Die Wächter der Aristeia - Stephanie Drechsler - E-Book

Die Wächter der Aristeia E-Book

Stephanie Drechsler

4,8

Beschreibung

Zombieapokalypse. Nach dem Ausbruch der Untoten trifft Tara auf eine kleine Gruppe, die sich in Sicherheit vor den Zombies bringen will. Da dies abermals scheitert, beschließen sie einen neuen, geschützten Staat zu errichten, um die Werte der Menschen aufrechtzuerhalten und die Normalität wiederherzustellen. Damit ihnen dies gelingt, müssen sie sich vielen Dilemmata, der Tierethik, den lebenden und toten Feinden und schließlich sich selbst stellen.

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Für Gudrun

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1: Wald

Leichen

Angemessene Vorbereitung

Feuer

Beförderung

Nicht allein

Müsliriegel

Nutzlos

Wiederkehr

Endlich

Ende

Kapitel 2: Insel

Pfeil und Bogen

Plan B

Überfahrt

Harmonie

Eingelebt

Skalpell, bitte

Erntefest

Fremde

Abschied vom Luxus

Kapitel 3: Berg

Entscheidungen

Karpathos

Anfang

Weihnachtsvorbereitungen

Winter

Fortschritt

Schweine

Besuch

Unmut im Volk

Ärger

Luftballons

Tauschhandel

Marmor

Café

Wächter

Besuch bei Feinden

Alkohol

Mellys Problem

Hochzeit

Vorfall

Folter

Feinde

Die Rede des neuen Herrschers der Aristeia

Anastasia

Ein halbes Jahr später

Prolog

Sie lag auf dem kalten Flussbett und sah durch das Wasser in den rötlichen Himmel. Zitternd sah sie, wie sich das rote Blut von ihrer Haut löste und mit der fließenden Bewegung des Flusses langsam verschwand. Ihre langen Haare wehten in der Strömung. Immer wieder sah sie die angsteinflößenden, grauenvollen, weißen Augen und die Gesichter der Toten, welche auf sie und ihn zukamen. Es waren jene, welchen sie sonst so tapfer entgegen getreten war. Sie sah, wie diese ihren Mund weit aufrissen, um ihre scharfen Zähne in ihr Fleisch zu setzen. Sie zuckte abermals bei der Vorstellung zusammen, wie viele es gewesen waren. Das kalte Wasser fuhr ihren Puls herunter und erschöpft schloss sie die Augen, während ihr langsam schwindlig wurde. In ihren Gedanken sah sie ihn abermals hilflos auf den Boden sinken und die hungrigen Toten sich nähern. Sie hatte ihn beinahe wirklich verloren. Der Gedanke erschütterte sie immer wieder. Nicht er, dachte sie, nicht Adrian.

Kapitel 1

Wald

1. Leichen

Gähnend saß Tara auf ihrem Campingstuhl und sah über den Platz voller Zelte und Wohnwagen hinweg in die aufgehende Sonne, während ihre Finger eine Tasse Kaffee umklammert hielten und sie über ihrem Pyjama in eine Wolldecke eingerollt war. Dabei steckten Kopfhörer in ihren Ohren, die mit ihrem Handy verbunden waren. Sie dachte über nichts Besonderes nach. Vielleicht darüber, was Devin wohl gerade tat oder was sie in einem ihrer nächsten Artikel schreiben könnte.

Es war jetzt genau zwei Monate her, dass sie nach dem Studium bei einer kleinen Anglerfachzeitschrift einen Aushilfsjob bekommen hatte. Sie wusste, dass das nichts Großes war. Sie fand auch Angeln furchtbar, aber immerhin hatte sie einen Job gefunden, dachte sie. Viele ihrer Freundinnen, die auch einen Bachelor in Journalismus gemacht hatten, hatten überhaupt nicht mal ansatzweise einen Fuß in die Branche bekommen, was schade war, denn man hatte ja so lange dafür studiert. Auch wenn sie irgendwie gewusst hatte, was sie erwarten würde, als sie sich immatrikulierte, hätte sie nie gedacht, dass sie damit nicht so wirklich zufrieden sein würde. Sie hatte gedacht, dass sie gut darin sein würde und dass es ihr Traumjob wäre. Aber gerade beim Artikelschreiben war sie sich nicht sicher, ob es das war, was sie ihr Leben lang tun wollte. Sie fand nicht, dass sie wirklich gut darin war. Vielleicht kam das mit der Zeit oder wenn sie mal die Zeitschrift wechseln würde und nicht mehr über Tierkadaver zu reden brauchte.

