Eleonores beste Sülze - Gabriela Bock - E-Book

Eleonores beste Sülze E-Book

Gabriela Bock

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Beschreibung

Lonau, ein kleiner Luftkurort im Harz mit knapp 300 Einwohnern: Es ist die Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November (Halloween). Nach einem Klassentreffen in der einzigen Gaststätte des Ortes wartet eine Teilnehmerin vergeblich darauf, dass ihr Mann sie abholt und macht sich schließlich allein auf den Weg nach Herzberg. In der Nähe des Flüsschens Lonau begegnet sie ihrem Mörder. Oder sind es zwei? Die gerichtsmedizinische Untersuchung ergibt, dass das Opfer vor ihrem Tod vergewaltigt wurde. Bei den Ermittlungen trifft Kommissar Geiger auf Eleonore Dix, eine ehemalige Mitschülerin der Toten. Er merkt sofort, dass Eleonore viel mehr ist als nur eine Zeugin. Dann wird ein alter Schulfreund, der auch auf dem Klassentreffen war, von seiner Ehefrau als vermisst gemeldet. - Ein skurriler Krimi mit einer Portion schwarzem Humor.

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Seitenzahl: 362

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Gabriela Bock

Eleonores beste Sülze

Impressum

Eleonores beste Sülze

ISBN 978-3-947167-02-9

ePub-Version V1.0 (09-2017)

© 2017 by Gabriela Bock

Bildmaterial:

Cover © sebastianosecondi # 606191804 | shutterstock.com

Cover © Jacob_09 # 670959295 | shutterstock.com

Autorenporträt © Ania Schulz | as-fotografie.com

Lektorat & DTP:

Sascha Exner

Verlag:

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

Postfach 1163 · D-37104 Duderstadt

Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

Web: www.harzkrimis.de · E-Mail: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

INNENTITEL

IMPRESSUM

PROLOG

OSTERODE/LONAU - SONNTAG, 1. NOVEMBER, MORGENS

LONAUTAL - SONNTAG, 1. NOVEMBER, VORMITTAGS

LONAUER WIRTSHAUS - SONNTAG, 1. NOVEMBER, MITTAGS

PÖHLDE - SONNTAG, 1. NOVEMBER, NACHMITTAGS

PÖHLDE - SONNTAG, 1. NOVEMBER, ABENDS

OSTERODE/LONAU - NACHT ZUM 2. NOVEMBER

PÖHLDE/HERZBERG - NACHT ZUM 2. NOVEMBER

KOMMISSARIAT - MONTAG, 2. NOVEMBER, MORGENS

PÖHLDE - MONTAG, 2. NOVEMBER, MITTAGS

HANNOVERSCH MÜNDEN - MONTAG, 2. NOVEMBER

ALFELD - MONTAG, 2. NOVEMBER, NACHMITTAGS

HERZBERG/LONAU - MONTAG, 2. NOVEMBER, NACHMITTAGS

ZWISCHEN ALFELD UND HARZ - MONTAG, 2. NOVEMBER

HERZBERG - MONTAG, 2. NOVEMBER, SPÄTNACHMITTAGS

HERZBERG/LONAU - 2./3. NOVEMBER, ABENDSTUNDEN UND NACHT

HERZBERG - ABENDSTUNDEN DES 2. NOVEMBER

LONAUER WASSERFALL - DIENSTAG, 3. NOVEMBER, MORGENS

ALFELD - MONTAG, 2. NOVEMBER, ABENDS

PÖHLDE - DIENSTAG, 3. NOVEMBER, MORGENS

PÖHLDE - DIENSTAG, 3. NOVEMBER, MITTAGS

GOSLAR - DIENSTAG, 3. NOVEMBER, NACHMITTAGS

PÖHLDE - DIENSTAG, 3. NOVEMBER, NACHMITTAGS

GÖTTINGEN - DIENSTAG, 3. NOVEMBER, ABENDS

HERZBERG - DIENSTAG, 3. NOVEMBER, ABENDS

OSTERODE/HERZBERG/GÖTTINGEN - MITTWOCH, 4. NOVEMBER, VORMITTAGS

PÖHLDE - MITTWOCH, 4. NOVEMBER, NACHMITTAGS

ALFELD - MITTWOCH, 4. NOVEMBER, NACHMITTAGS

PÖHLDE/HERZBERG - MITTWOCH, 4. NOVEMBER, NACHMITTAGS

HERZBERG - MITTWOCH, 4. NOVEMBER, SPÄTNACHMITTAGS

LONAU/HERZBERG - DONNERSTAG, 5. NOVEMBER, MORGENS

HERZBERG - DONNERSTAG, 5. NOVEMBER, MORGENS

HANNOVERSCH MÜNDEN - DONNERSTAG, 5. NOVEMBER, MITTAGS

LONAU/HERZBERG/PÖHLDE - DONNERSTAG, 5. NOVEMBER, FRÜHER NACHMITTAG

EHEMALIGE GIEßEREI, HANN. MÜNDEN - DONNERSTAG, 5. NOVEMBER, NACHMITTAGS

HANNOVERSCH MÜNDEN - DONNERSTAG, 5. NOVEMBER, SPÄTNACHMITTAGS

HANNOVERSCH MÜNDEN - NACHT VOM 5. AUF DEN 6. NOVEMBER

EPILOG

ÜBER DIE AUTORIN

WEITERE HARZKRIMIS

VENEDIGERZEICHEN

BRATKARTOFFELN MIT CHAMPAGNER

ENDSTATION BROCKEN

HARZER FREISCHÜTZ

FEUERFALKE

Prolog

Raus aus der Gaststube, in die frische klare Herbstluft! Mit dem Bukett der Außenwelt sog Nadja auch die Zweifel ein, die ihr diese Klarheit verschafften. Sie stand da und fröstelte. Konnte nicht für einen Moment Stille herrschen? Wenigstens ihr eigenes, ständig sabbelndes Lästermaul, aus dem Beleidigungen wie Salven schossen, gab Ruhe. Eine Ruhe, die auch sie genoss.

»Hätte ich mich zurückhalten sollen mit meinen lästerhaften Bemerkungen?«, fragte sie sich laut. Ach Quatsch, Schluss mit den Selbstzweifeln. Die können gefälligst im stillen Kämmerlein über sie herfallen, aber nicht hier und jetzt. Schwächen zeigen ist jämmerlich. Darauf warten doch nur alle. »Kopf hoch, wenn der Hals auch dreckig ist!«, gab sie lautstark von sich und Lorenz von Stetten, der neben ihr stand, registrierte ihr Gebrüll mit einem Lächeln. So kannte man sie ja.

Scheiße, dachte sie. Und neuerdings auch noch die verfrühten Wechseljahre, von denen sie natürlich nicht verschont wurde. Bekanntlich kann so was Körper und Psyche durcheinander rütteln. Warum musste ausgerechnet sie mal wieder das volle Programm abbekommen? Ein Schwall plötzlicher Hitze überfiel sie gerade heftig. Wie lästig das Leben geworden war.

Sie spürte ihr Herz, wie es gegen die Wallung anraste. Die perfekt gestylte Fönfrisur, die sie eine halbe Stunde vorm Spiegel gekostet hatte, löste sich auch zusehends in Haar auf, das inzwischen nass und platt an ihrem Kopf hing.

