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Sylt 1872: Die junge Geesche ist die einzige Hebamme auf der Nordseeinsel. Als in einer stürmischen Nacht zwei Frauen vor ihrer Tür stehen, die beide ihre Hilfe brauchen, fällt sie eine schicksalhafte Entscheidung. Die Jahre vergehen, Marinus, ein angesehener Ingenieur, der beim Bau der Inselbahn mitwirkt, hält um ihre Hand an, und Geesches Glück scheint perfekt. Doch dann zeigt sich, dass die vergessen geglaubten Ereignisse der Sturmnacht ihr Leben für immer verändern werden.
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Seitenzahl: 723
Sylt, 1872. Die junge Hebamme Geesche hilft in einer Sturmnacht zwei Kindern auf die Welt: Hannah und Elisa. Ihre Mütter könnten nicht unterschiedlicher sein, denn während Hannas Mutter eine arme Fischersfrau ist, stammt Elisas Mutter aus einem reichen Adelsgeschlecht. Elsa kommt gesund zur Welt, Hannah nicht. In derselben Nacht ereilt Geesche ein weiteres schweres Schicksal: Ihr Verlobter kommt auf der Baustelle der Inselbahn ums Leben. Sechzehn Jahre später hadert Geesche immer noch mit der unheilvollen Nacht und den schweren Entscheidungen, die sie damals treffen musste. Als das Glück und eine neue Liebe in Gestalt des Bauingenieurs Marinus in ihr Leben tritt, muss sie sich fragen, ob es jemals möglich sein wird, die Vergangenheit hinter sich zu lassen … Eine dramatische Geschichte über eine schicksalshafte Entscheidung, die das Leben von fünf Frauen für immer verändert – vor der historischen Kulisse Sylts, dem Bau der Inselbahn und dem Beginn des Tourismus auf der heute beliebtesten Ferieninsel Deutschlands.
Gisa Pauly hat zwanzig Jahre lang als Berufsschullehrerin gearbeitet, ehe sie das Unterrichten an den Nagel hängte und sich ganz dem Schreiben widmete. 1994 erschien ihre erste Veröffentlichung, ein Sachbuch, darauf folgten zahlreiche Drehbücher und Romane. Mit den Sylt-Krimis rund um Mamma Carlotta erobert sie Jahr um Jahr die Bestsellerlisten – und auch ihre historische Sylt-Saga rund um das fiktive Hotel und Café »König Augustin« eroberte direkt nach Erscheinen die SPIEGEL-Liste und die Herzen ihrer Fans. Gisa Pauly zählt heute zu den erfolgreichsten Autorinnen im deutschsprachigen Raum.
Gisa Pauly
Die Hebamme von Sylt
ROMAN
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Neuausgabe 01/2024Copyright © 2011 by Gisa PaulyCopyright © 2011 der Originalausgabe by Rütten & Loening, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KGCopyright © 2024 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: zero-media.net, nach einer Vorlage und Motiven von: Trevillion Images (Magdalena Russocka), Getty Images (Jorg Greuel), FinePic®, München
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-29468-7V001
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Es war das Jahr 1872, als sich Geesche Jensens Leben grundlegend veränderte. Ein kalter Sommer, der noch nicht viele heiße Tage gehabt hatte! Das Unwetter, das über die Insel fuhr, war nicht das erste dieses Sommers, aber das schlimmste. Der Sturm jagte die Wellen gegen den Strand, das Tosen der Brandung war auf der ganzen Insel zu hören. Viele Klänge hatte er, dieser Wind, er heulte in den Fenstern und Türen, pfiff im Reet der Dächer und fuhr mit dem Schrei einer Möwe nieder, als hätte der Sturm einen spitzen Schnabel und scharfe Krallen. Am schlimmsten aber war das Fauchen des Meeres, das ferne Grollen der Wellen, ihr Brüllen, wenn sie sich überschlugen, sich auf den Sand warfen und sich zischend zurückzogen, als wollten sie eine Warnung hinterlassen. Aus einem schwülen, drückenden Tag war dieser Sturm entstanden, einem Tag, an dem jeder auf ein reinigendes Gewitter gehofft hatte. Dass daraus ein solches Wüten, eine derartige Wucht, eine so kalte, vernichtende Kraft entstehen würde, hatte niemand erwartet. Auch die alten Seefahrer nicht, die sich mit allen Wetterlagen auskannten, die nur lange in den Himmel blicken mussten, um dann an den Wolkenbildungen, der Windrichtung und dem Verhalten der Möwen zu erkennen, was der Insel bevorstand. Sie alle hatten diesmal versagt.
Geesche fragte sich, wie viele Fischer hinausgefahren sein mochten. Jens Boyken hatte sich aufgemacht, wie sie wusste. Gegen Mittag war sie an seinem Haus vorbeigekommen, da hatte er seine Netze vorbereitet und die Reusen zusammengelegt.
»Willst du Freda wirklich allein lassen?«, hatte sie ihn gefragt.
»Du hast gesagt, es kann noch eine Woche dauern, bis das Kind kommt«, hatte Jens in seiner mürrischen Art zurückgegeben. »Soll ich eine Woche auf den Fang verzichten? Und was, wenn es zwei Wochen werden?«
Es konnte aber auch schon in der nächsten Nacht losgehen. Gerade in den Sturmnächten wurden viele Kinder geboren. Wenn sich in der Natur etwas veränderte, setzten die Wehen oft früher ein, wenn das Wetter umschlug, der Mond wechselte oder eine Gefahr näher kam. Freda würde Angst vor dem Alleinsein haben, vor allem wenn Ebbo den Vater begleitet hatte. Ob Geesche zu ihr gehen sollte, um nach ihr zu sehen?
Nachdenklich ging sie zum Fenster der Küche und blickte hinaus. Die Nacht war schwarz, kein Stern zu sehen, der Mond lag hinter den Wolken verborgen. Sie jagten vermutlich über den Himmel, aber so dicht waren sie, dass sie kein Licht hindurch ließen. So war der Sturm nur zu hören, nicht zu sehen.
Wo mochte Andrees sein? Hoffentlich war er nicht von seinem Vater gebeten worden, mit hinauszufahren. Andrees ließ sich gerne bitten, das wusste Geesche. Eigentlich war er immer noch Fischer mit Leib und Seele, hatte nie etwas anderes sein wollen. Dass er nun dabei half, die Trasse zu bauen, auf der irgendwann einmal eine Inselbahn fahren sollte, war sein größtes Unglück. Doch ein Fischerboot ernährte nur eine Familie, und selbst das nur mit Müh und Not.
»Soll ich warten, bis mein Vater zu alt und zu schwach ist, um die Netze zu heben? Warten, dass er mir sein Boot überlässt?«, hatte er sie oft gefragt.
Dass dieser Tag kommen würde, war zwar eine kleine Hoffnung, aber keine wirkliche Perspektive. Und dem Vater ein Ende des Fischfangs zu wünschen, das war sogar eine Sünde. Nein, Andrees brauchte dringend ein eigenes Boot, um als Fischer sein Auskommen zu haben. Die Arbeit an der Trasse der Inselbahn machte einen anderen Menschen aus ihm. Jeden Tag ein bisschen mehr. Morgen würde er wieder ein wenig unglücklicher sein als gestern und übermorgen erneut davon reden, dass das Leben keinen Sinn hatte, wenn er nicht täglich auf das Meer hinauskonnte. Und erst recht nicht, wenn er sein Geld mit etwas so Sinnlosem verdiente wie der Idee, dass irgendwann eine Eisenbahn über die Insel fahren und Sommerfrischler vom Hafen Munkmarsch nach Westerland bringen sollte. Niemand glaubte an die ehrgeizigen Pläne von Dr. Julius Pollacsek, der aus Westerland ein blühendes Seebad machen wollte. So hatte der selbst ernannte Kurdirektor auch nur wenig Unterstützung auf Sylt gefunden. Kaum jemand war bereit, ihm dabei zu helfen, die Voraussetzungen für die Inselbahn zu schaffen, die Dr. Pollacsek sogar selbst finanzieren wollte. Lediglich einen Haufen junger Männer gab es, die froh über jede Beschäftigung waren. Sogar einige Strandräuber waren darunter, die jede Gelegenheit nutzten, um zu Geld zu kommen.
»Was ist das für eine Arbeit!«, klagte Andrees oft. »Ich tu was Sinnloses, nur um nicht zu verhungern. In zwanzig Jahren wird niemand mehr wissen, warum etwas so Überflüssiges wie diese Eisenbahntrasse gebaut wurde. Eine Inselbahn? Sinnlos! Alles sinnlos!«
Jedes Mal, wenn er das sagte, hatte Geesche Angst, dass er bald auch keinen Sinn mehr darin sehen könnte, sich eine gemeinsame Zukunft mit ihr auszumalen. Manchmal fürchtete sie sogar, dass er in seiner eigenen Zukunft keinen Sinn mehr sah. Was sollte geschehen, wenn er den Sinn des Lebens aus den Augen verlor?
