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Ein Vierteljahrhundert ist seit dem Ausbruch der lebenden Toten vergangen und das Werk der Aristeier hat Früchte getragen. Die Bürger des Staates genießen ein Leben in Ruhe und Normalität. Chiara selbst wurde nach dem Ausbruch geboren und würde alles dafür geben, eine Wächterin zu werden. Noch ahnt sie nichts von dem dunklen Pfad, der ihr bevorsteht, ihrer eigenen Bestimmung und dem Feind, der sich in ihrem Schatten erhebt. Nicht nur die hochangesehenen Gründer der Aristeia, sondern auch die Söhne der Ersten werden ihr Leben verändern.
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Seitenzahl: 766
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Für meinen Bruder Christoph Drechsler
Prolog
Kapitel 1: Volk
Die Bibliothek des Pterygions
Der Prinz der Aristeia
Auswahl
Bastard
Die alte Welt
Der nemeische Löwe
Die Toten im Westen
Das Verschwinden der Schwarzhaarigen
Europa
Der Sklavenstaat
Die Gründerkinder
Die weißen Mauern der Aristeia
Kapitel 2: Wächter
Der Stand der Wächter
Devins Haus
Der bisher beste Tag ihres Lebens
Es war ein Unfall
Seepferdchen und Ratten
Platons Einwand
Fast wie ein Paar
Der schwarze Schwan
Konsequenzen
Alternativen
Drachen und andere Feinde
Lenas Bitte
Chiaras Ende
Die Bauern opfert man zuerst
Discordia
Narben
Die Wut der Königin
Der Kampf der Ersten
Über die Herrscher
Chiaras Rede
Kapitel 3: Herrscher
Die Gebrandmarkte
Poolparty
Der neue Job
Nicht genug
Kirschgrieß
Juliens große Liebe
Alkohol
Albträume
Ares
Sommerfest
Kleine Frösche
Keine Überraschungsparty
Strafe
Wie Bienen
Gründerkind
Einsicht
Der fatale Fehler
Helena
Geheimnisse
Melinas Plan
Relicuus
Vorbereitung auf das Ende
Adrians Schwiegersohn
Die Ruhe vor dem Sturm
Der Sturm
Die vier Tugenden
Ein paar Jahre später irgendwann im Frühling
Im Schnee, von den Gestalten der Hölle umzingelt, stand er vor ihr. Anmutig, groß und bestimmt wie ein Herrscher, ein König, der Anführer der Aristeia. Er betrachtete sie besorgt, während leise Flocken auf seine breiten Schultern und seine schwarzen Haare fielen. Sein Kopf neigte sich zu ihr und er sagte ihren Namen. Doch statt seiner schönen dunklen Stimme war es nur ein Grölen. Seine düsteren Augen verwandelten sich in ein trübes Weiß, seine braune Haut wurde gräulich. Er beugte sich vor und küsste vorsichtig ihre Wange, die schnell errötete. Sie spürte seine Finger an ihren, in der anderen Hand den Dolch. Es war so weit. Wenn, dann jetzt.
„Wir suchen dich“, flüsterte er. „Wir brauchen dich.“ Im weißen Dorf tauchten immer mehr von ihnen auf. Humpelnd, schleichend und stöhnend hoben die Monster ihre Köpfe und drängten sich zu ihr. „Und wir holen dich.“
Karpathos Episemos Areios Oros Lithos Pterygion
Die Dunkelheit hatte sich über das Land gezogen und trieb einige Menschen von ihren Schichten auf dem Feld, den Fabriken und den kleinen Läden nach Hause zu ihren Familien, da sich der Tag schleichend dem schweigsamen Ende zugeneigt hatte.
Nachdenklich zog sie mit einer Fingerspitze die Holzfaserung der Fensterbank nach. Der Dampf ihres Tees beschlug die Scheibe und ihre hellblauen Augen wanderten zum beleuchteten Karpathos.
Kein Geräusch, keine Frage, kein Flüstern der wenigen Besucher störte. Nicht mehr war zu vernehmen, als das Knistern des Kamins. Allein ihre Gedanken kreisten unruhig um die morgige Auswahl.
Freudig fieberte sie ihrem lang ersehnten Ziel entgegen. Nichts hatte sie sich mehr gewünscht, als ihren Platz, ihre Bestimmung zu finden. Die Aufgabe, für die sie geschaffen war. Sie würde die Prüfung bestehen, dann könnte sie morgens um sieben auf dem Aschefeld stehen und ein Teil von ihr werden: der Familie der Wächter.
Chiara seufzte zufrieden und genoss die endlos scheinende Ruhe. Doch sie wusste noch nicht, ob es die beruhigende Stille eines Endes war, wenn man einen Roman schloss und sich entspannt in einem weichen Sessel zurücklehnte, einen Schluck Brennnesseltee genoss und sich vom Feuer wärmen ließ, oder ob es jene Ruhe war, bevor ein Gewitter aufzog und sich ein reißender Sturm im Land breitmachte, die Fensterläden knallten, die Blumen durch die Luft flogen, der Acheron überlief und das Unheil über den Staat ausspie wie eine Seuche im 25. Jahr nach dem Ausbruch. Niemand konnte genau wissen, was die Zukunft brachte, dachte sie. Doch sie war zuversichtlich, dass sich endlich alles zum Besseren wendete.
Dann vernahm sie seinen Geruch. Das Parfum der alten Welt, das sie erkannte, besser als alles, was sie je gerochen hatte. Hinreißend, dachte sie und spürte Gänsehaut, Herzrasen. Noch drehte sie sich nicht um. Sie lauschte seinen Schritten auf dem Teppich, dem Geräusch der Bücher, die aus dem Regal gezogen wurden, dem Knarren des Stuhls, auf dem er sich niederließ.
Er. War. Hier.
Der beste Teil ihres Tages, schwärmte sie. Unbedingt wollte sie ihn vor dem Ende ihrer Schicht sehen. Vorsätzlich griff sie nach einem Stapel Bücher und passierte die schwach beleuchteten Reihen.
Endlich angekommen an seinem Tisch, warf sie einen kurzen Blick auf sein von der Schreibtischlampe angestrahltes, hübsches Gesicht, als ihr schummerig wurde. Seine Haare waren pechschwarz und seine Haut hellbraun. Mit dunklen, abweisenden Augen sah er von seinem Buch hoch, beobachtete sie einen Moment und wandte sich wieder ab.
Chiara zwang sich, den Gang zu verlassen, und drückte ihren Rücken tief einatmend an eine abgelegene Regalwand, während sie die Bücher umklammert hielt. Für einen Moment schloss sie die Augen.
Er war ein Gründerkind.
Den Ausbruch überlebten die Menschen des Staates, weil gerade mal eine Handvoll mutiger Frauen und Männer ihr Leben für sie riskiert hatten. Die Gründer. Jeden Stein hatte das Volk ihnen zu verdanken. Sie hatten den Staat erbaut, ihre Schützlinge im ersten Krieg verteidigt, eine Außenmauer um alle sechs zum Tal hin bebauten Berge errichtet und ihnen die Gerechtigkeit gebracht.
Niemand war so angesehen und verehrt wie die Ersten. Ihre Geschichte war legendär und Chiara hätte alles dafür gegeben, sie aus erster Hand zu erfahren. Doch sie war ein Teil des Volkes. Abgesehen davon, dass sie selbst mit niemandem sonderlich viel zu tun hatte, blieben die hochbegabten Söhne und Töchter der Gründer meist unter sich. Das wusste jeder.
Wann immer sie Cem sah, begann ihr Verstand auszusetzen. Er war stets einschüchternd gut gekleidet und viel größer als sie selbst. Auch wenn er ein schönes, makelloses Gesicht hatte, so wirkte er hochnäsig und abweisend auf sie.
Meist blieb er für Stunden an dem Schreibtisch. Seinem Schreibtisch. Dort las er viele Bücher und kam sehr schnell durch die Seiten. Wenn sie am Abend seine ausgewählten Exemplare einsortierte, warf sie einen Blick auf die Einbände. Offenbar hatte er ein großes Interesse an Themen wie Wirtschaft, Politik, Philosophie und vielen anderen Bereichen, die Chiara auch interessierten. Doch sie sprachen nicht miteinander. Ab und zu sah er zu ihr hoch und am Anfang lief sie auch häufiger mit Absicht an ihm vorbei.
Irgendwann jedoch gab sie auf, weil sie sich albern dabei vorkam. Denn er wechselte kein einziges Wort mit ihr. Nie hinterließ er ihr eine Nachricht, nie fragte er sie, ob sie zu Plutarch oder in einen Park des Oros gehen wollten. Es war hoffnungslos.
Deprimiert verließ sie die obere Etage. Sie versuchte, unten etwas Ordnung zu schaffen, und sortierte ein paar liegengelassene Bücher ein. Schweigend ging sie durch die leeren Gänge. Gegen elf nahm sie ihre Lederjacke und verließ die Bibliothek des Pterygions. Doch nach Hause war der letzte Ort, an den sie jetzt gehen wollte.
