Der seltsame Mr Quin - Agatha Christie - E-Book

Der seltsame Mr Quin E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Mr Sattersways Gespür für dramatische Entwicklungen ist untrüglich. Aber so richtig wertvoll wird es erst, wenn auch Mr Harley Quin auf der Bildfläche erscheint, der von Unglücksfällen und den Rätseln, die sie aufgeben, magisch angezogen wird. Zusammen sind sie ein unschlagbares Duo, das überall dort, wo Scotland Yard längst aufgegeben hat, zur ermittlerischen Hochform aufläuft. "Ein seltenes Vergnügen." (The New York Times)

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Seitenzahl: 379

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Agatha Christie

Der seltsame Mr Quin

Kriminalistische Erzählungen

Aus dem Englischen von Günter Eichel

Atlantik

Die Ankunft des Mr Quin

Es war Silvesterabend.

Die älteren Mitglieder der Hausgesellschaft in Royston hatten sich in der großen Halle versammelt.

Mr Sattersway war sehr froh, dass die jungen Leute zu Bett gegangen waren. Junge Leute in Herden mochte er nicht. Es mangelte ihnen dann an einer gewissen Feinheit, und je weiter das Leben fortschritt, desto größer wurde seine Vorliebe für gewisse Feinheiten.

Mr Sattersway war zweiundsechzig: ein kleiner, etwas gebeugter und ausgedörrter Mann mit einem aufmerksamen Gesicht, das seltsam zwergenhaft war, sowie einem heftigen und ausschweifenden Interesse für das Leben anderer Leute. Sein ganzes Leben lang hatte er, wie man so sagt, in der ersten Reihe gesessen und zugesehen, wie verschiedene Dramen der menschlichen Natur vor ihm abrollten. Er selbst hatte immer nur den Zuschauer gespielt. Jetzt allerdings, da das Alter ihn in seinen Klauen hielt, merkte er, dass er dem ihm vorgeführten Drama gegenüber immer kritischer wurde. Er verlangte etwas, das ein wenig vom Üblichen abwich.

Es bestand kein Zweifel daran, dass er für diese Dinge eine Witterung, einen Spürsinn, besaß. Instinktiv wusste er, wenn die Bestandteile eines Dramas zusammengekommen waren. Wie ein Schlachtross witterte er es. Und seit seinem Eintreffen in Royston am gleichen Nachmittag hatte sich dieser seltsame innere Sinn wieder einmal bemerkbar gemacht und ihm zu verstehen gegeben, dass er sich bereithalten solle. Irgendetwas Interessantes spielte sich ab oder bereitete sich vor.

Die Hausgesellschaft war nicht sehr groß. Da war einmal Tom Evesham, ihr großzügiger und gut gelaunter Gastgeber, sowie dessen ernste und politisch interessierte Frau, die vor ihrer Heirat Lady Laura Keen gewesen war. Anwesend waren ferner Sir Richard Conway, Soldat, Weltreisender und Sportsmann, zu dem noch sechs oder sieben junge Leute kamen, deren Namen Mr Sattersway nicht behalten hatte, und schließlich die Portals.

Mr Sattersway interessierte sich für die Portals besonders.

Alex Portal hatte er bisher zwar nicht gekannt, aber sonst wusste er über ihn Bescheid. Seinen Vater und seinen Großvater hatte er gekannt. Alex Portal verkörperte beinahe einen bestimmten Typ. Er war ein Mann von bald vierzig, blond und blauäugig wie alle Portals, sportbegeistert, ein guter Spieler und bar jeder Phantasie. Ungewöhnlich war an Alex Portal überhaupt nichts: der übliche gute und gesunde englische Schlag.

Aber seine Frau war ganz anders. Sie war, wie Mr Sattersway wusste, Australierin. Vor zwei Jahren war Portal in Australien gewesen, hatte sie dort kennengelernt, hatte sie dann geheiratet und hierhergebracht. Vor ihrer Ehe war sie nie in England gewesen. Trotzdem hatte sie so gar keine Ähnlichkeit mit anderen Australierinnen, die Mr Sattersway bisher kennengelernt hatte.

Er beobachtete sie aufmerksam. Eine interessante Frau – sehr sogar. So ruhig, und trotzdem so … lebendig. Lebendig! Das war es genau! Im Grunde keine Schönheit, nein – als schön konnte man sie kaum bezeichnen. Stattdessen besaß sie jedoch einen unglücklichen Zauber, den niemand an ihr hätte missen mögen – den kein Mann an ihr hätte missen mögen. Das fand zumindest Mr Sattersways maskuline Seite, während seine feminine Seite – und Mr Sattersways feminine Seite war keineswegs unbedeutend – sich für eine andere Frage interessierte: Warum färbte Mrs Portal sich die Haare? Ein anderer Mann hätte vermutlich gar nicht bemerkt, dass sie sich die Haare färbte; Mr Sattersway wusste es jedoch. Er kannte sich in diesen Dingen aus. Und es irritierte ihn. Viele dunkelhaarige Frauen färben ihr Haar blond; aber noch nie war ihm eine blonde Frau begegnet, die ihr Haar schwarz gefärbt hatte.

Alles an ihr erregte seine Neugierde. Auf eine merkwürdige, intuitive Art war er überzeugt, dass sie entweder sehr glücklich oder sehr unglücklich war – was von beiden sie war, wusste er allerdings nicht, und das ärgerte ihn. Hinzu kam jene seltsame Wirkung, die sie auf ihren Mann ausübte.

Er betete sie an, sagte sich Mr Sattersway, aber manchmal ist er … ja, manchmal hat er vor ihr Angst! Das ist sehr interessant. Ungewöhnlich interessant ist das!

Portal trank zu viel. Das war sicher. Und er hatte eine komische Art, seine Frau zu beobachten, wenn sie es nicht merkte.

Die Nerven, sagte sich Mr Sattersway. Der Mann ist ein Nervenbündel. Sie weiß es zwar auch, tut jedoch nichts dagegen.

Die beiden hatten ihn ausgesprochen neugierig gemacht. Irgendetwas ging hier vor, das er nicht ergründen konnte.

Aus seinen Überlegungen riss ihn das feierliche Schlagen der großen Uhr in der Ecke.

»Zwölf Uhr«, sagte Evesham. »Neujahr! Ein glückliches neues Jahr! Übrigens geht die Uhr fünf Minuten vor … Ich weiß gar nicht, warum die Kinder nicht aufgeblieben sind und das neue Jahr abgewartet haben.«

»Ich bin fest davon überzeugt, dass sie in Wirklichkeit noch gar nicht schlafen gegangen sind«, sagte seine Frau gelassen. »Wahrscheinlich verstecken sie Haarbürsten und derartige Dinge in unseren Betten. Solche Sachen machen ihnen viel Spaß. Warum, ist mir jedoch nicht ganz verständlich. In meiner Jugend hätte man uns so etwas nicht erlaubt.«

»Autres temps, autres mœurs«, sagte Conway lächelnd.

Er war groß und soldatisch aussehend. Evesham und er waren sich im Typ überhaupt sehr ähnlich: ehrlich, aufrichtig, freundlich und ohne große geistige Ansprüche.

»In meiner Jugend stellten wir uns im Kreise auf, fassten uns an den Händen und sangen Auld Lang Syne«, fuhr Lady Laura fort. »Should auld acquaintance be forgot – ich finde diese Worte immer richtig bewegend.«

Evesham wurde unruhig.

»Lass das doch, Laura«, sagte er leise. »Nicht hier!«

Er schlenderte durch die große Halle, in der sie saßen, und schaltete eine weitere Lampe an.

