Inhaltsverzeichnis
ZUM GELEIT
VORWORT
EINFÜHRUNG
Wunder und Warnung
Ein warnendes Wort zu Atemübungen
Copyright
Die Inhalte des Buches wurden vom Verfasser nach bestem Wissen erstellt und mit größtmöglicher Sorgfalt geprüft. Sie bieten jedoch keinen Ersatz für eine kompetente medizinische Beratung. Weder Autor noch Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.
Die Originalausgabe dieses Buches erschien unter dem Titel The Tao of natural breathing bei Mountain Wind Publishing, San Francisco
»Gelange zu äußerster Leere. Bewahre höchste Gelassenheit. Die zehntausend Dinge bersten ins Leben, während ich ihre Rückkehr beobachte. Alles Lebendige kehrt zu seinen Wurzeln zurück und erreicht Gelassenheit. Das heißt zur Bestimmung zurückkehren.«
LAO TSE, Tao Te King
Dieses Buch widme ich meinem Sohn BENOIT, der mich vom Augenblick seiner Geburt an dazu anspornte, fortwährend dazuzulernenund mich weiterzuentwickeln.
DENNIS LEWIS
ZUM GELEIT
Das Interesse am Zusammenhang zwischen Atmung und körperlicher, seelischer wie geistiger Gesundheit wächst zunehmend. Bedauerlicherweise sind sich nur wenige der Menschen, die Atemtechniken ausprobieren, über die Bedeutung der »natürlichen Atmung« im Klaren. Unter diesem Begriff versteht man die spontane Ganzkörperatmung, wie sie an Babys und Kleinkindern zu beobachten ist. Anstatt sich um eine natürliche Atmung zu bemühen, überfrachten viele Menschen ihre ohnehin schon schlechten Atemgewohnheiten mit komplizierten Atemtechniken. Diese Gewohnheiten stehen nicht im Einklang mit den psychologischen und physiologischen Gesetzen von Seele und Körper, das heißt: Sie stehen nicht im Einklang mit dem Tao.
Natürliche Atmung ist ein wesentlicher Bestandteil des Tao. Seit Jahrtausenden bringen Meister des Taoismus ihren Schülern bei, wie man sich mithilfe von Chi-kung, Tai-chi und vielerlei anderen Formen der Meditations- und Heilkunst eine natürliche Atmung aneignen kann. Natürliche Atmung wirkt sich förderlich auf die gesamte Gesundheit aus. Sie verbessert die Funktion und Leistungsfähigkeit von Herz, Lunge und anderen Organen und Körpersystemen. Sie fördert unsere emotionale Ausgeglichenheit und versetzt uns in die Lage, Stress und eine negative innere Einstellung in Lebenskraft umzuwandeln, die wir uns für Selbstheilung und Selbstentfaltung zunutze machen können. Und nicht zuletzt wächst mit dem natürlichen Atmen unsere Fähigkeit, die Lebensenergie freizusetzen und in uns aufzunehmen, die wir für unsere geistige Entwicklung und seelische Unabhängigkeit so dringend brauchen.
Im Laufe der letzten Jahre erschienen zahlreiche Bücher zum Thema Atmen. Keines davon befasste sich jedoch so eingehend mit der Bedeutung, der Praxis und dem Nutzen der natürlichen Atmung wie dieses hervorragende neue Werk von DENNIS LEWIS. Auf dem Fundament langjähriger eigener Studien und Forschungsarbeiten, in deren Rahmen er sich mit vielerlei Traditionen und Disziplinen einschließlich des Tao des Heilens befasste, präsentiert Lewis in einem einzigen Buch Psychosomatik, naturwissenschaftliche Erkenntnisse und grundlegende Übungen, die uns helfen, den verjüngenden Einfluss natürlicher Atmung zu entdecken und unser Leben zu verändern.