„Planschkuh!“ Eleonore, die eben noch mit der Wirtin in der Tür gesprochen hatte, rannte an ihr vorbei auf das Auto zu, in dem diese „Vorzeigetürkin!“ Ayla schon auf sie wartete. Die beiden Frauen fuhren sofort los.

»Halt, nicht schließen – mein Schlüssel ist drin!«, rief Lorenz von Stetten der Wirtin zu, die immer noch in der offenen Tür stand. Sie verschwanden im Innern der Gaststätte.

Ehefrau Nr. 3 zog ihn wohl an wie ein Magnet! Dieses Superweib hatte sich den ganzen Abend über nicht einmal blicken lassen. Da war ihr ja glatt entgangen, dass Lorenz ununterbrochen in den höchsten Tönen von ihr geschwärmt hatte. Migräne – deswegen konnte sie nicht runter kommen? »Wer`s glaubt, wird selig!« Zu Schulzeiten war Lorenz mal unsterblich in sie verliebt gewesen, und sie in ihn. Und jetzt konnte er sich noch nicht einmal mehr angemessen von ihr verabschieden? Enttäuscht starrte Nadja gerade vor sich hin, als „Moppelkotze“ – Nobbi, eigentlich Norbert Mursal – seine Hand freundschaftlich auf ihrer Schulter platzierte.

»Na, wenn das nicht Liebe ist zwischen Lorenz und seiner Neuen.« Blutjung war sie, die Neue. Und bildhübsch. Das hatte ja nun jeder aus der Gaststube mitbekommen. Jetzt baute Nobbi sich vor ihr auf.

»Hast du ihn schwärmen hören, den alten, rammligen Poussierstängel?« Au ja, das hatte sie. Zur Genüge!

Schmerz und Hitze! Wut und Angst! Wieder dieser Schmerz, der sich durch die Eingeweide bohrt. In die Magenkuhle. Wie immer, oder immer öfter. Bestimmt nichts Tragisches – zum hundertsten Mal. Wahrscheinlich lag es am guten, üppigen Essen und den angespannten Gesprächen. Sie lachte laut auf. Schmerz ließ sich nicht nur rausschreien, man konnte ihn auch rauslachen. »Siehste, geht doch!«

Moppelkotze war ihre Wortschöpfung gewesen, mit der sie den armen Nobbi belegt hatte. Für sie war er nun mal ein Moppel, der aussah wie Kotze. Ein kleiner Moppelkotzehund, der wirklich anhänglich war wie ein Welpe. Aber lange her. Wie vieles lange her war.

»Schnee von gestern.« Beinah hätte sie sich schon wieder verplappert. »Mop... Nobbi, dann grüß bitte deine Frau und deine Eltern von mir.« Sie musste selbst staunen. Ein anständiger Satz von ihr. Und das an diesem Abend?

»Danke Nadja, mach ich, und du grüß deinen Mann. Wie heißt er doch gleich?«

»Jürgen, ganz einfach, und tu nicht so, als wüsstest du das nicht.« Sie lachte wieder und sie merkte selbst, dass es vulgär und widerlich klang. »Da gibt es eine gute Eselsbrücke zu dem Esel – seh ich Jürgen, muss ich würgen.«

Der Platz vor dem Gasthaus war hell beleuchtet und sie bemerkte Nobbis kalten, verächtlichen Blick, als er in seinen Sportwagen stieg. Die Scheibe des Wagens fuhr runter.

»Soll ich dich mitnehmen?«

»Danke, wir haben doch gerade über die große Eifersucht deines kleinen Frauchens gesprochen, und wer weiß, vielleicht gehst du Schmutzfink mir doch noch an die Wäsche.« Sie griente fies, dabei brach ihr erneut der Schweiß aus und der Alkohol machte sich bemerkbar. Ihre Lippen verformten sich gegen ihren Willen, als sie „Moppelkotze!“ einen ausgedehnten Schmatzer zuwarf. »Du willst doch nicht schon los. Gott sei Dank, Nobbilein, du kleines Schwein!«

Die Scheibe fuhr hoch!

»Jürgen!« Sie kramte ihr Handy aus der Handtasche hervor. Er sollte sich mal schleunigst in Bewegung setzen, sie abholen. Ein Uhr! Was, so lange hatten sie gequatscht? Nobbi war ja mal wieder an dem Versuch gescheitert, allen begreiflich machen zu wollen, was für ein toller Typ er doch sei. Und was er alles auf die Beine gestellt hätte. Außer Eleonore Planschkuh hatte ihm kaum jemand zugehört. Eleonore, die Gute, die Verständnisvolle! »Absolut nervig, die Alte!«

Zum Schluss waren sie nur noch zu viert gewesen. Weiß der Henker, warum fünf von ihnen schon um neun abgezogen waren. „Blaustrumpf!“... Kerstin haute kurz danach ab. Klein Weibchen musste früh zu Hause sein, weil ihr Herr und Gebieter es nicht gern sah, wenn sie ohne ihn länger wegblieb. Dabei war ihr Männe gar nicht zu Hause. Maik war nach ihrer Aussage bei Freund Rübe an der Leine, um zu angeln. »Hah, was Maik so unter Angeln versteht!« Na ja, Klassentreffen nannte sich das Ganze. Einen Witz nannte sie es.

Sie fror inzwischen. »Jürgen – du Schweinepriester, hallo, hörst du mich?« Sie starrte dem Sportflitzer hinterher und setzte sich ebenfalls in Bewegung. »Jürgen, du verdammte Pissbirne.«

Schlapp fühlte sie sich mal wieder und ihr Magen schmerzte. Gab es hier in Lonau im Tal eigentlich Handyempfang? Warum fragte sie sich das überhaupt? Zwei Balken waren zu sehen. Ignorierte er etwa wieder sein Handy? Sie ging schneller und hatte schon die letzten Häuser Lonaus im Blick. Idyllisch gelegen. Mochte ja sein. Für sie war hier einfach der Hund verfroren.

Es gab einen Fahrradweg neben der Straße und parallel verlaufend zu dem Flüsschen Lonau. Diesen Weg würde sie nehmen. Auf keinen Fall wollte sie auf der Straße bleiben. Niemand sollte sie so sehen. Mit plattem Haar und Pandaaugen, die wirklich nur an Pandas süß aussehen. Obendrein in extrem kurzem Strickkleid und mit Stöckelschuhen. »Wie eine aus dem Hurenhaus!« Mutters Neid. Das einzige echte Gefühl, das sie je von ihr bekommen hatte.

Sie bewegte sich schnell im Trippelschritt. Auf dem Fahrradweg angekommen, drehte sie sich erst einmal um und rannte dann. Als würde sie unbedingt gewinnen wollen beim Versteckspiel. »Hähää, hab dich kalt erwischt!«

Sie trippelte weiter. Laub von Erlen und Ahorn strich ihr um die Füße wie anhängliche Katzen. Die mochte sie auch nicht. So perfekt auf hohen Absätzen laufen zu können – etwas, worauf sie sehr stolz war. Das musste ihr erst mal eine nachmachen von ihren welken Geschlechtsgenossinnen. Manche von ihnen trugen in dem Alter schon hornhautfarbige Gesundheitsschuhe. Bei solchen Gedanken bekam sie Schwung. Die Angst vor der dunklen Einsamkeit war für einen Augenblick verflogen. Da war nichts, was niedergeschrien werden musste, wie in ihrer Kindheit. Mutter hörte ihr Schreien nie. Weil sie nie da war, wenn sie schrie. »Weil du nie da warst, wenn dein Kind dich brauchte!«

Der Weg machte einen Knick, gleich würde die Brücke kommen. Sie fürchtete sich wieder und wurde immer schneller. Das Tempo hielt sie nicht lange durch. Erschöpft blieb sie stehen. Sie klemmte das Kuverttäschchen zwischen die Beine und stützte sich gerade nach vorn gebeugt auf den Oberschenkeln ab, als sie etwas hart von hinten anstieß. Abrupt drehte sie sich um, dabei gaben ihre Schenkel die Handtasche frei.

