Die Herrin von Wildfell Hall. Band 2 - Anne Brontë - E-Book

Die Herrin von Wildfell Hall. Band 2 E-Book

Anne Bronte

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Beschreibung

Gilbert Markham ist fasziniert von Helen Graham, einer schönen und geheimnisvollen jungen Frau, die mit ihrem kleinen Sohn in das nahe gelegene Wildfell Hall gezogen ist. Er bietet Helen schnell seine Freundschaft an, aber als ihr zurückgezogenes Verhalten zum Gegenstand von lokalem Klatsch und Spekulationen wird, beginnt Gilbert sich zu fragen, ob sein Vertrauen in sie fehl am Platz war. Erst als sie Gilbert erlaubt, ihr Tagebuch zu lesen, kommt die Wahrheit ans Licht und er erfährt die schockierenden Gründe für ihre Schwierigkeiten, Nähe und Vertrauen zuzulassen. Mit großer Unmittelbarkeit, Witz und Ironie erzählt, ist „Die Herrin von Wildfell Hall“ eine kraftvolle Darstellung des Kampfes einer Frau um häusliche Unabhängigkeit und kreative Freiheit. Dies ist der zweite von vier Bänden.

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Seitenzahl: 247

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Anne Brontë

 

 

Die Herrin von

Wildfell Hall

 

 

 

 

Roman

in vier Bänden

 

 

Band 2

 

 

 

 

In der überarbeiteten Übersetzungvon

W. E. Drugulin.

DIE HERRIN VON WILDFELL HALL wurde in der englischsprachigen Originalfassung (The Tenant of Wildfell Hall) zuerst veröffentlicht von T. C. Newby, London 1848.

Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von

© apebook Verlag, Essen (Germany)

www.apebook.de

2024

 

V 1.0

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Band 2 

ISBN 978-3-96130-647-3

Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Die Herrin von Wildfell Hall. Band 2

Impressum

Zweiter Teil.

Erstes Kapitel. Weitere Warnungen.

Zweites Kapitel. Das Portrait.

Drittes Kapitel. Ein Ereignis.

Viertes Kapitel. Beharrlichkeit.

Fünftes Kapitel. Ansichten.

Sechstes Kapitel. Freundschaftsstückchen.

Siebentes Kapitel. Erste Ehewochen.

Achtes Kapitel. Der erste Zank.

Neuntes Kapitel. Erste Abwesenheit.

Zehntes Kapitel. Die Gäste.

Elftes Kapitel. Ein Vergehen.

Zwölftes Kapitel. Vaterliebe.

Dreizehntes Kapitel. Der Nachbar.

Vierzehntes Kapitel. Häusliche Szenen.

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Zu guter Letzt

Zweiter Teil.

 

Erstes Kapitel. Weitere Warnungen.

 

Am nächsten Tage begleitete ich meinen Onkel und meine Tante zu einem Diner bei Mr. Wilmot. Er hatte zwei Damen bei sich zum Besuche seine Nichte Arabella, ein hübsches, glänzendes Mädchen von etwa fünf und zwanzig Jahren, nach ihrer eignen Behauptung, eine zu große Kokette, um sich zu verheiraten, aber sehr bewundert von den Herren, die sie allgemein für ein prächtiges Frauenzimmer erklären — und ihre sanfte Cousine Millizent Hangrave, die eine gewaltige Freundschaft für mich gefaßt hatte und mich für viel besser hielt, als ich war, und ich hatte sie dagegen ebenfalls sehr lieb — ich sollte eigentlich die arme Millizent bei meinen allgemeinen Einwendungen gegen die Damen meiner Bekanntschaft gänzlich ausnehmen, ich habe jedoch die Gesellschaft weder wegen ihrer noch wegen ihrer Cousine erwähnt, sondern um eines anderen Gastes Mr. Wilmots willen, nämlich Mr. Huntingdon. Ich habe guten Grund« seine Gegenwart hier zu erwähnen, denn dies war das letzte Mal, dass ich ihn sah.

Er saß bei Tische nicht neben mir, denn es war sein Schicksal, eine breite, alte, verwitwete Dame zu Tische zu führen und das meine, von Mr. Grimsby dazu geleitet zu werden, der einer seiner Freunde aber ein Mann war, gegen welchen ich große Abneigung hegte. Sein Gesicht hatte einen finsteren Ausdruck, und sein Benehmen ein Gemisch versteckter Wildheit und wortreicher Falschheit, welches ich nicht ausstehen konnte. Welch eine langweilige Sitte dies, beiläufig erwähnt, ist, eine von den vielen Quellen künstlich gemachter Ärgernis unseres übercivilisierten Lebens. Wenn die Herren die Damen einmal in das Speisezimmer führen müssen, so könnten sie doch eigentlich diejenigen nehmen, welche ihnen am besten gefallen.