Etwas bedrückt sah sie in die Ferne. Ihre Mutter hatte ihr schon immer gesagt, dass es für jeden einen Platz gab. Doch das erschien Tara etwas zu optimistisch, denn eigentlich war sie in gar nichts wirklich begabt. Aber vielleicht waren das manche Menschen einfach nicht. Tara warf ihre braunen, langen Haare zurück und nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. Dabei fragte sie sich, ob sie überhaupt ohne Kaffee leben könnte. Vermutlich nicht. Allmählich hörte sie die ersten Zelte aufgehen und sah Leute zum Waschraum schlurfen. Sie überlegte, dass ihre Großmutter auch gleich wiederkommen musste, und zog ihre Wolldecke weiter über sich.

Camping war kein Luxusurlaub. Das hatte sie schon bemerkt. Nicht nur beim Kochen, sondern auch bei jeder anderen Tätigkeit in dem kleinen Wohnwagen war es schon mit zwei Personen zu eng. Sogar das Bett musste hochgefahren werden, damit Bänke und ein Tisch aufgezogen werden konnten. Wenn man einen Knopf betätigte, klappten diese schnell ein und das Bett fuhr herunter. Dieses Bett mussten sie sich teilen und einen Fernseher hatten sie auch nicht, mussten für Wasser ein Stück laufen und andauernd grillte jemand. Der Geruch war einfach ungenießbar, fand sie. In den Kühlschrank passte nicht viel und schließlich funktionierte die Toilette im Wohnwagen nicht. Aber Tara ließ sich nichts anmerken. Sie wollte nicht, dass ihre Oma dachte, ihr würde der Urlaub nicht gefallen. Schließlich wollte die alte Frau nur noch mal an ihren Geburtsort zurück.

Plötzlich hörte sie ein paar Schreie durch ihre Kopfhörer hindurch. Ja, das war hier natürlich noch ein Minuspunkt! Denn hier rannten den ganzen Tag schreiende und spielende Kinder herum, die mit Bällen warfen und mit ihren Skateboards über die Straßen bretterten. Das nervte unheimlich.

Dann sah sie jemanden sehr langsam die Straße entlangkommen. Er hatte wohl seinen Kulturbeutel vergessen, denn er humpelte mit leeren Händen über den steinigen Boden. Tara neigte den Kopf leicht zur Seite und beobachtete den Mann, der wirklich merkwürdig ging. Schließlich verschwand er in einem Zelt. Tara entsperrte ihr Handy, auf dem sie hier natürlich keinen Empfang hatte, suchte ein neues Lied aus ihrem Sum-41-Ordner und schloss ihre Augen. Sie seufzte. Wenn sie auf einer einsamen Insel stranden würde und sie sich entscheiden müsste, was sie für ein Album mitnähme, dann war es ein Album dieser Band. Das könnte sie bis zum Ende ihrer Tage hören. Sie vernahm schon wieder Schreie, ließ aber ihre Augen geschlossen. Von so etwas dürfte sie sich den Morgen nicht verderben lassen.

Irgendwann wachte sie auf. Müde öffnete sie ihre braunen Augen. Sie musste wohl kurz eingenickt sein. Verwirrt richtete sie sich auf und sah sich um. Doch die Szenerie hatte sich geändert. Um sie herum brannten Zelte, Menschen liefen, Autos fuhren, viele humpelnde Menschen, weinende Kinder, schreiende Mütter. Als Tara bemerkte, dass sie nicht träumte, zog sie ihre Kopfhörer raus und sprang von ihrem Stuhl auf. Alle Urlauber rannten panisch durch die Gegend und verließen den Platz. Manche kämpften gegen andere Urlauber oder bewarfen sie mit Gegenständen. Aber was zur Hölle war hier passiert? Sollte sie mitlaufen? Wohin liefen sie und vor was liefen sie weg? Sie sah sich verwirrt und ängstlich um. Plötzlich aber sah sie ihre Großmutter auf sich zukommen, langsam und schlurfend.