In ihre Gedanken versunken, wanderte sie die Straßen hinunter unter den Laternen, an den Blumenkästen und den Wohnhäuserreihen vorbei und sah ins Tal. Ihre großen Augen beobachteten die sechs vom Vollmond beschienenen Berge.
Erst war es nur der Karpathos gewesen. Nun war jeder Berg zum Tal hin bebaut, gesichert mit einer Innenmauer, es folgte ein Hof, dann eine äußere Bergmauer. Dabei waren alle Mauern im Tal miteinander verbunden. Die Lücken zwischen den Bergen füllten Fabriken für Waffen, Nahrung, Medizin.
Die Berge bildeten einen Kreis. Vom Karpathos ins Tal sehend war rechts davon der Episemos, Oros, Pterygion, Lithos, Areios und wieder zum Karpathos, dem Gründerberg. Sie wurden umrundet von einer zehn Meter großen Außenmauer, dahinter verlief ein tiefer Graben, gefüllt mit dem Wasser des Acherons.
Statistisch gesehen kam ein Toter alle neun Monate her. Der Großangriff einer Herde war alle 4,8 Jahre zu erwarten. Auf der anderen Seite schlossen sich ihnen jedes Jahr genau 2,7 Nomadenvölker an. Zudem war die Geburtenrate mit dem wachsenden Wohlstand gestiegen. Der Staat war zu klein und die Gefahr überschaubar, fasste sie zusammen und passierte ein Gewächshaus.
Angenommen, sinnierte Chiara, die Außenmauer wäre weit hinter den Außenfeldern versetzt, so wäre Platz für Tausende. Die Felder wären dann dahinter platziert und alle könnten innerhalb der Mauer leben und sich in einer Notsituation immer noch in die Berge zurückziehen.
Aber wie viele Felder würde man brauchen, um so viele Menschen zu ernähren? Jetzt bot der Staat ein Zuhause für viertausendzweihundert Menschen. Aber in ein paar Jahren? In zehn oder zwanzig Jahren?
Chiara verließ die Mauer des Pterygions auf einer gepflasterten Straße. Von hier aus hatte sie es nicht mehr weit bis zum Lithos. Dabei wünschte sie sich sehnlichst einen Grund, noch nicht dahin zu müssen.
Plötzlich wurde ihre Aufmerksamkeit auf einen Mann gerichtet, der durchs Tal rannte. Bei Tag war es nicht ungewöhnlich, Jogger anzutreffen auf dem Aschefeld, den Mauern, den Fußwegen oder im Park. Doch bei Nacht blieben die Bewohner auf den Bergen, wo sie sicher waren. Vielleicht war dieser Mann ein weiterer Teilnehmer der Auswahlspiele, der genauso aufgeregt war wie Chiara selbst.
Der Fremde verschwand im Park vor dem Oros unter den Laubbäumen. Sie konnte nicht sagen, ob es daran lag, dass sie noch nicht zu ihren Eltern wollte, oder ob sie zu neugierig war, um umzukehren. Schnell folgte sie ihm durch die Dunkelheit an den Tribünen des Aschefelds vorbei. Unauffällig schlich sie sich in den Park, den sie durch das Öffnen eines kleinen Eisentors betrat. Umgeben von frisch gesäten Pflanzen, blühenden Krokussen, Osterglocken und vielen anderen Blumenarten, versuchte sie sich zu orientieren.
Im Park vor dem Oros gab es kein Unkraut. Dafür gepflasterte Wege, ein paar Lampen und Bänke, auf denen man sich entspannen konnte, und nicht zu vergessen einen Teich mit Seerosen und Statuen bekannter Philosophen.
Durch das Blätternetz einer Weide erblickte sie ihn. Er wusste nicht, dass er einen Beobachter hatte. Geräuschlos folgte er den Wegen.
Erst als er in den Schein einer Laterne trat, hatte sie einen besseren Blick auf seine hellblonden Haare, seine tätowierten Arme und das Schwert an seiner Hüfte.
Er entfernte sich wieder in die Dunkelheit. Dann war er plötzlich verschwunden. Chiara sah sich um. Es war, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Sie schnellte durch die engen Wege, Büsche streiften ihre Jeans und beinahe fiel sie über die Wurzel einer Esche. Er war einfach weg.
Kaum hatte sie das gedacht, entdeckte sie einen geöffneten Gullydeckel. Eilig löste sie sich aus ihren hohen Schuhen und stieg hinunter in einen Abwasserkanal. Sie spürte den kühlen Stein an ihren Füßen. Als sie dem lichtlosen Pfad folgte, vernahm sie das Quietschen einiger Ratten und rutschte beinahe auf Moos aus. Zumindest hoffte sie, dass es nur Moos war.
Sie folgte dem Kanal bis zum Ende. Hier ertastete sie mit ihren Händen die nasse Wand und fand blind eine Leiter nach oben. Aufgeregt kletterte sie an den angebrachten Eisenstangen hinauf und drückte mit der Hand gegen die Decke.
Ihr Herz begann noch lauter zu pochen, als sie sich plötzlich am Ende der Außenfelder wiederfand. Trotz der Dunkelheit erkannte sie überwucherte Straßen und die Äcker. Sie spürte das piksende, trockene Gras unter ihren nackten Füßen und sah sich um. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Chiara die Aristeia verlassen.
Ihr Herz raste und rauschte in ihren Ohren. Es war dunkel. Sie war allein und unbewaffnet. Sie sollte wieder nach Hause gehen. Das wusste sie, aber ihre Neugier war zu groß. Nur einen Moment, dachte sie, während sie langsam einen Schritt vor den anderen auf einem Feldweg setzte.
Sie erkannte Geräteschuppen, die Außengarage, Bäume, sonst nichts. Dann hörte sie ein Geräusch, das sich näherte. Sofort wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Es war ein … Trampeln? Etwas, was sie noch nie zuvor vernommen hatte. Es war sehr laut, scheppernd, als würde die Erde beben, und – was auch immer es war – es kam auf sie zu. Eilig versuchte sie, die Geräuschquelle zu orten. Doch erst als es beinahe zu spät war, entdeckte sie eine Herde galoppierender Tiere. Chiara rannte die Straße entlang. Die Viecher waren wesentlich schneller, als sie erwartet hatte. Wenn sie keinen Ausweg fand, würden die sie töten, womit sie dann gut zwei Minuten außerhalb der Mauern des Stadtstaates überlebt hätte. Das Mädchen vom Lithos rannte um ihr Leben und sprang über einen Zaun. Kaum aber hatte sie die Feldreihen verlassen, entdeckte sie einen Truck der Bauern. Gerade noch rechtzeitig schaffte sie es, sich unter ihn zu werfen. Hier wartete sie mit pochendem Herzen und keuchend, bis die Tiere an ihr vorbeigezogen waren. Es war erstaunlich, wie kraftvoll sie wirkten, dachte sie und sah an den Rädern vorbei. Es war schwer zu beurteilen, aber vermutlich waren es Pferde.
Als die Herde verschwunden war, kroch Chiara unter dem Auto hervor und klopfte mit zittrigen Händen den Dreck von ihrer Bluse und ihrer Jeans.
Durch die Dunkelheit wandernd, war sie erstaunt von der Welt, welche sie über die Mauer betrachtet, jedoch nie so nah erlebt hatte. Es war anders als in ihrer Vorstellung. So viel weiter. So frei.
Neben einem Zaun um ein Maisfeld schlängelte sich der im Mondschein glitzernde Acheron durch das Land, welchen die Gründer für Wasserenergie zusätzlich zu Biostrom und Solarenergie nutzten. Die wachenden Sterne spiegelten sich in jenem Fluss, der die Ersten am Leben erhalten hatte, und er entsprang aus dem Berg, der ihnen Zuflucht und Heimat beschert hatte. Dort, wo jener Staat gegründet wurde: der Staat der vier Tugenden.
Bevor sie noch auf gefährlichere Tiere – oder Schlimmeres – traf, musste sie einsehen, dass es besser war, zurückzukehren. Kapitulierend drehte sie sich zu den Bergen. Dann erschrak sie. Auf einer kleinen Feldmauer eines Kartoffelackers neben einer Gerätescheune sah sie ihn sitzen.
Er war Anfang zwanzig, etwas jünger als sie selbst. Seine Arme waren stark tätowiert. Er trug ein graues T-Shirt, eine zerrissene Jeans und hatte eine Zigarette in der Hand. Auf Chiara wirkte er attraktiv und gepflegt. Abgesehen von seinen hellblonden Haaren war er ein Duplikat seines Vaters, dem Herrscher der Aristeia.
Doch als sie sich Julien näherte, musste sie feststellen, dass das Gründerkind sie nicht wahrnahm. Seine Pupillen waren außergewöhnlich groß und ihr stieß ein merkwürdiger Geruch in die Nase. Er reagierte nicht auf sie. Nicht mal, als sie ihn anstupste, denn der Prinz war völlig high.