»Wie dumm von mir«, sagte Lady Laura gedämpft. »Das erinnert ihn immer an den armen Mr Capel. Meine Liebe, ist Ihnen das Feuer vielleicht zu warm?«

Eleanor Portal machte eine unwirsche Bewegung.

»Danke. Ich werde meinen Sessel etwas zurückschieben.«

Welch eine bezaubernde Stimme sie hatte – eine dieser tiefen, leisen und doch hallenden Stimmen, die man so leicht nicht vergisst, überlegte Mr Sattersway. Ihr Gesicht lag jetzt im Schatten – jammerschade. Als sie im Schatten saß, sagte sie: »Mr … Capel?«

»Ja. Das ist der Mann, dem dieses Haus ursprünglich gehörte. Er erschoss sich … Ist ja gut, Tom, ich höre schon auf! Für Tom war es nämlich ein großer Schock, weil er hier war, als es passierte. Sie doch auch, nicht wahr, Sir Richard?«

»Ja, Lady Laura.«

Eine alte Standuhr in der Ecke ächzte, stöhnte und fauchte asthmatisch, und dann schlug sie zwölf.

»Prost Neujahr, Tom«, knurrte Evesham mechanisch.

Lady Laura packte ziemlich entschlossen ihre Stricksachen zusammen.

»So, das neue Jahr hätten wir begrüßt«, bemerkte sie, und mit einem Blick auf Mrs Portal fügte sie hinzu: »Was meinen Sie, meine Liebe?«

Eleanor Portal stand schnell auf.

»Ich finde, wir sollten zu Bett gehen«, sagte sie leichthin.

Sie ist sehr blass, dachte Mr Sattersway, als er ebenfalls aufstand und begann, sich mit den Kerzenhaltern zu beschäftigen. So blass ist sie sonst nicht.

Er zündete ihre Kerze an und überreichte sie ihr mit einer komischen altmodischen Verbeugung. Mit einem Wort des Dankes nahm sie sie ihm ab und ging langsam die Treppe hinauf.

Plötzlich überkam Mr Sattersway ein sehr merkwürdiger Wunsch: Am liebsten wäre er ihr gefolgt, hätte sie getröstet – denn irgendwie hatte er das höchst seltsame Gefühl, dass sie sich in irgendeiner Gefahr befand. Aber auch das ging vorüber, und er schämte sich. Jetzt fing er tatsächlich auch schon an, nervös zu werden.

Sie hatte ihren Mann nicht angesehen, als sie nach oben ging; jetzt wandte sie ihm allerdings den Kopf zu und betrachtete ihn lange und forschend, und dieser Blick hatte eine eigenartige Intensität. Mr Sattersway fand es höchst sonderbar.

Und plötzlich merkte er, dass er seiner Gastgeberin auf ziemlich unaufmerksame Weise eine gute Nacht gewünscht hatte.

»Ich bin sicher, dass es ein glückliches neues Jahr sein wird«, sagte Lady Laura gerade. »Aber die politische Situation ist meiner Ansicht nach mit einer tragischen Ungewissheit belastet.«

»Das finde ich auch«, sagte Mr Sattersway ernst. »Das finde ich auch.«

»Ich hoffe nur«, fuhr Lady Laura fort, ohne dass sich ihr Ausdruck auch nur im Geringsten veränderte, »dass es ein schwarzhaariger Mann ist, der als Erster die Schwelle überquert. Sie kennen diesen Aberglauben sicherlich, Mr Sattersway? Nein? Das überrascht mich. Wenn es dem Hause Glück bringen soll, dann muss der erste Mann, der im neuen Jahr die Schwelle überschreitet, schwarzhaarig sein. Mein Gott, hoffentlich entdecke ich in meinem Bett nicht irgendetwas Unangenehmes. Den Kindern ist alles zuzutrauen. Sie haben immer so merkwürdige Einfälle.«

Den Kopf in trüber Vorahnung schüttelnd, bewegte Lady Laura sich majestätisch die Treppe hinauf.

Nach dem Abschied der Damen wurden die Sessel näher an die lodernden Holzscheite gerückt, die in dem großen offenen Kamin brannten.

»Sagen Sie halt«, sagte der gastfreundliche Evesham, der die Whiskykaraffe in der Hand hielt.

Als alle halt gesagt hatten, kehrte die Unterhaltung zu jenem Thema zurück, das vorhin verboten gewesen war.

»Sie kannten doch Derek Capel, nicht wahr, Sattersway?«, fragte Conway.

»Ja … flüchtig.«

»Und Sie, Portal?«

»Nein, ich habe ihn nie kennengelernt.«

Er sagte es so heftig und abwehrend, dass Mr Sattersway überrascht aufblickte.

»Ich hasse es, wenn Laura dieses Thema zur Sprache bringt«, sagte Evesham langsam. »Nach der Tragödie wurde dieses Haus an einen Großindustriellen verkauft. Nach einem Jahr zog der Mann wieder aus – irgendwie war er nicht zufrieden gewesen. Eine Menge Gerüchte liefen um, dass es in dem Haus spuke, und auf diese Weise kam es in einen schlechten Ruf. Als Laura mich dazu gebracht hatte, mich als Kandidat für West Kidleby aufstellen zu lassen, bedeutete das natürlich, dass wir auch in dieser Gegend wohnen mussten, und es war gar nicht einfach, ein passendes Haus zu finden. Royston wurde billig angeboten, und – na ja, dann habe ich es eben gekauft. Gespenster sind Unsinn – aber trotzdem möchte man nicht gern daran erinnert werden, dass man in einem Haus wohnt, in dem sich ein Freund erschossen hat. Der arme Derek … Wir werden wohl nie erfahren, warum er es getan hat.«

»Er wird weder der Erste noch der Letzte gewesen sein, der sich erschossen hat, ohne dass man den Grund kennt«, sagte Alex Portal heftig. Er erhob sich und goss sein Glas wieder voll; dabei verschüttete er etwas Whisky.

Irgendetwas stimmt mit ihm nicht, sagte sich Mr Sattersway. Das ist einmal ganz klar. Wenn ich nur wüsste, worum es sich handelt.

»Mein Gott!«, sagte Conway. »Hören Sie nur den Wind! Das gibt eine hübsche Nacht.«

»Eine Nacht, in der Gespenster besonders gern spuken«, sagte Portal und lachte herausfordernd auf.

»Sämtliche Teufel sind jetzt unterwegs.«

»Nach Lady Lauras Ansicht würde uns selbst der schwärzeste noch Glück bringen«, bemerkte Conway lachend. »Vergessen Sie das nicht!«

Der Wind schwoll zu einem neuerlichen Aufheulen an, und als er erstarb, klopfte es dreimal laut an die große Tür. Alle fuhren zusammen.

»Wer, um Himmels willen, kann das sein – um diese Zeit?«, rief Evesham.

Sie sahen sich an.

»Ich werde aufmachen«, sagte Evesham. »Die Dienstboten sind schon zu Bett gegangen.«

Er ging langsam durch die Halle, machte sich an den schweren Riegeln zu schaffen und riss die Tür schließlich auf. Ein eisiger Windstoß fegte in die Halle.

Im Rahmen der Tür stand die Gestalt eines Mannes: groß und schlank. Nach Meinung des aufmerksam zusehenden Mr Sattersway hatte das bunte Glas über der Tür die sonderbare Wirkung, dass es so aussah, als trüge der Mann einen Mantel, der in sämtlichen Regenbogenfarben schillerte. Als er in die Halle trat, zeigte es sich jedoch, dass es sich um einen hageren dunkelhaarigen Mann handelte, der einen Mantel trug.