Ich bin jedoch nicht ganz sicher, dass Mr. Huntingdon mich gewählt haben würde. Es ist sehr möglich, dass er Miß Wilmot genommen hätte, denn sie schien darauf versessen zu sein, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und er nicht abgeneigt, die von ihr verlangte Huldigung zu leisten. Ich dachte dies wenigstens, als ich sah, wie sie redeten und lachten und über die Tafel blickten — zur Vernachlässigung und zum offenbaren Ärger ihrer respektiven Nachbarn — und wie sie später, als sich uns die Herren im Gesellschaftszimmer anschlossen, ihm augenblicklich nach seinem Eintritt laut zurief, einen Streit zwischen ihr und einer andern Dame zu entscheiden, folgte er der Aufforderung, ohne auch nur einen Augenblick zu zaudern und entschied die Frage sofort zu ihren Gunsten — obgleich sie meiner Ansicht nach geradezu unrecht hatte — und blieb dann in vertraulichem Gespräche mit ihr und einer Gruppe anderer Damen stehen, während ich mit Millizent Hangrave am andern Ende des Zimmers saß, die Zeichnungen der Letzteren durchsah und ihr auf besonderen Wunsch mit meinen kritischen Bemerkungen und Ratschlägen beistand. Trotz meiner Anstrengungen, gefaßt zu bleiben, wanderte aber meine Aufmerksamkeit von den Zeichnungen zu der munteren Gruppe und gegen meine bessere Überzeugung erhob sich mein Grimm und lächerlich muß sich mein Gesicht verdüstert haben, denn Millizent bemerkte, dass ich ihrer Sudeleien und Krähenfüße müde sein müsse, bat mich, nun zur Gesellschaft zu gehen und die Besichtigung der übrigen auf eine andre Gelegenheit zu verschieben. Während ich ihr aber versicherte, dass ich gar keine Lust habe, zu Jenen zu treten, und nicht müde sei, kam Mr. Huntingdon selbst zu dem kleinen runden Tische, an welchem wir saßen.

»Sind diese von Ihnen?« sagte er nachlässig, eine von den Zeichnungen zur Hand nehmend.

»Nein, sie sind von Miß Hangrave.«

»O, nun lassen Sie sie doch einmal ansehen.«

Und ohne auf Miß Hangrave’s Beteuerungen, dass sie des Ansehens nicht wert seien, zu achten, zog er einen Stuhl an meine Seite, nahm die Zeichnungen eine nach der andern aus meiner Hand, besah sie und warf sie dann auf den Tisch, sagte jedoch kein Wort darüber, obgleich er die ganze Zeit nicht zu reden aufhörte. Ich weiß nicht, was Millizent Hangrave von diesem Benehmen dachte, aber ich fand seine Unterhaltung ungemein interessant, obgleich sie, wie ich später, als ich sie analysierte, entdeckte, hauptsächlich darauf beschränkt war, über die verschiedenen Mitglieder der Gesellschaft zu spötteln, und wiewohl er einige kluge Bemerkungen und eine Menge von äußerst drolligen machte, denke ich doch nicht, dass sie hier niedergeschrieben als etwas Besonderes erscheinen würden, wenn man nicht dazu auch die Blicke und Töne und Geberden schreiben, sowie den unerklärlichem aber zauberhaften Reiz schreiben könnte, welcher über Alles, was er tat und sagte, einen hellen Glanz warf, und es zu einem Genusse gemacht haben würde, in sein Gesicht zu blicken und die Musik seiner Stimme zu hören, selbst wenn er gerader Unsinn gesprochen hätte — und der mir übrigens ein so bitteres Gefühl gegen meine Tante einflößte, als sie diesem Genusse ein Ende machte, indem sie ruhig unter dem Vorwande, die Zeichnungen zu betrachten, um die sie sich nicht kümmerte und von denen sie nichts verstand, herantrat, und während sie tat, als ob sie dieselben beschaue, sich mit ihrem kältesten und zurückschreckendsten Gesichte an Mr. Huntingdon wendete und eine Reihe von den alltäglichsten und förmlichsten Phrasen und Bemerkungen begann, um seine Aufmerksamkeit von mir abzulenken — oder vielmehr, um mich absichtlich zu ärgern, wie ich dachte, und nachdem die Mappe durchgesehen, überließ ich sie ihrem tête-à-tête und setzte mich auf ein Sopha, ganz von der Gesellschaft abgesondert, ohne zu bedenken, wie seltsam ein solches Benehmen erscheinen würde, sondern um nur erstlich dem Ärger des Augenblickes mich hinzugeben und zweitens meinen Privatgedanken nachzuhängen.