Sie riss sich vom Fenster los, verließ die Küche und trat auf den Flur, der das Haus in Wohn- und Wirtschaftsteil gliederte, wie es in friesischen Häusern üblich war. Aber Geesche hatte diese Aufteilung verändert. Aus der Kammer des Wirtschaftsteils hatte sie den Raum gemacht, in dem die Frauen gebären konnten, die bei ihr, der einzigen Hebamme der Insel, Hilfe suchten; aus der Dreschtenne sollte demnächst ein Raum werden, der an Sommerfrischler zu vermieten war. Immer mehr kamen nach Sylt, manche blieben sogar den ganzen Sommer. Und wenn die Inselbahn zwischen dem Fährhafen Munkmarsch und Westerland wirklich einmal fahren sollte, würden es noch mehr werden. Vielleicht konnte sie dann auch den Stall umbauen, der an der Westseite die ganze Tiefe des Hauses einnahm. Sommerfrischler brachten Geld auf die Insel, und Geesche brauchte Geld, damit Andrees sich sein eigenes Fischerboot kaufen konnte. Aber sie brauchte es bald. Bis die Inselbahn ihre erste Fahrt machte, würden noch viele Jahre vergehen. Wenn die Pläne von Dr. Pollacsek überhaupt in die Tat umzusetzen waren! Andrees glaubte nicht daran.
Ein so gespenstisches Heulen fuhr unter der Eingangstür her, dass Geesche sich erschrocken an die Wand drängte. Wenn Andrees doch nur daran glauben könnte, dass es für Sylt eine neue Zukunft gab, wenn immer mehr Fremde auf die Insel kamen! Dr. Pollacsek behauptete, es kämen fette Jahre auf diejenigen zu, die Fremdenzimmer zu vermieten hatten. Und ihr Haus war groß genug dafür! Sie würden ihr Auskommen haben, wenn auch Andrees sich auf Dr. Pollacseks Ideen einließ.
Aus dem Stall drang aufgeregtes Gackern, als der Wind einen schweren Eimer gegen die Stalltür schlug. Wie lange würde Andrees sein Unglück noch ertragen? So lange, bis sie den Stall zu Fremdenzimmern gemacht hatte? Geesche schüttelte den Kopf. Nein, so viel Zeit würde ihr das Schicksal wohl nicht lassen.
Noch war der Stall in dem Zustand, in dem er gewesen war, als ihr Vater das Haus von seinen Eltern übernommen hatte. Zu seinen Lebzeiten waren dort Schweine und Federvieh gehalten worden. Als er starb und auch die Mutter bald das Zeitliche segnete, hatte Geesche sich entschlossen, die Schweine abzuschaffen. Nun hielt sie nur noch ein paar Hühner und Enten dort. Die Schafe, die sie außerdem besaß, kamen nicht in den Stall, sie blieben bei jeder Wetterlage auf der Weide. Wenn sie den Hühnern und Enten einen Verschlag im Garten bauen ließ, würde sie in dem Stall ebenfalls Fremdenzimmer einrichten können.
Geesche nahm die Petroleumlampe mit ins Gebärzimmer und leuchtete es aus. Ja, alles war an seinem Platz. Sollte Freda Boyken heute noch niederkommen, würde sie hier frische Laken vorfinden, einen sauberen Bottich für das Wasser, das Geesche auf der Feuerstelle ihrer Küche warmhielt, und alles, was für den Säugling gebraucht wurde, wenn er auf der Welt war. Auch Brot, Getreidegrütze und Bier hielt sie bereit, falls die Mutter nach der Geburt bereit war für eine Stärkung, wie Geesche sie gern empfahl.
Sie ging zurück in den Flur, wo ein großes wollenes Tuch auf einem Haken hing. Das legte sie sich gerade um, als sie spürte, dass jemand auf das Haus zukam. Schritte waren nicht zu hören, dazu war das Fauchen und Heulen des Windes zu laut, aber dass der Kies knirschte, blieb Geesche dennoch nicht verborgen. Sie kannte die Geräusche der Insel, wusste jeden Ton zu deuten, den sie erlauschte. Schon wieder raschelte es im Kies. Andrees? Warum kam er leise und heimlich zu ihr? Oder schleppte er sich mühsam zu ihrer Tür? Ging es ihm schlecht? Noch schlechter? So schlecht, dass er es nicht mehr aushielt?
Derart heftig stieß Geesche die Tür auf, als käme es auf jede Minute an. Als könnte Andrees im nächsten Augenblick noch zu retten sein und schon im übernächsten davon reden, dass er ins Watt gehen würde, weil das Leben keinen Sinn mehr hatte, wenn er kein Fischer sein durfte.
Mit aller Kraft hielt sie die Tür fest, damit der Sturm sie ihr nicht aus der Hand schlug. Aber sie konnte nicht verhindern, dass er mit gierigen Böen ins Haus fuhr.
Freda Boyken war es, die mit schweren Schritten auf das Haus zukam. Geesche sah sofort, dass ihre Stunde gekommen war. Sie streckte Freda die Hand entgegen, ergriff sie, kaum dass sie die Schwangere erreichen konnte, ohne die Tür dem Wind zu überlassen, und zog sie ins Haus.
»Seit wann hast du Wehen?«
Freda richtete sich stöhnend auf und griff sich in den Rücken, als Geesche die Tür geschlossen hatte. »Noch nicht lange«, keuchte sie. »Aber ich dachte, es ist besser, wenn ich schon jetzt zu dir komme. Falls der Sturm noch schlimmer wird …«
»Dann hättest du am Ende den Weg nicht mehr geschafft«, vollendete Geesche und schob Freda zur Tür des Gebärzimmers. »Ist Ebbo etwa mit Jens rausgefahren?«
Freda schüttelte den Kopf. »Er will zum Strand gehen und sich umhören. Vielleicht ist einer der Fischer rechtzeitig umgekehrt und weiß, was mit den anderen geschehen ist.« Freda ging zu dem Strohlager in der Mitte des Raums, über das Geesche frische weiße Laken gebreitet hatte. Sie drehte sich nicht um, als sie fragte: »Er wird doch zurückkommen? Er wird doch nicht ausgerechnet heute …?«
Geesche erwartete nicht, dass sie den Satz zu Ende sprach, und sie beantwortete die Frage nicht. Dass ein Fischerboot nicht zurückkehrte, gehörte zum Sylter Alltag. In einem solchen Fall war es eine Gnade, wenn der Fischer Tage später an den Strand gespült wurde und dort beerdigt werden konnte, wo seine Wurzeln waren. Das Allerschlimmste war, wenn ein Fischer auf See blieb.
Geesche ging zu ihr, als Freda sich unter der nächsten Wehe krümmte. Sie betastete ihren Leib, dann griff sie nach Fredas Hand. »Das dauert noch«, sagte sie. »Lass uns in die Küche gehen und einen Becher Tee trinken. Dort ist es warm, da vergeht die Zeit schneller als hier.« Sie nickte zu dem Strohbett, das weder warm noch bequem aussah, sondern nichts als zweckdienlich war. Wenn die Geburt in Gang war, würde Freda von der Kälte in diesem Raum nichts mehr spüren. Aber bis es so weit war, war sie in der warmen Küche besser aufgehoben. Freda hatte Angst, das sah Geesche. Nicht nur vor der Geburt, sondern auch um ihren Mann. Wichtig war es jetzt, ihr Zuversicht zu geben und sie abzulenken.
Freda nickte dankbar und folgte Geesche. Schwer ließ sie sich in der Küche auf einen Stuhl fallen und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Wenn nur Jens da wäre …«
Geesche wandte Freda den Rücken zu, während sie den Tee aufgoss, weil sie fürchtete, dass ihrem Gesicht die Sorge abzulesen war. Wer in dieser Nacht hinausgefahren war, musste früh genug bemerkt haben, dass ein Wetter aufzog, dann war vielleicht noch Zeit zum Umkehren gewesen. Wer die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt hatte, der kämpfte nun da draußen ums Überleben. Ob Andrees auch zu ihnen gehörte? Dann würde sie ihn vielleicht ans Meer verlieren. Noch in dieser Nacht! Andererseits war sie sicher, dass er gerade auf dem Meer um sein Leben kämpfen und den Kampf erst verloren geben würde, wenn der blanke Hans nach ihm griff! An Land ließ er sich schon lange nicht mehr aufs Kämpfen ein. Hier gab er sein Leben Stück für Stück hin, als wäre es nichts wert. Im Boot seines Vaters aber würde ihm das Leben kostbar genug sein, um es gegen die Naturgewalten zu verteidigen. Ja, überleben würde er am ehesten auf dem Meer. Aber was kam dann?
»Nur gut, dass dein Andrees nicht mit seinem Vater hinausgefahren ist«, sagte Freda in diesem Augenblick.
