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Weil sie es in ihrem Elternhaus unerträglich findet, haut Ester von zu Hause ab. Aber der Trip entwickelt sich zum Albtraum. Und mit was für üblen Typen ist sie da bloß unterwegs? Ist das etwa die Freiheit, nach der sie gesucht hat? Gut, dass sie nach vier Wochen wieder daheim in ihrer heilen Welt ist...
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Seitenzahl: 343
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Die Hecke brennt
Innentitel
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Epilog
Danke
Über mich
Mehr von Gabriela Bock
Die Hecke brennt
ISBN 978-3-947167-30-2
ePub Edition
Version 1.0 - 11-2018
© 2018 by Gabriela Bock
Abbildungsnachweise:
Umschlagillustration © Alicia Khaet
Autorenporträt © Ania Schulz | as-fotografie.com
Lektorat:
Sascha Exner
Druck:
Online-Druck GmbH & Co. KG, Krumbach
Verlag:
EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH
Postfach 1163, D-37104 Duderstadt
Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21
E-Mail: [email protected]
Dieses Buch ist ein Roman. Ähnlichkeiten mit verstorbenen oder lebenden Personen sind rein zufällig und von mir nicht beabsichtigt. Orte, Gebäude und Institutionen entstammen zum Teil meiner Fantasie.
Stolz führte Lothar Fuchs seinen Sohn über das neu erworbene Grundstück. Dabei genoss er jeden Atemzug, betrachtete mit Wohlwollen, wie der Wind sich in den Fichten verfing und die Wasseroberfläche des Sees sich kräuselte. Sein Land… Schweden! Ein Traum, der endlich Realität geworden war. Und jetzt war Volker hier aufgekreuzt mit dieser charmanten, bildhübschen Britta. Nach so einer Beauty wie ihr mussten die Männer einfach verrückt sein, und obendrein besaß sie anscheinend auch noch einen profitablen Geschäftssinn… perfekt.
Volker war ein kluger Bursche, aber leider hatten ihm die Drogen in letzter Zeit derbe zugesetzt. Er musste sich eingestehen, den Jungen in der Vergangenheit etwas aus den Augen verloren zu haben. Zudem war seine Mutter wohl mit seiner Erziehung überfordert gewesen. Aber jetzt war er sich sicher… er, Lothar, er würde ein Heiligtum erschaffen. Es sollte ein Tempel entstehen, in dem seine Priesterinnen hohes Ansehen erlangen würden. Wellness war der neue Begriff… etwas, bei dem das Spirituelle viel zu wenig Beachtung fand. Das würde er ändern. In dem Sextempel, den er dabei war zu erschaffen, sollten seine Priesterinnen nicht nur ein sexuelles, sondern auch ein mystisches Zuhause finden. Ihre Seelen sollten, genau wie ihre Körper, umhegt und verzaubert werden. Ein Novum! Die Ansprüche konnten gar nicht hoch genug sein. Volker war noch jung, aber alt genug, um zu begreifen welches großartige Werk er damit unterstützte, indem er ihm Frauen wie Britta nach Schweden brächte. Gemeinsame Sache würden sie machen, Vater und Sohn, welch glückliche Fügung.
Der Wind frischte auf, Regentropfen prasselten auf die Oberfläche des Sees. Volker schlug den Kragen seines Trenchcoats hoch und bemerkte nicht, wie Britta in ihrem dünnen Kleid fröstelte. Sie war sichtlich froh darüber, dass Lothar so aufmerksam war und ihr sofort seinen dicken Pullover um die schmalen Schultern legte. Sie lächelte ihn dankbar an. Was für ein toller Mann! Nicht nur gut aussehend mit seinen langen weißen Haaren und der erhabenen Ausstrahlung eines erfahrenen Zauberers, er war auch sonst liebenswürdig und von angenehmer Art. Schade, dachte Britta, schade, dass ich nicht gleich bleiben kann. Aber im nächsten Jahr hätte sie alles in Hannover geklärt und könnte mit Volker für immer nach Schweden gehen. Männer waren beileibe nicht immer so nett zu ihr gewesen, wie Volker und Lothar es waren. Sie dachte da besonders an ihren Ex…, und es fiel ihr schwer, Lothar weiterhin anzulächeln. Sie bemerkte, wie Volker rumzappelte, und seine Augen bekamen wieder dieses Flackern.
»Lass uns rein gehen, Junge. Hier draußen wird es langsam ungemütlich. Konntest du dir ein Bild davon machen, was ich vorhabe? Die Kundschaft wird nicht ausbleiben, touristisch ist das hier auch hervorragend gelegen. Es wird sich rumsprechen.« Lothar breitete die Arme aus. »Hier überall werden wir Jurten aufstellen und dort«, er zeigte auf das riesige Blockhaus, »dort wird der Tempel entstehen. Schaff noch ein, zwei Dewadasis hierher, dann ist der Grundstein für unser Serail gelegt.«
Nervös kramte Volker in seinem Rucksack rum. Wo hatte er diese blöden Pillen gelassen? Endlich. Er schmiss sich gleich zwei davon ein. Was für ein toller Typ sein Vater war! Und die Idee mit dem Sextempel, einfach überirdisch. Die Idee hätte glatt von ihm sein können.
»Alles klar, Junge?«
Er nickte. »Alles klar.«
Er versuchte sich mit seinen Bewegungen in den Rhythmus fallen zu lassen. Aber die Musik passte nicht so recht zu dem Programm in seinem Kopf. Nebenbei hatte er einige Frauen im Visier, von denen die eine oder andere sogar wohlwollend auf seinen Blick reagierte. Das gedämpfte Licht in dem Schuppen gaukelte eine Welt vor, die dem Tageslicht niemals standhielt. Bis jetzt war ihm noch nicht die Richtige für sein Vorhaben über den Weg gelaufen, obwohl er schon einige Frauen abgeschleppt hatte. Irgendwas lief nicht rund. Auf diese Meskalin-Drinks, die er ihnen anbot, reagierten die meisten Frauen mit Hemmungslosigkeit und wollten mehr davon. Umso ernüchternder war dann zumeist der nächste Tag. Schade eigentlich, denn es waren ganz brauchbare weibliche Geschöpfe dabei gewesen.