Aber ich blieb nicht lange allein, denn Mr. Wilmot, von allen Männern derjenige, welcher mir am wenigsten willkommen war, benutzte meine isolierte Lage um herzukommen und sich neben mich hinzupflanzen. Ich hatte mir geschmeichelt, seine Annäherungen bei allen früheren Anlässen so wirksam zurückgewiesen zu haben, dass ich von seiner unglückseligen Neigung nichts weiter zu befürchten brauche, mich aber, wie es scheint, geirrt — denn sein Vertrauen entweder auf seinen Reichtum oder seine noch jetzt vorhandene Anziehungskraft war so groß und seine Überzeugung von der weiblichen Schwäche so fest, dass er sich für berechtigt hielt, wieder eine Belagerung zu beginnen, was er mit erneuerter, von dem Weine, welchen er getrunken, entzündeter Glut tat — ein Umstand, der ihn noch um Vieles abstoßender für mich machte; so sehr ich ihn aber auch in diesem Augenblicke verabscheute, wollte ich ihn doch nicht rauh behandeln, da ich jetzt sein Gast war und eben erst an seinem Tische gesessen hatte und mich auf häßliche aber entschlossene Zurückweisungen nicht verstand, die mir übrigens nicht viel genützt haben würden; denn er war zu roh, um eine solche zu verstehen, die nicht eben so deutlich und positiv als seine eigne Unverschämtheit war. Die Folge davon war die, dass er ekelhaft zärtlich und noch abstoßender warm wurde und ich mich am Rande der Verzweiflung befand, und eben Gott weiß was sagen wollte, als ich meine über die Sophalehne hängende Hand plötzlich von einer andern ergriffen und sanft aber glühend gedrückt fühlte. Ich erriet instinktmäßig, wer es sei und war weniger erstaunt als erfreut, Mr. Huntingdon mir zulächeln zu sehen. Es war, als ob ich mich von einem Dämon des Fegefeuers zu einem Engel des Lichtes wende, der mir anzuzeigen kam, dass die Zeit der Qual vorüber war.

»Helene,« sagte er (er nannte mich häufig Helene und ich war über die Freiheit, welche er sich nahm, nie unwillig), »Sie müssen das Gemälde ansehen; Mr. Wilmot wird Sie sicherlich auf einen Augenblick entschuldigen.«

Ich erhob mich schnell, er zog meinen Arm durch den seinen und führte mich nach der anderen Seite des Zimmers zu einem herrlichen Gemälde von van Dyk, das ich schon früher bemerkt, aber noch nicht gehörig betrachtet hatte. Nach einem Augenblicke schweigenden Beschauens war ich im Begriff, mich über dessen Schönheiten und Eigentümlichkeiten auszulassen, als er schelmisch die Hand, welche er noch unter seinem Arme hielt, drückte und mich unterbrach.

»O, kümmern Sie sich nicht um das Gemälde; das war es nicht, weshalb ich Sie hinan und von dem schuftigen alten Bösewicht dort, der aussieht, als wolle er mich dafür herausfordern, hinweggebracht habe.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden; dies ist das zweite Mal, dass Sie mich von so unangenehmer Gesellschaft befreit haben.«

»Seien Sie nicht zu dankbar,« antwortete er, »es ist nicht lauter Güte gegen Sie, sondern ein Gefühl von Bosheit gegen Ihre Quälgeister, die mich entzückt machte, dem alten Burschen einen schlimmen Streich zu spielen, obgleich ich keinen großen Grund zu haben scheine, sie als Nebenbuhler zu fürchten — habe ich den, Helene?«

»Sie wissen, dass ich Beide verabscheue.«

»Und mich?«

»Ich habe keinen Grund, Sie zu verabscheuen.«

»Aber was empfinden Sie für mich, Helene? — Sprechen Sie! In welchem Lichte betrachten Sie mich?«

Und von Neuem drückte er meine Hand; aber ich fürchtete, dass seinem Benehmen eher ein Bewußtsein seiner Macht als wahre Zärtlichkeit zu Grunde liege, fühlte, dass er kein Recht habe, ein Bekenntnis der Liebe von mir zu erpressen, ohne dass er selbst ein entsprechendes Geständnis gemacht und wußte nicht, was ich antworten solle; endlich sagte ich:

»In welchem Lichte betrachten Sie mich?«

»Süßer Engel, ich bete Sie an!«

»Helene, ich brauche dich auf einen Augenblick,« sagte die deutliche, leise Stimme meiner Tante dicht neben uns, und ich verließ ihn, indem er Verwünschungen gegen seinen bösen Engel murmelte.