Geesche fuhr zu ihr herum. »Woher weißt du das?«
»Seine Tante war bei mir, kurz nachdem Jens losgezogen war. Sie sagte, Andrees habe seinen Vater begleiten wollen, aber der wollte es nicht zulassen. Weil Andrees doch schon in der Frühe von Dr. Pollacsek erwartet wird. Wie soll er für ihn arbeiten, wenn er in der Nacht auf See war und nicht geschlafen hat? Und was wäre, wenn die Fischer nicht pünktlich zurückkommen? Dann verliert er womöglich seine Stelle. Und was dann?«
Freda sah Geesche fragend an. Aber die zuckte nur mit den Schultern. Was dann? Das eine war für Andrees so schrecklich wie das andere. Die Arbeit an der Trasse der Inselbahn machte ihn genauso unglücklich wie die Aussicht auf ein Leben in tiefer Armut. Wer als Halmreeper mit dem Drehen von Halmen für Wäscheleinen und Binsen für sein Auskommen sorgen musste oder als Fischer auf dem Boot eines anderen, der verdiente kaum sein tägliches Brot. So einer schloss sich oft den Strandräubern an, um zu überleben. Aber Andrees würde vermutlich nicht einmal das tun. Wieder griff die Angst nach ihr, dass sie Andrees an ihren Traum von der Zukunft verlieren würde.
»Wenn er doch endlich sein eigenes Boot hätte«, sagte sie, »dann könnte er wieder glücklich sein.«
Sie stellte fest, dass Freda ruhiger wurde, als sie einen Becher mit heißem Tee in der Hand hatte und ihn vorsichtig schlürfte. Gelegentlich setzte sie ihn ab, schloss die Augen, beugte sich vor, legte die Stirn auf die Tischplatte und stöhnte leise. Aber die Abstände zwischen den Wehen waren noch groß. Fredas Kind würde erst in ein paar Stunden zur Welt kommen. Heimlich hoffte Geesche, dass Jens Boyken bis dahin zurückgekehrt war.
Das Schweigen trat nun in die Küche wie ein hoher Gast, der alle anderen mundtot machte. Freda war in Gedanken bei ihrem Mann, dachte an die bevorstehende Geburt, faltete die Hände, als wollte sie um göttlichen Beistand bitten. Geesches Gedanken wanderten zu Andrees. Ob er auch zum Strand gegangen war, um nach den heimkehrenden Fischern Ausschau zu halten? Oder nach dem ersten Strandgut, mit dem das Unheil verkündet wurde? Dann würde er hoffentlich auf Ebbo, Fredas Stiefsohn, aufmerksam werden und dafür sorgen, dass der Siebenjährige sicher nach Hause kam und bei den Nachbarn Unterschlupf fand, bis Freda wieder bei Kräften war.
Das Heulen des Windes verlor sein Gleichmaß. Es gab nun Augenblicke, da fiel es in sich zusammen, da tat sich eine kurze, unheimliche Stille auf, dann aber rüttelte der Sturm umso heftiger an den Türen und Fenstern.
In eine winzige Flaute hinein drang plötzlich ein anderes Geräusch, das nicht in diese Sturmnacht passte, ein leichtes Klappern, ganz und gar unwirklich für diesen finsteren bedrohlichen Abend.
Auch Freda war aufmerksam geworden. Und sie sprach aus, was Geesche nicht glauben mochte: »Pferde?« Und dann, als sich neben dem Getrappel auch das Rumpeln großer Räder näherte: »Eine Kutsche?«
Geesche sprang auf und lief in den Flur. Dort blieb sie stehen und lauschte. Nun wieder schien nur der Sturm vor dem Haus zu stehen, aber das Hufgetrappel und die Räder der Kutsche hatten sich nicht entfernt, nein, sie waren zum Stillstand gekommen.
Geesche raffte ihr wollenes Tuch vor der Brust zusammen, bevor sie die Tür öffnete. Die Kutsche, die vor ihrem Haus stand, erkannte sie sofort. Sie gehörte dem Grafen von Zederlitz, der mehrere Monate des Jahres auf Sylt verbrachte. Den Kutscher, der nun auf Geesche zutrat, hatte er von seinem schleswig-holsteinischen Gut mit nach Sylt gebracht.
Der Mann tippte mit der rechten Hand an seine Mütze, während er sie mit der linken festhielt. »Mein Herr schickt mich«, sagte er. »Ich soll die Hebamme holen. Bei der Gräfin haben die Wehen eingesetzt.« Er wies zur Kutsche. »Bitte! Es eilt!«
Geesche hörte ein Scharren hinter sich und drehte sich um. Freda war in der Küchentür erschienen und starrte den Kutscher ängstlich an.
»Das geht nicht«, sagte Geesche und gab dem Mann einen Wink, damit er eintrat und sie ihr Haus vor dem Wind verschließen konnte. »Ich habe schon eine Gebärende aufgenommen. Die kann ich nicht allein lassen.«
Der Kutscher betrachtete Freda, die zur Tür des Gebärzimmers ging, als wollte sie damit ihr Recht verdeutlichen.
»Aber mein Herr hat mir aufgetragen …«, begann er, brach dann aber ab, weil er einsah, dass die Hebamme eine Frau, die sich soeben in ihre Obhut begeben hatte, nicht wegschicken konnte. Ratlos sah er sie an. »Was soll ich meinem Herrn sagen?«
»Bring die Frau Gräfin zu mir«, antwortete Geesche. Und als der Mann zögerte, ergänzte sie: »In der Kutsche hat sie es bequem. Ich richte währenddessen alles her.« Und beruhigend, damit der Kutscher unbesorgt zurückfahren und ohne Angst vor seinen Herrn treten konnte, fügte sie hinzu: »Ich bereite für die Frau Gräfin in der Küche ein Lager vor. Dort ist es warm.«
»In der Küche?« Der Mann sah sie zweifelnd an.
Geesche schob ihn zur Tür. »In meiner Küche gibt es einen Alkoven. In das Bettzeug gebe ich einen Bettwärmer. Sie wird es bequem und warm bei mir haben. Sag deinem Herrn, es ist alles bereit für seine Gemahlin.« Sie öffnete die Tür und drängte den Kutscher aus dem Haus. »Trödel nicht! Je eher die Gräfin zu mir kommt, desto besser.«
Dem Kutscher war nicht wohl zumute, aber er verzichtete auf jeden Disput. Kurz darauf drangen seine Rufe durch den Wind, mit denen er die Pferde antrieb.
Freda stand noch immer ängstlich in der Tür des Gebärzimmers. »Keine Sorge, Freda«, sagte Geesche, »ich werde es schon schaffen, mich auch um dich zu kümmern.«
Sie betrachtete Freda besorgt, die sich in der nächsten Wehe krümmte. Freda war Erstgebärende, die Geburt konnte sich noch stundenlang hinziehen. Die Gräfin dagegen hatte schon zwei oder drei Totgeburten erlitten, Geesche wusste auch von mehreren Fehlgeburten. Wenn sie im Haus der Hebamme ankam, würde vermutlich alles schnell gehen. Geesche biss sich auf die Lippen. Hoffentlich konnte sie der armen Frau ein gesundes Kind in die Arme legen.
Freda riss sie aus ihren Gedanken. »Meinst du, der Graf ist bereit, seine Frau durch diese Sturmnacht zu kutschieren?«
»Er wird es müssen«, sagte Geesche und fühlte sich längst nicht so resolut, wie sie sich gab. »Hoffentlich beeilt der Kutscher sich.« Dann gab sie sich einen Ruck und ging in die Küche. »Leg dich hin«, rief sie zurück.
Aber Freda folgte ihr. »Ich helfe dir«, sagte sie. »Das lenkt mich ab.«
Während Geesche die beiden Flügeltüren des Alkovens öffnete, füllte Freda den Sand in den Bettwärmer, den sie auf der Feuerstelle erhitzte, damit er der Gräfin ins Bett gelegt werden konnte. Geesche riss die Laken herunter, obwohl bisher niemand darauf gelegen hatte, und breitete frische über dem Stroh aus.
Das Alkovenbett in der Küche wurde selten benutzt, Geesche schlief in dem Alkoven des Wohnzimmers. Aber jedes friesische Haus hatte auch in der Küche einen Alkoven, damit ein Familienmitglied, das krank war, in der Küche einen warmen Platz hatte und nicht allein sein musste.
Ob die Gräfin damit zufrieden sein würde? Dass sie eine bevorzugte Behandlung erfuhr, indem sie in der warmen Küche gebären durfte, würde ihr vermutlich nicht aufgehen. Sie hatte selbstverständlich erwartet, in ihrem eigenen Bett niederzukommen, umgeben von den Dienstboten, die sie mit nach Sylt gebracht hatte, und gewöhnt an den Komfort, den ihr Haus bot. Geesche spürte, dass Angst in ihr hochstieg. Was, wenn auch diese Geburt kein gutes Ende nahm? Dieses Kind des gräflichen Paares war das erste, das auf Sylt geboren werden sollte. Was würde mit der Hebamme geschehen, wenn auch dieses Kind tot zur Welt kam? Der Gedanke an Andrees schoss wie ein Blitz durch ihren Kopf. Wenn sie ihren guten Ruf als Hebamme verlor, würde es mit ihrer gemeinsamen Zukunft noch schlechter bestellt sein. Zwar wurde sie meistens nicht mit Geld, sondern mit Nahrungsmitteln entlohnt, aber diese Arbeit sicherte ihr Leben und konnte auch das Überleben eines Mannes sichern. Vorausgesetzt, dieser Mann war nicht zu stolz, ihre Hilfe anzunehmen …
Als erneut das Pferdegetrappel durch den Wind drang, fragte Geesche sich, ob der Graf es zulassen würde, dass sie sich auch um Freda kümmerte, während seine Frau in den Wehen lag. Geesche würde Gelegenheit haben, ihr Fingerspitzengefühl zu beweisen. Und als sie Freda ins Gesicht sah, wurde ihr klar, dass sie die gleichen Gedanken hatte.