„Was ist passiert? Was ist mit den Menschen?“ Tara ging ein paar Schritte auf die kleine, zierliche Frau mit dem Dutt zu. Doch diese hatte eine merkwürdige, graue Hautfarbe bekommen. Ihre rosafarbene Bluse saß völlig schief und ihr fehlte ein Schuh. Tara ging einen weiteren Schritt skeptisch auf sie zu. Ihre Großmutter streckte die Arme nach ihr aus und stöhnte merkwürdig. Das Geräusch hätte die Brünette gar nicht nachmachen können. Es war, als würde ihre Großmutter nur ein paar Töne produzieren, ohne Buchstaben mit ihrem Mund formen zu können. „Was ist los mit dir?“, fragte Tara leise, während hinter ihnen die Welt unterzugehen schien. Die kleine Frau wurde langsam schneller und Tara erkannte, dass ihre Augen weit aufgerissen und weiß waren. Sie griff nach den Haaren ihrer Enkelin und versuchte, sie zu beißen. Tara sprang entsetzt zurück und schubste sie vorsichtig zurück. Eilig lief sie in den Wohnwagen, wo sie nach ihrem schwarzen Rucksack griff, in welchem sich noch das Seil befand für den Aufbau der Wäscheleine hinter dem mobilen Heim. Hektisch packte sie etwas Kleidung, ihre Schlüssel, Geld, Ladegerät und natürlich den Personalausweis ein. Dann hörte sie ein Grölen. Sie drehte blitzschnell ihren zierlichen Körper um und sah, dass ihre Großmutter hinter ihr stand mit wahnsinnigem, hungrigem Blick. Tara spürte, wie ihr Herz laut pochte und sich ihre Härchen auf den Armen senkrecht stellten. Als ob die alte Frau jeden Funken Menschlichkeit verloren hätte, dachte sie. Erneut griff sie nach Tara, aber diese wich ihr aus.

„Was ist los mit dir?“, schrie sie ihre Großmutter panisch an. Doch sie reagierte nicht auf die Worte ihrer Enkeltochter und griff nach Taras Arm. Sie wollte gerade ihre Zähne ansetzen, als Tara sie auf den Boden warf. „Hör auf damit! Du machst mir Angst!“ Sie suchte nach einer Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und steckte sie in ihre Tasche. Dann wollte sie sich eine Jeans statt ihrer Pyjamahose anziehen, doch die alte Frau hatte sich schon wieder aufgerichtet und griff nach ihr. Sie warf den Kopf in den Nacken, um sie zu beißen. Da warf Tara sie mit einem stumpfen Knall auf den Tisch und drückte den Knopf, der das Bett ruckartig herunterfahren ließ und die Frau einquetschte. „Tut mir so leid!“ Tara sah, wie sich die Beine ihrer Großmutter immer noch bewegten und sie laut ihre komischen, grölenden Geräusche von sich gab. Einen Moment lang überlegte das Mädchen, ob sie ihre Oma wieder befreien sollte. Das war schon ziemlich gemein, sie unter dem Bett zu lassen. Vielleicht hatte sie sich verletzt, dachte sie, während sie sich eine Jeans über ihre Beine zog. Doch kaum war sie angekleidet, da stand auch schon der nächste merkwürdige Mensch in der Tür des Wohnwagens. Auch seine Augen waren weiß, er grölte und sehnte sich danach, in ihr Fleisch zu beißen. Tara schubste ihn nach draußen auf den Boden. Dann betätigte sie den Knopf für das Bett und verließ den Wagen. Schnell schloss sie ihn ab, stieg über den Mann, der umgefallen war, bevor er sich aufrichten konnte. Sie trank ihren Kaffee aus und steckte ihr Handy in ihren schwarzen Sportrucksack. Schließlich lief sie fort.