Lothar war schon leicht angesäuert, wenn er ihm mal wieder mitteilen musste, dass bis jetzt noch keine außer Britta bereit war, nach Schweden mitzukommen. Die meisten der Frauen hatten feste Bindungen, sei es in Form von Kindern, Partnern, Eltern oder beruflicher Natur. Und auch die Prostituierten, die er aus Hamburg kannte, entsprachen bestimmt nicht Lothars hohen Anforderungen. Mit denen würde er sich vor seinem Vater nur lächerlich machen. Auch hatte er nicht vor, sie Erna abzuwerben.
Er versuchte erneut, seinen Körper in den Rhythmus zu schmeißen, die Bewegungen fließen zu lassen, und schloss dabei die Augen. Aber auch mit Santanas Soul Sacrifice kam er nicht so recht zusammen.
»Hey Fuchs, hast du Lust auf eine Session in Nordhausen? Privatparty bei einem neuen Kumpel.«
Durch die Grenzöffnung war viel in Bewegung geraten. Mo, der eigentlich Moritz hieß und noch viel zu jung für diese Diskothek war, tanzte neben Volker, der feststellte, dass Mo viel weniger verkrampft dabei war als er.
»Klar komme ich mit!« So was konnte Volker sich nicht entgehen lassen. »Hast du ein Auto dabei?«
Mo grinste. »Das wird ja nicht schwer aufzutreiben sein.«
»Dann vergiss es.« Volker legte Trenchcoat und Rucksack zurück auf den Sitzblock.
»Komm«, beschwichtigte Mo ihn, »wer spricht denn von klauen? Ein Freund von mir wird uns fahren. Spritgeld müssen wir zusammenlegen. Oder bist du anderswie flüssig?«
Volker tat so, als wäre das Gespräch beendet und mühte sich weiterhin auf der Tanzfläche ab.
Wenn sie an Drogen kommen wollten, dann bitte nicht auf diese Art und Weise. Man brauchte ihn mit keiner Fahrt zu einer Party locken und dann auch noch in den Osten. Was sollte das schon für eine Party sein?
»Entweder ihr bezahlt für die Drogen oder peng.«
»Du kannst umsonst mitfahren und uns reicht jedem so ein Drink, so einer, von dem die Tussen so schwärmen.«
Volker musste lachen. »Wie viele seid ihr denn?«
»Im Ganzen vier. Drei Männer und eine Frau. Auf der Party sind aber noch mehr Frauen.«
Inzwischen war Volker neugierig geworden. »Okay, ich komme mit. Und einen Drink für jeden von euch.«
Mo nickte. Sie gingen raus. Draußen gackerten einige Mädchen herum und ein Auto stand mitten auf dem Platz, die Türen waren geöffnet. Ein junger Mann und eine Frau saßen im Auto, hörten Musik und rauchten, ein anderer stand draußen ans Auto gelehnt. Völlig losgelöst von der Erde tönte es aus dem Autoradio und die junge Frau sang mit. Volker stellte fest, dass er den Mann, der neben der Frau im Auto saß, schon öfter mal gesehen hatte. Göttinger, genau wie er und auch etwa sein Alter, vielleicht etwas jünger. Die Frau hatte er vorher noch nie gesehen. Der Mann stieg kurz aus, sodass Volker jetzt hinten in der Mitte neben der Frau saß. Sie roch gut, hatte aber für seinen Geschmack etwas dick aufgetragen.
»Blazer by Anne Klein«, sagte sie. »Gefällt es dir?«
Er spitzte den Mund. »Och ja, es gefällt mir… und nicht nur der Duft.« Vielleicht war sie ja die zweite Britta.
Es war eng im Auto. Stillsitzen war ihm schon während der Schulzeit schwergefallen und der Arzt hatte eine Hyperaktivität diagnostiziert. Er konnte sich trotz seines enorm hohen IQs, den ihm dieser Psychiater bestätigt hatte, nie sehr lange konzentrieren. Und so hatte er mit großer Mühe zuerst die Realschule und danach die Ausbildung zum Chemielaboranten hinter sich gebracht… auch ohne dieses Ritalin, das hyperaktiven Kindern nur zu gern verabreicht wurde.
»Fuchs, du Sack, was denkst du dir eigentlich dabei?«
Mo, der trotz seines Alters, er war höchstens sechzehn, anscheinend der Anführer der Truppe war, drehte sich vom Beifahrersitz aus zu Volker um. Sein Blick wirkte provozierend. Volker war völlig in Gedanken versunken gewesen. Die Unruhe, die ihn nur selten verließ, der Geruch und der Anblick dieser zweiten Britta.
»… oder soll ich für dich antworten?« Mo grinste hinterhältig.
»Was willst du von mir?«, fragte Volker.
Da waren sie schon von der Straße abgebogen und hielten nun neben einem Gebäude, leer stehend, wie so vieles nach der Wende. Volker ärgerte sich. Hätte er nur besser auf den Weg geachtet und sich nicht so viel mit dieser Frau beschäftigt.
»Der dämliche Arsch hat mich die ganze Zeit angetatscht!«, schrie die hysterisch los.
Mein Gott, er konnte seine Hände oft nicht ruhig halten, aber in diesem Fall…! »Red` nicht so`n Blödsinn«, wollte er eigentlich sagen, als plötzlich Fäuste auf ihn niederprasselten. Sogar sie schlug auf ihn ein. Was für ein dummer Zufall, dass er auch noch hinten in der Mitte saß. Zufall? Er war weder schwächlich noch besonders ängstlich. Und doch schockte ihn diese geballte Gewalt. So viel Hass war ihm noch nie begegnet. Ein gemeiner Hinterhalt! Er hatte einige Schläge und Fausthiebe einstecken müssen, war aber längst nicht am Ende. Gezielt schlug er auf den Kerl neben sich ein. Wer war er überhaupt?
Für einen Augenblick hatte Volker den Kerl außer Gefecht gesetzt und konnte die Autotür öffnen. Ein Satz über ihn hinweg und er war im Freien. Obwohl er gewöhnlich flink wie ein Wiesel war, hatten sie ihn blitzschnell eingeholt. Mo war mit einem Baseballschläger bewaffnet, damit schlug er zwischen Volkers Beine, während die anderen ihn festhielten. Ein Schmerz, der sich bis zum Scheitel hochzog, und das gleich mehrmals hintereinander. Mos dunkele Locken verschmolzen mit dem noch dunkleren Himmel, als er Volker, der auf dem Boden lag, ins Gesicht sah.
»Du hast eine Freundin von mir unter Drogen gesetzt und dann gefickt!«
Auch wenn der Schmerz ihn etwas betäubte, musste Volker schmunzeln. Oder gerade deshalb. Irgendwie musste er das wohl aushalten.