»Ich muss für mein Eindringen tausendmal um Entschuldigung bitten«, sagte der Fremde mit einer angenehmen Stimme. »Mein Wagen hat gestreikt. Nichts Schlimmes – mein Chauffeur bringt die Sache wieder in Ordnung, aber eine halbe Stunde dürfte es ungefähr dauern, und draußen ist es verdammt kalt …«

Er verstummte, und Evesham griff den Faden auf.

»Das kann ich mir vorstellen. Kommen Sie herein und wärmen Sie sich mit einem Schluck wieder auf. Können wir Ihnen irgendwie behilflich sein?«

»Nein, danke. Mein Chauffeur kommt schon zurecht. Übrigens: Mein Name ist Quin – Harley Quin.«

»Nehmen Sie Platz, Mr Quin«, sagte Evesham. »Das ist Sir Richard Conway, das dort ist Mr Sattersway, und ich heiße Evesham.«

Mr Quin verneigte sich flüchtig und ließ sich dann in den Sessel fallen, den Evesham ihm gastfreundlich hingeschoben hatte. Als er saß, warf der Schein des Kaminfeuers einen streifigen Schatten auf sein Gesicht, sodass es beinahe wie eine Maske wirkte.

Evesham legte noch ein paar Scheite nach.

»Wie wär’s mit einem Glas?«

»Danke, gern.«

Evesham reichte es ihm und fragte dabei: »Sie kennen sich also in diesem Winkel der Welt gut aus, Mr Quin?«

»Vor einigen Jahren bin ich einmal hier durchgekommen.«

»Wirklich?«

»Ja. Dieses Haus gehörte damals einem Mann namens Capel.«

»Ja, das stimmt«, sagte Evesham. »Der arme Derek Capel. Sie kannten ihn?«

»Ja, ich kannte ihn.«

Eveshams Verhalten veränderte sich ein wenig – kaum wahrnehmbar für einen Menschen, der sich mit dem englischen Wesen nicht genau auskennt. Bisher hatte er eine leichte Zurückhaltung gezeigt; davon konnte jetzt jedoch keine Rede mehr sein. Mr Quin hatte Derek Capel gekannt. Er war also der Freund eines Freundes, und als solcher wurde er nicht nur anerkannt, sondern aufgenommen.

»Eine schreckliche Angelegenheit ist das«, sagte Evesham vertraulich. »Wir sprachen darüber. Eines kann ich Ihnen sagen: Es ging mir erheblich gegen den Strich, dieses Haus zu kaufen. Hätte ich etwas anderes gefunden – aber das war eben nicht möglich, verstehen Sie? Ich war an dem Abend im Hause, als er sich erschoss – Conway übrigens auch. Und ich gebe Ihnen mein Wort: Ich habe immer damit gerechnet, dass sein Geist hier umgeht.«

»Eine äußerst unerklärliche Angelegenheit«, sagte Mr Quin langsam und nachdenklich, und als er schwieg, ähnelte er einem Schauspieler, der gerade ein wichtiges Stichwort gegeben hat.

»Unerklärlich! Das kann man wohl sagen!«, fiel Conway ein. »Ein finsteres Geheimnis ist es – und wird es immer bleiben.«

»Vielleicht«, sagte Mr Quin unverbindlich. »Oder was meinen Sie, Sir Richard?«

»Schrecklich – das war es, weiß Gott! Da ist ein Mann, auf der Höhe seines Lebens stehend, vergnügt, fröhlich, ohne die geringsten Sorgen. Fünf oder sechs alte Freunde sind bei ihm zu Besuch. Bester Laune beim Abendessen, voller Pläne für die Zukunft. Und dann geht er vom Abendbrottisch weg nach oben auf sein Zimmer, holt einen Revolver aus der Schublade und erschießt sich. Warum? Das weiß kein Mensch. Und das wird auch niemand jemals erfahren!«

»Ist diese Behauptung nicht ziemlich weit hergeholt, Sir Richard?«, fragte Mr Quin lächelnd.

Conway starrte ihn an.

»Was meinen Sie damit? Das verstehe ich nicht.«

»Ein Problem muss nicht unbedingt unlösbar sein, weil es bisher nicht gelöst worden ist.«

»Ach so! Aber lassen wir das: Wenn damals nichts herausgekommen ist, wird es heute – zehn Jahre danach – auch nicht anders sein.«

Mr Quin schüttelte leicht den Kopf.

»In diesem Punkt bin ich anderer Meinung. Die Geschichte beispielsweise widerlegt Ihre Behauptung. Der zeitgenössische Historiker schreibt niemals eine so wahre Geschichtsbetrachtung wie der Historiker einer späteren Generation. Es geht immer darum, die richtige Perspektive zu haben, die Dinge in ihrem Verhältnis zu sehen. Wenn Sie so wollen, handelt es sich hierbei – wie überall – um eine Frage der Relativität.«

Alex Portal beugte sich gespannt vor; sein Gesicht zuckte. »Sie haben recht, Mr Quin«, rief er. »Sie haben vollkommen recht. Eine Frage erledigt sich nicht im Laufe der Zeit von selbst, sie wird nur in anderer Form neu gestellt.«

Evesham lächelte nachsichtig.

»Dann wollen Sie also behaupten, Mr Quin, dass wir heute wahrscheinlich genauso wie damals zur Wahrheit gelangen könnten, wenn wir etwa eine Untersuchung über Derek Capels Tod durchführen würden?«

»Sehr wahrscheinlich sogar, Mr Evesham. Das persönliche Verhältnis ist inzwischen erheblich unwichtiger geworden, und heute werden Sie sich einer Tatsache als bloßer Tatsache erinnern, ohne zu versuchen, ihr sofort eine eigene Auslegung zu unterschieben.«

Evesham zog zweifelnd die Stirn kraus.

»Natürlich muss man einen Ausgangspunkt haben«, sagte Mr Quin mit ruhiger Stimme. »Der Ausgangspunkt ist gewöhnlich eine Theorie. Einer von Ihnen hat bestimmt eine Theorie. Wie ist es mit Ihnen, Sir Richard?«

Conway runzelte nachdenklich die Stirn.

»Ja, natürlich«, sagte er abwehrend, »wir nahmen an – wir alle nahmen natürlich an –, dass irgendwie eine Frau dahintersteckte. Gewöhnlich ist es doch eine Frau, oder es geht um Geld, nicht wahr? Und Geld konnte in diesem Fall keine Rolle spielen. Das schied von vornherein aus. Also – was blieb demnach übrig?«

Mr Sattersway stutzte. Er hatte sich vorgebeugt, um selbst eine kleine Bemerkung beizusteuern, und dabei hatte er die Gestalt einer Frau entdeckt, die sich oben an das Geländer des Treppenabsatzes geduckt hatte. Ganz zusammengekrümmt hockte sie dort, und nur von der Stelle aus, an der er saß, war sie zu sehen. Offenbar lauschte sie mit angespannter Aufmerksamkeit allem, was sich unten abspielte. Und sie hockte dort so reglos, dass er dem Beweis seiner eigenen Augen kaum traute.

Das Stoffmuster des Kleides erkannte er jedoch mit Leichtigkeit; es war kostbarer alter Brokat. Und die Frau war Eleanor Portal.

Und plötzlich schienen alle Ereignisse dieses Abends genau zusammenzupassen; auch Mr Quins Eintreffen war kein bloßer Zufall, sondern der Auftritt eines Schauspielers, dessen Stichwort gefallen war. In der großen Halle von Royston wurde ein Drama gespielt – und es war dadurch, dass einer der Schauspieler bereits tot war, keineswegs unwirklicher. O ja, auch Derek Capel hatte eine Rolle; davon war Mr Sattersway fest überzeugt.