Überall auf dem Platz waren diese seltsamen Menschen, die sich wie in Trance auf ihre Opfer zubewegten. Einige Leute waren auf Bäume geklettert und die Beißer standen unten an den Stämmen und griffen mit den Armen nach ihnen. Offenbar konnten sie nicht klettern. Tara sah einen Toten auf der Straße liegen. Sie beugte sich über ihn. Er war am Hals gebissen worden. Sein Blut war über sein Shirt geflossen und hatte alles tiefrot gefärbt. Sie fühlte seinen Puls. Er war tot. Skeptisch sah sich Tara die Wunde an. Was sollte das? Sie hatte ja schon viel gehört, aber doch nicht von Menschen, die umherzogen und andere Menschen bissen. Vielleicht im Fernsehen, aber nicht in … Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als der Tote seine weißen Augen öffnete und nach Tara griff. Sie wich vor Schreck nach hinten aus. Das hatte sie fast zu Tode erschreckt. Wie konnte das sein? Der Mann war doch ganz offensichtlich gestorben, dachte sie. Sie verdrängte den Gedanken, dass der Biss etwas mit seinem Erwachen zu tun hatte. Das war zu viel Horrorfilm für Tara. Sie rannte weiter.

Auf einem Stellplatz waren bestimmt fünf oder sechs von diesen völlig Durchgeknallten, welche einem auf dem Boden liegenden, schreienden Mann die Gedärme aus dem Bauch zogen. Sie rissen sie heraus und stopften sie in ihre hungrigen Münder. Tara spürte, wie ihr Blut ihr Gesicht verließ und ihr schwindlig bei dem Anblick wurde. Sie musste zweimal hinsehen, damit sie sich ganz sicher war, dass sie das wirklich gesehen hatte. Dann kam es ihr hoch und sie übergab sich, während sie sich an einen Baum stützte. So etwas Abartiges und Schreckliches hatte sie noch nie gesehen. Diese Biester rissen den Mann in Stücke und aßen seine Organe. Tara spuckte erneut. Doch dann wurde sie von einem kleinen Kind bemerkt, das den gleichen Blick wie ihre Großmutter hatte und langsam auf sie zukam. Sie wischte sich den Mund ab und lief weiter. Überall waren die Leute in Aufruhr, überall waren diese komischen Menschen und überall hörte sie Schreie. Verängstigt machte sie sich auf zum Parkplatz und überlegte, das Auto zu nehmen. Wenn aber ihre Oma aufwachen würde und sie sich befreien könnte, dann sollte sie lieber das Auto haben, um nach Hause zu fahren, dachte Tara. Außerdem kam sie zurzeit über keine Straße, denn alle Autos standen hupend im Stau. Natürlich, sie wollten ja alle den Platz verlassen! Deswegen lief sie an ihnen vorbei. Sie musste nur irgendwie zum nächsten Flughafen kommen und nach Berlin fliegen. Zu dem Haus ihrer Eltern oder zu Devins Wohnung, dachte sie hoffnungsvoll. Sie bekam natürlich Gewissensbisse, weil sie ihre Oma geschubst hatte. Devin würde vermutlich lachen, aber ihre Eltern würden vielleicht sauer sein.

2. Angemessene Vorbereitung

Tara entschied sich, nicht über die Autobahnen zu laufen und nicht durch überfüllte Städte zu gehen. Alles, was sie dort sehen konnte, waren Menschen im absoluten Ausnahmezustand, die in Panik gerieten, die Scheiben einschlugen, schrien, raubten, die einander für eine Packung Nudeln umbringen würden. Diese irren Beißer hatten sich in Habsheim getummelt und griffen auch hier Leute an, aber in Massen. Tara wollte gerade nach dem Weg in einem Kiosk fragen, da richtete der Besitzer eine Schusswaffe auf sie und sagte ihr, sie solle verschwinden. Sofort wich sie aus und rannte weiter. Dabei beobachtete sie, wie diese Biester von überall her in die Stadt kamen und über jeden Menschen herfielen, den sie in die Finger bekamen. Sogar Kinder! Tara schüttelte den Kopf. Mit das Schlimmste war das tosende Geräusch der Schreie. Der Ernstfall war ausgebrochen und alle verloren ihren Verstand, bewarfen die Monster, schrien vor Angst und Panik, töteten sich gegenseitig. Tara bekam mit, wie ein paar kleine, weinende Kinder verzweifelt nach ihren Eltern suchten. Doch keiner antwortete ihnen. Tara wurde auch schon von der Masse weitergedrängt, ohne dass sie ihnen helfen konnte. Es war furchtbar!