»Als wenn sie das nicht selbst wollen. Guck mich an, meinst du, ich muss Frauen zu was zwingen?«
Er wehrte sich nicht, als sie an ihm rumzerrten, ihm die Klamotten vom Leib rissen. Nackt, aber irgendwie erleichtert registrierte er, wie sie ins Auto stiegen und mit seinen Anziehsachen und seinem Rucksack davon fuhren. Er tastete Penis und Hoden ab. Dem Schmerz nach zu urteilen geprellt, oder gequetscht…, aber alles war noch vorhanden. »Huuhhh«, er atmete hörbar mit gespitztem Mund aus. Das Ganze war wirklich ein schlechter Scherz. Oder? So was durfte nie wieder passieren. Nie mehr, damit das klar war. Er suchte nach besonderen Frauen und da halfen ihm nur besonders gute Ideen. Und er brauchte neben seinen üblichen Freunden welche, die für ihn zuschlugen, anstatt auf ihn einzuschlagen. Er musste an sein Ziel kommen, ohne etwas von seiner Beliebtheit einzubüßen. Er nutzte die Dunkelheit, um sich mühsam bis zum nächsten Ort zu schleppen.
Viel dachte er nicht, als er das Ortsschild sah. Irgendwas würde ihm schon einfallen. Als die ersten Häuser in sein Blickfeld gerückt waren, hatte er hastig einige Zweige von einem Haselnussbusch abgerissen, um wenigstens sein lädiertes Geschlechtsteil vor unverhofften Blicken zu schützen. Unter anderen Umständen hätte er seinen Zustand vielleicht als anregend oder provozierend empfunden. Sich nackt den Häusern anderer Menschen nähern… eine außergewöhnliche Situation. Er war bekannt dafür, für alles Außergewöhnliche und Neue offen zu sein. Jetzt schmerzte alles heftig und er hatte keinen Plan. Und selbst wenn… sein Bewegungsradius war so nun mal erheblich eingeschränkt. Warum musste ausgerechnet einem wie ihm das passieren?
Der Himmel war bewölkt, aber der Morgen blieb trocken. Die Häuser entlang der Straße reihten sich graudunkel aneinander, in den Gärten reifte das Gemüse. Es war mehr, als er erwartet hatte, als eine Frau auf einer kleinen Wiese neben den Stangenbohnen Wäsche aufhängte. Als sie wieder im Haus war, kletterte er flink über den Zaun, schlich zur Wäscheleine und nahm gezielt einige Wäschestücke ab. Mit einem dünnen hellblauen Rock und einem T-Shirt mit der Aufschrift New York City bekleidet, zog er an der Straße entlang in Richtung Duderstadt. Dort kannte er einen, den er auch antraf und der ihm eine Hose und das Geld für den Bus nach Göttingen lieh. Er war zwar stinksauer auf Mo und dessen feine Freunde, aber er würde von Rache absehen. Das war nicht sein Stil. Seine Macht bestand mehr darin, andere von sich abhängig zu machen. Und er nahm sich vor, nie wieder in so eine Situation zu gelangen. Es konnte auch nicht schaden, die Fertigkeiten in Karate wieder etwas aufzufrischen. Schließlich besaß er nicht umsonst den braunen Gürtel.
Schon beim Öffnen der knarrenden Eingangstür begegnete mir der altbackene Geruch von Bohnerwachs. In der Mitte angekommen, zog ich vorsichtshalber die hochhackigen Schuhe aus. »Sei möglichst leise«, hatte Dagmar zu mir gesagt, »du weißt doch, in diesem Haus haben sogar die Wohnungstüren Ohren.« Wenn Dagmars Eltern wie an diesem Tag beide Spätschicht hatten, durfte Dagmar weder das Haus verlassen, um sich mit Freunden zu treffen, noch Besuch bekommen.
Verliebt, verknallt… Begriffe, die auf das, was ich für Felix empfand, nicht so wirklich passten. Ich war stolz und es schmeichelte mir, dass einer der süßesten, begehrtesten Jungen der Stadt sich mit mir beschäftigte. Dagmars Wohnungstür war angelehnt. Sie warteten schon. Felix war mal wieder nicht ohne seinen Freund Armin erschienen. Die beiden waren unzertrennlich. Felix, der kontaktfreudige, aufgeschlossene Blonde, und Armin, der sehr große, dunkelhaarige, zurückhaltende Klotz, der immer diese unmodischen Anzughosen in Kombination mit weißen, gebügelten Oberhemden trug. Zuerst hatte Dagmar sich ja Hoffnungen gemacht, einmal fest mit Armin zusammen zu kommen. Aber Armin stand nicht wirklich auf sie, und wenn es so gewesen wäre, hätte vielleicht höchstens Felix davon erfahren.
Jeder wusste, was für eine arme Sau Dagmar war. Sie musste sich ein Zimmer mit ihrem zweieinhalb Jahre älteren Bruder Ralf teilen, führte den Haushalt, wenn ihre Mutter zur Arbeit war, und pflegte obendrein ihre bettlägerige Oma, die im Nachbarhaus dahinvegetierte. Dafür bekam Dagmar selten einen Dank, eher noch einen Anpfiff und sie durfte gar nichts, obwohl sie schon fünfzehn war. Dagmar hatte sich deshalb aus Verzweiflung einen Scheinverlobten zugelegt. Der Deal bestand darin, dass er ihr freie Zeit verschaffte, indem er sie bei den Eltern offiziell abholte, sie sich trennten und er sie später bei den Eltern wieder ablieferte. Sie gab sich dafür vor seiner Familie und seinen Freunden auch als seine Verlobte aus. So was Hübsches wie Dagmar abzubekommen, wäre für einen so hässlichen Kerl wie ihn im wirklichen Leben wahrscheinlich nie möglich gewesen. Zweimal hatte Dagmar aus Mitleid und Dankbarkeit schon mit ihm geschlafen, was ihn noch gehorsamer und gefügiger machte.