Und, wieder ganz plötzlich, kam ihm eine neue Erleuchtung. Das alles ging auf Mr Quin zurück. Er war es, der die Szenerie ausgesucht hatte, der den Schauspielern das Stichwort gab. Er befand sich im Mittelpunkt des Geheimnisses, zog an den Schnüren und ließ die Marionetten sich bewegen. Er wusste alles – auch, dass jene Frau sich dort oben an das Geländer drückte. Ja, er wusste es!

Nachdem Mr Sattersway sich zurückgelehnt und wieder die Rolle des Zuhörers übernommen hatte, schaute er dem Drama zu, das vor seinen Augen abrollte. Ruhig und selbstverständlich zog Mr Quin an den Schnüren und setzte seine Marionetten in Bewegung.

»Eine Frau – ja«, murmelte er nachdenklich. »Wurde während des Abendessens auch eine Frau erwähnt?«

»Natürlich wurde eine erwähnt«, rief Evesham. »Er gab seine Verlobung bekannt. Gerade das war der Grund, dass alles so vollkommen wahnsinnig zu sein schien. Ziemlich aus dem Häuschen war er darüber. Er sagte noch, es solle nicht weiter bekanntwerden, aber er deutete doch an, dass er auf dem besten Wege sei, Ehemann zu werden.«

»Natürlich haben wir alle geahnt, um welche Dame es sich dabei handelte«, sagte Conway. »Nämlich um Marjorie Dilke. Ein nettes Mädchen übrigens.«

Jetzt schien Mr Quin wieder an der Reihe zu sein, etwas zu sagen; aber das tat er nicht, und irgendetwas an seinem Schweigen wirkte seltsam aufreizend. Es war, als bezweifelte er die letzte Feststellung. Und die Folge war, dass Conway das Gefühl hatte, sich verteidigen zu müssen.

»Wer hätte es denn sonst sein sollen? Was, Evesham?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Tom Evesham langsam. »Was hat er damals eigentlich genau gesagt? Irgendetwas in dem Sinne, dass er auf dem besten Wege sei, Ehemann zu werden, dass er uns den Namen der Dame erst nennen könne, wenn sie es erlaubt habe, und dass es auch noch nicht bekanntwerden solle. Er sagte, wenn ich mich recht erinnere, dass er ein verdammt glücklicher Mann sei, dass seine beiden alten Freunde wissen sollten, dass er übers Jahr ein glücklich verheirateter Mann sei. Natürlich nahmen wir an, dass Marjorie damit gemeint war. Die beiden waren eng befreundet, und er war oft mit ihr zusammen gewesen.«

»Das Einzige …«, fing Conway an und verstummte sofort wieder. »Was wolltest du sagen, Dick?«

»Ich meine bloß, dass es in gewisser Weise komisch gewesen wäre, wenn es sich um Marjorie gehandelt hätte, dass er die Verlobung nicht bekanntgeben wollte. Warum die Geheimnistuerei, frage ich mich? Es klingt doch mehr danach, als hätte es sich um eine verheiratete Frau gehandelt – verstehst du: um jemanden, deren Mann gerade erst gestorben war oder die sich erst scheiden lassen wollte.«

»Das stimmt«, sagte Evesham. »Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte er die Verlobung natürlich nicht sofort bekanntgeben können. Wenn ich zurückdenke, glaube ich gar nicht mal, dass er mit Marjorie so oft zusammen war. Das alles war ein Jahr vorher. Ich erinnere mich noch, dass ich der Meinung war, dass das Verhältnis der beiden etwas abgekühlt war.«

»Seltsam«, sagte Mr Quin.

»Ja … es sah fast so aus, als hätte sich irgendjemand zwischen die beiden geschoben.«

»Eine andere Frau«, bemerkte Conway nachdenklich.

»Mein Gott!«, sagte Evesham. »Weißt du noch, dass der alte Derek an jenem Abend fast etwas unanständig vergnügt wirkte? Wie betrunken vor Glück sah er aus. Und trotzdem … ich kann nicht genau erklären, was ich meine … sonderbar trotzig wirkte er auch.«

»Wie ein Mensch, der das Schicksal herausfordert«, sagte Alex Portal heftig.

Meinte er damit Derek Capel – oder etwa sich selbst? Mr Sattersway, der ihn ansah, neigte eher zu der zweiten Ansicht, denn genau das war es, was Alex Portal darstellte – einen Menschen, der das Schicksal herausforderte.

Vom Alkohol leicht benebelt, reagierten seine Gedanken unvermittelt auf jenen Ton der Geschichte, der seine eigenen geheimen Wünsche zum Leben erweckte.

Mr Sattersway blickte hoch. Sie hockte immer noch an derselben Stelle – beobachtend, lauschend, regungslos und erstarrt, wie eine Tote.

»Das stimmt völlig«, sagte Conway. »Capel war tatsächlich erregt, sonderbarerweise. Meiner Ansicht nach war er ein Mensch, der einen hohen Einsatz gewagt und trotz fast überwältigender Widerstände gewonnen hatte.«

»Vielleicht hatte er irgendeinen Entschluss gefasst und plötzlich den nötigen Mut dazu aufgebracht?«, meinte Portal.

Und als hätte eine Gedankenverbindung ihn angeregt, erhob er sich und goss sein Glas wieder voll.

»Davon kann überhaupt nicht die Rede sein«, sagte Evesham scharf. »Ich könnte fast beschwören, dass er an irgendetwas Derartiges nicht dachte. Conway hat recht. Ein erfolgreicher Spieler, der eine lange Erfolgssträhne gehabt hat und sein Glück einfach nicht fassen kann. Diesen Eindruck machte er.«

Conway machte eine ratlose Gebärde.

»Und trotzdem«, sagte er. »Zehn Minuten später …«

Schweigend saßen sie da. Krachend ließ Evesham seine Hand auf die Tischplatte fallen.

»In diesen zehn Minuten muss irgendetwas passiert sein«, rief er. »Aber was? Gehen wir die Geschichte noch einmal genau durch. Wir unterhielten uns. Mittendrin stand Capel plötzlich auf und verließ das Zimmer …«

»Warum?«, sagte Mr Quin.

Die Unterbrechung schien Evesham aus der Fassung zu bringen.

»Was meinten Sie?«

»Ich fragte nur: warum?«, sagte Mr Quin.

Evesham runzelte die Stirn, um sich genau zu erinnern.

»Es schien nicht wichtig zu sein – damals … Ja, natürlich, die Post. Erinnerst du dich noch an die schrille Klingel und wie aufgeregt wir waren? Wir waren nämlich drei Tage eingeschneit gewesen – weißt du noch? Seit Jahren der schwerste Schneesturm. Sämtliche Straßen waren unpassierbar. Keine Zeitungen, keine Post. Capel ging hinaus, um nachzusehen, ob irgendjemand durchgekommen war, und nahm einen ganzen Stapel in Empfang: Briefe und Zeitungen. Er blätterte die Zeitungen durch, ob irgendetwas Wichtiges drin stünde, und ging dann mit den Briefen nach oben. Drei Minuten später hörten wir einen Schuss … Unerklärlich! Vollkommen unerklärlich.«

»So unerklärlich ist es gar nicht«, sagte Portal. »Bestimmt stand in einem Brief etwas Unerfreuliches. Vielleicht hätte ich lieber sagen sollen: offenbar.«

»Glauben Sie etwa, uns wäre so etwas entgangen? Das war nämlich so ungefähr das Erste, was der Untersuchungsrichter fragte. Aber Capel hat nicht einen einzigen Brief geöffnet! Der ganze Stapel lag ungeöffnet auf seiner Kommode.«

Portal machte einen niedergeschlagenen Eindruck.