Das Tao des Atmens trägt wesentlich zum besseren Verständnis der Art und Weise bei, wie Atemgewohnheiten unser Leben beeinflussen. Ungeachtet individueller Erfahrungen gewinnen die Leser neue Einblicke in ihre eigenen besonderen Atemgewohnheiten und erkennen, dass diese nicht selten ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden untergraben. Sie werden verstehen lernen, dass natürliche, unverfälschte Atmung weniger von der Aneignung neuer Atemtechniken abhängt als vielmehr von dem, was Lewis als »Umerziehung« unserer inneren Wahrnehmung bezeichnet. Diese Umerziehung, in deren Rahmen man lernt, die inneren Strukturen und Kräfte von Seele und Körper wahrzunehmen, bildet den Kernpunkt des taoistischen Weges zum Heilen und zur seelisch-geistigen Entfaltung.
Meister MANTAK CHIA The International Healing Tao, Chiang Mai, Thailand
VORWORT
WILLIAM BLAKE schrieb: »In allem, was Gott geschaffen hat, ist ein Sprung.« Für mich wurde dieser Sprung - jene Stelle also, durch die etwas Neues, Bedeutsameres in unser Leben treten kann - 1990 deutlich sichtbar, als ich, physisch, psychisch und geistig erschöpft, im rechten Brustkorbbereich einen stechenden Dauerschmerz verspürte. Ich hatte gerade eine ungemein anstrengende Zeit hinter mir, in der ich meine PR-Agentur verkauft und noch zwei Jahre unter den neuen Besitzern gearbeitet hatte, um einen optimalen Verkaufspreis zu erzielen. Der Schmerz, der mich plagte, war neu und hatte offenkundig nichts mit den Darmbeschwerden zu tun, die mir zuvor schon jahrelang zu schaffen gemacht hatten und später als Kolitis diagnostiziert worden waren. Ich suchte Ärzte, Masseure und Heilpraktiker auf, aber ohne Erfolg. In dieser Zeit lernte ich GILLES MARIN kennen, einen Schüler des Tao-Meisters MANTAK CHIA. Er lehrte und praktizierte Chi Nei Tsang (CNT), eine taoistische Heilmethode, bei der durch Chi-Massage der inneren Organe und Atemarbeit der Körper von ungesunden Spannungen und Kräften befreit wird.
Als Gilles seine Hände auf meinen Bauch legte und anfing, meine inneren Organe und Gewebe zu massieren, und mich aufforderte, in Körperregionen »hineinzuatmen«, die ich zuvor beim Atmen niemals wahrgenommen hatte, ahnte ich nicht, dass ich am Anfang einer unglaublichen Entdeckungsreise stand. Gilles erklärte mir, dass CNT nur Teil eines umfangreichen Systems von Heilmethoden und spirituellen Übungen sei, das von Meister Chia begründet worden war und »Tao des Heilens« genannt wurde. Doch ich war in diesem Augenblick nur an einem interessiert: meine Schmerzen loszuwerden. Ich hatte meine eigenen spirituellen Übungen; was ich suchte, war Heilung.
»Heilung« - ein Wort, über das ich mir bis dahin noch nie sonderlich Gedanken gemacht hatte. Doch während Gilles zunehmend intensiver mit mir arbeitete und mir nach und nach klar wurde, dass der Heilungsprozess weitgehend von meiner eigenen inneren Bewusstheit abhing, dämmerte mir allmählich, dass die Begriffe »heilen« (englisch heal) und »ganz« (englisch whole) die gleichen Wurzeln haben. Nach mehreren Sitzungen verschwand der Schmerz, und ich fühlte mich lebendiger, doch nun begann sich ein tiefer sitzendes seelisches Unbehagen bemerkbar zu machen. Ich musste mir nämlich eingestehen, dass der Erfolg meiner jahrelangen Bemühungen um Selbsterkenntnis und Sinneswandel bescheiden war und ich mich nur gegenüber einem kleinen Teil des ungeheuren Spektrums an physischen, emotionalen und spirituellen Kräften geöffnet hatte, die uns in jedem Augenblick unseres Lebens zur Verfügung stehen. Während Gilles weiter mit mir arbeitete und mein Atem nach und nach immer tiefer in mich einströmte, begann ich zu spüren, wie Spannung, Ärger, Furcht und Trauer Schicht um Schicht unterhalb der Ebene meines sogenannten Wachbewusstseins in meinem Unterbauch mitschwangen und die Kräfte aufzehrten, die ich nicht nur brauchte, um gesund zu bleiben, sondern auch, um mit dem Leben zurechtzukommen. Und mit dieser sich ständig verstärkenden, wenn auch schmerzvollen Empfindung im Mittelpunkt meines Seins lösten sich nicht nur die Spannungen im organischen Gewebe meines Bauchs, sondern eröffnete sich mir auch eine andere innere Einstellung mir selbst gegenüber - die Einbeziehung mir bislang unbewusster Fragmente meines Selbst in ein neues Gefühl von Erkenntnis, Ganzheit und seelisch-geistiger Entwicklung.