Wir knutschten schon im Wohnungsflur wild herum. Vor Felix hatte ich schon zwei Jungen geküsst. Axel, diesen schüchternen schwarzen Jungen, der aus Frankreich kam und nur zu Besuch in Herzberg gewesen war. Er hatte zufällig im Kino neben mir gesessen. Und Ringo, einen anderen Konfirmanden, der außer der Riesennase auch die Frisur wie Ringo Starr von den Beatles besaß. Er war plötzlich bei meiner Konfirmation vor einem Monat einfach so aufgetaucht. Diese Feier, bei der alle zu viel getrunken hatten, außer Ruth natürlich, meiner ältesten Schwester, die keinen Alkohol trank, nie fluchte und sowieso einen Stock verschluckt hatte. Obendrein studierte sie Theologie und war mit einem Pastor verheiratet. Henning, ihren Mann, fand ich ja schwer in Ordnung, aber sie, sie moralisierte ständig rum. Für unsere Mom, die in meinen Augen schon immer eine christliche Macke gehabt hatte und die als Protestantin in einem vorwiegend katholischen Freundeskreis förmlich unter Verfolgungswahn litt, kam ein Pastor dem lieben Gott gleich, und sie betete immer dafür, dass Ruth und Henning doch möglichst schnell engelsgleiche Kinder bekommen mögen.
Dagmar schloss die Tür zur guten Stube auf. Ich fühlte mich mal wieder bestätigt. Wie konservativ Dagmars Eltern doch waren. Nur solche Leute hatten Anfang der Neunziger noch eine gute Stube. Das Zimmer wirkte kühl und konserviert, das Sofa sah unbenutzt aus. Felix probierte die Federung aus, indem er sitzend hoch und runter hopste. Er sah sich im Raum um. Sein Blick blieb an dem Bild mit dem röhrenden Hirsch hängen, welches über der Anrichte hing.
»Na ja, wer`s mag.«
Ich saß auf dem Sofatisch und beobachtete ihn. Jetzt oder nie, dachte ich, als ich aufstand und anfing, mich auszuziehen.
»Hey Ester!«
Felix fühlte sich anscheinend angenehm überrumpelt. Er sagte, so was wäre ihm ja noch nie passiert. Als er, auch völlig nackt, auf dem Sofa saß, fand ich ihn unheimlich hübsch mit seinen blonden Locken und den großen braunen Augen, die manchmal so melancholisch dreinblickten. Sein Penis war erigiert. Ehrlich, so was hatte ich noch nie gesehen. Auf dem Sofatisch sitzend dachte ich darüber nach, wie es wohl weitergehen würde. Meine Freundinnen hatten mir erzählt, Jungen wollten immer einen geblasen haben. Das kam für mich aber überhaupt nicht in Frage. Ich hatte von nichts eine Ahnung und plötzlich eine Scheißangst.
»Denk nicht nach«, sagte Felix, »komm einfach her.«
Ich stand auf. Meine hellrote Schambehaarung war mir peinlich, genauso wie mein winziger Busen und meine dürren blassen Beine, die mir zu kurz vorkamen. Deshalb trug ich manchmal heimlich Schuhe mit Absatz. Also schlüpfte ich wieder in meine hochhackigen Schuhe. Ich fand, die machten meine Beine länger. Völlig überwältigt streckte Felix seine Hand aus. Unsicher stakste ich auf diese Hand zu. Er berührte mich und drang vorsichtig in mich ein. Ich verlor meine Angst, rutschte auf seinen Schoß und machte anscheinend alles richtig, denn Felix freute sich. Er fragte mich, ob ich das Gefühl genauso schön finden würde wie er.
»Merkst du es nicht?«, fragte ich ihn.
»Oh doch.« Er lächelte mich lieb an. »Ester, du bist ein Naturtalent. So eine wie dich gibt`s ganz selten«, hauchte Felix.
Ich freute mich und war begeistert, dass er so etwas zu mir sagte. Ungezwungen küsste ich Felix überall da, wo ich mit meinem zarten Mund hinkam. Es hätte Ewigkeiten dauern können, wäre da nicht plötzlich Dagmars Bruder Ralf aufgetaucht. Anscheinend war er frühzeitig von seiner Fortbildung zurückgekehrt. Seine laute, bollernde Stimme klang vom Flur aus zu uns in die gute Stube rüber.
»Gibt`s in dem Laden was zu fressen?!«
Felix zuckte zusammen. Wir umklammerten uns noch, aber die Echtheit der Situation hatte uns lautstark eingeholt. Ralf polterte auf dem Flur rum, aus dem Radio dudelte die Musik von ABBA. Anscheinend gefiel ihm die Musik nicht… verzerrte Töne… er fluchte, bis er den richtigen Sender gefunden hatte. Joe Cocker mit Unchain my heart gefiel ihm anscheinend besser. Ralf war ein Choleriker, genau wie sein Vater. Dagmar konnte einem wirklich leidtun.
Wir wollten es beide nicht, aber was blieb uns anderes übrig? Hastig zogen wir uns an. Weil mein Schlüpfer mit der Strumpfhose zusammenhing, beides sich nicht so schnell trennen ließ, nahm ich das Knäuel, öffnete den Reißverschluss eines der bestickten Kissen, die ursprünglich in Reih und Glied auf dem Sofa gestanden hatten, und steckte alles zusammen dort rein. Auf dem guten, beinah unbenutzten Sofa prangte ein dicker Blutfleck.
»Ester, du bist unglaublich«, flüsterte Felix mir zu. Dann wurde er ernst, seine Augen sahen wieder so melancholisch aus. »Ich fürchte, der arme Armin bekommt gleich eins auf die Fresse und wir auch, wenn wir nicht sofort hier verschwinden.«
»Wir müssen Armin helfen«, stellte ich fest.
Felix fand das keine gute Idee. Was, wenn Dagmar schnell reagiert hatte und ihn jetzt gut versteckt hielt? Wie praktisch für uns, dass sich die gute Stube gleich neben der Eingangstür befand, so kamen wir unbemerkt ins Treppenhaus. Felix machte sich große Sorgen um seinen Freund, als wir draußen auf den Treppenstufen vor dem Haus saßen. Felix und Armin konnten Ralf, der ungefähr in ihrem Alter war, noch nie ausstehen. Jetzt bezeichnete Felix ihn als Hinterwäldler, brutalen Kotzbrocken und als einen, mit dem man sich besser nicht anlegt. Armin war bärenstark und hätte Ralf mit Leichtigkeit zu Kleinholz verarbeiten können. Aber Armin war ein sanfter Riese, der überhaupt nicht zu Gewalttätigkeit neigte.
Nach einer Weile kam Dagmar mit der Einkaufstasche überm Arm aus dem Haus geschnellt. »Scheiße, das war anders geplant. Tut mir leid, dass mein Bruder schon nachhause kam.«
»Wo ist Armin jetzt? Hat Ralf ihn schon umgebracht?«, fragte Felix.