»Du?«, fragte sie, erstaunt, ihn hier zu sehen.

»Tu mir den Gefallen… halt`s Maul«, sagte er. Im selben Augenblick schob er ihr Kleid hoch und zog den BH runter. Ihre Brüste passten genau in seine Hände und er knetete an ihnen rum, als er sie vom Weg runter in die Böschung des Walls drängte. Sie vernahm das Plätschern der Lonau. Sie schrie auf, als er sie heftig schubste, sodass sie zu Boden ging.

»Halt`s Maul!«, wiederholte er. Er presste seinen Mund auf ihre weichen, vollen Lippen. Seine Zunge ertastete die ihre. Dann kniete er über ihr und fummelte an seiner Hose rum. Es konnte gar nicht schnell genug gehen. Sie spürte sein Begehren, seinen gemeinen, egoistischen Drang.

Wie lange schon hatte sie seine Leidenschaft vermisst? Luder, Aas, wenn ihr so was schon angehängt wurde, sollte es wenigstens passen. Wie lange fügte sie sich schon teilnahmslos in ihr sexuell laues Schicksal?

Sie half ihm dabei, Strumpfhose und String von ihrem Körper zu entfernen, weil sie sein unbeholfenes Zerren daran lästig fand. Sie stöhnte und schrie, als sie seine heftige Unbeherrschtheit schmerzhaft in sich spürte. Und sie schrie laut, als er in ihre Brüste biss, an ihren Nippeln sog, bis sie um Erlösung bat. »Hör auf… bitte!«

Sie krallte sich in der feuchten Erde fest, er stieß sie vor sich her mit unbändiger Gewalt, keuchte kurz und machte sich hoch. Sie sah ihn seine Hose richten, den Gürtel schließen und vernahm seine raschelnden Schritte in der Dunkelheit verschwinden. Dann war Ruhe, lediglich die Lonau plätscherte vor sich hin. Wäre sie jetzt eins von diesen Durchschnittsweibern, die ihr so zuwider waren, hätte sie vielleicht um Hilfe gerufen. Aber sie war keine von denen. Wollte sie nie sein.

Mühselig ertastete sie String und Strumpfhose, beides hing an ihrer Wade. Fahrig entwirrte sie das Ganze und zog sich an. Sie fühlte sich missbraucht und ausgenutzt. Umständlich erhob sie sich. Bestimmt war alles an ihr übel verdreckt und ihre Schuhe und die Tasche waren verloren gegangen. Aber sie sah das Täschchen, weiter vorne, auf dem Weg. Da es weiß war, konnte sie es gut erkennen. Wahrscheinlich lagen die Schuhe unter Laub vergraben.

Gerade hatte sie ihr Kleid und ihren BH wieder richtig am Körper sitzen, als sie die Gestalt bemerkte. Sie kam ganz langsam näher. Der Mensch trug einen Overall, wie Handwerker ihn tragen, an den Seiten hingen Taschen. Das Gesicht war von einer Strumpfmaske verdeckt, oben leuchtete eine Stirnlampe.

»Sag mal, war das noch nicht alles? Holst du dir Nachschlag… und seit wann stehst du auf Rollenspiele?« Die Person kam näher, ohne einen Ton zu sagen. »Hör auf«, sagte sie, »oder findest du das komisch?«

»Hörst du mich etwa lachen?«

Sie war verwirrt und total verunsichert. Verstellte er jetzt auch noch seine Stimme? Widerstandslos ließ sie sich umschubsen und nahm es hin, dass die Person auf ihr saß, ihr Kinn festhielt.

»Es tut mir leid. Ich hatte es mir anders vorgestellt. Aber, ich kann dir endlich helfen. Ich gebe dir die Ruhe, nach der du dich sehnst.«

Jetzt erkannte sie die Stimme. Sie wollte was sagen, aber es war zu spät. Etwas wurde ihr ins Auge gestoßen und lähmte ihre Gedanken. Der zweite Schlag durchdrang ihr Gehirn, führte den Tod herbei. Der dritte Schlag zerstörte ihre Schädelknochen und der vierte fixierte sie am Boden, der etwas nachgab, weshalb noch mehrmals zugeschlagen wurde. Dasselbe passierte mit dem anderen Auge. Aber es ging leichter, und es brauchte nur vier Schläge, bis sich das Eisen durch die Augenhöhle, das Gehirn und die Schädelplatte in die weiche Erde gebohrt hatte.

Osterode/Lonau

Sonntag, 1. November, morgens

Seit einer Stunde schon lag er neben ihr und konnte nicht schlafen. Wenn er nicht schlafen konnte, sah er sie an. Und wenn er sie ansah, wollte er nicht mehr schlafen. Gefesselt von ihrem Anblick, gewärmt von ihrer Weichheit. Dass eine so großartige Frau wie sie einen Mann wie ihn überhaupt liebte!

Einen wie ihn. Nach einem grausamen Überfall, der Messerattacke eines Geisteskranken, im Gesicht entstellt, aber am Leben. Wenn das nicht passiert wäre, hätte er Silvana wahrscheinlich nie kennengelernt. In der Reha stieß er auf sie und war auf Anhieb verliebt. Sie sagt, sie hätte nicht nur bis vor die Stirn seines zusammengeflickten Gesichts gesehen. Was sie hinter seiner Stirn sah, hätte ihr sofort gefallen. Und sie liebkoste und streichelte seine Wunden.

Marian Geiger nahm sein Smartphone vom Nachtschrank. Gut, dass er wach war. Das Ding brummte wie eine wildgewordene Hummel. Er verließ das Schlafzimmer. Seine Kollegin Dörte brüllte mal wieder. Es war so laut und direkt, dass er das Handy ein Stück vom Ohr weghalten musste.

»Ein Mordfall, irgendwo kurz vor Lonau! Bin gerade angerufen worden! Pass auf… ich hol dich ab. Bin ohnehin in Osterode! Sie macht mal wieder Zicken. Bin in zehn Minuten bei dir!« Wenn Dörte zehn sagte, meinte sie zwanzig.

Er kniete sich aufs Bett und küsste Silvana sanft. Seine Liebe! Sie lächelte und blinzelte dabei verschlafen. »Musst du los?«

»Schlaf noch und gib den Kindern einen Kuss von mir.«

Anschließend stand er vorm Schrank und zog sich an. Von dort konnte er Dörtes Volvo sehen. Alt und grün. Auf der Straße vorm Haus. Seit wann war sie pünktlich? Seine Kollegin bei der Mordkommission, Dörte Herlof, sah mal wieder so aus, als wäre sie auf dem Weg, einen Kindergeburtstag zu bespaßen. Zwei leuchtend rote Zöpfe, dazu dieser besondere Dörte-Look, immer in Grün. Heute, anscheinend wegen des kühlen Wetters, ein Wollsweater, aber immer dieselbe Blume am Revers. Rot wie das Haar und riesig irgendwie. Aus Filz. Wie immer Radio 21, und laut. Jon Bon Jovi krähte gerade rum. Marian stellte das Radio leiser.