»Es wird alles gut«, sagte Geesche, ehe sie zur Tür ging.
Als sie öffnete, drang der scharfe Ruf eines Mannes an ihr Ohr, der es gewöhnt war zu befehlen. Der Kutscher hob die Gräfin aus der Kutsche und trug sie Geesche entgegen, gefolgt von dem Grafen, der nervös und ungehalten war.
»Ich habe Sie in meinem Haus erwartet«, herrschte er Geesche an, während der Kutscher die Gräfin vorsichtig auf die Füße stellte.
»Sie wissen doch …«, begann Geesche, aber jede Erklärung wurde überflüssig, als Fredas unterdrückter Schrei aus der Küche drang.
Entsetzt sah die Gräfin zu der geöffneten Tür, in der Freda erschien und sich Mühe gab, einen Schritt vor den anderen zu setzen, um über den Flur ins Gebärzimmer zu gelangen. Als Geesche ihr beispringen wollte, wehrte sie erschrocken ab. Nein, die Gräfin hatte Vorrang! Freda hätte sich in Grund und Boden geschämt, wenn Geesche sich um sie gekümmert hätte, während Gräfin Katerina von Zederlitz auf die Zuwendung der Hebamme warten musste. Die arme Fischersfrau Freda Boyken war froh, dass sie in dem Haus bleiben durfte, in dem auch die Gräfin niederkam, und wenigstens darauf vertrauen konnte, dass ihr notfalls geholfen wurde, wenn sie es allein nicht schaffte, ihr Kind auf die Welt zu bringen.
Geesche verstand. Sie griff nach dem Arm der Gräfin, um sie in die Küche zu führen … und in diesem Augenblick geschah es. Das Haus wurde mit einem Mal in grelles Licht getaucht. Kein Blitz, nein, ein Leuchten, das dem Himmel für Sekunden seine Farbe nahm. Die Schwärze ging in einem weißen Schein auf, vor dem alles Große klein und alles Kleine noch winziger wurde. Scharf umrissen und rabenschwarz blitzte alles auf, was zu Sylt gehörte, auch das Inventar im Haus der Hebamme und die Menschen, die sich dort zusammengefunden hatten.
Als die Schwärze so schnell zurückkehrte, wie sie gegangen war und die Nacht sich wieder über diesen grellen Augenblick senkte, begriff Geesche, dass etwas geschehen würde. Dies war kein Wetterleuchten gewesen, es musste das Auflodern des Schicksals gewesen sein. Was würde in dieser Nacht geschehen? Ihre Hände zitterten, als sie die Gräfin in ihre Küche führte, und sie spürte, dass diese ihre Unruhe bemerkte …
Gegen Morgen wurden kurz hintereinander zwei Mädchen geboren, keine halbe Stunde nachdem es noch einmal ein Wetterleuchten gegeben hatte. Und als die Neugeborenen auf der Welt waren, bestätigte sich, was Geesche beim Eintreffen der Gräfin gefühlt hatte. Die Warnung des Schicksals! Während der Nacht hatte sie Mühe gehabt, beiden Frauen gerecht zu werden, der Gräfin gemäß ihrer Vorrangstellung die größere Aufmerksamkeit zu schenken, aber Freda darüber nicht ganz zu vergessen. Dass das Wetterleuchten wie eine Warnung gewesen war, hatte sie verdrängt, ebenso die Frage, wovor sie gewarnt werden könnte. Sie beantwortete sich später von selbst. Schon bald, nachdem die beiden Mädchen gewaschen, gewickelt und gemeinsam in die einzige Wiege gelegt worden waren, die Geesche besaß. Dicht nebeneinander lagen sie da, als gäbe es keinen Unterschied zwischen dem Neugeborenen einer Gräfin und einer Fischersfrau. So lange, bis der Graf seine Tochter heraushob und verlangte, dass sie so schnell wie möglich in sein Haus gebracht wurde …
Sechzehn Jahre später war Geesche Jensen zu einer stattlichen Frau geworden. Groß war sie, größer als die meisten Sylterinnen und nicht so dünn wie viele von ihnen, die nur mit Mühe ihr Auskommen hatten und schlecht ernährt waren. Ihr Gesicht war immer noch weich und mädchenhaft, ihre blonden Haare, die sie in dicken Flechten um den Kopf gelegt hatte, wiesen keine einzige graue Strähne auf, obwohl sie in zwei Jahren ihren vierzigsten Geburtstag begehen würde. Ja, sie war noch immer eine ansehnliche Frau! Die großen grauen Augen wurden von dichten schwarzen Wimpern umrahmt, ihre Wangen waren rosig, ihr Mund besaß volle Lippen. Wer sie aber genauer betrachtete, bemerkte auch den herben Zug um ihren Mund, und wer sie gut kannte, wusste, dass sie nicht mehr oft lachte. Das Leben hatte Geesche Jensen stark, aber auch hart gemacht. Daran konnte auch das blau-weiß karierte Baumwollkleid nichts ändern, das eine verspielte kleine Rüsche am Halsausschnitt hatte, und ebenso wenig die strahlend weiße, blitzsaubere Schürze, die sie darüber gebunden hatte. Die hellen Leinenschuhe mit der leichten Hanfsohle hatte sie am Vortag so lange geschrubbt, bis sie fast so hell waren wie ihre Schürze. Auf Sauberkeit legte Geesche Jensen großen Wert.
Sie stand am Fenster und sah hinaus, als erwartete sie einen Gast, der sich verspätet hatte. Der Sommer war kalt in diesem Jahr. Zum Glück hatte es noch keinen Sturm gegeben, aber genauso wenig einen wolkenlosen blauen Himmel. Obwohl der Wind schwach war, blieb er dennoch kalt, und die Sonne hatte noch immer keine Kraft, um die Insel zu erwärmen. Der Steinwall, der Geesches Haus umgab, war jedoch voller Heckenrosenblüten, die Wiesen davor gelb und weiß betupft, und die Sonne, die an diesem Morgen erwacht war, schaffte es, die Blüten zum Leuchten zu bringen.
Wie anders war der Tag vor sechzehn Jahren gewesen! Wie hatte der Sturm gewütet in jener Nacht, als Hanna Boyken und Elisa von Zederlitz das Licht der Welt erblickt hatten!
Geesche kreuzte die Arme vor der Brust und zog die Schultern hoch. Sie fröstelte, als führe der Sturm noch einmal in ihr Haus, so wie damals. Jahr für Jahr war sie froh, wenn dieser Tag vorüber war, an dem die Geburt der beiden Mädchen sich jährte. Ein schrecklicher Tag, vor allem für die arme Freda. Wenn sie zu ihr kam, würde es wieder Geesches Aufgabe sein, sie daran zu erinnern, dass dieser Tag nicht nur Jens Boykens Todestag, sondern auch Hannas Geburtstag war. Das Mädchen konnte nichts für das Unglück, das ihrer Mutter widerfahren war.
Geesche wandte sich ab und schob den Tisch aus der Mitte des Raums zurück vor das Fenster. Dort hatte er seinen Platz, in den Raum gerückt und mit Stühlen umstellt wurde er nur für die Mahlzeiten. Und da seit zwei Wochen ein Sommerfrischler in ihrem Hause wohnte, musste alles so zugehen, wie es sich für einen Gast gehörte. Dr. Leonard Nissen frühstückte jeden Morgen in Geesches Küche und gab sich mit Getreidegrütze, Brot und Tee zufrieden. Geesche wusste, dass er in Hamburg, wo er lebte, an Luxus gewöhnt war. Und sie wusste auch, dass man in den beiden Logierhäusern Westerlands, der »Dünenhalle« und dem »Strandhotel«, auf die besonderen Bedürfnisse wohlhabender Sommerfrischler Rücksicht nahm. Aber Dr. Nissen betonte immer wieder, dass er sich in Geesches Küche wohlfühle und froh sei, die erste Mahlzeit des Tages mit ihr zusammen einnehmen zu dürfen.
Sie ging in den Pesel, wie der größte und schönste Raum eines friesischen Wohnhauses hieß, der nur zu besonderen Anlässen benutzt wurde. Er war mit Decken- und Wandmalereien versehen und mit wertvollen Einrichtungsstücken ausgestattet, die Geesches Vater mitgebracht hatte, wenn er aus fernen Ländern zurückgekehrt war. Bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr war er zur See gefahren und manchmal zwei oder drei Jahre weggeblieben. Wenn er dann endlich zurückkehrte, hatte er immer kostbare Geschenke im Gepäck gehabt.
Die Möbel und das Geschirr, das im Vitrinenschrank stand, hatte er aus England nach Sylt gebracht, die hohen, strengen Stühle aus Spanien, den kupfernen Samowar aus Russland. Geesche hatte ihn erst ein einziges Mal benutzt. Das war nach der Beerdigung ihrer Mutter gewesen, als sich die Nachbarn im Pesel versammelt hatten, um zu kondolieren. Damals hatte sie feierlich Wasser in den Kessel des Samowars gefüllt. Es wurde durch ein innenliegendes Rohr, das heiße Asche enthielt, erhitzt und heiß gehalten. In einen kleinen Kessel hatte sie die Teeblätter gegeben, sie vorziehen lassen und den Sud in die Tassen gegeben. Mit dem heißen Wasser aus dem Samowar war er dann aufgegossen worden. Die Nachbarn hatten gestaunt und behauptet, noch nie einen so guten Tee getrunken zu haben.