»Nun, Tante, was gibt es, was wollen Sie von mir,« sagte ich, indem ich ihr in die Fensterbrüstung folgte.

»Ich verlange, dass Du zur Gesellschaft gehst, wenn Du Dich sehen lassen kannst,« erwiderte sie, mich streng anblickend. Sei aber so gut, ein wenig hier zu bleiben, bis sich die entsetzliche Röte wieder ein wenig aus Deinem Gesichte verzogen haben wird, und Deine Augen wieder etwas von ihrem natürlichen Ausdruck angenommen haben. Ich würde mich schämen, wenn Dich Jemand in Deinem jetzigen Zustande sähe.«

Natürlich hatte eine solche Bemerkung nicht die Wirkung, die entsetzliche Röte zu entfernen, im Gegenteil fühlte ich mein Gesicht von verdoppelter Glut aufleuchten, die durch eine Verbindung von Gefühlen erzeugt wurde, von welchen indignierter, aufsprudelnder Zorn das mächtigste war. Ich antwortete jedoch nicht, sondern schob den Vorhang bei Seite und blickte in die Nacht — oder vielmehr auf den lampenerhellten Platz hinaus.

»Machte Dir Mr. Huntingdon einen Antrag, Helene?« fragte meine zu wachsame Verwandte.

»Nein.«

»Was sagte er denn? Ich hörte etwas dem ziemlich nahe kommendes.«

»Ich weiß nicht, was er gesagt haben würde, wenn Sie ihn nicht unterbrochen hätten.«

»Und würdest Du ihn angenommen haben, Helene, wenn er Dir einen Antrag gemacht hätte?«

»Natürlich nicht, ohne erst den Onkel — und Sie zu Rate zu ziehen.«

»O, es freut mich, mein Kind, dass Du noch so viel Klugheit besitzest. Nun,« fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu, »Du hast Dich für einen Abend auffallend genug gemacht, ich sehe, dass die Damen schon fragende Blicke auf uns werfen; ich werde zu ihnen gehen, komm auch Du nach, wenn Du gefaßt genug bist, um wie gewöhnlich zu erscheinen.«

»Ich bin es jetzt.«

»So sprich sanft und sieh nicht so malitiös aus,« sagte meine ruhige, aber mich fast zur Verzweiflung bringende Tante, »wir werden bald nach Hause zurückkehren und dann,« fügte sie mit feierlicher Bedeutsamkeit hinzu, »habe ich viel mit Dir zu sprechen.«

Ich ging also auf eine furchtbare Predigt heim. Auf unsrer kurzen Fahrt wurde von beiden Seiten wenig gesprochen, als ich aber in mein Zimmer getreten war und mich in einen Lehnstuhl geworfen hatte, um über die Ereignisse des Tages nachzudenken, folgte mir meine Tante, schloß, nachdem sie Rahel, die sorgfältig meinen Schmuck hinwegräumte, weggeschickt hatte, die Tür, stellte einen Stuhl neben den meinen, oder vielmehr in einen rechten Winkel mit dem meinen und setzte sich darauf. Ich bot ihr mit gehöriger Ehrerbietung meinen bequemeren Sitz an, sie lehnte denselben jedoch ab und eröffnete die Conferenz folgendermaßen:

»Erinnerst Du Dich unsres Gesprächs am vorletzten Abend, als wir Staningley verließen?«

»Ja, Tante.«

»Und erinnerst Du Dich, wie ich Dich dagegen warnte, Dir Dein Herz durch eine Person, die des Besitzes desselben unwürdig sei, stehlen zu lassen, und Dein Herz zu verschenken, ehe Du achten könnest und da zu lieben, wo die Vernunft und das gesunde Urteil ihre Sanktion nicht dazu geben.«