Sehr schnell erkannte ich, dass Chi Nei Tsang, das durch Berührung und Atemübungen meine körperlichen und emotionalen Kräfte durchdrang, einen unmittelbaren, Heilung bringenden Weg in mein Selbst darstellte. Mit der Wirkung, die sie auf mich ausübte, lernte ich diese Methode auch besser kennen; bald nahm ich Unterricht bei Gilles und begann sogar, meine Freunde damit vertraut zu machen. Überdies ließ ich mich in Heilpraktiken und Ch’i-kung unterweisen, die zum Teil auch besondere Atemübungen mit einschlossen. Zu meinen Lehrern im Fach »Tao des Heilens« zählte unter anderen Meister MANTAK CHIA, der mich auch, nach über einjähriger CNT-Ausbildung und zahlreichen Stunden klinischer Praxis, einer Prüfung unterzog und als CNT-Praktiker anerkannte. Es folgten mehrere Kurse im Tao des Heilens, die dazugehörenden Phasen der Ruhe und Abgeschiedenheit sowie intensive Arbeit an mir selbst. Den Abschluss bildete meine Anerkennung als Lehrer mehrerer, zum Tao des Heilens gehörender Praktiken durch Mantak Chia. Seither praktiziere ich Chi Nei Tsang bei meinen eigenen Patienten und an einer chinesischen Klinik in San Francisco; hinzu kommen fortlaufend Kurse im Tao des Heilens und einschlägige Workshops, bei denen der Atmung besonderes Gewicht beigemessen wird.
Durch meine Beschäftigung mit dem Tao des Heilens sowie mit anderen Lehren, wie beispielsweise der Gurdjieff-Methode und Advaita Vedanta, erkannte ich zweierlei, was den Zusammenhang zwischen Atmung einerseits und Gesundheit sowie innerer Bewusstseinserweiterung andererseits angeht: Zum einen sind unsere schlechten Atemgewohnheiten nicht nur eine Folge unserer Unkenntnis von psychosomatischen Vorgängen, also eines Mangels an Körperbewusstsein, sondern auch einem unbewussten Puffermechanismus zuzuschreiben, der uns davon abhält, die Realität unserer tief verwurzelten Ängste und Widersprüche zu erkennen und zu spüren. Es besteht keinerlei Zweifel daran, dass oberflächliche Atmung und oberflächliche Erfahrung des eigenen Selbst Hand in Hand gehen. Zum anderen wäre schon viel gewonnen, wenn es uns gelänge, von den über 15.000 Atemzügen, die wir tagtäglich im Wachzustand machen, wenigstens einen bescheidenen Anteil auf »natürliche« Weise zu tun. Dies würde in der Vermeidung physischer und psychischer, aus dem modernen Leben erwachsender Probleme einen gewaltigen Schritt nach vorne bedeuten. Aber auch in unserer seelisch-geistigen Entwicklung kämen wir voran - auf dem Weg zu dem Bewusstsein, wer wir sind und was wir sind, zur Erkenntnis unseres eigenen Selbst. Ich hoffe, dass die in diesem Buch vorgestellten Gedanken und Übungen dazu beitragen, Sie diesem Ziel näherzubringen.