Die Autos standen auf allen Straßen im Stau, weil die Menschen so verzweifelt versuchten, vor den Monstern zu fliehen, doch sie konnten nicht. Zwei Militärhubschrauber drehten sich am Himmel. Tara sah Feuer und hörte durchgängiges Kreischen. Es war ein einziges Chaos. Nichts war mehr so unsicher, wie sich in der Nähe von diesem Wahnsinn aufzuhalten. Daher entschied sie sich für den Wald in Richtung deutsch-französischer Grenze.

Der Weg zum Wald war zwar steil, aber sie konnte auch sicher sein, dass die Monster vom Lärm der Stadt angezogen wurden. Kaum hatte sie den Waldrand erreicht, schmerzten ihre Waden, doch sie zwang sich, weiterzugehen. Im Schatten der Laubbäume war es angenehm ruhig und kühl. Der Boden unter ihren Füßen war federnd und so folgte sie einem kleinen Wanderweg in der Hoffnung, in Richtung der Grenze zu laufen, ohne die Straße benutzen zu müssen, wo diese Verrückten ihr Unwesen trieben. Obwohl sie nicht mal lief, sondern nur ging, war sie nach einigen Stunden völlig aus der Puste. Schnaufend bereute sie es, sich nicht im Fitnessstudio angemeldet zu haben wie all ihre Freundinnen zu Beginn des Jahres. Tara setzte sich auf einen Stein und nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Weil sie nie dick war, musste sie nie zum Sport gehen, nie joggen und sich nie für irgendwas in der Richtung interessieren. Auch wollte sie nicht wie Devin Handball oder Tennis wie ihre Mutter spielen. Dafür fehlte ihr einfach das Interesse. Das hatte sie jetzt davon: Aus der Puste sein vom Wandern, obwohl auch hier diese ekelhaften, beißenden Dinger herumlaufen konnten. Sie massierte ihre krampfenden Waden. Der Gedanke an den Flughafen und die Grenze motivierte sie, es noch ein paar weitere Stunden auszuhalten.

Als es dunkel wurde, suchte sich Tara einen großen Baum, auf den sie klettern konnte. Sicherlich war es auf dem Boden nicht mehr sicher zu schlafen. Klettern konnten diese Biester nicht, wie sie es auf dem Campingplatz festgestellt hatte. Eine Eiche war so glücklich gewachsen, dass sie keine große Mühe aufbringen musste, von seinem Stamm in die Krone zu gelangen. Auch bot er große, stabile Äste, sodass sich Tara einen aussuchen konnte, auf dem sie sich festbinden konnte, wie sie es irgendwann einmal im Fernsehen gesehen hatte. Nachdem sie ihren Rucksack an einen anderen Ast gehängt hatte, nahm sie ihr Seil und fixierte ihre Beine und ihren Oberkörper fest am Ast und am Stamm, sodass sie nicht herunterfallen konnte, wenn sie eingeschlafen war. Seufzend schloss sie ihre Augen. Sicherlich würden sie diesen Angriff in Frankreich in den Nachrichten bringen, dachte sie, und sofort schoss ihr das Bild von Devin in den Kopf, wie er sich Sorgen machte. Das wollte sie nicht. Allerdings waren die beißenden Menschen wirklich ein Grund zur Beunruhigung.

In der Nacht wurde sie sehr oft wach. Ein fester Schlaf war wohl bei einem solchen Ausnahmezustand, angebunden an einen Baum in einem dunklen Wald, nicht zu erwarten. Einmal sogar glaubte sie, Menschen unter sich zu hören. Doch bei ihren knurrenden und stöhnenden Geräuschen war klar, dass es die Monster waren, die sich in Richtung Stadt aufmachten. Sie schätzte ihre Zahl auf siebzig bis hundert. Tara fühlte sich wie festgefroren und wagte es kaum, ihren Kopf zu bewegen, um sich das Geschehen von Nahem anzusehen. Ihr Herz überschlug sich und der Angstschweiß lief ihr über das Gesicht. Zu ihrem großen Glück bemerkte sie kein einziger von ihnen. Hier oben war sie sicher. Wenigstens für eine ganze Nacht.