»Ja, aber meine Vernunft — «

»Entschuldige mich, wenn ich Dich unterbreche — und erinnerst Du Dich, wie Du uns versicherst, dass kein Anlaß zu Unruhen in Bezug auf Dich vorhanden sei, da Du Dich nie versucht fühlen würdest, einen Mann zu heiraten, dem es an Verstand oder Grundsätzen mangele — wie hübsch oder bezaubernd in andrer Beziehung er auch sein möchte, denn Du könntest ihn nicht lieben, Du würdest ihn hassen — verachten — bemitleiden — Alles eher als ihn lieben? — Waren dies nicht Deine eignen Worte?«

»Ja, aber —«

»Und sagtest Du nicht, dass Deine Liebe auf die Billigung Deines Verstandes begründet sein müsse und dass Du nicht lieben könntest, ohne zu billigen, zu ehren und zu achten?« —

»Ja, aber ich billige und ehre und achte —«

»Wie so, mein Kind? — Ist Mr. Huntingdon ein guter Mensch?«

»Er ist ein bei weitem besserer Mensch, als Sie glauben.«

»Das geht mich nichts an, ist er ein guter Mensch?«

»Ja — in mancher Beziehung — er hat ein gutes Gemüt.«

»Ist er ein Mann von Grundsätzen?«

»Wohl nicht gerade, aber nur aus Mangel an Nachdenken. Wenn er Jemand hätte, um ihn zu beraten und ihn an das, was recht ist, zu erinnern —«

»Dann, meinst Du, würde er es bald lernen — und Du würdest es selbst gern übernehmen, seine Lehrerin zu werden. Aber, mein liebes Kind, er ist, glaube ich, um volle zehn Jahre älter als Du — wie kommt es, dass Du ihm in moralischer Hinsicht so weit voraus bist?«

»Dank Ihnen, Tante, bin ich gut erzogen und habe stets gute Beispiele vor mir gehabt, was bei ihm wahrscheinlich nicht der Fall gewesen ist, — und übrigens ist er von sanguinischem Temperamente und heiterem, sorglosen Gemüte, und ich bin von Natur zum Nachdenken geneigt.«

»Nun, Deinem eigenen Geständnisse nach mangelt es ihm also sowohl an Verstand, wie an Grundsätzen —«

»Dann stehen ihm meine Grundsätze und mein Verstand zu Diensten!«

»Das klingt vorwitzig, Helene; denkst Du, dass Du für Euch Beide genug hast und bildest Dir das ein, dass die muntre, gedankenlose, ausschweifende Welt ihm gestatten würde, sich von einem jungen Mädchen, wie Du, leiten zu lassen?«

»Nein, ich würde nicht wünschen, ihn zu leiten, aber ich denke, dass ich Einfluß genug haben könnte, um ihn von manchen Irrtümern zu erretten, und würde mein Leben für gut angewendet halten, wenn ich es dem Versuche weihen könnte, eine so edle Natur vor dem Untergange zu bewahren. Er hört jetzt stets aufmerksam auf mich, wenn ich ernsthaft zu ihm spreche (und ich erlaube mir oft, seine leichtsinnige Redeweise zu tadeln) und mitunter sagt er, dass, wenn er mich stets an seiner Seite hätte, er nie etwas Böses sagen oder tun, und ein tägliches Gespräch mit mir, ihn zu einem wahren Heiligen machen würde. Es mag zum Teil Scherz, teilweise auch Schmeichelei sein, aber doch —«

»Aber doch denkst Du, dass Wahrheit darin liegen könne?«

»Wenn ich denke, dass etwas Wahres darin ist, so geschieht dies nicht aus dem Vertrauen in meine Kräfte, sondern aus dem auf seine gute Natur. — Und Sie haben nicht das Recht, ihn einen Wüstling zu nennen — das ist er ganz und gar nicht.«

»Wer hat Dir das gesagt« mein Kind? Was für eine Geschichte mit einer verheirateten Dame — Lady Wie heißt sie gleich — war es, die Dir Miß Wilmot selbst neulich erzählte?«

»Es war eine Lüge — eine Lüge!« rief ich. »Ich glaube kein Wort davon.«

»Du denkst also, dass er ein tugendhafter, moralischer, junger Mann ist?«

»Ich weiß nichts Positives über seinen Charakter. Ich weiß nur, dass ich nichts Bestimmtes dagegen gehört habe — wenigstens nichts, was sich erweisen ließe; und so lange die Leute ihre verleumderischen Anklage nicht beweisen können, werde ich sie auch nicht glauben. Und soviel weiß ich, dass, wenn er Fehler begangen hat, dies nur die der Jugend und solche sind, von denen Niemand etwas Böses denkt; denn ich sehe, dass ihn alle Leute gern haben, und alle Mamas ihm zulächeln, und ihre Töchter — und Miß Wilmot selbst, nur zu froh sind, wenn sie seine Beachtung erlangen.«