EINFÜHRUNG
Wunder und Warnung
Die Atmung - die fundamentale Bewegung des Ein- und Ausströmens von Luft - zählt zu den größten Wundern des Lebens. Sie setzt nicht nur die Lebensenergien frei, sondern ist auch ein heilsames Geschehen, das bis in die verborgensten Winkel unseres Seins dringt. Tief einatmen heißt Lebenskraft aufnehmen, und mit dem völligen Ausatmen »leeren« wir uns gewissermaßen aus und öffnen uns dem Unbekannten. Wenn wir den ständig wechselnden Rhythmus dieses fundamentalen Prozesses bewusster wahrnehmen, können wir unsere inneren Heilkräfte erwecken - die Kraft der Ganzheit.
Atmen heißt leben. Aus voller Kraft zu atmen bedeutet, das Leben voll auszuschöpfen - das heißt, sich beim Denken, Fühlen und Handeln die angeborene, im Inneren schlummernde Vitalität voll zunutze zu machen. Bedauerlicherweise verstehen sich nur wenige Menschen darauf, allumfassend zu atmen. Wir haben unsere Fähigkeit, »natürlich« zu atmen, eingebüßt - eine Fähigkeit, die wir als Baby und Kleinkind besaßen. Gewohnheitsmäßig flache Atmung senkt die Leistungsfähigkeit unseres Atemapparates auf ein klägliches Drittel seines Potenzials und vermindert den Gasaustausch und damit die Energiegewinnung in den Zellen; der positive Einfluss, den eine natürliche Atmung normalerweise auf die inneren Organe ausübt, wird unterbunden, eigene, echte Wahrnehmungen werden überlagert, was die Entstehung von Disharmonie und Unbehagen auf allen Ebenen unseres Daseins begünstigt.
Was bedeutet natürliche Atmung? Wie könnte diese Form des Atmens unser Leben und unsere Gesundheit verändern? Um diese Fragen zu beantworten, bedarf es gewissermaßen einer experimentellen Atemstudie im Labor unseres eigenen Körpers. Wir müssen am eigenen Leib verspüren, wie eng Atmung nicht nur mit unserer Lebensenergie, sondern mit allen Aspekten unseres Seins verknüpft ist - angefangen beim gesunden Zustand von Geweben, Organen, Knochen, Muskeln, Blut und Hormonhaushalt, bis hin zu Natur und Bedeutung unserer Gedanken, Einstellungen, Emotionen und unseres Bewusstseins. Wir müssen erkennen, welch enormen Einfluss unsere Atmung ausübt, wenn es darum geht, uns innerlich zu öffnen oder zu verschließen - nicht nur gegenüber unseren inneren Heilkräften, sondern auch gegenüber unseren Möglichkeiten der seelischen und geistigen Entfaltung.
Von all den großartigen überlieferten und modernen Lehren, die sich mit der fundamentalen Bedeutung der Atmung für unser Leben befassen, bietet die taoistische Tradition Chinas - eher eine Lebensweise als eine Religion im konventionellen Sinn - einen der gangbarsten und einleuchtendsten Wege, sich den Atem für Gesundheit und Wohlbefinden zunutze zu machen. Einer der Gründe hierfür liegt darin, dass im Taoismus von Anfang an - also zur Zeit des Gelben Kaisers (HUANG TI) um 2700 v. Chr. - die Ziele Gesundheit und Langlebigkeit niemals vom Streben nach spiritueller Entwicklung und Unsterblichkeit getrennt waren. Die Taoisten erkannten, dass ein langes, gesundes, von Vitalität erfülltes Leben nicht nur für sich allein ein vernünftiges, erstrebenswertes Ziel darstellt, sondern auch wesentlich zur Erlangung seelisch-geistiger Größe und Unabhängigkeit beiträgt - eines Zieles also, das weit mühseliger zu erreichen ist. Gestützt auf über 4000-jähriges Experimentieren mit den eigenen physischen, emotionalen, geistigen und seelischen Kräften durch besondere Haltungen und Bewegungen, durch Massage, Vorstellungen, Geräusche und Meditation sowie Ernährung und vielerlei andere praktizierte Disziplinen, machten die Taoisten die Beobachtung, dass natürliche Atmung - das heißt die Atmung nach den eigentlichen »Gesetzen« des menschlichen Organismus - einen gewaltigen Einfluss auf Quantität und Qualität dieser Energien ausübt und damit auf die Qualität und Richtung unseres Lebens. Tao bedeutet - soweit es sich überhaupt definieren lässt - den Weg oder die Gesetze von Natur und Universum - die Gesetze von Schöpfung und Evolution. Durch ein Leben im Einklang mit diesen Gesetzen ist es uns möglich, unser körperliches, seelisches und geistiges Schicksal zu erkennen und zu erfüllen.