Chiara schüttelte ihn. Die Zigarette fiel auf den Boden, sie trat sie aus. Erst jetzt drehte er seinen Kopf langsam wie eine Schildkröte zu ihr. Selbstbewusst zwinkerte er ihr zu und auf seinem Gesicht bildete sich ein breites, überhebliches Grinsen. „Was geht, Baby-Cake?“
Das verwirrte sie, musste sie sich eingestehen. Noch nie war sie mit einem Gründerkind in Kontakt getreten. Ihr erstes Gespräch hatte sie sich – wie auch die Außenwelt – anders vorgestellt. Das war also der so hoch angesehene Sohn des Herrschers, von dem alle so schwärmten. Elitäres Blut, weise, talentiert und gutaussehend.
Bevor sie ihn weiter unter die Lupe nehmen konnte, hörte sie ein grölendes, leidendes Geräusch. Chiara zuckte zusammen und wirbelte herum.
Auf dem bestellten Feld stand ein Mann, der auf sie zukam. Von ihm ging der Klang aus, sterbend und zornig. Er hatte keine Haare, dafür fleckige, schleimige, graue Haut, dunkle Zähne und weiße Augen. Langsam humpelte er auf den Prinzen und Chiara zu. Noch nie zuvor hatte sie einen von ihnen so nah gesehen und es war sehr unwahrscheinlich, dass er die Leuchttürme hatte passieren können.
Seine Augen waren weit aufgerissen, während er sich näherte. Der Sohn des Herrschers jedoch bewegte sich nicht. Er nahm den Toten nicht mal wahr. Sie hingegen hörte nichts außer den Toten und das Hämmern ihres Herzens.
Chiara wusste, was man tun sollte. So oft sie es gehört hatte, nutzte es nichts. Es machte ihr Angst. Weil die Kreatur bald vor ihr stand, zog sie das Schwert des Prinzen.
In seinem Griff war das Zeichen des Staates eingraviert: Drei liegende Balken, der mittlere getrennt. Im Metall der Klinge, die das Licht des Mondes reflektierte, stand es: Archon. Das war das Schwert seines Vaters. Das Herrscherschwert.
Sie versuchte, die Fassung wiederzugewinnen, und tat, was man tun musste. Sie trat auf den Toten zu. Er war ein Mensch gewesen – vielleicht für vierzig Jahre – mit einer Familie, einem Leben, einem Plan und Wünschen. Er war gebissen worden nach dem Ausbruch, das Virus beherrschte seither seinen Körper, sein Bewusstsein war lange erloschen.
Sie packte die wandelnde Leiche am Hals und hielt ihn eine Armlänge entfernt. Er wedelte mit seinen Armen nach ihr und griff nach ihren langen, schwarzen Haaren und ihrer Kette, dem einzigen Schmuckstück, das sie je besessen hatte.
Er zog an ihr, obwohl ihm einige Finger fehlten. Es überraschte Chiara, dass die Leiche kaum Kraft besaß, und dort, wo sie ihn berührte, riss seine papierähnliche Haut und seine schwarzen Muskeln wurden sichtbar. Diese stanken erbärmlich.
Der Tote fürchtete sich nicht. Er reagierte nicht auf das Schwert des Herrschers. Keine Angst. Kein Schmerzempfinden. Der Tote wollte nur ihr Fleisch. Kein weiterer Selbsterhaltungstrieb.
Es war ihre Pflicht, ihn zu töten, doch es war eine grausame Überwindung. Er war eine seelenlose Hülle und es war ihre Aufgabe, ihn zu befreien. Das wusste sie.
Es war vor etwa fünfundzwanzig Jahren passiert. Man hatte sie neuronal verändert, umprogrammiert, ein Virus entworfen, welches die Krankheit übertrug, und es auf die Menschen in einer Nacht im April losgelassen. Am 20. Mai vor so vielen Jahren wurde er bekannt gegeben: Der offizielle Ausbruch der Toten. Es gab keine Heilung, doch einen Weg, sie endgültig zu töten.
Mit ihrer zitternden Hand hob sie das Schwert des Archons und steckte ihm die Spitze der Klinge in sein Auge.
Der Virus hielt seinen Körper wie eine Maschine am Laufen. Beschädigte man das Gehirn, durchtrennte man eine Stromleitung. Wie bei einer Maschine stoppte der Tote erst, als sie mit der Spitze in sein Gehirn vordrang oder seinen Kopf vom Körper trennte, dachte Chiara mit schwitziger Stirn. Er sackte zusammen und lag reglos auf dem Boden. Es war erschreckend, wie einfach es war, zu töten. Weil sie ihn umgebracht hatte, bekam sie ein schlechtes Gewissen, doch es war das Richtige.
Jetzt mussten sie nach Hause, bevor sie selbst die Nächsten waren. Es war eine dumme Idee gewesen, Julien zu folgen, doch nun war sie für ihn verantwortlich. Sie suchte aus dem Geräteschuppen eine große Schubkarre, packte den Prinzen am Shirt und zog ihn von der Mauer auf das Holz. Er beschwerte sich kurz, schloss dann aber seine Augen und schlief ein. Sie schob sein Schwert in dessen Hülle und sah, dass der Junge sabberte. Eilig versuchte sie, ihn in der Karre auf die Seite zu legen, damit er nicht an seinem eigenen Mageninhalt erstickte.
Der Weg nach Hause war nicht einfach. Sie brachte ihn in den Kanal, packte ihn, so gut sie konnte, legte seinen Arm um ihre Schultern und versuchte, ihn zu steuern. Der Prinz konnte kaum laufen und er übergab sich einige Male, bis sie endlich zu Hause waren.
Ihr war klar, dass seine Eltern ihn dafür bestrafen würden, in welchem Zustand er die Aristeia verlassen hatte. Daher wollte sie ihn in ihr eigenes Bett bringen. Auf der anderen Seite, dachte sie, hatte er es vielleicht nicht anders verdient, als Ärger dafür zu bekommen, weil er sonst nicht daraus lernen würde. Aber Chiaras Nacken schmerzte zu sehr. Ihre eigenen Schuhe ließ sie neben dem Gully zurück und schaffte es endlich vor ihre eigene Haustür auf dem Lithos, wo sie einen Moment innehielt.
Keine Blumenkübel standen neben dem Eingang, keine Gardinen schmückten die Fenster. Dafür stand ein benutztes Einmachglas auf der Treppe, was man mit einem hohen Pfand auf dem Oros erwerben konnte. Sie wurden normalerweise gereinigt, in einer Fabrik zwischen dem Lithos und dem Pterygion gefüllt und dann wieder verkauft. Hier lag das Glas herum, sodass es jeder sehen konnte. Chiara zwang sich, ihre eigene Abneigung zu ignorieren, und öffnete die Tür.
Sie hielt Julien im beleuchteten Flur fest, damit er nicht umkippen konnte. Ihre Augen wanderten über die dreckige Wand. Julien würde sehen, wie ihre Eltern das Eigentum des Staates beschmutzt hatten, wenn er bei Verstand gewesen wäre. Dann vernahm sie den gewohnten Geruch von Kartoffelschnaps in der Luft und sah benutztes Geschirr in der Küchenzeile. Ihr Vater lag laut schnarchend auf dem Sofa. Flaschen lagen neben ihm. Eine war auf dem Mobiliar ausgelaufen.
Es war gut, dass Julien nichts mitbekam, dachte sie wehmütig und schob ihn die Treppe mit hinauf. Sie legte ihn auf ihr schmales Bett und zog das beschmierte Shirt aus. Seine Arme waren bis zu seinen Schultern tätowiert, seine Brust zum Teil. Sie erkannte einen breiten Schriftzug auf seinem Bauch wie auf dem Schwert seines Vaters: Archon.
Sie entspannte ihren Rücken für einen Moment. Neben das Bett stellte sie eine Flasche Wasser und einen Eimer. Als Nächstes wusch sie sein Shirt und hängte es ausgewrungen auf, putzte seine schlammigen Schuhe, die nach Abwasser rochen, und säuberte seinen Oberkörper und das Gesicht.
Er war entweder dumm oder hatte sich umbringen wollen. Eine andere Erklärung hatte sie nicht für eine so erstaunlich irrationale Handlung, sich zugedröhnt aus der Aristeia zu schleichen. Dabei wurden die Gründerkinder doch grundsätzlich von allen für ihre Intelligenz in den Himmel gelobt.
Chiara hatte sich den Austausch mit ihnen anders vorgestellt und hatte nach all den glorreichen Geschichten ihrer Eltern auch Julien anders im Kopf. Dennoch setzte sie sich an die Wand gelehnt auf den Boden, griff nach ihrem Buch und begann zu lesen.
„Hey Julien“, sagte sie und pikste ihn um sieben Uhr am Morgen vorsichtig an. Die Auswahl rückte immer näher und der Junge wurde sicher von seinen Eltern vermisst. Sein Shirt war trocken und seine Schuhe immerhin fast. Das würde reichen, um unauffällig zum Karpathos zu kommen. Erneut stupste sie den Prinzen mit dem Zeigefinger an. Der Junge drehte sich zu ihr und öffnete seine blauen Augen.
„Du musst nach Hause gehen“, erklärte sie ihm leise.
Langsam richtete er sich stöhnend auf. „Mein Kopf.“
Chiara deutete zu dem Glas Wasser auf dem Tisch, wovon er sich bediente. Er betrachtete sie einen Moment. Die Wirkung der Droge musste wohl nachgelassen haben, denn seine Pupillen waren wieder geschrumpft.