»Helene, die Welt mag wohl dergleichen Fehler für verzeihlich halten; einige grundsatzlose Mutter mögen eifrig darauf bedacht sein, einen jungen, reichen Mann, ohne Rücksicht auf seinen Ruf, zu angeln und leichtsinnige Mädchen mögen froh sein, wenn ihnen ein so hübscher Mann zulächelt, ohne tiefer nach seinem Gemüte zu forschen, von Dir aber hätte ich gehofft, dass Du besser unterrichtet sein würdest, als dass Du mit ihren Augen sähest, und mit ihrem verschrobenen Verstande urteiltest. Ich dachte nicht, dass Du dies verzeihliche Fehler nennen würdest.«

»Das tue ich auch nicht, Tante; obgleich ich aber die Sünde hasse, so liebe ich doch den Sünder, und würde viel für seine Rettung tun, selbst wenn Ihr Verdacht in der Hauptsache begründet wäre — was ich nicht glauben kann, noch will.«

»Nun, mein Kind, frage deinen Onkel, welche Art von Gesellschafter frequentiert, und ob er nicht mit einer Bande lockerer, ausschweifender, junger Männer verbündet ist, die er seine Freunde — seine lustigen Brüder nennt, und deren größte Freude darin besteht, sich im Pfuhle des Lasters zu wälzen, und mit einander zu wetteifern, wer am schnellsten und weitesten den steilen Pfad hinab nach dem Orte laufen kann, welcher für den Satan und seine Engel bereitet ist.«

»Daun will ich ihn aus ihren Händen erretten.«

»O, Helene, Helene. Du weißt nicht, welches Elend es sein würde, wenn Du Dein Schicksal mit dem eines solchen Mannes verbändest.«

»Ich setze solches Vertrauen in ihn, Tante, trotz alles dessen, was Sie sagen, dass ich gern mein Glück auf’s Spiel setzen würde, wenn ich dadurch Aussicht hätte, das seine zu sichern. Ich will bessere Menschen denjenigen überlassen, welche nur ihren eigenen Vorteil im Auge haben. Hat er Unrecht getan, so werde ich mein Leben für gut angewendet halten, wenn ich ihn von den Folgen seiner früheren Irrtümer erretten, und mich bestreben kann, ihn wieder auf den Pfad der Tugend zu leiten. — Gott möge mir den Sieg verleihen!«

Hiermit kam das Gespräch zu Ende, denn in diesem Augenblicke erschallte die Stimme meines Onkels aus seinem Schlafzimmer, wo er meiner Tante laut zurief, zu Bette zu kommen. Er befand sich an jenem Abend in schlechter Laune, denn seine Gicht war schlimmer geworden. Sie hatte seit unserer Ankunft in der Stadt allmählig zugenommen, und meine Tante benutzte dies am nächsten Morgen, um ihn zu bereden, ohne auf den Schluß der Saison zu warten, sofort auf’s Land zurückzukehren. Sein Arzt unterstützte und bestätigte ihre Gründe, und, ihren sonstigen Gewohnheiten entgegen, beeilte sie die Reisezurüstungen so (wahrscheinlich ebensogut um meinet-, als meines Onkels willen), dass wir nach wenigen Tagen abreisten, und ich Mr. Huntingdon nicht wieder zu Gesichte bekam. Meine Tante schmeichelt sich schon, dass ich ihn bald vergessen werde, denn ich erwähne seinen Namen nie; und sie mag so denken, bis wir wieder zusammentreffen — wenn sich dies je ereignen sollte. Ich möchte wissen, ob es geschehen wird.

Zweites Kapitel. Das Portrait.