Am nächsten Morgen wachte sie auf dem Ast auf und starrte in die Sonnenstrahlen, die langsam durch einige Eichenblätter drangen. Was war nur aus der Stadt geworden? Tara dachte an einen der unzähligen Zombiefilme, die unheimlich und extrem spannend waren, in denen Untote durch die Städte zogen und Menschen fraßen mit ihren spitzen, ekelhaften Zähnen. Sie griffen nach ihnen mit ihren langen, zerfetzten Armen, stöhnten wie sterbende Tiere und kannten keine Gnade. Auch wenn sie sich nur langsam fortbewegten, so machte es ihnen doch gar nichts aus, wenn man sie verletzte. Konnte es sein, dass diese Filme wahr geworden waren? Es kam ihr sehr albern vor, das zu glauben. Ob das eine Art von Parasit oder Virus war, dachte sie, der die Menschen befallen hatte? Ihr ging das Bild ihrer Großmutter nicht aus dem Kopf, wie sie auf sie zukam und nach Taras Arm langte. Papierartige Haut, weiße Augen. Es lief ihr kalt den Rücken herunter. Sie durfte nicht mehr daran denken. Schnell löste sie ihren Knoten und wickelte das Seil auf, packte ihren Rucksack, trank einen Schluck und verließ den Baum. Ihre Beine spürten einen ordentlichen Muskelkater, mit dem sie den ganzen Tag weiterwandern musste. Zum Flughafen, dachte sie, und dann nach Hause!

Tara folgte dem Waldweg und gelangte an einen kleinen Bach, der in der Sonne glitzerte. Sie überlegte, daraus zu trinken, um ihren Wasservorrat zu schonen, doch bei dem Anblick des trüben Wassers entschied sie sich dagegen. Am Vormittag kam sie zum Rand des Waldes und rannte auf der Autobahn über die Grenze. Doch hier bot sich ihr ein fremder Anblick. Zwar standen hier ein paar Autos, doch sie sah keine Menschen. Je näher sie kam, desto mehr stieg ihr der faulige Geruch von Leichen in die Nase. Als sie die Linie zwischen den Ländern passierte, entdeckte sie geöffnete Autotüren, eingeschlagene Fenster und Blut auf dem Asphalt, Knochen und ein paar Leichen, denn die Kreaturen mussten die Bahn der im Stau stehenden Fahrer schon gründlich gesäubert haben.