„Aber du musst jetzt gehen“, wiederholte sie und biss sich auf die Lippe. „Deine Eltern machen sich sicher Sorgen und meine werden sich aufregen.“ Ihre Eltern würden mehr als ein Theater machen. Auf der anderen Seite war das egal, weil sie ihr an allem die Schuld gaben, dachte sie und der Prinz stand auf. Er ließ sich sein Shirt reichen und warf einen Blick aus dem Fenster.
„Fuck … Der Lithos?“ Er sagte es so, als spräche er über etwas Widerwärtiges, was schlichtweg beleidigend war. Dann sah er kurz über seine Schulter.
„Na ja, man sieht sich“, murmelte er und verschwand.
„Lass uns wissen, welche Waffe du wählst“, sagte der attraktive Fünfzigjährige, während das gespannte Volk auf den Tribünen wartete.
Auf einer eingerichteten Fläche in der Mitte der östlichen Tribüne blickten die Gründer zu ihr herunter wie die Götter vom Olymp. Chiara bekam jedes Mal Gänsehaut vor Ehrfurcht. Sie waren unvorstellbar selbstlos und diese Menschen hatten daher den Respekt jedes einzelnen Aristeiers verdient.
Auf ihre Antwort wartend saß er auf einem Sessel in der Mitte der Ersten. Er trug ein weißes Hemd unter einem grauen Pullover und ein schwarzes Jackett lag über seinem breiten Kreuz. Das war Devin, der Herrscher der Aristeia.
Neben ihm auf einem roten Sofa war seine Frau. Die hoch angesehene, hübsche Mutter des Stadtstaates war mit einem grünen Bustierkleid geschmückt. Wie eine Elfe. Ihre einst blonden Haare waren fast weiß und zurückgebunden. Es war Lena, die Leiterin der Schulen.
Daneben saß ein rothaariger, hübscher Mann mit Brille. Er war in Devins Alter und trug einen grauen Anzug. Der Gesichtsausdruck des Beraters wirkte wie üblich bestimmt und wissbegierig zugleich. Denn dieser Mann hieß Jens Derboven. Jeder kannte ihn. Er hatte in der Stadt das Internet hergestellt und den Radioturm errichten lassen. Beide Berater hatten unzählige Funktionen und waren dementsprechend auch beliebt.
So gern würde Chiara persönlich mit ihnen sprechen und sie von früher erzählen lassen, dachte sie und spielte nachdenklich mit dem Anhänger ihrer Kette. Das war ein kleines Drahtgewinde mit einem Quarzstein, den sie zur Geburt bekommen hatte.
Zu Devins linker Seite saß die Frau des Beraters. Eine kleine wunderschöne, schwarzhaarige Frau mit dunklen, abweisenden Augen. Es war Cihan. Jens’ Ehefrau, welche die Großküche managte, die das Altersheim, die Schule, das Gefängnis und Veranstaltungen, wie die Auswahl und das Sommerfest versorgte. Hinter ihr stand Dennis, ein ebenfalls sehr gut gebauter, dunkelhaariger Mann. Neben ihm der Arzt Dr. Cholewa mit mausgrauen Haaren.
An der Außenseite erkannte Chiara das Wächterpaar in ihrer Dienstkleidung. Der schwarzhaarige, große, muskulöse Mann war Adrian und an seiner Seite mit einem Köcher auf dem Rücken und einem Bogen in der Hand: die Schwester des Herrschers. Sie war eine kleine, zierliche Frau, deren braune Haare zu einem Zopf gebunden waren. Sie hieß Tara.
Die Gründer standen zusammen, wie sie es immer taten. Bei jeder Feier, jeder Rede, denn sie waren eine Familie. Fast wie jene der Wächter, zu denen Chiara ab heute Abend gehören würde, wiederholte sie euphorisch und ihre Augen glitten zu der Aufgabe, die sie zu lösen hatte.
In der Mitte des Aschefeldes war ein Wasserbecken offen gelegt mit einem mittigen Holzbalken, auf welchem ein bärtiger Wächter um die dreißig mit einem Stock stand. Er war nass und musste schon ein paar Male ins Wasser gefallen sein.
Die Auszuwählenden hatten die schriftlichen Tests bereits hinter sich und jetzt zeigten sie, was man physisch zu leisten imstande war. Man sollte den Mann offenbar ins Wasser werfen.
Zweifellos wollte Chiara nichts mehr, als zu den Wächtern zu gehören. Dies wünschte sie sich, seit ihre Eltern sie dazu gebracht hatten, die Schule nach ihrem ersten Abschluss zu verlassen, damit sie Geld verdienen konnte. Seither arbeitete sie in der Bibliothek und das hier war ihre Chance. Die Chance, ihren wahren Platz im Staat einzunehmen, damit endlich alles besser werden würde. Sie hatte sich ewig Wissen angeeignet, aber das hier …
Chiara fand, dass das Vorgeführtwerden mit der Wächterauswahl nichts zu tun hatte und damit auch unnötig war. Die machten eine Show aus der Sache, in der sich die neuen Kandidaten vor ihren Mitmenschen blamieren oder sie begeistern sollten. Ihr kam das Bild eines Amphitheaters in den Kopf. Eine andere Stimme korrigierte sie und sagte: Kolosseum.
Auf dem Boden vor ihr lagen einige Utensilien, Waffen, mit denen man den armen Mann offensichtlich ins Wasser befördern sollte. Sie sollte sich prügeln.
Wer würde sich zu so einer Aufgabe überreden lassen? Sie stemmte ihre Hände in die Hüfte, denn sie würde man dazu sicherlich nicht bekommen. Während sie sich innerlich noch über die Primitivität der Situation aufregte, informierte Devin sie erneut von seinem Stuhl aus, dass ihre Zeit ab jetzt laufen würde und sie sagen sollte, welche Waffe sie sich ausgesucht hatte. Sie sah zu den Ersten hoch. Vor denen wollte sie sich nicht blamieren, fast noch weniger, als sie wieder ins Volk wollte.
„Ich wähle gar nichts“, rief sie zu Devin herauf und hörte das Volk auf den Tribünen lachen.
Chiara stellte sich vor das Wasserbecken und löste ihre Kette unauffällig von ihrem Hals. Sie versteckte ihren Anhänger in ihrer Hand. Doch nicht mal der Wächter auf dem Balken wirkte angespannt, denn wie er richtig einschätzte, war er Chiara körperlich hoch überlegen.
„Du bist mir überlegen, weit überlegen“, rief sie ihm zu.
Er grinste zufrieden und ließ seine Waffe ein Stück sinken und entspannte sich weiter. Chiara spielte mit ihrer Kette und lies den Stein aus ihren Fingern gleiten. Er schwang mit der Bewegung ihrer Hand.
Mit einer liebevollen Stimme erklärte sie: „Du stehst zu breitbeinig auf dem Balken, fällt mir gerade auf. Soll man so stehen? Ich habe gehört, das sei kontraproduktiv, aber du musst es ja wissen.“
Sie sah, wie er seine Position änderte und seine Füße zusammenstellte. Er wirkte ruhig und Chiara überkreuzte ihre Finger hinter ihrem Rücken.
„Du wirkst entspannt“, sagte sie leise. „Ich kann dir nichts tun, ich bin nur ein Mädchen. Mich fürchtest du nicht.“
Sie spürte die Blicke der Gründer auf sich, doch sie ließ sich nicht irritieren und schwang den Anhänger hin und her.
„Du lässt dich auf eine tiefe Entspannung ein, alles andere ist irrelevant. Du weißt, dass du mich eh besiegen kannst. Ich bin nur ein kleines Mädchen.“ Sie würde sich elendig blamieren, wenn das nicht klappte.
„Du bist entspannt, ich interessiere dich nicht, du entspannst dich, deine Muskeln lockern sich und das Wasser zieht dich an.“ Sie spürte die Skepsis um sich herum, doch der Wächter ließ seine Waffe etwas sinken, seine Augen ruhten auf dem Stein am Ende ihrer Halskette. Sie brauchte einen kleinen Eintritt in sein Unterbewusstsein, den sie sich mit Hilfe einer Kommunikationstechnik schaffen konnte.
„Ich bin schwach in deinen Augen. Ich kann mich nicht gegen dich wehren. Das entspannt dich.“ Sie sah, wie sich seine Waffe etwas lockerte und sich kaum bewegte. Devin hingegen verengte seine Augen. Lena und Jens zogen die Brauen hoch. Das Volk hielt die Luft an. Chiara schwang die Schnur ihres Schmuckstückes.
„Du hattest einen langen Tag bisher, doch ich bin kein Feind für dich, das weißt du.“ Sie holte tief Luft und redete liebevoll weiter.
„Du bist ein Wächter, die angesehene Elite, du bist stark, aber jetzt im Moment entspannst du dich. Du willst dich entspannen und deine Augenlider sind so schwer, dass sie immer wieder zufallen. Das Wasser zieht dich an wie ein Magnet, ich bin nicht dein Feind, ich bin nur ein kleines Mädchen.“ Sie spürte den Schweiß auf ihrer Stirn, den Schmuck noch in ihrer Hand. Doch sie beobachtete, wie der Mann ab und zu seine Augen schloss. Bald musste sie ihn mit einem Befehl erschrecken und sah, wie er taumelte. Sie hob vorsichtig den Finger zu den Beratern, aus Angst, diese würden die Ruhe durch eine Zeitansage stören.