Dagmar schüttelte sich. »Armin liegt flach unter meinem Bett.« Sie wedelte aufgeregt mit der Hand. »Aber macht euch keine Sorgen, ich habe Sachen davor gestopft… mein Bruder kann ihn so nicht sehen. Ralf hat jetzt erst mal Hunger, aber nachher lasse ich mir was einfallen, das schwöre ich euch. Wir werden Armin da oben weg bekommen.« Dagmar hastete die Hauptstraße hoch und verschwand im Plus-Markt.
»Sag mal, in welchem Jahrhundert leben wir eigentlich?«, fragte Felix.
Nach kurzer Zeit kam Dagmar zurück, die Einkaufstasche hing prallgefüllt an ihrem Arm. »Wartet hier unten, ich bekomme das schon hin mit Armin.«
»Was hast du denn für ein Bett, dass der Riese darunter passt?«, meinte Felix zu Dagmar.
Die guckte entsetzt und schoss ins Haus. Wir warteten nicht freiwillig draußen. Am liebsten wären wir noch mal aufs Sofa zurückgekehrt. Dieser blöde Ralf war an allem Schuld.
Felix hatte mich an die Wand des Hauseingangs gedrückt und meinen Pullover hochgeschoben. Er spielte mit meinem Busen, dabei küssten wir uns.
»Du hast süße kleine Nippel«, stellte Felix fest, »diese großen Dinger mag ich nicht so.«
Dass ein Junge meinen Busen lieben könnte, das hätte ich ja nun gar nicht für möglich gehalten. Passanten kamen vorbei, einige guckten verschämt weg, andere sahen neugierig zu uns rüber. Meine Mom arbeitete in der Innenstadt in einem Haushaltswarenladen. Mir war klar, in einer so kleinen Stadt wie Herzberg wüsste sie spätestens am nächsten Tag, was für eine runtergekommene Tochter sie doch hätte, die sich in aller Öffentlichkeit von einem Jungen befummeln ließ.
Als allerdings eine ältere Frau die Treppe in Dagmars Haus runter gekommen war und beinah handgreiflich geworden wäre, verließen wir den Eingang. »Könnt ihr nicht woanders rumhudeln? Habt ihr kein Zuhause? Wisst ihr denn nicht, was sich gehört?«, schrie sie.
»Was sind Sie bloß für ein lustfeindliches Pissgesicht?«, brüllte ich zurück. Und wieder warteten wir auf den steinernen Stufen vor Dagmars Haus. Es dauerte nicht mehr lange, bis Ralf in seiner Feuerwehrmontur das Haus verließ.
Felix grüßte ihn mit einer spöttisch wirkenden Verbeugung. »Guten Abend, der Herr.«
Ralf blickte starr geradeaus. »Nnnnabend.«
Zum Glück für Felix hatte er es eilig.
Endlich ließ Armin sich blicken. Er sah leicht zerknirscht aus. Der Gürtel seiner Hose hing noch geöffnet herunter, was Felix spaßeshalber als verdächtig bezeichnete.
»Na, wie war`s mit Dagmar?«, grinste er.
»Hör bloß auf, mir ist jetzt endgültig klar geworden, dass wir nicht zusammenpassen.«
Sie brachten mich noch nach Hause. Ich, eng umschlungen mit Felix, während Armin frustriert neben uns her trottete. Felix gab mir zum Abschied auf dem Gehweg vor meinem Elternhaus einen intensiven Kuss, was meine Eltern und Oma aus dem Küchenfenster heraus beobachteten. Sie hingen am Fenster, als wäre gerade ein Autounfall auf der Straße passiert.
»Ich bin jetzt mit Felix zusammen, er ist mein Freund«, teilte ich ihnen beim Abendessen mit.
»Ester, bist du nicht noch viel zu jung für so was…?«, fragte Mom.
Dad fiel ihr ins Wort. »Ach was, Elisabeth. Die Zeiten haben sich geändert. Er macht einen ordentlichen Eindruck, dieser Junge, dieser Felix.«
Oma schüttelte energisch den Kopf. »So was gab es früher nicht. Meine Eltern hätten mich zum Teufel gejagt, wenn ich einen Jungen auf der Straße geküsst hätte. Vor der Ehe war höchstens mal ein ganz zarter Kuss auf die Wange erlaubt.« Dabei blickte sie ernst in die Runde.
Ich gab daraufhin ein Geräusch von mir, was entsteht, wenn man mit geschlossenem Mund Luft durch die Nase bläst und dabei leicht die Stimme erhebt. Mom guckte verzückt, bloß Dad entrüstete sich.
»Ach Anna, das glaubst du doch selber nicht. Gefühle hegten die Menschen schon immer zueinander. Sie mussten sich nur verstecken, weil die Moral verlogener war. Was ist verwerflich daran, wenn man Gefühle offen zeigt?«
Ich war aufgeregt und konnte nicht einschlafen. Wie lange hatte ich vor dem ersten Mal Angst gehabt und jetzt war alles so einfach gewesen. Wie gut, dass Felix derjenige gewesen war, der mir geholfen hatte, alles so gut zu überstehen. Einige meiner Freundinnen hatten da nicht so viel Glück gehabt. Es läuft alles super, dachte ich, obwohl ich gar nicht wusste, ob Felix jetzt weiterhin mit mir zusammensein wollte.
Doch ich traf mich ab und zu noch mit Felix. Er durfte sogar zu mir nach Hause kommen. Meist brachte er Armin mit, der dann geduldig die Tür bewachte. Wir knutschten und fummelten rum, kamen aber selten weiter. Oma, die oben im Haus wohnte, hatte Lunte gerochen. Sie kam andauernd in mein Zimmer geplatzt. Mal brachte sie Wäsche rein. Oder sie stellte so überflüssige Fragen wie: »Na Kindchen, was möchtest du denn morgen auf dein Schulbrot?« Als hätte diese Frage nicht Zeit. Oma hatte aber durchaus auch gute Seiten und sie war beileibe nicht immer nur nervig. Oma hatte mal Schneiderin gelernt und nähte für mich tolle, ausgefallene Klamotten, die es nirgends zu kaufen gab. Wir gingen zusammen los und besorgten Schnittmuster und Stoffe aus dem Restestübchen in der Hauptstraße.