Ihre Mutter war sehr stolz auf den Samowar gewesen, und Geesche nahm sich oft vor, ihn in Gebrauch zu nehmen, wenn Sommerfrischler in ihrem Hause logierten. Aber dann hatte sie ihn doch im Pesel stehen lassen, damit der schönste Raum so schön blieb, wie er war. Und ohne den Samowar wäre er ein Stück ärmer geworden.
Kalt war es hier, nicht viel wärmer als im Winter. Der Pesel lag nach Osten und war nicht zu beheizen. Für den Fall, dass er im Winter benutzt wurde, gab es einen Fußwärmer, der mit glühenden Kohlen gefüllt und unter den Tisch gestellt wurde. In dicke Mäntel und Jacken gehüllt saßen die Gäste dann um den Tisch herum, und jeder versuchte, mit den Füßen ein Plätzchen auf dem Fußwärmer zu ergattern.
Geesche beeilte sich, den Deckel der großen Truhe zu öffnen, die unter dem Fenster stand. Es war die Seemannstruhe ihres Vaters, grau gestrichen und segeltuchbespannt, die er auf allen Seereisen mitgeführt hatte. Jetzt diente sie der Aufbewahrung einiger Kostbarkeiten und wurde mit Kissen belegt, wenn die Stühle und das ripsbezogene Sofa für Gäste nicht ausreichten. Geesche langte mit geschlossenen Augen in die Truhe, so, als wollte sie nicht sehen, was sich dort verbarg. Ihre Finger schoben sich unter das Leinen, das sie dort aufbewahrte, unter die Spitzendecken, die ihr Vater aus Brüssel mitgebracht hatte, dann ertasteten sie tief unten die Münzen. Geesche zog eine heraus und schob sie in die Tasche ihrer Schürze. Danach schloss sie den Deckel der Truhe wieder.
Die Holzdielen knarrten, als sie den Pesel verließ und in die Küche zurückging. Dort gab es nur einen Lehmboden, so dass sie unbekümmert in der Glut der Feuerstelle stochern konnte. Sie blieb davor stehen und starrte den Kessel an, der über dem Feuer hing, bis er zu summen begann, und sie spürte, dass die Wärme zunahm.
Gut, dass Dr. Nissen das Haus verlassen hatte! Dies war der Tag, an dem Geesche am liebsten allein blieb. Doch das würde erst möglich sein, wenn Hanna sich ihr Geldstück abgeholt hatte, das sie an jedem Geburtstag erhielt, und Freda mit ihrer Arbeit fertig war. Seit dem Tag, an dem Hanna geboren und Jens Boyken auf See sein Leben gelassen hatte, verdiente Freda sich etwas zu ihrem kläglichen Lebensunterhalt dazu, indem sie Geesche zur Hand ging. Ihr oblag es, die Fremdenzimmer in Ordnung zu halten, dafür zu sorgen, dass die Betten regelmäßig bezogen wurden, dass immer frische Handtücher neben dem Waschgeschirr lagen und das Wasser nach der Morgentoilette erneuert wurde. Zwar hätte Geesche diese Arbeit leicht selbst verrichten und das Geld für Fredas Entlohnung sparen können, aber jedes Mal, wenn Hanna Geburtstag hatte, wusste sie wieder, wie wichtig es war, Freda zu helfen. Wenn ihre Dankbarkeit auch schwer zu ertragen war.
Geesche hörte die Tür leise gehen, und sofort schoss das Unbehagen in ihr hoch, das sie seit Jahren beinahe täglich herunterschluckte. Wie oft hatte sie Hanna schon gebeten, anzuklopfen und zu warten, bis ihr die Tür geöffnet wurde! Aber das Mädchen hörte nicht darauf. Hanna hatte ein untrügliches Gespür für die Schwächen anderer Menschen. Und dass Geesche zu schwach war, um sie zurückzuweisen, wusste sie genau. Ob sie sich wohl jemals gefragt hatte, warum das so war? Warum eine starke Frau wie die Sylter Hebamme hilf- und machtlos wurde, wenn es um Hanna Boyken ging?
Geesche lauschte auf die unregelmäßigen Schritte, auf den langen, schweren Schritt und den kaum hörbaren nächsten. Tohk-tik, tohk-tik! Dann öffnete sich die Küchentür so leise, als hoffte Hanna darauf, niemanden anzutreffen.
Als sie Geesche am Herd stehen sah, lächelte sie breit. »Ich habe Geburtstag.«
Geesche ging auf sie zu und umarmte sie. »Herzlichen Glückwunsch, Hanna!«
Sie hielt den schmächtigen Körper nur so lange umfangen, wie Hanna sich an sie drängte, dann schob sie das Mädchen von sich weg, griff in ihre Schürzentasche, holte die Münze hervor und drückte sie Hanna in die Hand. »Alles Gute für dein neues Lebensjahr!«
Hanna bedankte sich nicht. Sie ließ die Münze mit einer schnellen Bewegung unter der Schürze verschwinden, wo es eine Tasche gab, die Hanna sich auf den Rock ihres Baumwollkleides genäht hatte. Beides war dunkelblau, die Schürze noch dunkler als das Kleid. Geesche hatte sich oft vorgenommen, Hanna einmal etwas Helles zu schenken, eine weiße Schürze, ein fliederfarbenes Tuch, was von ihrer mürrischen Miene und ihrem misstrauischen Blick ablenken konnte. Aber dann war es doch bei dem Vorsatz geblieben, weil Geesche Hannas Dankbarkeit genauso schwer ertrug wie ihren scharfen Blick, mit dem sie die Frage zu stellen schien, warum Geesche freundlich zu ihr war. In Hannas schmalem Gesicht mit der spitzen Nase und den kleinen, stechenden Augen stand immer eine Frage, ob sie nun freundlich oder unfreundlich behandelt wurde, streng oder nachsichtig. Sie schien weder dem Leben noch den Menschen zu trauen, mit denen sie umging. Nur ihre Mutter und Ebbo genossen ihr uneingeschränktes Vertrauen. Und Elisa von Zederlitz! Der jungen Comtesse war ohne Mühe gelungen, was Geesche nicht fertigbrachte: Hanna zu nehmen, wie sie war, und sie zu mögen, wie sie war.
Hanna humpelte zum Herd und bat um einen Tee. »Weil ich Geburtstag habe.«
Geesche nickte, griff zu einer Dose, die auf der Ummauerung der Feuerstelle stand, und holte einige Teeblätter heraus. Hanna stand neben ihr, stützte sich auf den Rand der Feuerstelle und richtete sich so gerade auf wie möglich. Ihr rechtes Bein schwebte nun über dem Boden, ihre verformte Hüfte stand beinahe so waagerecht wie bei einem gesunden Menschen. Hanna trug immer sehr lange Röcke, um sich so oft wie möglich die Illusion zu gönnen, niemand könne sehen, dass sie ein Krüppel war.
»Graf von Zederlitz kommt heute mit seiner Familie auf die Insel«, sagte Hanna.
Geesche sah sie überrascht an. »Woher weißt du das?«
»Habe ich gehört.«
Hanna hörte immer und überall etwas. Wie sie an ihre Kenntnisse kam, war Geesche ein Rätsel. Sie fragte nie. Eine ehrliche Antwort hätte sie sowieso nicht bekommen. Das war so sicher, wie sie wusste, dass sie eine ehrliche Antwort auch nicht hören wollte.
»Seine Tochter hat heute auch Geburtstag«, ergänzte Hanna zufrieden. »Ich werde ihr ein paar Blumen bringen.«
Hanna war stolz darauf, dass sie mit der Tochter des Grafen zur selben Stunde im selben Haus geboren worden war. Und seit Graf von Zederlitz ihr Arbeit gab, wenn er im Sommer auf Sylt war, hatte sie endlich einmal allen anderen etwas voraus.