„Deine Augenlider sind schwer, du wirst vom Boden angezogen. Du willst dich hinlegen, du willst dich ausruhen. Du hast die Ruhe verdient. Der Boden zieht dich an.“
Die Kunst der Hypnose war eine Technik der alten Welt. Schon im alten Ägypten war sie bekannt und wurde noch vor dem Ausbruch zu therapeutischen Zwecken oder für Showauftritte genutzt. Es gab unterschiedliche Formen davon, doch im Prinzip ging es darum, jemanden in eine angenehme, tiefe Entspannung gleiten zu lassen, die funktionierte, solange sich der Partner darauf einließ. Sie gab ihm einen Gedanken, den man so konsequent dachte, bis man ihn selbst glaubte. Dann konnte er durch einen Befehl überrascht werden und sie hatte ihn auf eine sehr eingeschränkte Weise für eine kleine Weile in der Hand.
„Schlaf!“, befahl sie laut, was ihn überraschte. Er ließ seinen Kopf hängen. Chiara atmete auf. Ihre Handinnenflächen waren nass, doch es hatte funktioniert. Keiner auf den Tribünen wagte es, sich zu bewegen. Jetzt musste noch der Rest eintreffen, was schwieriger war, denn er konnte sich immer noch gegen sie wehren, wenn er es wirklich für notwendig hielt.
Devin hatte sich nach vorn gebeugt, das Publikum war gespannt und Chiara wischte sich über ihre Stirn. Man hätte eine Stecknadel auf den Boden fallen hören können. Die Konzentration lag auf ihr. Jetzt musste sie es beenden. Es hatte beim Nachbarsjungen so oft geklappt, aber würde es auch jetzt funktionieren?
Sie hob ihre Stimme. „Das Wasser zieht dich an. Es ist wie ein Magnet, du akzeptierst, dass du gegen mich gewonnen hast. Das Wasser entspannt dich, das Wasser erfrischt dich. Das Wasser entspannt dich, du wirst vom Boden angezogen und du wirst hineinspringen, wenn ich es dir sage. Die Berührung mit der Wasseroberfläche wird dich aufwecken.“
Bitte, bitte, bitte, dachte Chiara verzweifelt und hielt ihre Hände an ihren Kopf, bitte lass das einfach klappen. Wenn nicht, würde sie sich bis auf die Knochen blamieren und den Wächterjob sicher nicht bekommen. Es musste einfach funktionieren.
„Spring jetzt ins Wasser“, befahl sie und hörte ihre eigene Stimme vor Aufregung zittern. Alle Augen waren auf den Wächter gerichtet. Er ließ seine Waffe fallen und sprang ins Wasser.
Chiara schloss vor Erleichterung die Augen und das Publikum belohnte sie mit tosendem Applaus. Der Mann war etwas verwirrt, doch er war wach und stieg nun aus dem Wasser. Während das Volk applaudierte und einige sogar pfiffen, waren die Gründer höchst überrascht. Sie sah Devin aufstehen und klatschen, sein Volk tat es ihm gleich. Chiara strahlte. Tränen stiegen in ihre Augen, als sie sich umsah. Das war ihre Eintrittskarte zu dem Stand der Wächter. Sie nickte dankbar und lief dann zum Ausgang.
An dem dunkelbraunen Gebäude der Umkleidekabinen unter der Überdachung war bereits ein üppiges Buffet aufgebaut, an dem sich das Volk und die Kandidaten bedienen konnten. Auf der äußeren Bergmauer des Karpathos flatterten die großen Fahnen mit dem Zeichen des Staates. Vor der Mauer stand eine Bühne auf der Wiese. Dort wurden vor der Verteilung der Papyrusrollen Musik und Tänze aufgeführt. Diese Rollen würden sie bekommen, wenn alle Aufgaben ausgewertet waren und alle Kandidaten die physischen Aufgaben erledigt hatten.
Chiara suchte sich einen Platz, um zu warten, und quetschte sich durch die Leute an den Rand der Veranstaltung. Unter einem Schatten spendenden Obstbaum standen vier Menschen abseits von den anderen. Die Gründerkinder. Ihr Herz setzte aus.
Connor hieß der Kleinste von ihnen, der immer noch mindestens 1,85 war. Er hatte braunes, lichtes Haar und war Adrian und Taras Sohn. Neben ihm stand seine kleine Schwester Emily mit langen, braunen Haaren, die bis zur Hüfte reichten. Sie war gerade achtzehn geworden und hatte die Schule nach dem ersten Abschluss verlassen, um den Beruf der Krankenschwester zu erlernen.
Daneben war der Mann aus der Bibliothek des Pterygions. Chiara wurde schwindlig bei seinem Anblick. Sein Name war Cem und er war Cihan und Jens Derbovens Sohn. Die Wangen des Mädchens färbten sich umgehend rot, als seine dunklen Augen zu ihr blickten. So oft sie sich im vergangenen Jahr auch begegnet waren, war dies kein Grund, sie zu grüßen, dachte sie wehmütig und fand schließlich Julien an seiner Seite.
Alle drei Jungs hatten breite Schultern und für das Wächtertraining natürlich sichtlich vorgelegt. So kamen sie ihr vor wie Brüder. Gerade wollte sie sich abwenden, damit sie nicht noch länger wie ein Freak starrte, als man eine Frage an sie richtete.
„Warum bist du nicht nass?“, hörte sie Julien anklagend rufen. Cem prüfte sie mit skeptischem Blick. Doch sie ignorierte ihn und stellte sich woanders hin. Klar war das unrealistisch, dass sie die Aufgabe schaffte, dachte sie sarkastisch. Nur die Gründerkinder konnten alles. Wie konnte sie das vergessen?
Als endlich die Aufgaben für alle Teilnehmer für beendet erklärt worden waren, wurden Lieder vor dem Karpathos gespielt und das Buffet geplündert.
Chiara war bewusst, dass die Berater Zeit brauchten, die Tests von neunzig Menschen auszuwerten. Doch mit dem Essen konnte sie sich nicht ablenken. Aufgeregt setzte sie sich an den Rand auf den Boden, legte ihren Kopf auf die Knie und wartete. In ihrem ganzen Leben war sie nie so aufgewühlt gewesen wie heute. Geduld war sicher eine Tugend, die ihr fehlte.
„Ist dir schlecht?“ Sie hob ihren Kopf und sah einen schwarzhaarigen Jungen. Er hatte einen zu breiten Mund, aber schöne, hellblaue Augen. Sofort setzte er sich neben sie und erklärte ihr, dass er Lennox heiße. Er redete viel zu viel und ebenso viel Unfug.
„Willst du dich mir und meinen Freunden anschließen?“, fragte er sie neugierig am Ende seines Monologs. So richtig hatte sie ihm nicht zugehört, denn das war ihr gerade zu viel. Sie entschuldigte sich und stand auf.
Als es Zeit wurde, stellten sich die Auszuwählenden endlich vor einer Bühne auf und warteten. Hier standen viele, die in ihrem Alter oder ein bis zwei Jahre jünger waren. Dies war der letzte Doppeljahrgang gewesen, weil in den Jahren nach dem Krieg mehr Kinder geboren worden waren.
Cem stand eine Reihe vor ihr mit verschränkten Armen. Er war entspannt, fast gelangweilt, während Chiara innerlich starb. Devin hielt eine kurze Rede über den Ausbruch und über die Wichtigkeit der Teilnahme am Organismus des Staates. Als die Rollen verteilt wurden, zitterten Chiaras Hände. Julien riss seine Rolle auf und grinste zu seinen Freunden, Connor schlug mit ihm ein. Cihans Sohn faltete das Papier und steckte es ein, als wäre sein Inhalt vollkommen unspektakulär.
Die Gründer strahlten ihre Kinder von der Bühne aus an und warteten darauf, sie gleich auf den Festlichkeiten dafür in den Arm zu nehmen, während Devin und Adrian vor Stolz platzten.
Es gab drei mögliche Worte, die auf dem Zettel stehen konnten: Volk, Wächter oder Herrscher. Dabei wurde Letzteres noch nie gezogen. Chiara sah auf ihre eigene Rolle. Das würde ihr Leben ändern.
Endlich, endlich würde sie sich beweisen können. Unter Gleichgesinnten sein. Vielleicht sogar Freunde finden. Denn endlich gehörte sie zur Familie der Wächter. Zitternd und beinahe vor Neugier sterbend öffnete sie das Papier. Sie rollte es auf und da stand es.
Chiara nahm alles nur noch aus der Ferne wahr. Ihr wurde schwindlig. Sie fühlte sich wie paralysiert, apathisch und eingefroren. Sie verlor die Kontrolle über sich und spürte, wie sie langsam auf den Boden sackte. Das konnte nicht wahr sein! Man hatte sie ins Volk eingeteilt.