Das Tao des Atmens verknüpft fundamentale taoistische Lehren und Atemübungen - insbesondere solche, die sich aus meiner Arbeit bei Tao-Meister MANTAK CHIA ergaben - mit eigenen, in über 30 Jahren gesammelten Beobachtungen und Erkenntnissen. Sie alle standen im Zusammenhang mit verschiedenen anderen Systemen und Lehren, einschließlich Advaita Vedanta, Feldenkrais und des Werkes von GURDJIEFF und ILSE MIDDENDORF, sowie mit wichtigen Prinzipien aus Anatomie, Physiologie und Neurochemie. Meiner Erfahrung nach erfordert ernsthafte Arbeit mit der Atmung weit mehr als nur einschlägige Übungen. Was überdies nottut, sind ein klarer »naturwissenschaftlicher« Einblick in den menschlichen Organismus sowie die eingehende Beschäftigung mit dem Körperbewusstsein - also die Fähigkeit, sich von innen heraus zu spüren und wahrzunehmen.
Ein warnendes Wort zu Atemübungen
Der große geistige Wegbereiter G. I. GURDJIEFF bemerkte einmal: »Ohne die Atmung zu beherrschen lässt sich nichts beherrschen.« (zitiert in: P. D. OUSPENSKY, Auf der Suche nach dem Wunderbaren) Gleichzeitig wies er warnend darauf hin, dass sich Veränderungen der Atemgewohnheiten schädlich auswirken können, wenn man über den eigenen Organismus, insbesondere über das Wechselspiel im Rhythmus der einzelnen Organe, nicht genau Bescheid weiß. Atemarbeit, vor allem einige der im Westen durch Kurse und Bücher verbreiteten fortgeschrittenen Yoga-Atemtechniken (Pranayama), ist mit vielerlei Risiken befrachtet. In seinem Buch Hara - die Erdmitte des Menschen befasst sich KARLFRIED VON DÜRCKHEIM, ein Pionier auf dem Gebiet der Integration von Körper, Geist und Seele, mit einigen Gefahren, die Yoga-Atemtechniken für die Menschen des Westens in sich bergen. Er weist darauf hin, dass die meisten der Übungen, die »Anspannung« beinhalten, für Inder konzipiert wurden, die damit gegen ihr »träges Geschehenlassen« angehen. Die Menschen im Westen hingegen leiden unter »zu starkem Drang nach oben … zu viel Willen«. Nach Dürckheims Aussagen bemühen sich zwar viele Yogalehrer, ihre Schüler durch vorheriges Entspannen auf die Atemübungen vorzubereiten; sie sind sich aber nicht darüber im Klaren, dass das für tiefes Entspannen erforderliche »Loslassen« nur durch langes Üben erreicht wird. Vorschnell absolvierte Atemübungen sind nach Dürckheims Meinung nur dazu angetan, neue Spannungen auf bereits existierende aufzupfropfen, und führen zu »künstlich induzierter Vitalität … gefolgt von Erschöpfung. Der Schüler gibt seine Bemühungen auf und stellt die Übungen ein.«
Angesichts der Arbeit an mir selbst und meiner Beobachtungen an anderen bin ich davon überzeugt, dass die meisten westlichen Menschen erst monatelang (oder gar über Jahre hinweg) auf der Basis von Selbstbeobachtung und bewusstem Spüren üben müssen, um die tiefe innere Entspannung und Losgelöstheit vom eigenen Willen zu erlangen, die für einen dauerhaften Gewinn aus fortgeschrittenen Atemübungen vonnöten sind - einerlei, ob es sich dabei um Yoga handelt, um taoistische oder andere Übungen. Von