»Wissen Sie ganz genau, dass er keinen einzigen Brief geöffnet hat? Vielleicht hat er ihn vernichtet, nachdem er ihn gelesen hatte.«

»Nein, das ist meiner Meinung nach ganz unmöglich. Natürlich wäre das die glaubwürdigste Lösung gewesen. Aber kein einziger Brief war geöffnet. Keiner verbrannt, keiner zerrissen. Im Kamin brannte nämlich gar kein Feuer.«

Portal schüttelte den Kopf.

»Sonderbar!«

»Alles in allem war es eine entsetzliche Geschichte«, sagte Evesham mit leiser Stimme. »Conway und ich rannten sofort nach oben, als wir den Schuss gehört hatten, und da fanden wir ihn … Ich habe einen ziemlichen Schock bekommen, das kann ich Ihnen sagen!«

»Und wahrscheinlich konnten Sie nicht mehr tun, als die Polizei anzurufen?«, sagte Mr Quin.

»In Royston gab es damals noch kein Telefon. Ich habe es erst legen lassen, als ich das Haus kaufte. Glücklicherweise war der Constable aus dem Dorf durch Zufall in der Küche. Einer der Hunde – erinnerst du dich noch an den alten Rover, Conway? – hatte sich am Tag vorher verlaufen. Ein vorbeikommender Fuhrmann hatte ihn halb zugeschneit in einer Schneewehe entdeckt und zur Wache gebracht. Sie sahen, dass der Hund Capel gehörte und dass es derjenige war, an dem Capel besonders hing; und deswegen brachte ihn der Constable selbst her. Unmittelbar bevor der Schuss fiel, war er gekommen. So wurde uns eine Menge Unannehmlichkeiten erspart.«

»Mein Gott, war das ein Schneesturm«, sagte Conway in der Erinnerung an jenen Tag. »Wann war das eigentlich? Auch Anfang Januar?«

»Ich glaube, es war im Februar. Warte mal – kurz darauf fuhren wir ins Ausland.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass es im Januar war. Mein Jagdpferd Ned – erinnerst du dich noch an Ned? – fing nämlich Anfang Januar an zu lahmen. Das war kurz nach dieser Geschichte.«

»Es gibt wohl kaum etwas Schwierigeres«, sagte Mr Quin beiläufig. »Es sei denn, man kann irgendeinen Anhaltspunkt finden, etwa ein wichtiges Ereignis: die Ermordung eines gekrönten Hauptes oder einen großen Mordprozess.«

»Aber natürlich!«, rief Conway. »Es war kurz vor dem Appleton-Prozess!«

»Kurz danach, nicht wahr?«

»Aber nein, erinnerst du dich denn nicht mehr? Capel kannte doch die Appletons. Er war mit dem alten Appleton im Frühjahr noch zusammen gewesen – eine Woche vor dessen Tod war das! Eines Abends erzählte er noch von ihm – was für ein komischer Geizkragen er sei und wie schrecklich es für eine junge und schöne Frau wie Mrs Appleton sein müsse, an ihn gefesselt zu sein. Damals stand sie noch nicht im Verdacht, ihn aus dem Wege geräumt zu haben.«

»Mein Gott, du hast recht! Ich erinnere mich noch, wie ich die Meldung in der Zeitung las, dass seine Leiche exhumiert werden sollte. Und das muss am selben Tag gewesen sein! Ich weiß, dass ich die Meldung gar nicht richtig in mich aufnahm, weil ich viel zu sehr mit dem armen Derek beschäftigt war, der oben lag – tot.«

»Ein weit verbreitetes, jedoch sehr seltsames Phänomen«, bemerkte Mr Quin. »In Augenblicken großer Beanspruchung konzentrieren sich die Gedanken auf irgendein völlig unwichtiges Ereignis, an das man sich später mit größter Genauigkeit erinnert, weil es durch die geistige Anspannung in die Erinnerung eingegraben wurde. Manchmal ist es auch eine völlig bedeutungslose Angelegenheit wie das Muster einer Tapete – aber es ist unvergesslich.«

»Ziemlich sonderbar, dass Sie das sagen, Mr Quin«, meinte Conway. »Während Sie eben sprachen, hatte ich nämlich das Gefühl, mich wieder in Derek Capels Zimmer zu befinden – Capel tot auf dem Fußboden –, und dabei sah ich so deutlich, wie man es sich nur vorstellen kann, den großen Baum vor dem Fenster und den Schatten, den er auf den Schnee warf. Ja, der Mond, der Schnee und der Schatten des Baumes – ganz genau sehe ich alles wieder vor mir. Mein Gott, ich glaube, ich könnte alles aufzeichnen, und trotzdem ist mir nie aufgefallen, dass ich mir das alles genau angesehen habe!«

»Sein Zimmer war der große Raum über der Veranda, nicht wahr?«, fragte Mr Quin.

»Ja, und der Baum – das war die große Buche, die neben der Auffahrt steht.«

Mr Quin nickte, als wäre er zufrieden. Mr Sattersway spürte eine sonderbare Erregung. Er war überzeugt, dass jedes Wort, jede Modulation in Mr Quins Stimme eine besondere Bedeutung hatte. Er steuerte auf irgendetwas hin – was es war, wusste Mr Sattersway zwar nicht, aber er war überzeugt, genau zu wissen, wessen Hand das Steuer führte.

Es folgte eine vorübergehende Pause, und dann kam Evesham auf das vorige Thema noch einmal zurück.

»Ja, der Appleton-Prozess: Ich erinnere mich noch gut daran. Das war eine Sensation. Wurde sie damals nicht freigesprochen? Eine hübsche Frau: sehr blond – auffallend blond.«

Beinahe gegen seinen Willen suchten Mr Sattersways Augen die kniende Gestalt am Geländer des Treppenabsatzes. Bildete er es sich ein, oder hatte er wirklich gesehen, wie sie leicht zusammenzuckte, als hätte sie einen Schlag erhalten? Sah er wirklich, wie sich eine Hand zur Tischdecke hinauftastete – und dann innehielt?

Klirrend zersplitterte Glas. Alex Portal, der sich wieder eingießen wollte, hatte die Whiskyflasche fallen lassen.

»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, Sir, ich weiß gar nicht, was über mich gekommen ist.«

Evesham unterbrach Portals Entschuldigungen.

»Aber ich bitte Sie, mein lieber Freund! Seltsam – das erinnert mich an irgendetwas. Das passierte ihr doch auch, nicht wahr? Mrs Appleton, meine ich! Sie ließ doch die Portweinkaraffe fallen, nicht?«

»Stimmt! Der alte Appleton bekam jeden Abend sein Glas Portwein, ein einziges. Am Tag nach seinem Tod beobachtete einer der Diener, wie sie die Karaffe herausholte und absichtlich fallen ließ. Das löste natürlich Gerüchte aus. Alle wussten, dass sie sich völlig mit ihm überworfen hatte. Das Gerede wurde immer lauter, und eines Tages, nach Monaten, beantragten Verwandte von ihm seine Exhumierung. Dabei stellte sich tatsächlich heraus, dass er vergiftet worden war. Mit Arsen, nicht wahr?«

»Nein – mit Strychnin, glaube ich. Aber das ist nicht so wichtig. Das heißt: Damals war es natürlich wichtig. Nur eine einzige Person hatte die Möglichkeit gehabt, es zu tun. Mrs Appleton wurde vor Gericht gestellt. Und sie wurde freigesprochen – mehr aus Mangel an Beweisen als wegen erwiesener Unschuld. Mit anderen Worten: Sie hatte Glück! Ich glaube nicht, dass große Zweifel an ihrer Täterschaft bestehen. Was ist eigentlich später aus ihr geworden?«

»Sie ging, glaube ich, nach Kanada. Oder war es Australien? Ein Onkel oder irgendein Verwandter bot ihr an, zu ihm zu kommen. Übrigens das Beste, was sie unter diesen Umständen tun konnte.« Fasziniert starrte Mr Sattersway auf Alex Portals rechte Hand, die das Glas umklammerte. Und wie fest sie es umklammerte!