„Tut mir leid, Mädchen“, sagte die Beraterin zu ihr. Chiara hatte inständig gehofft, dass die Schulleiterin ein Auge zudrücken würde. Die Feierlichkeiten waren bis tief in die Nacht gegangen, doch langsam wurden die Stände abgebaut und die Gründer machten sich bereit, hinter den Mauern des Karpathos zu verschwinden.
Chiara hatte nun seit mehreren Stunden am Rand gesessen und mit leeren Augen auf ihr Papier gestarrt. Es musste einen Weg geben. Nie im Leben konnte dies das letzte Wort sein. Sie hatte doch jede Aufgabe lösen können! Sie hatte doch bewiesen, dass sie klug und mutig war. Das war einfach ein Fehler, dachte sie wieder und wieder, während die anderen Aristeier zur Musik tanzten und sich stolz mit ihren Familien austauschten.
Doch die schlanke Frau des Herrschers betrachtete sie mitleidig. Chiara zwang sich, nicht zu weinen. Ihre Hände zitterten, als sie das Papier hochhielt. Lena war etwa fünf Zentimeter größer als das Mädchen aus dem Volk. Ihre blauen Augen waren gefüllt mit Neugier, Geheimnissen und mit so viel mehr, als sie sagte.
„Das sind nun mal die Regeln! Wenn du einmal eingeteilt wurdest, dann kannst du nicht einfach wechseln. Das ist das Prinzip, nach dem wir hier leben.“
Chiara schluckte ihren großen Kloß herunter und schüttelte mit dem Kopf. „Bitte, ich gehöre nicht ins Volk!“
Juliens Mutter biss sich auf die Lippe. Ihr war die Diskussion sichtlich unangenehm und sie streichelte über Chiaras Rücken. „Meine Güte, Kleine! Glückseligkeit findet man doch nicht nur bei den Wächtern!“ Chiara schloss die Augen und atmete tief durch. Für heute hatte sie vielleicht verloren, aber dass absolut niemand, der etwas zu sagen hatte, auf ihrer Seite war, war unrealistisch.
Am nächsten Morgen schwänzte sie ihre Frühschicht in der Bibliothek, lief zum Aschefeld hinunter und sah den etwa vierzig Wächtern von der Tribüne aus zu, wie sie von Adrian und Dennis eingewiesen wurde. Sie erklärte den beiden Leitern der Wächterakademie, dass sie irrtümlicherweise ins Volk eingeteilt worden war und dass sie zu den Wächtern gehöre. Sie hatte die Aufgaben gut gelöst und den Mann von dem Balken geworfen. Mit Hypnose! Die beiden erinnerten sich zwar an sie, doch Adrian schüttelte mit dem Kopf.
„Du musst dich wie jeder andere an die Regeln halten“, erklärte er streng und genervt. Chiaras Herz wurde schwer.
„Ich bin mutig“, sagte sie leise, denn mehr gab ihre Stimme nicht mehr her.
Auch Dennis pflichtete Adrian bei. „Du hast Volk bekommen und da wirst du auch bleiben.“
Heute war nicht der letzte Tag und Adrian war nicht der Einzige, der sie vor dem Herrscher unterstützen könnte, dachte sie.
„Ich wurde ins Volk gewählt. Aber das ist ein Fehler. Ich bin wirklich mutig“, erklärte Chiara einem anderen Trainer einen Tag später. Sie war wieder nicht zur Arbeit erschienen und bettelte jeden Tag einen neuen Ausbilder an. Julien und Cem beobachteten sie von weitem und auch dieser Trainer verzog das Gesicht.
„Das ist ja echt schade“, sagte er. „Du hast dich auf den Job gefreut, oder?“
„Ich muss zu den Wächtern gehören. Das verstehen Sie nicht!“
Er berührte ihre Schulter. „Du findest schon deinen Weg, deinen Platz in der Aristeia zu akzeptieren.“ Das machte sie so entsetzlich wütend. Vasenzerschmetterndwütend. Auch Tara, die das Bogenschießen leitete, half nicht. Ihre braunen Augen wirkten traurig, als Chiara ausgesprochen hatte.
„Ich hab’s schon von meinem Manngehört“, sagte sie leise. Chiara sah ihr an, dass es ihr leidtat und dass auch diese Wächterin nichts dagegen tun konnte, obwohl sie die Schwester des Herrschers war.
„Wenn du wüsstest, wie sehr ich das nachvollziehen kann“, meinte sie leise und Chiara holte ihre Umhängetasche von der Tribüne.
Sie drehte sich noch mal um und sah, wie Tara ihre Sachen zusammenpackte. Diese legte etwas auf dem Boden ab und sah zu ihr. Dann verließ sie den Platz. Ungläubig beobachtete Chiara den Gegenstand. Als alle das Feld verlassen hatten, eilte sie die Treppen hinunter und rannte zu der Stelle. Hatte Tara absichtlich etwas für sie dagelassen? Chiaras Herz pochte laut, als sie es erkannte: einen Bogen und einen Köcher.
In der Nacht stellte sie sich auf den Ascheplatz und testete den Bogen. Er war aus Holz mit einem Metallgriff in der Mitte, welcher eine Einkerbung für die Hände hatte. Mit der linken Hand fasste sie an den Griff, legte einen Pfeil ein, setzte drei Finger ihrer rechten Hand an die Sehne und zog sie nach hinten. Chiara war erstaunt, wie schwer das war. Emilys Mutter musste reichlich Kraft in ihren Armen haben, dass sie die Sehne spannen konnte. Zudem musste sich Hornhaut auf ihren Fingern gebildet haben, denn Chiaras Finger brannten schon nach dem dritten Versuch.
Weil sie ihre Arbeit in der Bibliothek auf dem Pterygion geschwänzt hatte und auch nicht vorhatte, sich bei ihrem Chef zu entschuldigen, stieg sie dort in derselben Nacht durch ein Fenster. Sie verglich hier die Antworten des schriftlichen Teils mit anderen Auszügen aus Büchern. Als sie sicher war, dass sie alle korrekt beantwortet hatte, sprach sie mit weiteren Trainern. Doch als keiner mehr übrig war, wusste sie, dass sie mit Julien reden musste. Der Prinz war der Letzte, den sie fragen wollte, doch er war ihre einzige Chance. Wenn er seinen Vater nicht überzeugen konnte, dann musste sie allein in den Tempel auf dem Karpathos.
Die Umkleide war direkt am südlichen Teil der Tribüne. Hier hatte es unter einem Regendach das Buffet gegeben. Jetzt standen hier ein paar hölzerne Tische und Bänke. Sie sah sowohl den Eingang zur Waschküche für die Putzfrauen als auch einen kommunalen Raum zum Duschen und Umkleiden. Die vom Training erschöpften Wächter verließen das Gebäude nach und nach, während Chiara mit den Händen in ihrer Lederjacke an der Wand wartete. Endlich sah sie die großen Jungs in ihren Jogginghosen herauskommen. Julien passierte sie mit seinen Freunden. Cem war bei ihm und blickte kurz zu ihr herunter, wobei sich ihr Magen umdrehte. Doch sie versuchte, ihre eigentliche Mission nicht zu vergessen.
„Ich muss mit dir reden, Julien!“ Die Gründerkinder drehten sich zu ihr. Cems düstere Augen verengten sich. Ungeduldig fuhr sie sich durch ihre offenen Haare.
„Bitte“, fügte sie hinzu. Der Prinz stöhnte genervt und folgte ihr hinter die Umkleidekabinen.
„Was willst du?“, fragte er. Er war so arrogant, selbst als sie außer Hörweite der anderen waren.
Das ignorierend erklärte sie: „Die haben mich ins Volk gesteckt. Das war ein Versehen, denn ich habe jeden Test bestanden, aber die lassen mich nicht zu den Wächtern.“
Julien verschränkte seine breiten Arme und neigte den Kopf verständnislos zur Seite. „Und was genau habe ich damit zu tun?“
„Ich bitte dich, mir zu helfen!“
Er schulterte seine Sporttasche. „Ich denke, da kann ich nichts machen.“ Er drehte sich um und verließ sie. Einfach so. Da war sie wieder, die gleißende Wut. Jemand wie er war ein Wächter. Jemand wie er sollte sich für das Volk einsetzen. Chiara atmete tief durch. Das war nicht das Ende.
Später vergrub sie ihren Kopf in ihren Händen und lehnte sich zu Hause an die Küchenzeile. Das war nicht das Leben, das sie gewählt hatte. Sie wollte nicht für alle Zeit in der Bibliothek mit ihren Arbeitskolleginnen Elly und Helke sitzen, den langweiligsten und unsinnigsten Gesprächen der Welt lauschen. Sie wollte nicht jeden Tag das Gleiche tun. Sie wollte etwas bewirken, etwas Sinnvolleres als Bücher einzusortieren! Sie hatte es sich verdient!
Ihre Mutter kam aus dem Schlafzimmer die Treppe herunter und ging am vollen Mülleimer vorbei. „Hast du Zeug geholt?“ Gebrannten. Kaum merklich schüttelte ihre Tochter mit dem Kopf.