An diesem Abend spielten gleich mehrere Schülerbands im Haus der Jugend in Osterode. Meine Eltern hatten mich schon um 18 Uhr dorthin gefahren. Ich war mit Felix verabredet. Ich wartete und wartete. Plötzlich tauchte Armin ohne Felix auf. Mir war gleich klar, dass irgendwas nicht stimmen konnte. Warum hatte der Feigling seinen Freund vorgeschickt?
Armin sah mal wieder äußerst gewöhnungsbedürftig aus, fand ich. Seine nicht ganz kurzen, dunkelbraunen Haare trug er hinter die Ohren gegelt. Bekleidet war er mit schwarzem Anzug, schwarzem Hemd und dazu trug er auch noch schwarze, polierte Halbschuhe. Die Band spielte Satisfaction und Hey Joe. Armin sah irgendwie verloren aus. Im Knopfloch seines Anzugs steckte eine riesengroße dunkelrote Blume.
»Wollen wir tanzen? Felix kommt sicher auch gleich.«
Wir tanzten mal eng, mal auseinander, wieder eng, als aus Armins Blume eine gelbe Schnecke kroch. Sie hinterließ eine sichtbare Spur auf dem schwarzen Anzug. Wir lachten beide laut los. Es war wirklich das erste Mal, dass ich Armin laut lachen hörte. Dieses Lachen klang angenehm, wie ich auch seine weiche, warme Stimme angenehm fand. Ich stand kein Stück auf Männer in Anzügen. Außer bei Dad, der als leitender Angestellter immer Anzüge trug, fand ich, Männer sahen darin affig aus. Aber wie Armin dastand, laut lachte… mit dieser gelben Schnecke auf dem Anzug, die inzwischen schon bis zur Schulter vorgedrungen war, fand ich ihn auf einmal so unglaublich schön. Er war plötzlich nicht mehr dieser steife, massige Klotz, der sich selbst im Weg zu sein schien. Er drückte mich ganz fest an sich.
»Vorsicht, die Schnecke«, sagte ich.
Felix kam, als ich gerade mit Armin auseinandertanzte und so toll in Schwung gekommen war. Er hatte Frederike im Arm, meine Schulfreundin aus der Realschule. Freddy war ihr Spitzname. Freddy war ein besonderer Freundinnenfall. Das arrogante Auftreten war ihr wahrscheinlich angeboren, genau wie ihr unerträglicher Zynismus. Wer damit umgehen konnte, sie nicht kritisierte, ihr nicht widersprach, der konnte sogar mit ihr auskommen. Ich hatte einmal versucht, sie zu kritisieren, indem ich Freddys Klamotten als altmodisch bezeichnet hatte, was immerhin der Wahrheit entsprach. Seitdem reagierte Freddy ständig über. Als ich vor drei Jahren meinen Pudel Pauli bekommen hatte, hatte Freddy nur schnippisch bemerkt: »Was, einen Pudel? Ich dachte, du hättest einen Hund bekommen.« Das traf mich sehr. Obwohl ich auch die kranke Seite von Freddys Familiengeschichte kannte, brauchte Freddy meiner Meinung nach auf niemanden neidisch zu sein, schon gar nicht, wenn es um materielle Güter ging. Und Freddy schien nichts wichtiger zu sein als Besitz. Freddy besaß mehrere Reitpferde und zwei große Jagdhunde. Sie musste nur mit dem Finger schnippen, dann kaufte ihr ihre Mutter alles, was sie haben wollte. Und jetzt nahm sie mir Felix weg. Er stand eng umschlungen mit ihr da, anstatt mit mir. Es fühlte sich so hart an und tat weh, verdammt weh. Armin nahm mich liebevoll in die Arme.
»Felix ist nun mal so, Ester. Er hat mir gesagt, er mag dich sehr. Kommst du mal mit raus?«
Beim Rausgehen trafen wir ausgerechnet auch noch auf diese Schnepfe Dorit, auch eine meiner sogenannten Freundinnen. Ich war ja schon schmal gebaut, aber Dorit…! Eigentlich war sie magersüchtig. Aber mit ihren unglaublich langen Beinen und dem blonden Engelshaar wirkte sie wie eine graziöse Fee. Sie trug an diesem Abend das pappelgrüne Flatterkleid, ein Meisterstück meiner Oma. Ich ärgerte mich. Leider verlieh ich die Klamotten viel zu oft, einige Stücke hatte ich nie wieder gesehen. Auch Dorit hatte die Übergabe geschickt verschoben.
»Ach, da ist ja mein Kleid! Willst du es mir nicht endlich mal zurückgeben?«, zickte ich Dorit an. Schließlich war ich traurig und geladen, unheimlich geladen.
Dorit schien aber auch nicht gut drauf zu sein. »Reg dich nicht auf, Growinkelchen, du bekommst es ja wieder… aber doch wohl nicht hier sofort und auf der Stelle!«
Daraufhin hätte ich es dieser dürren Ziege beinah vom Leib gerissen. Zu allem Überfluss kam jetzt Felix mit Freddy im Arm auf uns zu geschlenkert. Erst küsste er mich auf die Wange, dann Dorit.
»Na, meine Lieben.«
So großkotzig hatte ich ihn ja noch nie erlebt. Das ist nur, weil er mit dieser arroganten, gemeinen Freddy zusammen ist, dachte ich und fühlte mich gedemütigt.
»Die Betonung liegt auf Lieben, Ester. Und achte mal auf den Plural dabei«, flüsterte Armin mir ins Ohr.
Ich verstand nicht so ganz. Draußen war es für Mai noch sehr kühl und ich fror in dem Kleid aus grobem Leinenstoff, das meine Oma mir noch in der Nacht zuvor fertig gestellt hatte. Obwohl es ein Futter aus Taft besaß, kratzte das Kleid an manchen Stellen. Mir standen grobe Sachen. Den Kontrast fand ich reizvoll zu meinem schmalen, zarten Gesicht. Lange Haare hätten dieses Gesicht erschlagen, deshalb trug ich die goldblonde Mähne immer rappelkurz. Jedenfalls schmiss ich an dem Abend, als ich mit Armin in der kühlen, frischen Mailuft stand, meine Sandalen auf das Rasenstück neben dem Jugendheim, brüllte laut und legte mich daneben. Ob das Kleid kratzte, die Welt unterging, der Himmel runterfiel… mir war alles egal. Ich heulte Rotz und Wasser. Armin deckte mich mit seiner großen Anzugjacke zu, auf der immer noch die Schnecke rum kroch. Er setzte sich neben mich ins Gras.
