestern, Denise und Léonie Oulard. Sie stammen aus Merlinville, und ihre Eltern sind sehr angesehene Leute. Dann haben wir noch den Chauffeur, der mit Monsieur Renauld aus England herübergekommen ist, doch der ist gerade in Urlaub. Und schließlich wohnen hier Madame Renauld und ihr Sohn, Monsieur Jack Renauld. Auch der ist derzeit nicht zu Hause.«
Poirot senkte den Kopf.
Monsieur Hautet rief: »Marchaud!«
Der sergent de ville kam herein.
»Holen Sie die Haushälterin Françoise.«
Der Mann salutierte und verschwand. Gleich darauf führte er die verängstigte Françoise ins Zimmer.
»Sie heißen Françoise Arrichet?«
»Ja, Monsieur.«
»Und Sie arbeiten schon lange in der Villa Geneviève?«
»Elf Jahre für Madame la Vicomtesse. Als sie die Villa im Frühjahr verkauft hat, habe ich mich bereit erklärt, auch für den englischen milor’ zu arbeiten. Ich konnte ja nicht ahnen, dass –«
Der Untersuchungsrichter fiel ihr ins Wort.
»Zweifellos, zweifellos, Françoise. Also, die Haustür – wer war dafür zuständig, sie abends abzuschließen?«
»Ich, Monsieur. Das war immer meine Aufgabe.«
»Und gestern Abend?«
»Habe ich sie wie immer abgeschlossen.«
»Wissen Sie das genau?«
»Das kann ich bei den seligen Heiligen beschwören, Monsieur.«
»Um welche Zeit war das?«
»Um dieselbe Zeit wie immer, halb elf, Monsieur.«
»Und die anderen Hausbewohner, waren die schon zu Bett gegangen?«
»Madame hatte sich schon einige Zeit zuvor zurückgezogen. Denise und Léonie sind mit mir nach oben gegangen. Monsieur war noch in seinem Arbeitszimmer.«
»Und wenn danach jemand die Tür aufgeschlossen hat, kann das nur Monsieur Renauld gewesen sein?«
Françoise zuckte mit ihren breiten Schultern.
»Warum hätte er das tun sollen? Wo hier doch jeden Moment Räuber und Mörder vorbeikommen können. Was für eine Vorstellung! Monsieur war kein Narr. Und er brauchte die Dame ja nicht hinauszulassen –«
Der Untersuchungsrichter fiel ihr scharf ins Wort:
»Die Dame? Von welcher Dame ist hier die Rede?«
»Von der Dame, die ihn aufgesucht hat, natürlich.«
»Gestern Abend hat ihn eine Dame aufgesucht?«
»Aber ja, Monsieur, und an vielen anderen Abenden auch.«
»Wer war diese Dame? Haben Sie sie gekannt?«
Nun schaute die Frau recht listig drein.
»Woher soll ich wissen, wer das war?«, knurrte sie. »Ich habe ihr gestern Abend nicht die Tür geöffnet.«
»Aha!«, rief der Untersuchungsrichter und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Sie wollen also der Polizei etwas vormachen, ja? Ich verlange, dass Sie sofort den Namen der Frau nennen, die Monsieur Renauld abends besucht hat.«
»Polizei, Polizei«, grummelte Françoise. »Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals mit der Polizei zu tun haben würde. Aber ich weiß genau, wer sie ist. Es ist Madame Daubreuil.«
Der Kommissar stieß einen Laut der Verblüffung aus und beugte sich vor.
»Madame Daubreuil – aus der Villa Marguerite ein Stück die Straße hinunter?«
»Wie ich’s gesagt habe, Monsieur. Oh, die ist mir vielleicht eine!«
Die alte Frau warf verachtungsvoll den Kopf in den Nacken.
»Madame Daubreuil«, murmelte der Kommissar. »Unmöglich.«
»Voilà«, knurrte Françoise. »Das hat man davon, dass man die Wahrheit sagt.«
»Aber nicht doch«, sagte der Untersuchungsrichter besänftigend. »Wir waren nur überrascht, weiter nichts. Madame Daubreuil und Monsieur Renauld, waren sie …?« Er verstummte taktvoll. »Na? Das war doch sicher so?«
»Woher soll ich das wissen? Aber was wollen Sie? Monsieur, ein milord anglais, très riche, und Madame Daubreuil – sie ist arm und très chic, auch wenn sie so zurückgezogen lebt, nur mit ihrer Tochter. Kein Zweifel, sie hat ihre Geschichte. Sie ist nicht mehr jung, aber ma foi! Ich sage Ihnen, ich habe gesehen, wie die Männer ihr nachgaffen, wenn sie über die Straße geht. Und in letzter Zeit hat sie mehr Geld gehabt, das weiß die ganze Stadt. Jetzt braucht sie nicht mehr so sparsam zu sein.« Und mit einer Geste der unerschütterlichen Gewissheit schüttelte Françoise den Kopf.
Monsieur Hautet strich sich nachdenklich den Bart.
»Und Madame Renauld«, fragte er schließlich. »Wie hat sie auf diese – Freundschaft reagiert?«
Françoise zuckte die Achseln.
»Sie war wie immer – sehr höflich. Man könnte meinen, sie hätte sich gar nichts dabei gedacht. Aber ist es nicht so, dass das Herz leidet, Monsieur? Ich habe gesehen, wie Madame Tag für Tag bleicher und dünner wurde. Sie war nicht mehr die Frau, die vor einem Monat hier eingezogen ist. Auch Monsieur hatte sich verändert. Er hatte auch seine Sorgen. Man konnte sehen, dass er kurz vor einer Nervenkrise stand. Und ist das ein Wunder, bei einer auf solche Weise geführten Liebschaft? Keine Zurückhaltung, keine Diskretion. Style anglais, ohne Zweifel.«
Ich fuhr empört hoch, doch der Untersuchungsrichter ließ sich von solchen Nebenfragen nicht in seinem Verhör stören.
»Sie sagen, Monsieur Renauld habe Madame Daubreuil nicht die Tür öffnen müssen? Sie war also schon gegangen?«
»Ja, Monsieur. Ich habe gehört, wie sie aus dem Arbeitszimmer kamen und zur Tür gingen. Monsieur sagte gute Nacht und schloss hinter ihr ab.«
»Wann war das?«
»Ungefähr fünf vor halb elf, Monsieur.«
»Wissen Sie, wann Monsieur Renauld zu Bett gegangen ist?«
»Ich habe ihn zehn Minuten nach uns nach oben kommen hören. Die Treppe knackt so laut, dass man immer hört, wenn jemand hinauf- oder hinuntergeht.«
»Und das war alles? In der Nacht haben Sie nichts Ungewöhnliches gehört?«
»Rein gar nichts, Monsieur.«
»Wer von Ihnen war heute Morgen als Erste unten?«
»Ich, Monsieur. Und ich habe sofort gesehen, dass die Tür offen stand.«
»Was ist mit den Fenstern im Erdgeschoss, waren die geschlossen?«
»Alle, ja. Ich habe nirgends etwas Verdächtiges oder Ungewöhnliches entdeckt.«
»Gut. Françoise, Sie können gehen.«