Du zerdrückst es gleich, wenn du nicht aufpasst, dachte Mr Sattersway.

Evesham erhob sich und goss sein Glas wieder voll.

»Na ja, aber bis jetzt wissen wir immer noch nicht genauer, warum der arme Derek Capel sich erschoss«, bemerkte er. »Ein großer Erfolg war unsere Untersuchung wohl nicht, Mr Quin?«

Mr Quin lachte …

Es war ein sonderbares Lachen – spöttisch, aber zugleich traurig. Es ließ alle zusammenfahren.

»Verzeihung«, sagte er. »Sie leben immer noch in der Vergangenheit, Mr Evesham. Sie werden immer noch von Ihrer vorgefassten Meinung gehemmt. Aber ich, der Mann von draußen, der vorüberkommende Fremde, sehe nur eines: Tatsachen!«

»Tatsachen?«

»Was soll das heißen?«, fragte Evesham.

»Ich sehe eine klare Folge von Tatsachen, die Sie selbst geschildert, deren Bedeutung Sie jedoch nicht erkannt haben. Gehen wir einmal um zehn Jahre zurück und schauen wir uns an, was wir da sehen, unbekümmert um irgendwelche Vorstellungen oder Gefühle.«

Mr Quin war aufgestanden. Er wirkte sehr groß. Das Feuer hinter ihm loderte sehr wirkungsvoll.

»Sie sitzen beim Essen. Derek Capel gibt seine Verlobung bekannt. Sie glauben, es handle sich um Marjorie Dilke. Jetzt sind Sie sich dessen nicht mehr so sicher. Er ähnelt in seinem Verhalten einem ruhelosen, aufgeregten Menschen, der das Schicksal erfolgreich herausgefordert hat – der, mit Ihren eigenen Worten, trotz überwältigender Widerstände einen großen Coup gelandet hat. Dann klingelt es. Er geht hinaus, um die längst überfällige Post in Empfang zu nehmen. Er öffnet zwar keinen der Briefe; Sie erwähnten jedoch selbst, dass er die Zeitung durchblätterte, um zu sehen, was es Neues gäbe. Das alles liegt zehn Jahre zurück. Wir wissen also nicht, was es an diesem Tag Neues gab: ein Erdbeben in irgendeiner entlegenen Gegend, eine politische Krise in einem nahen Land? Das Einzige, was wir über den Inhalt der Zeitungen wissen, ist eine kleine Mitteilung, die Mitteilung, dass das Innenministerium vor drei Tagen die Erlaubnis erteilt hat, Mr Appletons Leiche zu exhumieren.«

»Wieso?«

Mr Quin fuhr fort.

»Derek Capel geht nach oben auf sein Zimmer, und dabei sieht er durch das Fenster irgendetwas. Sir Richard Conway hat uns berichtet, dass der Vorhang nicht zugezogen war und dass man auf die Auffahrt hinunterblicken konnte. Was aber sah er? Was konnte er gesehen haben, das ihn veranlasste, sich das Leben zu nehmen?«

»Was meinen Sie? Was hat er gesehen?«

»Ich glaube«, sagte Mr Quin, »dass er den Polizisten erblickte. Einen Polizisten, der wegen des Hundes gekommen war – was Derek Capel nicht wusste. Er sah lediglich – einen Polizisten.«

Es folgte eine längere Stille – als dauerte es einige Zeit, die Folgerung zu begreifen.

»Mein Gott!«, flüsterte Evesham schließlich. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein? Appleton? Aber er war doch zu der Zeit gar nicht da. Appleton starb. Der alte Mann war allein mit seiner Frau …«

»Aber eine Woche vorher könnte er dort gewesen sein. Strychnin ist nur in Form von Hydrochlorid leicht löslich. Schüttet man es in Portwein, wird der weitaus größte Teil erst in das letzte Glas gegossen – vielleicht eine Woche, nachdem er dort war.«

Portal sprang auf. Seine Stimme klang heiser, seine Augen waren blutunterlaufen.

»Warum hat sie die Karaffe fallen lassen?«, schrie er. »Warum? Sagen Sie mir das!«

Zum ersten Mal an diesem Abend wandte Mr Quin sich unmittelbar an Mr Sattersway.

»Sie besitzen große Lebenserfahrung, Mr Sattersway. Vielleicht können Sie es uns erklären.«

Mr Sattersways Stimme zitterte ein bisschen. Endlich war sein Stichwort gefallen. Er hatte die Aufgabe, einige der entscheidenden Sätze in diesem Stück zu sprechen. Er war also jetzt auch Schauspieler – nicht mehr Zuschauer.

»Meiner Ansicht nach aus folgenden Gründen«, sagte er leise und bescheiden. »Sie … mochte Derek Capel. Sie war, glaube ich, eine gute Frau – und hatte ihn abgewiesen. Als ihr Mann dann … starb, ahnte sie die Wahrheit. Und um den Mann, den sie liebte, zu retten, versuchte sie, alle Beweise, die für seine Täterschaft sprachen, zu beseitigen. Später gelang es ihm, wie ich annehme, sie zu überzeugen, dass ihr Verdacht unbegründet sei, und sie erklärte sich einverstanden, ihn zu heiraten. Aber selbst dann zögerte sie noch. Frauen haben, glaube ich, sehr viel Instinkt.«

Mr Sattersway hatte seine Rolle gesprochen.

Plötzlich erfüllte ein langer zitternder Seufzer die Luft.

»Mein Gott!«, rief Evesham und fuhr zusammen. »Was war das?«

Mr Sattersway hätte ihm sagen können, dass dieser Seufzer von Eleanor Portal kam, die oben am Geländer kauerte; er war jedoch zu sehr Künstler, um einen guten Effekt zu zerstören.

Mr Quin lächelte.

»Mein Wagen wird wieder in Ordnung sein. Ich danke Ihnen für Ihre Gastfreundschaft, Mr Evesham. Ich habe, wie ich hoffe, für meinen Freund etwas tun können.«

In offensichtlicher Verwirrung starrten sie ihn an.

»Ist Ihnen diese Seite der Angelegenheit wirklich noch nicht klar geworden? Sie wissen, er liebte diese Frau. Er liebte sie so sehr, dass er um ihretwillen sogar Selbstmord verübte. Als die Vergeltung ihn – wie er irrtümlich annahm – erreichte, nahm er sich das Leben. Ohne es zu wollen, überließ er es so jedoch ihr, die Folgen auf sich zu nehmen.«

»Sie wurde freigesprochen«, murmelte Evesham.

»Aber doch nur, weil man ihr nichts nachweisen konnte. Und ich kann mir vorstellen – es ist allerdings nur eine reine Überlegung –, dass sie selbst heute noch an den Folgen zu tragen hat.«

Portal war in einen Sessel gesunken, das Gesicht in den Händen verborgen.

Quin wandte sich an Mr Sattersway.