»Ich dachte, du wüsstest, wie Felix ist. Ein Begriff wie Treue existiert für ihn nicht. Er möchte Spaß… aber er ist auch interessiert daran, dass andere Spaß haben. Oder findest du das nicht?«
Völlig verheult, mit verrotzter Nase schwieg ich. Mir war natürlich schon klar, was für ein Filou Felix war. Trotzdem tat es nun mal weh. Verdammt weh! So eine Art Schmerz hatte ich noch nie zuvor empfunden.
»Er hat dich, Freddy und Dorit kurz nacheinander entjungfert. Das muss ihm erst mal einer nachmachen«, meinte Armin ernst.
Erst sahen wir uns an, dann grölten wir laut los. Mir rannen die Tränen immer noch runter.
»Felix, mein Freund, ist der perfekte Dosenöffner!«, schrie Armin.
»Tortenheber!«, grölte ich.
»Eisbrecher!«
»Entkorker!«
»Nussknacker!«
»Anbräter!«
Wir brüllten noch mehr hohle Wortschöpfungen in den Himmel und wir lachten grundlos, als ich Armin davon erzählte, wie Dagmars Vater das Sofakissen geöffnet hatte und den Blutfleck auf dem Sofa entdeckte. Es war nicht die erste Tracht, die Dagmar bekam. Sogar der Pseudoverlobte, der die Schuld auf sich nahm, konnte Dagmar nicht vor dem Hausarrest bis Weihnachten bewahren. Nein, daran war eigentlich nichts komisch, aber wir befreiten uns gerade. Wir gingen noch mal rein und tanzten ausgelassen und wünschten Freddy und Felix noch viel Spaß, als sie gingen.
Zu Hause in meinem Bett kam der Schmerz zurück und ich weinte noch etwas. Aber es stimmte, was Armin zu mir gesagt hatte, als wir uns mit einem zarten Kuss trennten. »Du bist noch sehr jung, Ester. Dein Leben fängt erst an.« Er hatte ja recht. Ich mochte Armin wirklich sehr gern.
In der Schule wurde ich immer schlechter. Ich hatte auch gar keine Lust mehr, mich anzustrengen. So hoch gelobt und viel gepriesen wie meine Schwestern konnte ich sowieso nicht mehr werden. Mit meinen Gedanken war ich nie so richtig bei der Sache, auch wenn ich mir Mühe gab. Aber in letzter Zeit gab ich mir auch schon keine Mühe mehr. Es kam mir vor, als müsste ich die Eiger-Nordwand in Badelatschen ersteigen, und das täglich. Was für ein aussichtsloses Unterfangen war das denn? Dabei ging ich neuerdings schon auf die Hauptschule. Gerade Mom, die selbst nur Verkäuferin gelernt hatte, regte sich am meisten darüber auf, was mich total nervte. Aber jetzt, da die Versetzung anstand, wurde mir immer mehr bewusst, was ich bisher erfolgreich verdrängt hatte: Ich blieb kleben.
Mein Dad machte sich schlau, doch noch das vermeintlich Beste für seine Tochter raus zu holen. In einem Ort in der Nähe gab es eine Hauswirtschaftsschule, die sollte ich nach den Ferien für ein Jahr bis zum Hauptschulabschluss besuchen. Inzwischen war ich fünfzehn und fühlte mich weder anders noch besser als vorher.
Felix kam immer noch vorbei. Meine Eltern wussten aber inzwischen, dass die Beziehung zu Felix locker und frei war und es auch bleiben sollte, und wir beide in keinem Fall eifersüchtig auf andere Männer oder Frauen sein würden. Wir hatten das für uns so beschlossen und fanden das unheimlich schick und vernünftig.
Bei gemeinsamen Diskussionen am Küchentisch versuchten wir meine Eltern von den Vorzügen der freien, offenen Liebe zu überzeugen. Meine 22-jährige Schwester Judit, die in München Kunstgeschichte studierte, war zu Besuch und beteiligte sich auch an der Diskussion. Sie fand es ungewöhnlich für eine Fünfzehnjährige, so unromantisch zu denken. Judit erklärte ihre Partnerlosigkeit damit, dass sie sich für den Einzigen, den Endgültigen aufsparen würde, was Mom mit Applaus versah.
»Das ist meine Tochter, meine Judit!«, rief sie klatschend aus.
»Judit, du bist wie deine Mutter!« Dad räusperte sich. »Armer Junge«, meinte Dad zu Felix, »an dir sieht man mal wieder, was so ein durchgeknalltes Weibsstück, wie meine Tochter eins ist, aus einem normalen Mann alles machen kann.«
Er selbst hatte sich damals trotz aller Warnungen gegen seine katholische Familie durchgesetzt und eine Protestantin geheiratet. Seitdem sah er seine Eltern und die Familie seines Bruders nur alle Jubeljahre und die Begegnungen fielen sehr unterkühlt aus. Er, Heiner Growinkel, war bestimmt kein Moralapostel, aber was ich da von mir gab…! Rumbumsen mit wem man wollte, ohne Ansprüche an den Anderen? Ja, so was konnte nur schief gehen. Seiner Meinung nach machten wir jungen Leute uns nur unglücklich mit unseren Ansichten über die freie Liebe.
Später, als Felix schon gegangen war, diskutierten wir weiter. Oma war jetzt auch anwesend. Über Frauen, die so waren wie ich, konnten Männer ihrer Meinung nach doch nur schlecht denken.
»Richtig, so wird man dich in deinem Leben nur ausnutzen«, meinte Dad.
»Wie kann man mich denn ausnutzen, solange ich an etwas genauso viel Spaß habe wie der Andere?«, wollte ich wissen und ich dachte: Meine Güte, sind die alle begriffsstutzig.
»Du vergisst die Gesellschaft, in der wir leben«, versuchte Dad es weiter. »In dieser Gesellschaft ist es nun mal so, dass Mädchen, die so leben, wie du leben willst, später als Nutte abgestempelt werden und keinen anständigen Mann mehr abbekommen.«
»Und was ist mit den Männern? Können die ficken, bis ihnen der Schwanz abfällt?«, fragte ich erhitzt.
Oma schlug daraufhin die Hände vors Gesicht und stammelte etwas von: »Nur noch skandalös.«
Ich fand, Oma gehörte in ein mittelalterliches Kloster und unsere Eltern sollten ruhig weiterhin in dieser verkackten Gesellschaft leben. Ich würde mich in Zukunft demonstrativ gegen diese kranke Gesellschaft mit ihren verlogenen Moralvorstellungen auflehnen. Sie waren doch alle nur unfreie Spießer, die alles, was sie taten, nicht hinterfragten und nur so lebten, wie sie lebten, weil sie nichts anderes kannten.