»Hier, hast du Hunger?« Ohne seine Antwort abzuwarten, schmiss sie ihm die Tüte mit den Brötchen rüber. Ohne Kaffee viel zu trocken, aber er biss rein. Dörte stellte das Radio wieder lauter. Jetzt grölten Nickelback und nicht weniger laut Dörte: »Sie hat nicht mehr alle Tassen im Schrank! Wintersüber will sie mit diesem Mann, den sie keine zwei Monate kennt, bei einem Kumpel von ihm im Gartenhäuschen wohnen! Oben in Osterode Freiheit. Der Kumpel ist auch so ein komischer Vogel!« Gemeint war Dörtes Mutter, Dänin. Eine, die wohl mit ihrer Lebensplanung von einem Extrem ins andere fiel.

»Lass sie doch. Erziehen brauchst du die jedenfalls nicht mehr«, meinte Marian kauend und stellte das Radio wieder leiser. So waren Nickelback gleich besser zu ertragen. Dörte guckte kurz kariert, nahm sich auch ein Brötchen und biss rein. Ruhe erst mal. Ganz gut für Sonntagmorgen.

Ein schöner Morgen. Die Sonne strahlte den bunten Herbstwald an. Im Tal kurz vor Lonau zückte sie nur oben auf den Anhöhen ihren Tuschkasten, um ein wenig Glanz in Goldtönen zu verteilen. Nur einen Platz erreichte die Sonne absurderweise voll und ganz. Niemand, der das gesehen hatte, würde den Anblick jemals vergessen können. Sie lag im glänzenden Sonnenschein, wie aufgebahrt. Der Wall mit seiner leicht schrägen Ebene übernahm die Funktion eines Aufstellers und perfektionierte somit das Bild.

Dörte klammerte sich an Marians Ärmel fest. »Mein Gott, hast du so was schon mal gesehen, Marian?«

Nein, noch nie. Alles Mögliche. Hinrichtungen, Tote mit dem Gesicht zur Erde, einen Einschuss im Genick, enthauptete Hingerichtete, wie es bei der IS-Terrormiliz gerade Mode war. Zersägte, Zerlegte – zum besseren Entsorgen. Augen reingedrückt, damit sie niemanden mehr verraten konnten. Aber dies hier vor ihm besaß eine, ihm unbekannte Dynamik! Ganze Arbeit, dachte er. Da wollte einer auf Nummer sicher gehen. Kein Zufall, kein Tötungsdelikt im Affekt. Was waren das für gewaltige Nägel in ihren Augen? Ihm fiel der Begriff „Sparrennagel“ ein. Niemand trug zufällig solche Nägel in der Tasche mit sich herum. Und in was für einer Tasche überhaupt? Nein, für ihn stand fest, dass diese Tat geplant und gründlich ausgeführt worden war. Er ließ sich gern vom Gegenteil überzeugen. Das machte seinen Beruf ja gerade spannend und interessant. Ja, er war immer noch gern bei der Kripo, auch wenn ihm sein Beruf ein sichtbares Handikap verpasst und um ein Haar das Leben gekostet hätte.

»Was meinst du?«, fragte er Dörte, die neben der Leiche kniete und sich gerade Handschuhe überzog. Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn ich das hier richtig sehe, wurde sie angenagelt! Ich fasse nichts an! Aber ich glaube, die Nägel gehen durch den ganzen Kopf, in den Erdboden. Auf die Todesursache bin ich mal gespannt! Ob sie noch am Leben war – ?«

Auch Marian streifte sich Handschuhe über. Er schob das Kleid der Toten ein Stück hoch und String und Strumpfhose etwas runter. Aus dem String quoll Laub, der Hintern war zerkratzt. Falls sie vorher penetriert wurde, passt es absolut nicht zu dem Mord an ihr, dachte Marian.

»Wurde etwas am Tatort verändert? Und wissen wir, wer sie ist?«, fragte Marian einen jungen Kollegen in Uniform, der einen leicht geschockten Eindruck machte.

»Die Tote heißt wahrscheinlich Nadja Wollmers, geboren 1970. Wir fanden ihre Papiere in der kleinen weißen Tasche, die dort vorne auf dem Weg liegt. Gefunden wurde das Opfer von einer Joggerin aus Lonau, die jeden Sonntag hier lang läuft. Sie stieß zuerst auf das weiße Täschchen auf dem Weg, dann sah sie die Tote. Die Frau konnte kaum sprechen, als sie die 112 anrief. Die kamen zuerst und forderten uns dann an.«

»Hat die Frau die Tasche angefasst?«, fragte Marian.

Der junge Kollege nickte. »Aber die Zeugin meint, die Tasche liegt jetzt exakt da, wo sie vorher gelegen hat.«

Die Joggerin stand mit einer älteren Polizistin in etwa 30 Meter Entfernung auf dem Weg. Da die Frau nur mit Leggings und dünner Jacke bekleidet war, hatte man ihr eine Decke umgehängt. Marian umkreiste die Tasche und steuerte anschließend die Polizistin und die Frau an. Er kannte solche Blicke. Er war es gewohnt, zuerst misstrauisch beäugt zu werden. Die Frau hatte von Weitem jünger ausgesehen. Jetzt, da er vor ihr stand, schätzte er sie so auf „um die fünfzig“. Einige Jahre älter als er selbst.

»Marian Geiger, Mordkommission. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?« Die Frau nickte schüchtern und zog die Decke etwas enger um ihre Schultern. »Kennen Sie die Tote? Ich meine persönlich und nicht vom Personalausweis aus ihrer Tasche.«

Sie kaute unsicher auf ihrer Unterlippe herum. »Was denken Sie von mir? Meinen Sie, ich hätte die Tasche durchwühlt? Aber ich kenne die Person. Obwohl sie so furchtbar aussieht. Ich habe sie erkannt. Die war bei der Agentur für Arbeit in Osterode.«

»Abgesehen davon, dass Sie entsetzt waren, die Tote überhaupt zu kennen, was dachten Sie, als sie sie sahen?« Die Kollegen, die weniger einfühlend waren als er, wussten meist gar nicht, was ihnen entging, wenn sie ihre Befragungen nur auf Fakten konzentrierten. Intuition, Gefühl – der einfache erste Eindruck war oft entscheidend.

»Ehrlich?«

»Ja.« Marian nickte der Frau beschwichtigend zu. »Sie sind hier nicht angeklagt, Sie brauchen sich nicht verstellen.«

»Na ja! Zuerst dachte ich, ich überlebe es nicht, diesen grauenvollen Anblick. Dann dachte ich: Das ist doch diese schreckliche Person vom Arbeitsamt. Die Hochnäsige, Schnoddrige, die mit den Arbeitsuchenden umgegangen ist, als wären sie der letzte Dreck. Dabei sind viele von ihnen ohnehin verzweifelt, so wie mein Mann.«

»Sie war also nicht beliebt?«, fragte Marian.