Frau Blum stöhnte. „Herrgott, bist du zu irgendwas zu gebrauchen?“
Chiara holte ihre Jacke und etwas im Kamin fing ihre Aufmerksamkeit. Der grüne Einband. Die hatten … Chiara hielt die Luft an und fuhr sich entsetzt durchs Haar, während sie in die Asche starrte. Die hatten eins ihrer Bücher als Brennholz verwendet. Tief durchatmen, sagte sie sich.
Devins Wort war das Absolute. Es zählte hier wirklich. Auch wenn keiner der Gründer und Trainer bereit war, sie zu unterstützen, war Chiara sicher, dass sie es trotzdem noch hinbekommen konnte. Zwar hatte sie die ersten Wochen Training verpasst, aber das würde sich schon einpendeln, dachte sie und machte sich auf den Weg.
Sie war noch nie im Tempel gewesen. Er war das höchste Gebäude des Karpathos. Um es zu erreichen, lief man rechts den Weg hinauf, an den Häuserreihen vorbei, bis man in die Descartesallee einbog. Das war die Straße der Gründer.
Hier gab es keine Reihenhäuser. Sie standen mit einem kleinen Abstand zum Nachbarhaus und jedes hatte einen Hintergarten. Wie die Aristeier es oft hielten, gab es Vorgärten mit bepflanzten Beeten oder einem Baum.
Auf der linken Seite der gepflasterten Straße begann die Reihe der Schilder nach zu urteilen mit dem Haus von Dr. Cholewa und seiner Freundin. Es folgte das Haus von Dennis und seiner Frau, dann das Haus der Derbovens, dann das der Heders und ein Leeres. Am Ende der Straße verdeckten große Tannen das Herrscherhaus. Auf der linken Seite der Descartesallee war ein kleiner Vorplatz mit dem großen Tempel des Staates.
Er war etwa acht Meter hoch und hatte hohe, dicke Säulen, die ein dreieckiges Dach trugen. Der Tempel hatte einen beeindruckenden Balkon, von welchem der Herrscher aus zu seinem Volk sprach. An der Seite gab es eine kleine Treppe mit einem weißen Geländer, über welche man auf den Balkon gelangte. Vier Säulen mit Vasen schmückten den Vorplatz.
Im offenen Raum stand ein großer Thron. Zwei rote Sofas, wie man sie im Römischen Reich hätte sehen können, standen schräg zu seiner Seite, sodass Juliens Vater hier mit seinen Beratern reden konnte. Auf dem Boden gab es einen breiten Weg zum Sitz des Herrschers, wobei an den Seiten Wasser in schmalen angelegten Bahnen vom Thron zum Balkon floss. An den Wänden standen zwei Leibwächter.
Über dem Thron hoch oben in der Decke war eine Glasfläche im Dach, was den Raum etwas erhellte. Das sah nicht nur sehr beeindruckend aus, sondern wirkte auch so, als hätte sie sich gerade auf den Berg der Götter begeben, um eine Audienz bei Zeus selbst zu ersuchen.
Oh, dachte Chiara abfällig, das passte so sehr zu Julien. Als wäre er ein junger Halbgott … so unnahbar und unfehlbar, genau wie sein arroganter, dunkelhäutiger Freund mit dem kalten Blick. Auch wenn sie sich das sagte, bekam sie Herzrasen, wenn sie an Cem dachte.
Der Herrscher selbst langweilte sich auf seinem Thron aus Marmor, als er sie durch die Halle kommen sah. Als sie an den künstlichen Flüssen vorbeigelaufen war, kniete sie vor Devin, dem zweiten Herrscher der Aristeia, und stand wieder auf.
Er zog die Brauen hoch und betrachtete sie fragend.
„Ich bin ins Volk eingeteilt worden“, erklärte Chiara ihm so höflich es ihre Stimmung zuließ. „Aber ich weiß, dass ich dort nicht hingehöre. Ich wollte eine Wächterin sein, aber die Ausbilder lassen mich nicht. Ich bettle seit einer Ewigkeit, doch ohne Erfolg.“
Juliens Vater schüttelte den Kopf. „Von dir habe ich gehört.“ Chiaras Herz sank in die Hose.
„Mein Sohn, meine Schwester und mein Schwager haben dich erwähnt und vorgeschlagen, dich zu den Wächtern hochzustufen.“ Sie war erstaunt. Das war wohl das Allerletzte, womit sie gerechnet hätte.
„Ich habe jede Aufgabe bestanden“, erklärte sie Devin, der für sein Alter außergewöhnlich attraktiv war. „Es gibt zudem nichts, das ich fürchte. Wächter zu sein ist mein Traum, seit ich denken kann.“ Sie wusste, dass sie immer den tiefen Drang danach hatte, zu beschützen, sich zu kümmern, Verantwortung zu tragen. Das musste er doch sehen.
Devin aber ließ sich nicht überzeugen.
„Das sind die Regeln. Hast du in der Schule nichts über die Politeia gelernt?“, erwiderte er. „Jeder soll das tun, was er am besten kann. Offenbar wärst du laut des Tests keine gute Wächterin, also solltest du lieber machen, was du kannst, um im Staat zum Guten beizutragen.“ Chiara sah ihn entrüstet an. Sie konnte nicht verstehen, warum er ihr das Leben so schwermachen wollte.
„Das ist alles, was du dazu sagst?“, fragte sie leise. Sie war bitter enttäuscht. „Ich sortiere Bücher. In Regale.“
Wie konnte er so blind sein? Sie hatte schließlich einen Mann vor seinen Augen hypnotisiert.
„Hast du vielleicht mal darüber nachgedacht, dass das eine ehrenvolle Aufgabe ist, das uns gebliebene Wissen zu sortieren und den Bürgern im Staat zugänglich zu machen? Wenn es nur Wächter geben würde, würden wir verhungern“, meinte er gelangweilt und Chiara spürte, wie wütend sie seine Dickköpfigkeit machte.
„Der Test muss einen Fehler gemacht haben.“
„Der Test macht keine Fehler“, entgegnete er ihr schulterzuckend. Chiara betrachtete ihn einen Moment lang. Sie hatte den Prinzen gerettet. Sie hatte ihn davor bewahrt, Futter für einen Toten zu werden, als er bekifft auf der Feldmauer gesessen hatte. Aber jemand wie Julien, arrogant, waghalsig und dumm genug, in so eine Situation zu kommen, wurde natürlich Wächter! Das war unfassbar unfair. Vermutlich hatte er den Platz nur bekommen, weil er der Sohn des Anführers war. Das war so erbärmlich und abscheulich, dass es kaum zu ertragen war.
Sie lehnte sich leicht nach vorn. „Ich sag dir was, Devin.“
Er grinste belustigt und ließ sie reden. „Ich gehöre nicht zum Volk und ich bleibe nicht im Volk.“
„Doch, genau das wirst du machen“, lachte der Herrscher der Aristeia.
„Das werden wir ja sehen“, war ihre Antwort.
Devin zog die Brauen hoch und sah, wie die Aristeierin sich umdrehte und den Tempel verließ.
„Was für ein Bastard“, entfuhr es ihr, laut genug, dass er das auch mitbekam.
Auf dem Lithos schlug sie ihre Haustür auf, rannte durch das dreckige Wohnzimmer zur Treppe nach oben und hörte ihren Vater wütend von unten rufen, dass ihr Chef das Gehalt reduzieren würde, weil sie einfach nicht zur Arbeit erschienen war. Sie ignorierte ihn und tauschte ihre High Heels gegen Turnschuhe aus. Dann suchte sie eine Umhängetasche und nahm Taras Bogen aus dem Schrank. Im Adrenalinrausch hängte sie sich den Köcher um und suchte nach einem Haargummi. Eilig lief sie die Treppe hinunter, und ehe sie sich versehen konnte, holte ihr Vater aus und schlug ihr ins Gesicht. Sie hielt sich ihren Mund und fühlte den pulsierenden und demütigenden Schmerz. Chiara beobachtete den kleinen, nach Alkohol stinkenden Mann. Das warme Blut lief über ihren Mund.
„Wie kannst du es wagen, deine Arbeit zu vernachlässigen?“, schrie ihr Vater sie an. Sie hielt sich ihre Nase zu und drehte sich zur Küchenzeile.
„Wo willst du hin?“
Während sie nach einem Messer und zwei Flaschen Wasser suchte, erklärte sie ihm klar und deutlich, dass sie die Aristeia verlassen würde. Er stellte sich vor die Haustür und verschränkte seine kleinen, dicken Arme. Da stand er nun in seinem verschwitzten Unterhemd und glaubte, er könnte ihr den Weg versperren.
„Du kommst hier nicht raus.“
Wut kochte hoch. Ihr Buch im Kamin, ihre abgebrochene Schule, die vergeigte Auswahl, der Schlag in ihr Gesicht. Das war zu viel. Ihre Finger suchten einen Pfeil aus dem Köcher. Sie hob den schweren Bogen der Gründerin. Dann legte sie den Pfeil in die Sehne.
Ihr Vater lächelte verächtlich. „Du weißt nicht, wie man so etwas benutzt.“
Chiara richtete Taras Bogen auf ihn.
„Geh zur Seite“, forderte sie ihren Vater auf und schmeckte ihr eigenes Blut.