 

Den 25. August. Ich habe mich jetzt ganz wieder meinen gewohnten Bischäftigungen und ruhigen Unterhaltungen ergeben — bin leidlich zufrieden und heiter, sehe aber noch immer dem Frühling in der Hoffnung, nach London zurückzukehren, entgegen, nicht wegen der städtischen Unterhaltungen und Zerstreuungen, sondern wegen der Aussicht, Mr. Huntingdon wiederzusehen, denn noch immer ist er stets in meinen Gedanken und Träumen gegenwärtig. Alles was ich tue, setze ich ein, bezieht sich auf ihn; jede Kenntnis oder Geschicklichkeit, die ich mir aneigne, soll dereinst zu seinem Vorteil oder seiner Unterhaltung verwendet werden; alle neue Natur- und Kunstschönheiten die ich entdecke, werden gemalt und seinem Auge dereinst geboten, oder in meinem Gedächtnisse aufgespeichert, um ihm erzählt zu werden; dies ist wenigstens die Hoffnung, welche ich in meiner Brust trage, der Gedanke, der meinen einsamen Pfad erhellt. Es ist am Ende wohl auch nur ein Irrlicht, aber es kann nichts schaden, ihm mit den Augen zu folgen, und mich seines Glanzes zu erfreuen, so lange es mich nicht von dem Wege, welchen ich nicht verlassen darf, ablockt; und ich glaube nicht, dass es dies tun wird, denn ich habe tief über die Ratschläge meiner Tante nachgedacht, und sehe jetzt deutlich ein, wie töricht es sein würde, mich an Einen wegzuwerfen, der alle der Liebe, welche ich zu bieten habe, unwert und unfähig ist, den besten und tiefsten Gefühlen meines Innern zu entsprechen — so deutlich, dass ich selbst, wenn ich ihn wiedersehen, und er sich meiner erinnern und mich noch immer lieben sollte (was leider, wenn man bedenkt, in welcher Lage und welchen Umgebungen er sich befindet, unwahrscheinlich ist) und wenn er verlangen sollte, dass ich ihn heirate — entschlossen bin, nicht eher meine Einwilligung zu geben, als bis ich gewiß weiß, ob die Ansicht, welche meine Tante über ihn hat, oder die meine der Wahrheit am nächsten kommt; denn wenn die letztere gänzlich unrichtig ist, so ist es nicht er, den ich liebe, sondern ein Geschöpf meiner Phantasie. Aber ich glaube nicht, dass sie unrichtig ist — nein, nein — ein geheimes Etwas — ein innerer Instinkt versichert mir, dass ich recht habe. Er ist mit Herzensgüte begabt — und welches Entzücken, diese zu entwickeln! Wenn er sich verirrt hat, welche Seligkeit, ihn wieder auf die rechte Bahn zu bringen! Wenn er jetzt dem vergiftenden Einflusse verderbter, lasterhafter Genossen ausgesetzt ist, welcher Ruhm, ihn davon zu befreien! — O, dass ich glauben könnte, vom Himmel dazu bestimmt zu sein!

Heute ist der erste September, aber mein Onkel hat dem Jäger gesagt, dass er die Rebhühner verschonen sollt bis die Herren kommen. — »Was für Herren?« fragte ich, als ich es hörte — eine kleine Gesellschaft, die er zum Aufgange der Jagd eingeladen. Sein Freund, Mr. Wilmot gehörte dazu, und Mr. Baarham, der Freund meiner Tante ebenfalls: dies fiel mir als eine furchtbare Nachricht auf’s Herz, aber alles Bedauern und alle Furcht verschwand wie vom Winde verweht, als ich hörte, dass Mr. Huntingdon der dritte Mann sei. Meine Tante ist natürlich sehr dagegen; sie bemühte sich ernstlich, meinem Onkel davon abzureden, aber er lachte über ihre Einwände und sagte, es nütze nichts, davon zu sprechen, denn das Unheil sei bereits geschehen; — er habe Huntingdon und dessen Freund, Lord Lowborough eingeladen, ehe er London verlassen, und jetzt sei weiter nichts zu tun, als den Tag des Eintreffens festzusetzen. Dies ist also gewiß, und ich werde ihn sicher sehen. Ich kann meine Freude nicht ausdrücken — ich fühle es sehr schwer, sie meiner Tante zu verbergen, aber ich will sie mit meinen Gefühlen nicht eher behelligen, als bis ich weiß, ob ich mich denselben hingeben darf oder nicht. Wenn ich es für meine absolute Pflicht erkenne, sie zu unterdrücken, so sollen sie außer mir keinem Menschen Unruhe verursachen, und wenn ich es wirklich vor mir verantworten kann, mich dieser Neigung zu ergeben, so kann ich Allem Trotz bieten — selbst dem Zorne meiner besten Freundin — ich werde es jedenfalls bald wissen. Aber sie kommen nicht eher als bis zur Mitte des Monats.