»Marinus Rodenberg begleitet ihn auch in diesem Jahr«, fügte Hanna nun an und beobachtete Geesche aus den Augenwinkeln. »Ich habe gehört, wie Dr. Pollacsek mit Dr. Nissen darüber gesprochen hat. Er plant schon den nächsten Bauabschnitt der Inselbahn. Von Hörnum nach Westerland! Dafür braucht er Marinus Rodenberg.«
Freda Boyken war nach der Geburt ihrer Tochter immer schmaler und kleiner geworden, ihr Gesicht ähnelte immer mehr dem eines verängstigten Vogels. Die beiden dunklen Kleider aus Sackleinen, die sie besaß, waren ihr mittlerweile viel zu groß, die grobe Schürze, die sie darüber trug, ließ sich so weit über den Rock binden, dass sie nicht im Rücken, sondern über dem Bauch geknotet wurde. Wann immer sie das Haus verließ, wickelte sie sich ein Tuch um den Kopf, das locker über der Brust zusammengebunden wurde. Wenn die Frauen im Sommer aufs Feld gingen, trugen alle so ein Tuch, um sich vor der Sonne zu schützen, Freda Boyken dagegen band es sich sommers wie winters über den Kopf. Ihr Gesicht war somit stets überschattet. Nur die Nase stach hervor, in dem fliehenden Kinn schien ihr Mund zu verschwinden, und ihre schönen großen Augen blinzelten so ängstlich unter dem Tuch hervor, dass sie einen großen Teil ihres eigentlich hübschen Äußeren damit einbüßte. Freda Boyken ging stets gebeugt, obwohl sie gerade erst vierzig geworden war, so, als drückte sie die Sorge nieder, als beugte sie sich unter einer schweren Last, als zehrte das Leben an ihr, statt ihr Kraft zu geben. Vielleicht hätte sie diese Kraft bekommen, wenn ihr Mann am Leben geblieben wäre, wenn damit wenigstens ihr Lebensunterhalt sicherer gewesen wäre und er das Leid mit ihr geteilt hätte. Oft allerdings, wenn sie Hanna betrachtete, ihre verkrüppelte Hüfte, ihr kraftloses rechtes Bein, dann war sie zufrieden damit, dass Jens seine Tochter nie gesehen hatte. Ob er dieses Kind hätte lieben können, wusste Freda nicht zu sagen. Ihr selbst fiel es ja sogar manchmal schwer.
Sie strich Ebbo sanft übers Haar, als sie sich vom Tisch erhob. »Wolltest du heute nicht die Netze flicken?«
Ebbo schüttelte den Kopf, ohne aufzusehen. »Das hat Zeit bis morgen. Ich habe sowieso keinen Fischer gefunden, der mich heute mit hinausnimmt.«
Freda betrachtete ihn. Ihre Augen waren voller Zärtlichkeit, um ihren Mund spielte ein verständnisvolles Lächeln. Sie wusste nicht, wie liebevoll ihr Blick war, wenn sie Ebbo ansah, so fragte sie sich auch nie, ob Hanna bemerkte, dass es in Fredas Augen nur Hoffnung gab, wenn ihr Blick auf Ebbo ruhte, und dass sie verschwand, sobald sie ihre Tochter ansah.
Obwohl sie von ihm nichts erwarten durfte, lag ihre ganze Hoffnung auf Ebbo. Ein guter Sohn musste für seine Mutter sorgen, wenn sie alt, schwach und krank geworden war, und für seine verkrüppelte Schwester ebenso. Nur … Ebbo war nicht ihr Sohn. Nicht einmal der Sohn ihres Mannes. Jens war in erster Ehe mit einer Witwe verheiratet gewesen, die Ebbo mit in die Ehe gebracht hatte. Schon im ersten Winter nach der Hochzeit war die Frau an einer Lungenentzündung gestorben und der verwaiste Ebbo bei seinem Stiefvater geblieben. Als der vor genau sechzehn Jahren in der verhängnisvollen Sturmnacht nicht zurückgekehrt war, wurde Ebbo Fredas Sohn, den sie liebte, als hätte sie ihn selbst zur Welt gebracht. Ein schöner, starker, rechtschaffener Sohn, wie sie ihn sich gewünscht hatte, als sie an der Tür der Hebamme klopfte, um ihr erstes Kind zur Welt zu bringen. Doch sie war mit einer verkrüppelten Tochter im Arm nach Hause zurückgekehrt …
»Du willst zur Inselbahn?«, fragte sie aufs Geratewohl und wusste sofort, dass sie recht hatte, als sie sah, wie die Röte in Ebbos Wangen schoss. »Der Dampfer dürfte schon in Munkmarsch angelegt haben. Die Inselbahn wird bald ankommen.«
Ebbo nickte. »Dort werden immer Gepäckträger gebraucht.«
Freda schüttelte den Kopf. Ebbo wollte ihr weismachen, dass er zum Bahnhof ging, um nach einem Nebenverdienst Ausschau zu halten? »Sie ist die Tochter eines Grafen«, sagte sie. »Das kann nicht gutgehen. Warum suchst du dir nicht ein Mädchen, das zu dir passt?«
»Lass mich, Mutter«, entgegnete Ebbo und erhob sich ebenfalls. »Ich bin alt genug!«
Freda sah ihm durch das kleine, fast blinde Fenster nach, als er mit schnellen Schritten davonlief, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, die Hände in die Hosentaschen gebohrt. Ein großer, kräftiger Mann von dreiundzwanzig Jahren, mit einem markanten Gesicht und hellen Augen, die alles Kantige in seinen Zügen weichzeichneten.
Die liebevolle Nachsicht verschwand allmählich aus Fredas Gesicht. Verspielte Ebbo die einzige Stetigkeit, die es seit Jens’ Tod in ihrem Leben gab? Worauf sie sich seit Hannas Geburt verlassen konnte, war die Loyalität des Grafen von Zederlitz. Seine Tochter war in derselben Stunde im selben Haus zur Welt gekommen wie Hanna, er hatte ihren ersten Schrei gehört, hatte sie sogar im Arm gehalten, wie Freda später von Geesche erfahren hatte. Dadurch war eine Verbindung zur gräflichen Familie entstanden, die für Freda so kostbar war wie sonst nichts auf der Welt. War der Graf auch zunächst ärgerlich gewesen, als er begreifen musste, dass seiner Frau nicht die ungeteilte Aufmerksamkeit der Hebamme sicher war, hatte er Freda zwei Tage später, als Jens’ Leiche an den Strand gespült worden war, sogar kondoliert und ein Geldgeschenk überbringen lassen, das ihr für mehrere Wochen ein Auskommen sicherte. Dafür würde sie ihm ewig dankbar sein. Auch für jedes Lächeln, das er Hanna später schenkte, wenn sie ihm zufällig begegneten, schuldete sie ihm Dankbarkeit, und für jedes freundliche Wort. Es gab nur wenige Menschen auf der Insel, die Hanna wohlwollend anblickten und freundlich mit ihr redeten.
Und dann, als Hanna vierzehn geworden war, hatte er sie sogar in seine Dienste genommen. Da war Freda schon sicher gewesen, dass Hanna niemals zum Lebensunterhalt würde beitragen können. Den ganzen Sommer lang, während die Familie von Zederlitz auf Sylt war, durfte Hanna in dem großen Haus, das der Graf in der Nähe der Dünen hatte bauen lassen, arbeiten, obwohl sie sich nur langsam voranbewegte, nicht stark war und auch nicht besonders geschickt. Nicht einmal fleißig und willig war sie und freundlich nur, wenn sie damit rechnete, dass es sich auszahlte. Trotzdem war Hanna im letzten Sommer sogar zur Gesellschafterin der Grafentochter gemacht worden. Die junge Comtesse durfte selbstverständlich nicht allein das Haus verlassen, heiratsfähige junge Damen von Stand hatten sich außerhalb der Familie in Gesellschaft aufzuhalten, und zwar in der Gesellschaft, die ihre Eltern für sie aussuchten.
Als Graf Arndt von Zederlitz diese Aufgabe Hanna Boyken übertrug, hatte Freda ihr Glück kaum fassen können. Welche Ehre! Welch ein Vertrauensbeweis! Schade nur, dass auch dieses Glück mit Sorge besetzt war. Würde Hanna gewissenhaft ihre Pflicht erfüllen? Würde sie gehorchen und höflich lächeln, wenn sie einen Auftrag erhielt? Und würde sie diskret sein und ihre Zunge hüten? Es gab viele Sylter, die sich nicht auszumalen vermochten, wie es in dem großen Haus vor den Dünen zuging, und Hanna bedrängten. Sie wollten etwas erfahren von dem Leben, das Menschen führten, die sich für ihr tägliches Brot nicht anstrengen mussten. Und Hanna gehörte leider zu denen, die jede Gelegenheit nutzten, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Ob sie wusste, welche Chance der Graf ihr einräumte? Freda seufzte schwer. Und ob Ebbo klar war, was er anrichtete, wenn er Elisa von Zederlitz schöne Augen machte?
Sie schloss die Tür ihrer Kate und machte sich auf den Weg zum Haus der Hebamme. Der Wind trieb das Stampfen und Pfeifen der Inselbahn herüber. Noch im letzten Jahr waren der Graf und seine Familie mit Pferdgespannen vom Munkmarscher Fähranleger nach Westerland gebracht worden. Eine gute Stunde hatte dieser Transport gedauert, und nun, mit der Inselbahn, ging er in zwölf Minuten vonstatten. Dr. Julius Pollacsek, der seit vier Jahren Besitzer des Seebades Westerland war, hatte angekündigt, der Ort würde aufblühen, der Strand von Sylt demnächst voll von Fremden sein, die auf der Insel Erholung suchten und viel Geld bringen würden.