»Ja natürlich ist es einfach, sich außerhalb der Gesellschaft zu bewegen, solange man von ihr ernährt wird«, wetterte Dad. »Geh nur weiter den Weg des geringen Widerstands und bemühe dich nicht, einen vernünftigen Schulabschluss zu bekommen, mit dem du einen anständigen Beruf erlernen kannst. Profitier nur weiter von der Gesellschaft, die du so sehr verachtest.«
»Du musst zugeben, Dad hat recht«, sagte meine Schwester. Sie wandte sich an die Eltern: »Aber ihr dürft die Sache mit Ester nicht dramatisieren. Was macht sie denn schon Schlimmes? Ihr Verstand ist jetzt von den Hormonen blockiert, so was gibt sich bekanntlich wieder. Schulisch wird sie sich schon wieder berappeln… sie ist doch eine Growinkel und es gibt heute so viele Möglichkeiten, Schulabschlüsse nachzuholen. Und was die freie Liebe anbelangt… die wird doch spätestens gegen die große Liebe eingetauscht, wenn der Richtige auftaucht.«
»Aber sie schmeißt sich weg!«, kreischte Mom dramatisch.
Ich ließ alle sitzen und ging in mein Zimmer. Mein größter Fehler bestand wahrscheinlich darin, dass ich zu offen war. Die Anderen waren doch keinen Deut besser als ich, im Gegenteil. Was mich von meinen Freundinnen unterschied, war die Rebellion. Die machten alles heimlich, während ich es neuerdings dummerweise nach außen trug. Wenn alle diese tollen Eltern sich einbildeten, die braveren Kinder groß zu ziehen, täuschten sie sich gewaltig. Und überhaupt, ich hatte gerade dreimal mit Felix geschlafen. Was war verwerflich daran?
Ich lag schon im Bett, als meine Schwester leise die Tür öffnete. »Na, Schnuppelchen.«
So hatte Judit mich schon genannt, als ich mich noch nicht wehren konnte.
»Bitte sag nicht immer Schnuppelchen.«
»Oh, entschuldige Schnuppel.«
»Danke wegen vorhin.«
Judit setzte sich neben mich aufs Bett. »Vielleicht solltest du sie nicht immer so provozieren. Manchmal ist es ganz gut, wenn Eltern nicht alles wissen. Du sehnst dich doch danach, etwas unsichtbarer zu werden, oder? Ist das Gegenteil der Fall? Bist du deshalb so?«
Ja, klar. Meine Eltern sollten wirklich nicht alles mitbekommen und schon gar nicht Oma. Aber was sollte die Frage überhaupt?
»Wann sagst du ihnen endlich die Wahrheit? Dass du gar keinen Mann haben willst und sie sich höchstens mal auf eine Schwiegertochter einstellen können?«
»Kleine Kröte!« Meine Schwester boxte mich am Arm, dabei lachte sie. »Kommt Zeit, kommt Rat, kommt Rat nicht, kommt vielleicht seine Frau. Nein, im Ernst, weißt du, ich bin ja an Männern nicht uninteressiert. Meine Vorlieben sind nicht so eindeutig. Ich habe ja weder einen festen Freund noch eine feste Freundin.«
»Das nennt man bisexuell«, bemerkte ich und ich kam mir unheimlich wichtig dabei vor.
»Richtig, Schnuppel, das gibt es öfter mal. Ich habe mich ja nicht für die Rolle der Frau Sauberfrau in dieser Familie beworben, unsere Mom macht das aus mir.«
Judit ließ ihre braune Mähne nach hinten fallen und reckte den Kopf nach oben, als wolle sie mit dem Gesicht die Zimmerdecke berühren, dabei zwirbelte sie mit wenigen Handgriffen ihre Haare zu einem Dutt am Hinterkopf zusammen. Ich sah sie bewundernd an. Judit war absolut cool drauf. Alles, was sie tat, wirkte lässig und beinah schwerelos. Sie hatte sehr viele Lockerheiten eingeführt, zum Beispiel, dass es ab und zu Pizza oder Döner gab und Mutter und Vater Mom und Dad genannt wurden. Ich fand Judit nicht nur viel schöner als mich selbst, sondern sie war auch viel, viel klüger. Aber das war auch keine große Kunst.
»Findest du nicht auch, Dad ist völlig anders als unsere Mom?«, fragte ich.
Judit lächelte. »Ich glaube schon, dass in unserem Dad mehr steckt, als nach Ansicht von Mom in ihm stecken darf, und wenn er nicht ständig ausgebremst würde… ich weiß nicht, was in Heiner Growinkel alles noch so schlummert.« Judit hielt mich im Arm, mit der anderen Hand streichelte sie mein Gesicht. »Und du kleines Piepsgesicht, liebst du Felix?«
»Du hast es doch vorhin mitbekommen, was wir für eine Beziehung haben. Warum fragst du mich nochmal danach?«, fragte ich trotzig. Meine Schwester war doch nicht so begriffslahm wie Mom und Dad.
Judit küsste mich auf die Wange. »Du kleine Süße, du kleine naive Süße. Zum Thema bisexuell nur so viel: Felix… Armin, Armin… Evelyn und Dagmar, Felix… Ester, und was weiß ich, wer sonst noch alles. Ich hoffe für Felix, er macht sich Notizen oder führt so was wie `ne Strichliste mit Namen. Sonst kommt er noch durcheinander mit seinen ganzen Techtelmechteln, Deflorationen und Abenteuern, der Gute.«
Ich befreite mich aus Judits Umarmung und setzte mich auf. Ich wollte unverfroren aussehen, deshalb kniff ich meine Augen zusammen.
»Nee, ne? Bist du dir da mit Armin und Felix sicher?«
Judit lachte laut. »Doch, ich habe Evelyn besucht. Die hat mir das erzählt und auch, dass sie ab und zu mit Armin sehr viel Spaß hat. Sie sagt, sie würde schwer was verpassen im Leben, würde sie das nicht machen. Armin ist wohl der ultimative Vulkanausbruch, die Granate im Bett.«
Evelyn war die ältere Schwester von Felix.
Ich knautschte nervös die Bettdecke zusammen. »Ist das jetzt zu viel für dich, Schnuppelchen?«