Die Frau schüttelte heftig den Kopf, und es kam wie aus der Pistole geschossen: »Ich dachte – siehste, hat sich einer gefunden.« Sie erschrak anscheinend über sich selbst, fuhr aber fort. »Mein Mann traute sich ja nicht mehr alleine nach Osterode ins Amt. Daher kenne ich sie ja überhaupt. Weil ich dann immer mit bin. Aber das mit ihren Augen – entsetzlich.« Sie blickte zu Boden und die Polizistin sah sie völlig verstört an. Hatte dieser Geiger die Zeugin hypnotisiert oder was?

»Als Sie den Rettungsdienst anriefen, was sagten sie da?«

»Ich hatte die Tasche in der Hand und ganz dolle Angst. Ich stellte mich auf den Weg, klemmte mir die Tasche zwischen die Beine und holte mein Handy vor.« Sie zog die Decke auseinander und gab den Blick auf ihre Gürteltasche frei. »Tja, was sagte ich denen?« Sie schien angestrengt zu überlegen. Plötzlich platzte es aus ihr heraus: »Ich glaube, ich sagte: Hier ist wer tot. Es muss gleich jemand kommen. Ein Mord! Ich bin ganz alleine.«

Ein Lächeln huschte über Marians Gesicht. Er fand sie niedlich, wie sie das sagte.

»Ich wurde nach dem Ort gefragt – Wo sind Sie gerade? – und ich sagte: zwischen Lonau und Herzberg. Obwohl ich gleich hier um die Ecke wohne und aus Lonau bin, wusste ich nicht mehr genau, wo ich war. Können Sie sich das vorstellen?« Ihr Blick war eine Mischung aus Entsetzen und Fassungslosigkeit. »Ob ich von der Straße aus zu sehen wäre und ob ich mich bemerkbar machen könnte. Ich bin dann nach Lonau rein gelaufen und habe am Friedhof gewinkt.«

»Danke.« Marian streckte ihr seine Hand entgegen und ergriff die kleine, schmale Hand, die hinter der Decke vorkam. »Ruhen Sie sich erst mal aus. Sie haben uns sehr geholfen. Darf ich die Tage noch mal bei ihnen vorbeischauen? Namen und Adresse haben wir?« Die Polizistin nickte. »Ihren Mann möchte ich auch noch zu der Person der Toten befragen.«

»Gern, aber muss das sein? Meinem Mann geht es noch nicht so gut.«

»Ich nehme an, dass er mir auf meine Fragen antworten kann. Ich überfordere niemanden.«

Die Frau verabschiedete sich und rannte los. Bloß weg hier, dachte sie.

Lonautal

Sonntag, 1. November, vormittags

Mit ihren weißen Schutzoveralls bildeten sie aus Marians Perspektive eine klare Linie zu der weißen Handtasche auf dem Weg. Schwungvoll bewegte sich etwas Rot-grünes auf das herbeieilende Grüppchen zu. Ganz zuletzt kam ein Polizist mit einem schmalen, hochgewachsenen Mann neben sich. Marian ging ihnen entgegen. Der Mann erweckte den Eindruck, als wüsste er nicht genau, ob er bleiben oder weglaufen soll. Die Weißen begrüßten Marian nur kurz und begaben sich zu dem Opfer, wo derselbe junge Polizist, der Marian und Dörte zuvor informiert hatte, auch ihnen Auskunft über den momentanen Stand der Dinge gab.

Der Mann war mit Dörte und dem Polizisten, mit dem er gekommen war, stehen geblieben. Für Marians Empfinden sprach Dörte viel zu laut mit ihm. Der Mensch sah fertig aus, eindeutig. Er blinzelte unruhig, seine Wangenmuskulatur zuckte unbeherrscht und seine Hand zitterte so sehr, dass er kaum die Zigarette zum Mund führen konnte.

»Das ist Herr Jürgen Wollmers, der Ehemann des Opfers!«, brüllte Dörte.

Marian lächelte sie an.

»Bitte Dörte, könntest du dich um Dr. Kromberg und die Jungs von der Spurensicherung kümmern?«

Wieder guckte sie kariert. Dr. Kromberg, das Urgestein der Rechtsmedizin, machte sich doch nur lustig über so einen kleinen Neuling, wie sie einer war. Er befand schon jenseits der Pensionierung und wurde höchstens nochmal als Urlaubsvertretung oder im dringenden Krankheitsfall aus der Versenkung geholt. Aber Thomas war ja auch noch da. Thomas, der junge, dynamische Kollege, liebenswürdig, ein echter Hingucker und immer gut drauf. Das krasse Gegenstück zu dem alten Miesepeter. Dörte mit Sauerteiggesicht: »Na gut, wenn du meinst.«

Marian lachte, hörte aber sofort auf damit. Das war ja nun nicht der Situation angepasst, aber immer noch besser als Dörtes Geschrei. Der arme Herr Wollmers sah ohnehin völlig verängstigt aus.

»Marian Geiger, Mordkommission.« Er gab dem Mann die Hand. »Sind Sie sicher, dass Sie die Tote sehen möchten? Stehen Sie das durch?«

Jürgen Wollmers nickte stumm. Jetzt schnellte auch noch Thomas auf sie zu. »Bitte keine Kippen auf den Boden werfen!«

Jürgen Wollmers reagierte sofort, indem er den Stummel seiner Zigarette auf dem Pflaster des Weges ausstrich und ihn anschließend in der Tasche seiner dunkelblauen Outdoor-Jacke versenkte. Dabei wirkte er irgendwie linkisch und verschlagen, als hätte man ihn bei einer Missetat erwischt. Das macht er nicht zum ersten Mal so, dachte Marian, der den verstohlenen Blick des Mannes bemerkte. War es nur dieser Lappalie wegen, dass er sich so verhielt, oder verbarg der Mann im Allgemeinen etwas?

Es war dieser Affekt, das augenblickliche Erstarren, in dem Jürgen Wollmers auf seine tote Frau blickte. Marian stand direkt neben ihm. Dörte, Dr. Kromberg und Thomas hatten sich diskret zurückgezogen. Marian rechnete mit allem. Was hatte er schon alles erlebt: Zusammenbrüche, Tobsuchtsanfälle und sogar Lachkrämpfe.

»Oh Gott, sie ist es – und ihre Augen!«, stieß Jürgen Wollmers hervor.

Dann war erst mal Ruhe. Erstaunlich schnell schien er seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Oder war es die Ruhe vor dem Sturm? Keine belastende Ungewissheit mehr? Seine Hände hatten aufgehört zu zittern, die Gesichtsmuskulatur entspannte sich. Er wirkte sogar völlig gefasst, als sein Gesicht sich Marians zuwandte.

»Am meisten liebte ich ihren Mund und ihre Augen. Auch wenn sie nicht immer ehrlich waren.«

Was für eine Reaktion? Wie tickte dieser Mann bloß? Jürgen Wollmers beugte sich vor und berührte flüchtig die blassen, trockenen Lippen seiner Frau, die an der Unterlippe eine Verletzung aufwiesen, drehte sich auf der Stelle um und schritt davon. Dörte, die das beobachtet hatte, warf Marian einen fragenden Blick zu.

Die Spurensicherung nahm ihre Arbeit auf. Dr. Kromberg fuhr damit fort, die Tote oberflächlich zu inspizieren. Dabei gab es gewisse Schwierigkeiten, die er eigentlich nicht öffentlich machen wollte. Inzwischen wussten aber alle Bescheid. Er kam einfach nicht mehr in die Hocke. Und Stuhl und Tisch gab es hier draußen leider nicht. Das Ganze hatte den Vorteil, dass der alte Doktor darauf drängte, die Leiche so schnell wie möglich abtransportieren zu lassen. Aber so weit waren sie noch lange nicht.