Freda schüttelte verächtlich den Kopf. Selbst wenn Dr. Pollacsek recht hatte, ihr eigenes Leben würde sich dadurch nicht ändern. Wer vom Fremdenverkehr profitieren wollte, brauchte ein Haus, in dem Platz genug war, um ein Zimmer an Feriengäste zu vermieten. In ihrer Kate war gerade mal Platz für sie selbst und für Ebbo und Hanna. Freda konnte froh sein, wenn Geesche die drei Zimmer, die sie mittlerweile in ihrem Haus hergerichtet hatte, im Sommer vermietete und ihre Hilfe brauchte, damit die Gäste anständig versorgt wurden. Das waren die paar Krümel, die für Freda Boyken abfielen, wenn alles tatsächlich so kommen würde, wie Dr. Pollacsek behauptete. Aber sie wollte damit zufrieden sein. Wenn sie diese Arbeit behielt, wenn Hanna im Sommer bei dem Grafen etwas Geld verdienen konnte, wenn Ebbo die richtige Frau heimbrachte, die vergaß, dass Freda nicht seine leibliche Mutter war und sich verpflichtet fühlte, wie es sich für eine gute Schwiegertochter gehörte … dann würde sie nicht klagen. Vielleicht konnte sie sich eines Tages auf eine Bank setzen, die Sonne genießen und sich vom Leben ausruhen.
Der Weg zu Geesche Jensens Haus führte am großen Kurhaus, dem sogenannten Conversationshaus, vorbei. Es stellte den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens in Westerland dar und war vollständig aus Holz erbaut, mit einem hohen spitzen Turm in der Mitte des Gebäudes, direkt über dem Eingang, und einer Turmuhr, die jede Stunde schlug. Eine große Veranda stand den vornehmen Kurgästen zur Verfügung, auf der sie sich bei gutem Wetter trafen, um sich zu unterhalten oder um Zeitung zu lesen. Sogar einen Konzertsaal hatte das Conversationshaus, in dem die Kurkapelle wöchentlich sechs Konzerte gab.
Es wimmelte dort von Neugierigen, die der Ankunft neuer Feriengäste entgegensahen. Vor allem die Kinder tummelten sich dort, die sich an der zischenden und pfeifenden Lokomotive nicht sattsehen konnten. Erst im vergangenen Sommer war die Inselbahn in Betrieb genommen worden. Im Winter hatte sie stillgestanden, denn gebraucht wurde sie selbstverständlich nur, wenn die Sylter Dampfschifffahrtsgesellschaft mit ihren Raddampfern Feriengäste brachte. Nun kamen wieder Fremde in Munkmarsch an, die nach Westerland transportiert werden wollten. Aber bis der Anblick der Inselbahn zum Alltag gehören würde, mussten wohl noch viele Züge durch die Heide fahren und noch viele Sommergäste ankommen. Bis dahin zog die Bahnstation Schaulustige an, die all das Fremde bestaunten, die fremde Kleidung, die fremden Gepäckstücke, das fremde Gebaren der Gäste. Daneben warteten junge Männer, die sich als Gepäckträger verdingen wollten, verächtlich betrachtet von denen, die dunkle Uniformen trugen und Holzkarren neben sich stehen hatten, auf denen »Dünenhof« oder »Strandhotel« stand. Sie nannten sich neuerdings Pagen und waren losgeschickt worden, um das Gepäck der Hotelgäste zu befördern, die in den beiden Logierhäusern der Insel erwartet wurden.
Freda blieb stehen und betrachtete das bunte Treiben. Tatsächlich schienen in diesem Jahr mehr Feriengäste erwartet zu werden als im vergangenen. Ganz so, wie Dr. Pollacsek es vorausgesagt hatte. Nur wenige hatten ihm Glauben schenken wollen, und es hatte viele Jahre gedauert, bis er so viel Geld beschafft hatte, dass die Trasse und die Gleise von Munkmarsch nach Westerland fertiggestellt werden konnten. Dann waren wiederum zwei Jahre über die Insel gezogen, bis der erste Zug seine Jungfernfahrt antreten konnte. Unter großem Jubel war die Inselbahn eingeweiht und in Betrieb genommen worden. Dr. Pollacsek schien ein gemachter Mann zu sein. Es war sogar die Rede davon, dass er Gleise über die ganze Insel legen lassen wollte, von Norden nach Süden und von Osten nach Westen. Und Freda war sicher, diesmal würde man sich ihm nicht in den Weg stellen. Die meisten Sylter hatten eingesehen, dass Dr. Pollacsek gut für die Zukunft der Insel war. Mit dem Bahnhofsgebäude, das in den nächsten Monaten entstehen sollte, würde jedermann einverstanden sein.
Der gebürtige Budapester war ein ungewöhnlicher Mann von großer Vielseitigkeit, der über gute Kontakte verfügte, der viele Talente besaß und keine Mühen scheute, wenn er eine Vision verfolgte. Man sah ihn nie anders als in einem korrekten schwarzen Anzug mit Weste, die eine dicke Uhrkette schmückte. Er war klein und untersetzt mit kräftiger Muskulatur, sein Schnauzer immer säuberlich gestutzt. Er hielt sich aufrecht wie jemand, der um sein äußeres Erscheinungsbild bemüht war.
Dr. Leonard Nissen, der bei Geesche Jensen logierte, schien mit ihm bekannt zu sein. Auch er trug einen schwarzen Anzug mit Weste, dazu ein weißes Hemd mit einem steifen Stehkragen, der ihm bis zur Kinnspitze reichte. Seine schwarzen Stiefeletten polierte er jeden Morgen selbst, obwohl Geesche ihm angeboten hatte, diese Arbeit für ihn zu übernehmen, ebenso den eleganten schwarzen Stock aus glänzendem Zedernholz, mit dem er nicht zufrieden war, wenn Sand an ihm haftete. Seinen Griff umfasste er nie mit fester Hand, sondern immer spielerisch mit zwei oder drei Fingern. Er ließ ihn schweben, schwanken, tanzen oder wippen. Manchmal trug er ihn auch quer vor dem Körper oder legte ihn über die Schulter wie ein Gewehr. Niemals aber stützte er sich darauf.
Julius Pollacsek und Leonard Nissen standen etwas abseits und redeten sehr vertraut miteinander. Manchmal lachten sie, wie Männer miteinander zu lachen pflegen, die etwas verbindet, was über das gemeinsame Geschlecht hinausgeht.
Wenn Freda Dr. Nissen betrachtete, beschlich sie oft eine heimliche Angst, denn sein Interesse an der Sylter Hebamme war nicht zu übersehen. Freda mochte sich nicht vorstellen, was mit ihr geschehen würde, wenn Geesche Dr. Nissen heiratete und die Insel verließ. Es hieß, dass er in der Nähe von Hamburg in der Privatklinik seines ehemaligen Schwiegervaters arbeite und in einer großen Villa lebe. Von seiner Frau, die ihn betrogen hatte, habe er sich getrennt und erhole er sich nun auf Sylt von den hässlichen Begleitumständen seiner Scheidung. Ebbo hatte gehört, wie Dr. Nissen zu Dr. Pollacsek gesagt hatte, er suche nach einer neuen Herausforderung. Er denke darüber nach, sich auch beruflich von der Familie seiner Frau zu trennen. Vielleicht werde er über kurz oder lang irgendwo eine Arztpraxis eröffnen und sich an einem bescheideneren Leben erfreuen.
Freda kehrte ihren Blick von den beiden Männern ab und ging weiter. Auf das Pfeifen der Inselbahn reagierte sie nicht, von der Aufregung in ihrem Rücken, als die ersten Rauchwolken in Sicht kamen, wurde sie nicht berührt. Was, wenn Dr. Nissen eine Praxis irgendwo auf dem Festland eröffnete und Geesche Jensen ihm dorthin folgte? Dann würde Freda ihr kleines Einkommen verlieren, das doch so wichtig für sie war. Je öfter sie darüber nachdachte, desto sicherer wurde sie, dass Geesche irgendwann dem Werben des Arztes nachgeben würde. Was hielt die Hebamme auf Sylt? Verwandte gab es nicht, und seit Andrees nicht mehr lebte, hatte es für Geesche auf Sylt kein Glück mehr gegeben. Warum sollte sie nicht versuchen, es woanders zu finden?
Freda fielen die letzten Schritte schwer. Wenn es doch endlich ein bisschen Sicherheit in ihrem Leben gäbe! Etwas, worauf sie sich verlassen konnte! Auf das bisschen Geld, das sie bei Geesche verdiente, auf Ebbo, der eine Familie gründete, in der sie willkommen war, auf Hanna, die im Hause des Grafen ihr Auskommen fand! Aber nichts war sicher. Geesche konnte Dr. Nissen aufs Festland folgen, Ebbo konnte sich den Unmut des Grafen zuziehen, indem er seiner Tochter nachstellte, Hanna konnte sich die Sympathien des Grafen verscherzen, so wie sie sich bisher jede Sympathie verscherzt hatte.
Vor einem Jahr war es geschehen, im Juni 1887! Der wärmste Juni seit Jahren! Nur selten erwachte der Wind, und wenn, dann war er ein Wispern, ein milder Hauch, der übers Meer geflüstert kam, das so ruhig und leise war, wie Geesche es nie erlebt hatte. In diese bleierne Stille war Marinus Rodenberg eingedrungen. Gerade an dem Tag, an dem Geesche müde von einer schweren Geburt zurückkehrte. Fünfzehn Stunden hatte sie gedauert, bis sie der erschöpften Mutter endlich einen gesunden Jungen in die Arme legen konnte.