Dabei hob sie ihren Bogen ein Stück und sah langsam sein Lächeln weichen und die Panik in seine kleinen Schweinsaugen steigen.
„Du würdest nicht …“, japste er und sie sah ihn schneller atmen. Sie zog den Pfeil weiter nach hinten.
„Du wirst in der Gosse enden“, unkte er.
„Aus dem Weg“,flüsterte Chiara und wartete, bis der fette Körper langsam zur Seite wich. Dann verließ sie das Haus ihrer Eltern mit dem Knallen der Tür. Sie rannte über die Straße und schließlich sah sie hinauf zu den Wächtern auf der Mauer zwischen dem Pterygion und dem Oros. Mit einem Wink öffneten sie das Tor. Jetzt stand sie zwischen den Mauern. Noch nie war sie hier gewesen. Es war wie ein Gang zwischen den Welten, die hohen Mauern spendeten kühlen Schatten und ihr wurde schwindlig, wenn sie nach oben blickte. Zwei Wächter standen auf der Außenmauer über dem Westtor. Sie warfen einen verwunderten Blick herunter.
Ein Gitter fuhr hoch. Die großen Tore öffneten sich und Chiaras Haare wehten hinter ihr, während sie den Staat der vier Tugenden verließ.
Sie warf einen Blick auf die Berge der Aristeia, dann rannte sie durch die Felder, bis sie die Leuchttürme erreicht hatte. An der Grenze ließ ihre Kondition nach. Hier stand ein großer Turm über einem großen, quadratischen Metallbecken. Spitze, eiserne Pfähle schauten heraus, sodass jeder, der von den Tönen und dem Licht des Turms angezogen wurde, in das Becken fiel und aufgespießt wurde. Jeden Freitag kamen Wächter, setzten die Toten in Brand und kehrten die Überbleibsel zusammen.
Chiara wischte sich das Blut von ihrer Nase und sah in das Becken. Hier hingen in der Tat ein paar Tote auf Pfählen, streckten ihre Hände dennoch zum Turm aus, der tiefe Audiosignale von sich gab. Die Leuchttürme standen um den gesamten Staat und boten einen enormen Schutz. Sie zu passieren, bescherte Chiara Zweifel. Doch als sie wieder laufen konnte, rannte sie weiter durch den Wald. Sie hörte ein paar Wächter sägen, hielt jedoch nicht an.
Weder war sie im Besitz eines Kompasses noch einer Karte. Es war zu bewölkt für einen Schattenkompass und den Mond konnte sie ebenfalls nicht sehen. Selbst mit ihnen wäre sie aufgeschmissen, denn sie wusste nicht, was in den jeweiligen Himmelsrichtungen zu finden war, außer dass die Kädianer im Norden waren. Zu denen wollte sie lieber nicht. Also entschied sie sich für grob nach Westen.
Gegen Abend hatte sie eine leere Stadt gefunden, und Chiara blieb keuchend auf einer überwucherten Straße stehen. Wurzeln hatten sich durch den Beton gekämpft. Katzen, Hasen und ein paar Kühe liefen herum.
Das Mädchen vom Lithos drehte sich im Kreis und fragte sich, wo sie sonst hinsollte. Für einen Moment war sie überrascht, wie undurchdacht ihr Kurzschluss-Plan gewesen war. Sie wollte weg, ja. Aber nun? Als die Sonne unterging, musste sich Chiara einen neuen Platz suchen.
Es gab viel zu entdecken in der Welt außerhalb der Aristeia, als eine Gruppe Hunde oder Wölfe an ihr vorbeizog. Zudem war die Außenwelt wunderschön, aber auch voller Gefahren. Kaum hatte sie das gedacht, zog ein Gewitter auf.
Das Donnern lockte leider die Toten an. Diese konnten nicht zwischen den Lauten der Natur und der Menschen unterscheiden und kamen daher jetzt aus ihren Löchern gekrochen. Zusätzlich begann es zu regnen. Chiara musste sich irgendwo verstecken. Doch es war schon zu spät. Es dauerte nicht lange, da hatten die Toten sie erblickt.
Da rannte sie um ihr Leben über brachliegende Straßen und über verrostete Autos. Es blitzte und regnete stärker und sie lief schneller über den Asphalt. Doch da die Beißer von allen Seiten kamen, war sie schnell umzingelt. Sie sah sich um. Es blitzte erneut und sie erblickte ein recht niedriges Gebäude, welches den Namen Kiosk trug.
Sie lief hin, sprang hoch, packte mit ihren Händen das Dach und zog sich hoch, während es donnerte. Es goss wie aus Eimern. Schnell war sie durchnässt und fror. Das Mädchen biss sich auf die Lippe, als sich die Toten um das Gebäude versammelten. Wenn man bedachte, dass das die Ausgangssituation ihres ersten Abends war, so war sie wirklich sehr dankbar, dass Devin sie jetzt nicht sah nach der Ansage, die sie ihm gemacht hatte.
Es gab kein Entkommen. Die Toten standen um sie herum, sie verschoss ihre Pfeile, doch sie traf nur selten einen Kopf. Während sich die Monster langsam die Wände zu ihr hinaufschoben, zog sie das Küchenmesser und stach sie ab.
Chiara bekam ein flaues Gefühl im Magen. Der unvermeidbare Tod war nichts, was zu fürchten war. Aber irgendwie hatte sie sich das Ganze anders vorgestellt. Doch sie hatte nichts, womit sie sich wirklich nachhaltig wehren konnte. Ihre Pfeile waren viel zu wenig und die wandelnden Leichen in der Überzahl.
Wehmütig stellte sie ihre Entscheidung infrage. Das war halt ihr Lebenstraum, der zerstört worden war, rechtfertigte sie sich. Die Frage allerdings war, warum sie sich vor sich selbst rechtfertigen musste.
Es donnerte erneut. Die Dinger standen inzwischen mit ihr auf dem Dach und sie konnte kaum genug abstechen. Zu viele kamen auf sie zu. Das war es also. Und sie war nicht mal vierundzwanzig Stunden draußen. Hatte sie überreagiert? War das die Strafe für ihre Maßlosigkeit? Was auch immer es war, es war abgrundtief peinlich. Chiara zog ihr Messer aus einer Augenhöhle.
Dann hörte sie einen Motor. Ihr Herz machte einen Satz. Sie sah auf und erblickte Scheinwerfer, die sich ihr näherten. Sicher Wächter, die sie retten wollten! Die Toten drehten sich zu ihnen um. Sie sah Menschen in der Dunkelheit aussteigen. Diese zogen ihre Waffen, um Chiara zu befreien. Sie dachte an Cem und ihr Puls raste. Als die Monster ihr den Rücken zukehrten, sprang sie vom Dach und arbeitete sich mit ihrem Messer durch die Massen hindurch.
Mit ihren Waffen sorgten die Fremden dafür, dass die Horde schnell dünner wurde. Sie erkannte einen Jungen, der ganz weiß war, und eine Frau mit Rastalocken, die mit einem Holzstab bewaffnet war. Alle waren in braune und graue Lumpen gekleidet. Sie hatten Haarschmuck und Tätowierungen.
Das waren Nomaden! Das konnte etwas Gutes heißen, musste es aber nicht. Im nächsten Moment packte Chiara einer toten Frau in die Haare und stach in ihr Auge. Es wurde langsam übersichtlicher und schließlich fiel auch der letzte Tote auf den schlammigen überwucherten Boden. Ein Blonder, der fast so groß wie Cem und Julien war, packte sie am Arm, zog sie in den Wagen, der eindeutig Eigentum der Wächter war, und sie fuhren weg. Dabei versuchte sie, sich im Auto umzusehen. Rastalocken, Weißhaar, blonder Riese, braunhaarige Zwillinge. In einem verlassenen Bauernhof ein paar Kilometer weiter ließen sie sich nieder.
Chiara setzte sich auf den Boden, zog ihre durchnässte Kleidung aus und lehnte sich im Unterhemd an die Wand. Sie beobachtete die Leute, die sich ihr vorstellten.
Die mit den dunkelblonden Rastalocken war Alea. Sie war groß, vielleicht über einen Meter fünfundsiebzig. Sie hatte dunkelblaue Augen und trug Lumpen. Um ihren Hals hing eine Kette mit Würfeln, in ihrer Hand war ein langer Holzstab. Kazmin war der Weißhaarige und er war etwas kleiner als die Nomadin. Chiara hatte noch nie einen Albino gesehen, wusste aber, dass sie rote Augen und weiße Behaarung hatten. Das traf auf Kazmin zu. Es wirkte unbestreitbar gruselig auf den ersten Blick. Doch Chiara fand es unhöflich, ihn das wissen zu lassen, weswegen sie ihn anlächelte. Er unterhielt sich leise mit dem großen Blonden mit rotem Bart. Das war Michael. Er schien nach Alea der Älteste zu sein. Beide waren sicher fünfundzwanzig.
Alea tätowierte gerade einen der Zwillinge. Zu Chiaras Entsetzen stellte sie fest, dass Luca und Lucy gerade mal dreizehn waren. Der Junge machte ein Feuer und Chiara kamen die beiden ziemlich hilflos vor. Kinder hatten außerhalb der Aristeia auch nichts verloren. Doch