Das muss dieser Mann ja nun wirklich nicht auch noch mit ansehen, dachte Marian, und er schob Jürgen Wollmers den Weg entlang, bis sie in gewisser Entfernung zu dem Geschehen stehen blieben. Marian hoffte sehr, Jürgen Wollmers noch einige Fragen stellen zu können. Mal sehen, wie lange der durchhielt. Die meisten begriffen erst später, was los war. Mit der spezifischen Reaktion dazu. Aber dieser Mann sah inzwischen nach Tranquilizer aus. Ruhig hielt seine Hand die Zigarette.

Hier in der kühlen klaren Luft und in unmittelbarer Nähe zu ihm war es für Marian unmöglich, den großen Gestank nicht zu bemerken, den dieser Mann verströmte. Ganz entgegen dem gepflegten optischen Erscheinungsbild, das er sonst bot, roch die gesamte Person penetrant nach altem Qualm, Schweiß und Alkohol. Es war, als hinge es in den kurzen grauen Haaren, der Haut, den Klamotten. Dazu kamen die Ausdünstungen der Atemluft. Der Mann miefte nach täglicher Schluckimpfung und er war anscheinend weder geduscht, noch hatte er sich die Zähne geputzt. Und das mit Sicherheit schon seit Längerem nicht mehr. Marian zweifelte, ob solche Maßnahmen bei diesem armen Kerl überhaupt noch Sinn gemacht hätten.

»Darf ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen?« Jürgen Wollmers nickte nur. »Wann haben Sie Ihre Frau zum letzten Mal gesehen?« Anscheinend gab es nichts zu überlegen.

»Gestern Morgen. Wir frühstückten im Stehen. Wie immer. Sie Müsli, ich Toast. Für mehr ist selten Zeit.«

»Sie sind dann wohin gegangen? Gestern war Samstag. Wo wollten Sie so eilig hin? Zur Arbeit?«

»Ich arbeite beim Finanzamt, aber die letzten zwei Monate war ich krankgeschrieben.«

»Und wo waren Sie gestern?«, wiederholte Marian.

»Wenn Sie es – wenn Sie es unbedingt genau wissen wollen, Herr Kommissar!« Jürgen Wollmers stockte und stammelte, allerdings mit einem aggressiven Unterton, der Marian gar nicht gefiel. Klar, dass der Mann sich mit den Fragen angegriffen fühlte.

Jeder, der an dir gerochen hat, weiß, dass du unmöglich am gesellschaftlichen Leben teilgenommen hast, dachte Marian, als er zu dem Mann sagte: »Wäre nicht schlecht, wenn Sie mir die Wahrheit sagen würden.«

Er war weiß Gott nicht darauf erpicht, dieses arme Schwein von Ehemann in Verlegenheit zu bringen. Jürgen Wollmers wischte seine Kippe wieder auf den Wegplatten aus, versenkte sie in der Jackentasche und stellte sich gerade und aufrecht vor Marian hin. Na endlich, dachte der.

Wollmers antwortete erneut mit: »Wenn Sie es genau wissen wollen…«

»Das hatten wir schon!«, unterbrach Marian ihn und erntete einen entrüsteten Blick. Sollte der Mann doch zornig werden. Aufgebrachte Menschen sagen meist die Wahrheit. Eher als solche, die ihre Gefühle unter Kontrolle haben.

»Also! Ich bin nach einer Entwöhnungskur rückfällig geworden. Wissen Sie, was das heißt? Da ich verbeamtet bin, kann ich nicht so schnell entlassen werden. Aber arbeiten kann ich auch nicht. Nadja – Sie kennen sie nicht, ihre Art. Sie hatte nur noch Hohn und Spott für mich übrig. Bevor sie gestern Morgen das Haus verließ, kam sie nur kurz ins Schlafzimmer. Sie nannte mich einen versoffenen, ekligen Scheißkerl und dass ich gefälligst bis zum Abend wieder nüchtern sein soll, um sie von diesem Klassentreffen abzuholen. Ich wusste nur: Lonau, das einzige Gasthaus, und wo sie in der Zwischenzeit war – keine Ahnung.«

Und warum bist du dann heute Morgen relativ nüchtern, dachte Marian. »Haben Sie Kinder, Herr Wollmers?«

»Eine Tochter, Jasmin. Ist gerade in Australien. Work and travel. Sie braucht es nicht zu erfahren. Noch nicht. Sie ist ohnehin der Meinung: Wenn du diese Mutter überstanden hast, überstehst du alles.«

»Wie waren Sie denn nun verblieben mit Ihrer Frau? Waren Sie vergangene Nacht in Lonau, um sie abzuholen oder nicht?«

Jürgen Wollmers verzog das Gesicht. »Wollen Sie mein Gewissen belasten oder warum fragen Sie das?«

»Ich bin hier, um einen Mord aufzuklären, Herr Wollmers. Ihr Gewissen interessiert mich nicht. Haben Sie Ihre Frau jetzt abholen wollen? Waren Sie in Lonau? Mir reicht Ja oder Nein.«

»Nein verdammt, ich lag im Bett! Mein Handy war aus, und ich dachte: Leck mich am Arsch, du blöde Kuh! Sieh doch zu, wie du nach Hause kommst. Irgendein Depp, der scharf auf dich ist, wird sich schon finden. Wie immer.« Aha, so war das also! »Kann ich jetzt endlich nach Hause? Sind sie mit Ihrer Befragung fertig, Herr Kommissar?«

»Natürlich. Vielen Dank. Und mein aufrichtiges Beileid zum Tod ihrer Frau.« Marian lächelte milde und dachte dabei: Geh nach Hause und gib dir weiter die Kante. Was bleibt dir sonst noch? Die Frau ermordet, die Tochter ins Ausland geflüchtet – die eigene Person bis Unterkante Oberlippe im Morast. Und obendrein noch verdächtig, das eigene Eheweib aus dem Weg geräumt zu haben. Schlimmer geht’s nimmer!

Noch während er dem Kollegen von der Schutzpolizei und Herrn Wollmers hinterher sah, erblickte er sie: Staatsanwältin Frau Dr. Dr. Annedore Freistein und den obersten Chef des Kommissariats, Kriminalrat Jörg Schrader. Frau Staatsanwältin, wie immer elegant gekleidet. Dezent, dunkel, geheimnisvoll – was ihr den Spitznamen „Draculine“ eingebracht hatte. Schrader, im Ganzen vintage und immer etwas verpennt wirkend, war ein Besserwisser und Schroffi, selten zu ertragen. Alle hofften auf seine Pensionierung, die im nächsten Jahr zu erwarten war.

Draculine bewegte sich graziös auf Marian zu. Ihre Lachfältchen um die Augen machten sie nur noch attraktiver. Sie trug wie immer Stiefeletten mit sehr hohem Absatz. Die Schuhe des Opfers waren bis dato von Thomas noch nicht gefunden worden.