»Auf Wiedersehen, Mr Sattersway. Das Drama hat Sie sehr interessiert, nicht wahr?«

Mr Sattersway nickte überrascht.

»Eigentlich sollte ich die Harlekinade Ihrer Aufmerksamkeit empfehlen. Die Posse stirbt heutzutage zwar langsam aus, aber wenn man sich mit ihr beschäftigt, dann lohnt es sich. Das können Sie mir glauben. Ihre Symbolik ist manchmal etwas schwer zu begreifen aber die Unsterblichen sind immer unsterblich, wissen Sie. Ich wünsche Ihnen allen eine gute Nacht.«

Sie sahen, wie er in die Dunkelheit hinaustrat. Wie bei seinem Eintritt hatte das bunte Glas die Wirkung, dass er ein Narrengewand zu tragen schien …

Mr Sattersway ging nach oben. Er hatte die Absicht, sein Fenster zu schließen, denn die Luft war kalt. Mr Quin ging gerade die Auffahrt entlang, und aus einer Nebentür erschien plötzlich die Gestalt einer Frau. Sie rannte. Für einen Augenblick sprachen sie miteinander; dann kehrte die Frau auf demselben Weg zum Haus zurück. Unmittelbar unter seinem Fenster kam sie entlang, und Mr Sattersway war wiederum von der Lebendigkeit ihres Gesichts überrascht. Ihre Bewegungen glichen jetzt allerdings einer Frau, die sich in einem glücklichen Traum befindet.

»Eleanor!« Alex Portal war plötzlich bei ihr. »Eleanor, verzeih mir! Verzeih mir … Du hast die Wahrheit gesagt, aber ich habe an dir gezweifelt …«

Mr Sattersway interessierte sich sehr für die Angelegenheiten anderer Leute. Außerdem war er jedoch ein Gentleman. Und deshalb war es für ihn selbstverständlich, dass er das Fenster schloss.

Allerdings dauerte es etwas länger, bis er es geschlossen hatte. Er hörte noch Mrs Portal mit ihrer schönen Stimme sagen:

»Ich weiß, ich weiß! Es muss die Hölle für dich gewesen sein! So etwas habe ich auch einmal erlebt. Man liebt und möchte glauben, und immer wieder zweifelt man … dann versucht man, die Zweifel zu unterdrücken, doch sie erheben immer wieder ihr böses Gesicht – ich kenne das, Alex! Aber es gibt noch eine größere Hölle: die Hölle, in der ich mit dir gelebt habe! Ich habe deine Zweifel genau gesehen … deine Angst vor mir … unsere Liebe war davon vergiftet. Jener Mann, der Unbekannte, der zufällig vorbeikam, hat mich gerettet. Ich hätte es nicht mehr länger ausgehalten, verstehst du, Alex? Heute Abend – heute Abend wollte ich mich umbringen …«

Der Kavalier am Fenster

Hören Sie sich das an!«, sagte Lady Cynthia Drage.

Sie las laut aus der Zeitung vor, die sie in der Hand hielt.

»Mr und Mrs Unkerton geben diese Woche in Greenways House eine Party. Unter den Gästen befinden sich Lady Cynthia Drage, Mr und Mrs Richard Scott, Major Porter, Mrs Staverton, Captain Allenson und Mr Sattersway.«

Lady Cynthia legte das Blatt weg. »Gut zu wissen«, bemerkte sie, »was uns erwartet. Die haben wirklich etwas Schönes angerichtet.« Ihr Gegenüber, derselbe Mr Sattersway, dessen Name am Ende der Gästeliste stand, blickte sie fragend an. Man erzählte sich, dass Mr Sattersway stets dann in den Häusern wohlhabender, neu zugezogener Leute zu finden sei, wenn entweder die Küche ungewöhnlich gut war oder sich dort ein menschliches Drama abspielen sollte. Mr Sattersway war an den Komödien und Tragödien seiner Mitmenschen außergewöhnlich stark interessiert.

Lady Cynthia, eine Frau mittleren Alters mit einem harten Gesicht und großzügig aufgetragenem Make-up, tippte ihm mit der neuesten Schöpfung eines Regenschirms, der verwegen auf ihren Knien geruht hatte, an die Brust.

»Tun Sie nicht so, als hätten Sie keine Ahnung. Das Gegenteil ist der Fall! Ja, mehr noch, ich bin überzeugt, Sie sind nur hier, um die Sache aus nächster Nähe mitzuerleben.«

Mr Sattersway protestierte heftig. Er wüsste nicht, wovon sie überhaupt spräche.

»Ich rede von Richard Scott. Wollen Sie behaupten, dass Sie nie von ihm gehört haben?«

»Eigentlich nicht. Ist das der Großwildjäger?«

»Genau – ›Große Bären und Tiger, und so weiter‹, wie es im Lied heißt. Natürlich ist er im Augenblick selbst ein großes Tier … die Unkertons sind ganz wild darauf, ihn einzuladen … und die Braut! Ein charmantes Kind … ach, ein reizendes Kind … aber so naiv, erst zwanzig, wissen Sie, und er dürfte mindestens fünfundvierzig sein.«

»Ich finde Mrs Scott sehr charmant«, stellte Mr Sattersway gelassen fest.

»Ja, das arme Kind.«

»Warum?«

Lady Cynthia warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und ging den fraglichen Punkt auf ihre Weise an. »Porter ist in Ordnung«, fuhr sie fort, »ein langweiliger Kerl … auch einer dieser Afrikajäger, nichts als Sonnenbräune und Schweigsamkeit. Zweite Geige bei Richard Scott, was er immer war … Jugendfreunde und all so was. Wenn ich es mir recht überlege, waren sie meiner Meinung nach auch bei jener Reise zusammen …«

»Bei welcher Reise?«

»Die Reise. Die Reise von Mrs Staverton. Jetzt werden Sie behaupten, dass Sie auch von Mrs Staverton nie etwas gehört haben.«

»O doch, von Mrs Staverton habe ich gehört«, antwortete Mr Sattersway beinahe gegen seinen Willen.

Und er und Lady Cynthia wechselten einen wissenden Blick.

»Es sieht den Unkertons wirklich ähnlich«, klagte Lady Cynthia. »Sie sind einfach hoffnungslos – gesellschaftlich gesehen, meine ich. Was für ein Einfall, die beiden zusammen einzuladen! Natürlich haben sie erfahren, dass Mrs Staverton eine sportliche Person ist, die viel reist und so weiter, und sicherlich haben sie auch von ihrem Buch gehört. Leute wie die Unkertons haben nie eine Vorstellung, was für Abgründe sich auftun können! Im letzten Jahr habe ich mich persönlich um sie gekümmert. Sie ahnen nicht, was ich mitgemacht habe! Ständig musste man sie im Auge behalten. ›Tun Sie dies nicht, lassen Sie das!‹ Gott sei Dank bin ich jetzt mit ihnen fertig. Nicht, dass wir uns gestritten hätten – nein. Ich streite mich nie. Jemand anders soll sich um sie kümmern. Wie ich immer zu sagen pflege: Gewöhnlichkeit kann ich ertragen, Niederträchtigkeit nicht.«

Nach dieser etwas rätselhaften Bemerkung schwieg Lady Cynthia einen Augenblick und grübelte über die ihr von den Unkertons angetane Niederträchtigkeit nach.

»Wenn ich bei ihnen noch den Ton angeben würde«, fuhr sie dann fort, »hätte ich energisch und deutlich erklärt: Sie können Mrs Staverton und die Scotts nicht zusammen einladen. Sie waren einmal …«

Sie schwieg beredt.