Wir werden auch zwei Damen zu Besuch haben: Mr. Wilmot bringt seine Nichte und ihre Cousine Millizent mit. Wahrscheinlich denkt meine Tante, dass die letztere mir durch ihren Umgang und das heilsame Beispiel ihres sanften Benehmens und demütigen, lenkbaren Charakters nützen würde, und ich argwöhne, dass die erstere zu einer Art von Gegenmagnet dienen soll, um Mr. Huntingdons Aufmerksamkeit von mir abzulenken. Ich bin ihr dafür nicht eben dankbar, werde mich aber an Millizents Gesellschaft erfreuen; sie ist ein liebes, gutes Mädchen, und ich wollte, ich wäre ihr ähnlich — wenigstens ähnlicher, als ich bin.

Den 19ten. — Sie sind da, sie kamen vorgestern — die Herren sind alle auf die Jagd gegangen und die Damen befinden sich im Gesellschaftszimmer mit meiner Tante bei der Arbeit. Ich habe mich in die Bibliothek geflüchtet, denn ich fühle mich sehr unglücklich und möchte allein sein. Bücher können mich nicht zerstreuen und da ich einmal mein Schreibpult geöffnet habe, will ich versuchen, was sich dadurch tun läßt, dass ich den Grund meiner Unruhe auseinandersetze. Dieses Papier wird die Stelle eines vertrauten Freundes vertreten, in dessen Ohr ich das, was aus meinem Herzen überströmt, ergieße. Es wird an meinen Kümmernissen keinen Anteil nehmen, dagegen auch nicht darüber lachen und wenn ich es unter gutem Verschluß halte, so kann es dieselben nicht weiter tragen — ist wahrscheinlich also der beste Freund, welchen ich in dieser Beziehung haben kann.

Zuerst will ich von seiner Ankunft sprechen — wie ich an meinem Fenster saß und fast zwei Stunden lang spähte, ehe sein Wagen in die Parktür fuhr — denn die Andern kamen alle vor ihm — und wie tief getäuscht ich mich bei jeder Ankunft fühlte, weil es nicht die seine war. Zuerst kam Mr. Wilmot mit den Damen. Sobald Millizent sich in ihrem Zimmer befand, verließ ich meinen Posten auf einige Minuten, um zu ihr hineinzuschauen und ein kleines Privatgespräch mit ihr zu halten, denn sie war jetzt meine vertraute Freundin und seit unsrer Trennung bereits mehre lange Episteln zwischen uns gewechselt worden. Als ich an mein Fenster zurückkehrte, erblickte ich an der Tür einen zweiten Wagen. — War es der seine? — nein, es war Mr. Baarhams einfache, dunkle Kalesche und er selbst stand auf den Stufen und beaufsichtigte sorgfältig das Auspacken seiner vielfachen Koffer und Schachteln. Welche Sammlung! man sollte denken, dass er wenigstens einen sechsmonatlichen Besuch im Sinne gehabt hat. Bedeutend später kam Lord Lowborough in seiner Kutsche. Ich möchte wissen, ob er einer von den Wüstlingen ist? Ich sollte es nicht denken, denn sicherlich würde ihn kein Mensch einen lustigen Bruder nennen — und übrigens erscheint sein Benehmen zu nüchtern und gentlemänisch, um dergleichen Verdacht zu verdienen. Er ist ein langer, hagerer, düster aussehender Mann von dreißig bis vierzig Jahren und von etwas kränklichem, sorgenschweren Ausdruck.

Endlich rollte Mr. Huntingdons leichter Phaëton munter vor die Haustür heran. — Ich erblickte ihn nur flüchtig, denn im Augenblicke, wo Jener anhielt, sprang er heraus auf die Türstufen und verschwand im Hause.

Ich ließ mich nun zum Diner ankleiden — eine Pflicht, zu der mich Rahel in den letzten Minuten gedrängt hatte, und sobald dieses wichtige Geschäft vorüber war, begab ich mich nach dem Gesellschaftszimmer, wo ich Mr. und Miß Wilmot und Millizent Hangrave bereits versammelt fand. Kurz nachher trat Lord Lowborough ein und dann Mr. Baarham, der vollkommen bereitwillig schien, mein früheres Benehmen zu vergessen und zu vergeben und zu hoffen, dass etwas Nachsicht und Ausdauer von seiner Seite, mich noch zur Raison bringen werde. Während ich am Fenster stand und mich mit Millizent unterhielt, kam er zu mir heran und begann fast in seiner gewöhnlichen Art zu sprechen, als Mr. Huntingdon in das Zimmer trat.