Atemübungen, die zum Beispiel komplizierte Zählmuster, wechselweises Atmen durch die Nasenlöcher und konträre Atmung, das Anhalten des Atems oder Hyperventilation1 einschließen, profitieren nur Menschen, die ohnehin schon natürlich atmen und ihren gesamten Körper in dem Atmungsprozess einbeziehen. Meiner Erfahrung nach ist natürliches Atmen für sich allein eine wirkungsvolle Form der Selbstheilung. Aus diesem Grunde befasst sich Das Tao des Atmens so eingehend mit dieser Methode der Atmung. Das Buch beschreibt ausführlich einige grundlegende Perspektiven und Praktiken, die die innere Bewusstheit stärken und uns so dazu verhelfen, jene Blockaden zu erkennen und zu beseitigen, die uns daran hindern, uns diese Form des Atmens zunutze zu machen.
Selbstverständlich ließe sich nun dagegen einwenden, dass nach Aussagen einiger taoistischer Meister und anderer Lehrer jedwedes Bemühen um eine natürliche Atmung am wesentlichen Punkt vorbeigehe und schädlich sei, weil natürliches Atmen ohnehin keiner Mühe bedarf. Ihrer Meinung nach stellt sich natürliche Atmung ganz von selbst ein, wenn Geist und Seele ruhig und leer sind. Doch diese Aussage löst nicht das Problem, sondern wirft lediglich eine andere Frage auf: Unter welchen Bedingungen können sich Geist und Seele leeren und zur Ruhe kommen? Was muss man selbst dazu tun? Es hat keinen Sinn, ein Problem vom Körper in den Kopf oder vom Kopf in den Körper zu verlagern; am natürlichen Atmen sind beide beteiligt.
Auf dem Weg zur natürlichen Atmung kommt es nicht nur darauf an, was man tut, sondern auch darauf - und dies zählt vielleicht noch mehr -, wie dies geschieht. Betrachtet man die Übungen in diesem Buch als bloße, durch sogenannte Willenskraft umgesetzte Techniken, bringen sie überhaupt nichts. Sieht man in ihnen hingegen ein natürliches, aus der Unmittelbarkeit eines deutlich ausgeprägten inneren Bewusstseins erwachsendes Medium zum Erkunden der physiologischen und psychologischen Gesetze von Körper, Geist und Seele, lernen wir vielleicht nach und nach tatsächlich, was es heißt, Geist und Seele zur Ruhe kommen und leerströmen zu lassen. Einerlei, wie wir leben oder was wir tun (oder nicht tun) - irgendetwas tun wir immer, und sei es nur das mechanische Wiederholen und Zementieren festgefahrener, oftmals ungesunder Gewohnheiten von Geist, Körper und Vorstellungen, die unser Leben mitgestalten. Um von den Übungen in diesem Buch wirklich zu profitieren, müssen wir sie so bewusst wie möglich in Angriff nehmen; wir müssen uns bemühen, ihren Zweck zu begreifen, ihren Geist zu spüren und ihre Wirkung auf unser gesamtes Selbst wahrzunehmen.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 1997 Dennis Lewis © der deutschsprachigen Ausgabe Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen /München 2008
Alle Rechte vorbehalten
unter Verwendung eines Motivs von Mauritius Images/Phevoir Illustrationen im Innenteil: Weiss / Zembsch / Partner, Werkstatt München
eISBN : 978-3-641-03313-2
Leseprobe
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