»Na, mein Schöner, was gibt es? Wie weit seid ihr gekommen?« Während ihre Worte melodisch ihren Mund verließen, strich Draculine mit ihrer perfekt manikürten Hand über Marians Wunde im Gesicht. Der tiefsten von sechs. Die Wunde, die Zähne und Kiefer freigesetzt hatte und mit vierzehn Stichen genäht werden musste. Sie hatte schon was, diese Draculine. Mit ihrer betörenden, charmanten Art, mit der sie die Menschen gern umgarnte, hatte sie sich viele Sympathien eingehandelt, was für Staatsanwältinnen eher ungewöhnlich war. Manche glaubten, das wäre eine Masche von ihr. Marian kannte sie inzwischen so gut, dass ihm bei der Frau dieser Gedanke völlig fremd war. Draculine war einfach so. Aber sie konnte auch anders, von spitzfindig bis gnadenlos.

»Mach dir selbst ein Bild. Für mich jedenfalls gibt es bei dem Fall auf den ersten Blick diverse Ungereimtheiten«, meinte Marian.

Sie lächelte. »Sogar die Wahrheit kann im Auge des Betrachters liegen, genau wie die Schönheit. Das weißt du doch, Marian.«

Ja, ihre Art konnte bezaubern.

»Was ist das hier? Der literarische Zirkel oder eine Flirtbörse? Ich war der Meinung, Sie wären verheiratet, Herr Geiger!«, polterte Schrader los. »Machen Sie ihre Ermittlungen schriftlich und ziehen Sie mit Frau Herlof ab, die Zeugen befragen. Dieser Psychokram ist doch anscheinend ihr Spezialgebiet.«

Marian und Draculine brauchten sich nur anzusehen. Schrader mal wieder.

Lonauer Wirtshaus

Sonntag, 1. November, mittags

Dörte parkte den Volvo auf dem Parkplatz gegenüber dem Gasthaus und sie überquerten den Vorplatz mit dem rosa Pflaster. Schon von außen war das Gebäude nett anzusehen. Auch in der geräumigen Gaststube, die in einzelne Bereiche aufgeteilt war, wirkte alles blank und freundlich. Die Wirtin persönlich begrüßte die neuen Gäste.

»Guten Tag, mein Name ist Petra Dietrich-Sievers, ich bin die Wirtin. Und Sie sind vermutlich von der Kriminalpolizei.«

Marian grinste. »Sieht man uns das an?«

Die Wirtin lächelte verschmitzt. »Der siebte Sinn.«

Das hat was, dachte Marian. Vielleicht war das, was sie zu sagen hatte, für die Ermittlungen von Bedeutung. Es war bald wieder Mittagszeit, die Gaststube füllte sich langsam. Das schöne Herbstwetter zog viele Ausflügler in das abgeschiedene Bergdörfchen Lonau, einem Ortsteil der Kleinstadt Herzberg. Sie nahmen an einem Vierertisch in der Mitte Platz. Die Wirtin bat eine ältere Frau, vermutlich ihre Mutter, sie für einen Augenblick zu vertreten. Sie kam auch sofort an den Tisch und nahm die Bestellung auf. Marian und Dörte entschieden sich für Bohneneintopf mit „Ende“.

»Eine seltsame Zusammensetzung. Noch nie gegessen«, meinte Marian, und die Wirtin klärte ihn darüber auf, dass es sich um keinen Schreibfehler handeln würde und mit „Ende“ Mettenden gemeint waren. Ein Gag, an dem jeder erst einmal herumrätselte. Und sie brauchten was zu trinken. Außer trockenen Brötchen hatten sie beide an dem Tag noch nichts zu sich genommen. Ihnen klebte inzwischen die Zunge am Gaumen.

»Können Sie uns irgendetwas über das Klassentreffen gestern Abend erzählen?«, fragte Marian.

Die Wirtin haderte mit sich, das sah man ihr an. »Ich spreche selten über meine Gäste, besonders nach Feiern. Da passieren schon mal Sachen, die dem einen oder anderen hinterher leidtun oder peinlich sind.«

»Ein grausamer Mord ist geschehen!«, schrie Dörte und vereinzelte Augenpaare waren sofort auf sie gerichtet. Die Wirtin blickte verstört von Dörte zu Marian, dann wieder zu Dörte. Sie sprach sehr leise.

»Ich weiß es seit etwa einer halben Stunde. Erst hieß es, irgendetwas ist passiert auf dem Fahrradweg, hinten vor der Brücke. Dann kam Renas Mann und sprach mit uns darüber, was seine Frau gefunden hatte. Ich kann es jetzt noch kaum glauben. Wenn das stimmt, was er uns erzählt hat – haarsträubend. Und das in unserem beschaulichen Lonau!«

Marian fasste es nicht. Hatte dieser Mann nichts Besseres zu tun, als ins nächste Gasthaus zu laufen und rumzuerzählen, was seine Frau für einen grausigen Fund gemacht hatte? Anstatt zu Hause zu bleiben und ihr bei der Bewältigung des Traumas zu helfen. Na, auf den Kerl war er ja mal gespannt.

»Wir sind von der Polizei. Sie müssen uns die Fragen beantworten, die wir Ihnen stellen.« Immer dieselbe Leier. Marian war es langsam leid.

Die Wirtin legte die Hand auf seinen Arm. »Wir gehen besser rüber. Es muss ja nicht jeder hören.« Sie setzten sich etwas abseits, die Gaststube noch gut im Blick, aber geschützt vor der Neugierde der Anwesenden. »Treffen war gestern um neunzehn Uhr hier. Zuerst ging es auch, bis etwa um zwanzig Uhr diese Frau Wollmers aufkreuzte. Ich kannte sie nur vom Sehen. Sofort schlug die Stimmung um. Aus ihrem losen Mundwerk kamen Beleidigungen, die ich mir keine zehn Minuten angehört hätte.«

»Wen beleidigte sie denn?«, fragte Dörte.

»Ich saß ja nicht die ganze Zeit dabei. Aber schon allein diese Kraftausdrücke: Arschloch, Pimmelschwein… den Norbert Mursal, den ich durch meine Eltern flüchtig kenne, nannte sie andauernd Moppelkotze. Diese Stattliche aus Pöhlde, Eleonore Dix heißt die, glaube ich. Die bezeichnete sie als Planschkuh. Ach, und diese Kerstin Bornemann, die ab und zu mit Mann und Kindern vorbeikommt, wenn das Schwimmbad im Sommer auf hat, hinter der rief sie Blaustrümpfchen und Lustkillerin her. Also, wissen Sie, dass da einige schon um neun gingen. Bei dem, was die abgezogen hat, kein Wunder.«

Zuerst kamen die dampfenden „Enden“ auf die Teller, dann wurde der Eintopf in einer weißen Suppenschüssel serviert.

»Das ist ja lecker!«, ließ Dörte lautstark nach dem ersten Löffel verlauten. Sie war schneller als Marian und hatte ihre „Mettende“ in Windeseile zerlegt.

Nachdem Marian langsam und mit Bedacht seine Wurst seziert hatte, probierte er die Suppe. Und stimmte seiner Kollegin nickend zu. Wie von Muttern. Damals in Prag. In den wenigen gemeinsamen Jahren, die ihnen geblieben waren – vor ihrem plötzlichen, mysteriösen Tod.

»Wie lange hat der Spuk gedauert?«, fragte Dörte.

Die Wirtin bestellte bei ihrer Mutter einen Espresso.