Die Sonne war gerade aufgegangen, als sie sich auf den Heimweg machte. So müde sie auch war, die Erleichterung und die Freude über das glückliche Ende der Geburt gaben ihr Kraft. Während sie sonst den Abschnitt der Gleise mied, an dem Andrees zu Tode gekommen war, verzichtete sie diesmal auf den Umweg, den sie noch auf dem Hinweg gemacht hatte. Und dann war sie sogar stehen geblieben und hatte sich umgesehen, als könnte ihr dieser Ort verraten, wie Andrees gestorben war. Niemand hatte es ihr sagen können. Was sie erfuhr, war nur, dass er mit einer schweren Verletzung aufgefunden worden war, wahrscheinlich von einer Spitzhacke, die ihn so viel Blut gekostet hatte, dass er starb, noch ehe man eine Trage für den Transport nach Westerland zusammengebaut hatte.
Am Abend nach der Sturmnacht hatte Geesche vergeblich auf ihn gewartet. Er musste doch kommen und nach ihr sehen! Nach diesem verheerenden Sturm hatte sich jeder nicht nur um das eigene Dach über dem Kopf gekümmert, sondern auch um das Dach des Nachbarn, der Verwandten. Aber Andrees war nicht gekommen. Ausgerechnet an jenem Abend ließ er sie warten! Und am nächsten Morgen hatte sie erfahren, das er niemals mehr kommen würde. Es war zu spät! Und was sie getan hatte, war umsonst gewesen …
Gerade an dieser Stelle und zu dieser Stunde, als sie, berührt sowohl von der Vergangenheit als auch von der Gegenwart, einmal nicht vor den Erinnerungen davongelaufen war, stand plötzlich Marinus Rodenberg vor ihr. Groß, breit, stark, urwüchsig, in robusten Lederhosen mit breiten Trägern und einem karierten Hemd, mit allerlei technischem Gerät beladen und sehr erstaunt, zu dieser frühen Morgenstunde jemanden an seinem Arbeitsplatz vorzufinden, an dem er sich mutterseelenallein geglaubt hatte.
Eine wunderbare Zeit begann an diesem Morgen. Sie dauerte knapp drei Tage und blieb dann noch drei Wochen lang zu schön, um sie zu beenden, obwohl Geesche nach den ersten drei Tagen erkannt hatte, dass ihre spontan erweckten Gefühle für Marinus keine Zukunft haben konnten. Das wurde ihr klar, als sie ihn zufällig im eleganten hellgrauen Anzug in Gesellschaft von Graf Arndt sah und erfuhr, dass er zur Familie von Zederlitz gehörte. Schlimm genug, dass der Graf mit Frau und Tochter jeden Sommer auf die Insel kam! Schlimm genug, dass Geesche dadurch niemals vergessen konnte, was in der Sturmnacht vor fünfzehn Jahren geschehen war! Aber wenn der Sommer vorbei war, wollte sie den Namen Zederlitz bis zum nächsten Jahr weder hören noch aussprechen und an ihn erinnert werden. Und sie hoffte Jahr für Jahr aufs Neue, dass der Graf sein Haus auf Sylt aufgeben und endgültig aus ihrem Leben verschwinden würde.
Marinus konnte sie nicht verstehen. Was er einzusehen glaubte, hatte zwar mit der Wahrheit nichts zu tun, aber Geesche beließ es dabei. »Ich bin nicht vornehmer als du. Mein Halbbruder ist ein Graf, ich bin nur der Bankert eines Dienstmädchens.«
Sie versuchte, ihn trotzig anzublicken. »Gleichwohl! Dein Vater war ein adeliger Herr!«
Marinus sah ihr daraufhin lange in die Augen, als ginge ihm etwas durch den Kopf, was der Wahrheit nahekam. »Was steckt wirklich dahinter, Geesche?« Nun entstand in seinem Blick sogar etwas, von dem Geesche sich für einen schrecklichen Moment durchschaut fühlte.
»Ich bin nur eine Hebamme.« Als sie das sagte, hatte sie das Gesicht fest an seine Brust gedrückt, damit er ihre Augen nicht sehen konnte. »Nicht gut genug für dich.«
Dabei war sie geblieben, bis Marinus die Insel wieder verlassen hatte. Sie würde ihn nie wiedersehen, er würde niemals den wahren Grund erfahren. Dankbar wollte sie sein für die Zeit, in der sie noch einmal die Liebe genossen hatte, in der das Leben leicht gewesen war, in der die Erinnerungen heller geworden waren, von der Gegenwart abrückten und die Zukunft nicht mehr vereinnahmten. Geesche rechnete nicht damit, dass es eine solche Zeit noch einmal geben würde, umso kostbarer war diese Zeit für sie und die Erinnerung daran, die sie einen ganzen Winter lang warm gehalten hatte. Sie war nun Ende dreißig. Eine Frau in ihrem Alter hatte sich mit dem Leben abzufinden, so, wie es war. Aus eigenen Kräften etwas zu verändern, das würde sie nicht noch einmal versuchen, und die Chancen, an der Seite eines Mannes einen anderen Weg einzuschlagen, waren vorbei. Darüber durfte sie sich nicht beklagen. Sie hatte ein Haus und eine Arbeit, und wenn der Fremdenverkehr auf Sylt tatsächlich einsetzte und sie ihre Zimmer jeden Sommer vermieten konnte, würde sie niemals zu hungern brauchen.
Geesche löste sich von dem Fenster, durch das sie Hanna nachgeblickt hatte, die längst nicht mehr zu sehen war. Marinus Rodenberg kam also auf die Insel zurück! Was hatte das zu bedeuten?
Graf Arndt von Zederlitz betrachtete seine Frau nachdenklich, die mit geschlossenen Augen dasaß, als wäre es ihr gleichgültig, dass sie zum ersten Mal die Bequemlichkeit der Inselbahn genießen konnte, und als interessierte sie der Ort nicht, dem sie entgegenfuhren. Ihr schönes schmales Gesicht war angespannt, die Lippen hatte sie aufeinandergepresst, die Stirn war leicht gekraust. Sie trug ein helles Reisekleid, das die Fahrt nach Sylt ohne einen einzigen Fleck überstanden hatte, darüber eine Stola aus fast schwarzem Nerz, die sie mit der linken Hand über der Brust zusammenhielt, während die rechte in ihrem Schoß lag. Ihre Haltung drückte das aus, was Graf Arndt schon im ersten Augenblick angezogen hatte, als er sie kennenlernte. Diese vornehme Teilnahmslosigkeit, mit der sie dem Leben begegnete, allen positiven Lebensumständen genauso wie den Schicksalsschlägen. Nach wie vor bewunderte er ihr Phlegma, das einen Teil ihrer Schönheit ausmachte, ihr unbewegtes Gesicht, ihren unerschütterlichen Blick, ihre Stimme, die immer leise und gleichgültig blieb, ihr Lächeln, das nie zu einem Lachen wurde. Seit er sie liebte, versuchte er, ihr Lachen zu wecken, ihre Liebe und ihre Leidenschaft herauszufordern. Und wenn es ihn enttäuschte, weil es ihm nie gelang, war er im nächsten Augenblick froh darüber. Er wusste nicht, was aus seiner Liebe geworden wäre, wenn Katerina sie leidenschaftlich erwiderte, wenn sie ihn fröhlich anlachen oder gar heimlich über einen Scherz kichern würde.
Er löste den Blick von seiner Frau und sah aus dem Fenster des Zugabteils, als wollte er in Ruhe darüber nachdenken, wie der Sommer dieses Jahres verlaufen sollte. So wie immer? Viel Muße, Strandspaziergänge, Baden im Meer? War das wirklich genug? Reichte es, dass er Katerina Jahr für Jahr zur Flucht aus ihrem Leben auf dem Gut verhalf, auf dem seine Mutter herrschte? Hatte Sylt nicht längst seine Schuldigkeit getan? Mittlerweile glaubte er, dass es besser wäre, Katerina dabei zu helfen, sich gegen seine Mutter zu behaupten, statt jeden Sommer aufs Neue vor ihr zu fliehen. Elisa war nun sechzehn Jahre alt! Sie musste in die Gesellschaft eingeführt werden, musste Einladungen annehmen, reisen, sich präsentieren. Auf Sylt war sie zwar geboren, aber hier würde sich ihr Schicksal nicht erfüllen. Als Tochter des Grafen von Zederlitz gehörte sie dorthin, wo Bälle veranstaltet wurden, wo der Adel sich traf.
Dieser eine Sommer noch, sagte er sich, dann musste es vorbei sein mit Sylt. Dann würde er das Haus vor den Dünen verkaufen und von Katerina erwarten müssen, dass sie seine Mutter und ihre drakonische Herrschaft ertrug. Seine Frau wollte es zwar nicht einsehen, aber ihre Schwiegermutter war längst in einem Alter, in dem man sie mit der Verantwortung für das Gut nicht mehr allein lassen durfte. Und seit Katerina ihre Erwartungen erfüllt und ein gesundes Kind zur Welt gebracht hatte, war es weniger geworden mit den hässlichen Bemerkungen und den verächtlichen Fragen. Nun richteten sie sich nur noch auf den fehlenden Sohn, den Erben, auf den Arndts Mutter nicht mehr hoffen konnte.