»Stimmt es denn?«, fragte Mr Sattersway.

»Mein guter Mann! Es ist allgemein bekannt. Die Reise ins Landesinnere! Erstaunlich, dass die Person die Stirn hatte, die Einladung anzunehmen.«

»Vielleicht wusste sie nicht, wer noch kommen würde«, schlug Mr Sattersway vor.

»Vielleicht wusste sie es aber! Das ist viel wahrscheinlicher.«

»Sie glauben …«

»Sie ist das, was man eine gefährliche Frau nennt … die Sorte, die vor nichts zurückschreckt. An diesem Wochenende möchte ich nicht in Richard Scotts Haut stecken.«

»Seine Frau hat keine Ahnung, glauben Sie?«

»Davon bin ich überzeugt. Aber vermutlich wird sie früher oder später eine liebe Freundin aufklären. Ah, da ist ja Jimmy Allenson. So ein netter Junge! Letzten Winter hat er mir in Ägypten das Leben gerettet … ich habe mich so gelangweilt, wissen Sie. Hallo, Jimmy, kommen Sie sofort her!«

Captain Allenson gehorchte und ließ sich neben ihr auf den Rasen nieder. Er war ein gut aussehender junger Mann von etwa dreißig Jahren, mit weißen Zähnen und einem ansteckenden Lächeln.

»Ich bin froh, dass ich jemandem Gesellschaft leisten kann«, bemerkte er. »Die Scotts ziehen die Schau mit den Turteltauben ab, Porter verschlingt die Zeitung, und es bestand die tödliche Gefahr, dass unsere Gastgeberin sich mit mir unterhalten wollte.«

Er lachte. Lady Cynthia stimmte ein. Mr Sattersway, der in gewisser Weise etwas altmodisch war und selten über seine Gastgeber spottete, solange er in ihrem Haus weilte, blieb ernst.

»Armer Jimmy!«, sagte Lady Cynthia.

»Ich bin geflüchtet. Um ein Haar hätte sie mir die Geschichte von dem Familiengeist erzählt.«

»Der Geist der Unkertons«, rief Lady Cynthia. »Zum Totlachen!«

»Nein, kein Geist der Unkertons«, sagte Mr Sattersway. »Er gehört zu Greenways. Sie haben ihn mit dem Haus zusammen gekauft.«

»Natürlich«, erwiderte Lady Cynthia. »Ich erinnere mich. Aber er rasselt nicht mit den Ketten, nicht wahr? Es hat irgendetwas mit einem Fenster zu tun.«

Jimmy Allenson blickte auf. »Mit einem Fenster?«

Aber Mr Sattersway antwortete nicht. Er blickte über Jimmys Kopf hinweg auf die Gestalten, die aus der Richtung des Hauses auf sie zuschritten – eine schlanke Frau zwischen zwei Männern. Oberflächlich betrachtet schienen sich die Männer zu gleichen, beide waren groß und dunkelhaarig, mit gebräunten Gesichtern und scharfen Augen, doch bei genauerer Betrachtung verschwand diese Ähnlichkeit.

Richard Scott, Jäger und Forscher, war eine sehr energisch wirkende Persönlichkeit. Sein Wesen strahlte eine große Anziehungskraft aus. John Porter, sein Freund und Begleiter, war untersetzter, mit einem ruhigen, eher verschlossenen Gesicht und sehr nachdenklichen grauen Augen – ein schweigsamer Mann, der es zufrieden war, stets die zweite Geige zu spielen.

Zwischen ihnen ging Moira Scott, die vor drei Monaten noch Moira O’Connell geheißen hatte, eine schlanke Frau mit großen, sehnsuchtsvollen braunen Augen und goldrotem Haar, das ihr schmales Gesicht wie ein Heiligenschein umgab.

Diesem Kind darf man nicht wehtun, dachte Mr Sattersway im Stillen. Es wäre schrecklich, wenn einem Kind wie ihr wehgetan würde.

Lady Cynthia begrüßte die Ankömmlinge, indem sie das neueste Modell eines Sonnenschirms schwenkte. »Setzen Sie sich und unterbrechen Sie uns nicht«, sagte sie. »Mr Sattersway erzählt gerade eine Geistergeschichte.«

»Ich liebe Geistergeschichten«, antwortete Moira Scott und ließ sich ins Gras sinken.

»Handelt es sich um den Geist von Greenways House?«, fragte Richard Scott.

»Ja. Wissen Sie über ihn Bescheid?«

Scott nickte. »Früher war ich oft hier«, erklärte er. »Bevor die Elliots verkaufen mussten. Er heißt ›Der Kavalier am Fenster‹.«

»›Der Kavalier am Fenster‹«, sagte seine Frau leise. »Das gefällt mir. Es klingt sehr interessant. Bitte, erzählen Sie doch, Mr Sattersway!«

Aber Mr Sattersway schien aus irgendwelchen Gründen keine Lust zu haben. Er versicherte ihr, dass die ganze Geschichte gar nicht so spannend sei.

»Jetzt ist es um Sie geschehen, Sattersway«, meinte Scott spöttisch. »Mit Ihrem Zögern haben Sie sich nur noch mehr hineingeritten.«

Alle baten ihn jetzt so eindringlich, dass sich Mr Sattersway nicht länger weigern konnte.

»Es ist wirklich nicht besonders interessant«, begann er entschuldigend. »Ich glaube, in der Originalversion handelte es sich um einen Edelmann der Familie Elliot, dessen Frau einen Puritaner zum Liebhaber hatte. Es spielt zu Zeiten Karls I. Der Liebhaber tötete den Ehemann in einem Zimmer im ersten Stock, und das Pärchen floh. Doch sie wandten sich noch einmal zum Haus um und sahen das Gesicht des Toten am Fenster, wie er ihnen nachblickte. So ist die Legende, aber in der Geistergeschichte geht es eigentlich nur um eine Scheibe in einem Fenster dieses Zimmers, auf der sich ein unregelmäßig geformter Fleck befindet. Aus der Nähe betrachtet fällt er fast nicht auf, doch wenn man ihn von weitem sieht, gleicht er einem menschlichen Gesicht.«

»Welches Fenster ist es?«, fragte Mrs Scott und blickte zum Haus.

»Von hier aus kann man es nicht sehen«, erklärte Mr Sattersway. »Es befindet sich auf der andern Seite. Vor einigen Jahren – ich glaube, vor genau vierzig – wurde es von innen vernagelt.«

»Warum hat man das getan? Sagten Sie nicht, der Geist könne nicht laufen?«

»Das kann er auch nicht«, versicherte Mr Sattersway. »Ich vermute – nun, vermutlich geschah es aus einem gewissen Aberglauben heraus. Das ist alles.«

Dann brachte er es sehr geschickt fertig, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. Jimmy Allenson war mehr als bereit, von den ägyptischen Wüstenwahrsagern zu berichten.

»Die meisten von ihnen sind Betrüger, durchaus willens, Ihnen irgendwelches Zeug aus Ihrer Vergangenheit zu erzählen, doch was die Zukunft betrifft, so wollen sie sich nicht festlegen.«

»Ich hätte gedacht, es wäre genau umgekehrt«, bemerkte John Porter.

»Die Zukunft vorauszusagen ist in diesem Land doch illegal, nicht wahr?«, sagte Richard Scott. »Moira überredete eine Zigeunerin, ihr wahrzusagen, doch dann gab ihr die Frau den Shilling zurück und erklärte, sie könnte es doch nicht tun.«

»Vielleicht entdeckte sie etwas so Schreckliches, dass sie es nicht verraten wollte«, meinte Moira.