»Frau Dix, Frau Wollmers, Herr von Stetten und Norbert gingen so gegen eins nach draußen. Herr von Stetten kam dann angerannt. Beinah hätte ich ihn ausgesperrt. Er und seine Frau übernachten hier, und ich habe heute Vormittag noch keinen von beiden gesehen. Sie lag auch gestern während des Abends die ganze Zeit mit Kopfschmerzen im Bett. Aus der Gaststube beobachtete ich noch, wie Nobbi, äh Herr Mursal in seinen Wagen stieg und losfuhr und Frau Wollmers schnellen Schrittes die Straße runter ging.« Das Gasthaus war gleichzeitig Hotel.

Marian ließ augenblicklich Suppe Suppe sein, auch wenn sie noch so lecker schmeckte. »Ein gewisser Herr von Stetten, der gestern auch auf dem Klassentreffen war, müsste also noch hier sein – mit seiner Frau?«

Die Wirtin beugte sich etwas vor und sprach ganz leise zu Marian: »Junges Glück! Wahrscheinlich liegen sie noch im Bett und holen den gestrigen Abend nach. Herr von Stetten hat das Klassentreffen organisiert. Jedenfalls war er es, der die Bestellung für das Essen aufgab und die Formalitäten erledigte. Ein sympathischer Mensch übrigens.«

Gerade war der Espresso gekommen, die Wirtin hatte sich entspannt zurückgelehnt und Marian seinen zweiten Teller Bohneneintopf in Angriff genommen, als eine schmächtige junge Frau die Gaststube betrat. Sie wirkte verloren, wie sie da stand und sich schüchtern umsah. Marian hatte sie sofort bemerkt und bei ihrem Anblick fielen ihm Begriffe wie mild und widerstandslos ein. Sie war unauffällig gekleidet in Jeans und grauen Pulli. Ihre blonden glatten Haare, die bis über die Schultern fielen, glänzten wie Seide.

»Das ist Frau von Stetten«, flüsterte die Wirtin und Dörte brüllte: »Wo ist denn ihr Mann? Den müssen wir sofort befragen!«

»Irgendwas stimmt mit deinen Ohren nicht, sonst würdest du nicht immer so rumkrakeelen«, bemerkte Marian und dazwischen die Wirtin: »Soll ich Frau von Stetten an ihren Tisch bitten? Ich selbst gehe dann mal. Wenn Sie noch Fragen haben, rufen Sie mich einfach.«

So von Angesicht zu Angesicht wirkte sie nicht mehr ganz so mild und widerstandslos. Selbstsicher musterte sie Marian und Dörte, und sie lächelte aufmüpfig, als sie erfuhr, dass die beiden von der Mordkommission waren.

»Wer ist denn ermordet worden?«

Vielleicht weißt du es ja schon, dachte Marian. Irgendwas war seltsam an ihr.

»Eine Nadja Wollmers. Sie war auch auf dem Klassentreffen.«

»Schon mal gehört. Aber wissen Sie, ich war gestern außer Gefecht gesetzt.«

Geheucheltes Desinteresse. Und warum benutzte sie das Wort Gefecht? Oder wusste sie längst mehr? »Wo ist ihr Mann?«

Sie versteinerte, rief die Wirtin und bestellte einen Kakao. »Ich weiß nicht, wo mein Mann ist. Er kam in unser Zimmer, so gegen eins. Ich bin dann endlich eingeschlafen nach dieser Migräneattacke. Deswegen kann ich Ihnen nicht sagen, ob oder wie lange er noch im Zimmer war. Als ich aufgewacht bin, so vor einer Stunde, war er jedenfalls nicht mehr da. Und wie ich oben aus dem Fenster sehen konnte, steht unser Auto auch noch vor der Tür. Er wird also nicht weit sein.«

Wie alt mochte die Frau sein? Kaum älter als zweiundzwanzig, schätzte Marian. Ein Phänomen, dessen tieferer Sinn sich ihm nicht offenbarte. Warum mussten Männer in fortgeschrittenem Alter sich nur so oft so junge Frauen suchen? Glaubten sie, dadurch jünger zu wirken? Oder brauchten sie jemanden, der noch fit genug war für die spätere Pflege?

»Ist das typisch für Ihren Mann? Macht er das öfter?«, fragte Marian. So wahnsinnig lange konnten sie ja noch nicht verheiratet sein. Sie hatte wieder dieses Spöttische in ihrem Blick.

»Wir sind jetzt ein Jahr verheiratet, und selbst wenn ich ihn gestern erst kennengelernt hätte, Lorenz wäre gar nicht fähig, jemanden zu ermorden. Das ist es doch, worauf Sie hinaus wollen.«

»Hallo!« Marian hob die Hände. »Unser Opfer wurde durch die Augenhöhlen an den Boden genagelt. Das kann ich Ihnen ruhig erzählen. Das ist hier in Lonau kein Geheimnis mehr. Ich zweifle nicht daran, dass Ihr Mann sehr eminent ist und Sie ihn gut kennen. Aber bei dieser Art Mord sind wir aufgerufen, die Ermittlungen zügig durchzuziehen, und da kommen wir mit Empfindlichkeiten nicht weit. Erst mal ist jeder verdächtig.«

Frau von Stetten guckte entsetzt. »Ich will mich damit erst gar nicht befassen. Ich bin schwanger. Die Migräne war nur vorgetäuscht. Lorenz wollte mit der Schwangerschaft nicht hausieren gehen. Aber er will auch nicht, dass ich mich aufrege und womöglich noch das Kind verliere. Ich hatte erst Blutungen.«

»Im wievielten Monat sind Sie?«, fragte Dörte.

Sie musterte Dörte auffällig von oben bis unten. Was war das nur für eine seltsame kleine Kommissarin mit ihren roten Pipilotta-Zöpfchen? Musste sie auch „der“ die Fragen beantworten und konnte man „die“ überhaupt ernst nehmen?

»Haben Sie eine gynäkologische Zusatzausbildung, oder warum interessiert Sie das?«

»Im Grunde genommen interessieren Frauen wie Sie mich überhaupt nicht. Aber mein gynäkologischer Sachverstand reicht so weit, dass ich mich frage, was Ihnen so zugesetzt hat, dass Sie nicht mitbekommen haben wollen, ob und wie lange Ihr Mann heute Nacht in ihrem Zimmer war. Bei Migräne hätte ich das ja noch verstanden. Sie ziehen doch eine Show ab!« Kaum zu glauben. Sie hatte vier ältere Schwestern. So billig ließ sich Dörte Herlof nicht abspeisen. So nicht mit mir!

Frau von Stetten hätte diese kleine Kröte von Kommissarin am liebsten völlig ignoriert, stattdessen antwortete sie mit einem verächtlichen Ausdruck in ihrem hübschen Gesicht. »Vierter Monat, große Müdigkeit. Und nein, ich habe mir keine Notizen über die letzten Stunden gemacht, und ich habe auch nicht zur Uhr geguckt, bevor ich eingeschlafen bin. Zufrieden?«

Leck mich doch, dachte Dörte und fragte: »Warum antworten Sie meinem Kollegen dann nicht? Ist das typisch für Ihren Mann, einfach nicht da zu sein, nicht neben seiner Frau aufzuwachen? Und spürt eine liebende Frau es nicht, wenn ihr Geliebter neben ihr schlummert? Schwanger ist ein Zustand, aber keine Krankheit. Verständlich, dass Sie Ihren Mann in Schutz nehmen, aber kein Grund, uns nicht die Wahrheit zu sagen!«