Statt sich weiter umzusehen, rannte sie über die Grenze und lief in den nächsten Wald. Erst am späten Nachmittag bot sich ihr ein Blick über Felder, einen Bauernhof und etwas weiter dahinter ein kleines Dorf mit einer Kirche in der Mitte. Tara zwang ihre erschöpften, unsportlichen Beine zum Hof, der allerdings völlig verlassen schien. Niemand arbeitete hier, kein Auto war zu sehen und die Eingangstür des Familienhauses war einfach offen gelassen worden. Auch wenn sie es für falsch hielt, in das Haus zu gehen und nach Essbarem zu suchen, trieb ihr Magen sie. Sie konnte ja Geld dalassen, rechtfertigte es eine Stimme in ihrem Kopf. Im Haus war es still. Viele Sachen lagen auf dem Boden, eine Packung Cornflakes war in der Küche verteilt, im Wohnzimmer waren Scheiben eingeschlagen, ein paar Stühle waren umgekippt. Sie ging zurück in die Küche und durchsuchte die Schränke. Beinahe alles war mitgenommen worden. Sie wollte ihre Wasserflasche am Hahn auffüllen, doch es kam kein Wasser. Das fand sie merkwürdig. Dann musste die Katastrophe in Habsheim wohl ein größeres Ausmaß an Problemen mit sich gezogen haben, als sie vermutet hatte, wenn schon die Wasserwerke die Trinkwasserversorgung in Deutschland gestoppt hatten. Kaum hatte sie ihre leere Flasche wieder verstaut, hörte sie ein leises Stöhnen, das sich näherte. Das Herz rutschte ihr in die Hose. Einer von denen war hier im Haus. Tara geriet in Panik, packte ihre Tasche und lief aus dem Bauernhaus. Doch ein junger Zwanzigjähriger, dem ein Ohr fehlte, stand direkt auf dem Hof. Er hatte sie erblickt. Blind vor Angst, stürmte sie wieder ins Haus und sah sich um. Instinktiv griff sie in die Besteckschublade und fand ein längeres Messer. Jetzt sah sie, wie sich der Junge langsam in die Küche schlich, seinen Kopf zu ihr drehte und sie mit seinen weißen Augen fixierte. Taras Herz überschlug sich, als sie sich gegen die Küchentheke presste und das Messer hochhielt. Sie schrie ihn an und sagte ihm, er solle verschwinden, doch er reagierte nicht. Stattdessen kam er auf sie zu, hob seine Arme, um sie zu greifen. Panisch wich sie nach hinten aus und fiel auf den Boden. Jetzt beugte sich dieses Monster über sie und begegnete ihr mit weit aufgerissenem Maul. Ehe sie sich versah, hatte es ihre Haare in seinen Händen und zog das Mädchen näher. Tara stemmte ihre Beine auf seine Schulter. Im nächsten Moment nahm sie ihr Messer und rammte es tief in das Auge des Monsters, in der Hoffnung, es könnte dann nichts mehr wahrnehmen. Überraschenderweise gaben seine Knochen nach und sie konnte die Klinge viel tiefer stecken, als sie erwartete hatte, als hätte sich die Konsistenz seiner Gliedmaßen geändert. Sie zog ihre Waffe wieder heraus und wollte sie ins nächste Auge stecken, doch das Ding fiel auf den Boden. Eilig trat sie es weg, dabei riss seine papierähnliche Haut und entblößte verfaulte Muskeln und schwarze Knochen. Ekelhaft, dachte Tara und musste sich stark konzentrieren, nicht schon wieder ihren Magen zu leeren. Sie putzte das Messer ab und atmete auf, als sie sich den armen Jungen auf dem Boden ansah, dem sie ins Gesicht gestochen hatte. Ihr erster Mord, hörte sie sich denken. Sie hatte es einfach so getan. Einfach jemanden getötet, ohne nachzudenken. Sicher würde das kein Einzelfall bleiben, denn Tara wusste, dass sich die Regeln jetzt geändert hatten. Die verwandelten Menschen waren eine Gefahr wie wilde Raubtiere und sie starben, wenn man ein Messer ins Auge stieß. Es kam ihr nicht nur schrecklich falsch vor, sondern war zudem auch ziemlich abartig.

Die Berlinerin fand erst ein angebrochenes Glas Gurken in einem der Schränke, was sie aber nicht anfasste. Schließlich wusste sie ja nicht, wer seine Finger hineingesteckt hatte und wie lange das Glas geöffnet war. Aber dann sah sie eine Dose Tomatensuppe, das einzig Essbare, das die Familie hiergelassen hatte. Tara öffnete die Dose, kippte den Inhalt in einen Topf und stellte ihn auf den Herd. Doch schon nach wenigen Minuten wurde ihr klar, dass der Strom nicht ging und sie die rote Suppe kalt aus dem Topf löffeln musste. Sie stellte die Dose zurück. Kaum zu glauben, dass sie sich vor einem Tag noch darüber beschwert hatte, dass die Küche in ihrem Wohnwagen zu klein war oder dass nicht genug Lebensmittel in den Kühlschrank passten. Tara dachte einen Moment über ihre Großmutter nach und ihr stießen Tränen in die Augen. Sie mochte gar nicht darüber nachdenken, wie der Tote auf der Straße zum Leben erwacht und einer von ihnen geworden war. Sie zwang sich, den Gedanken zu verdrängen. Schließlich musste sie jetzt in die Zukunft sehen und auch für dieses Problem eine Lösung oder in diesem Fall einen Flughafen finden. So verließ sie den Bauernhof.

Es war angenehm warm draußen, als sie auf den leeren Landstraßen entlangschlenderte. Sie kam am Ortsschild von Badenweiler vorbei, unter welchem ein Mann mit einem Pfeil im Kopf saß und in den blauen Himmel starrte. Er trug einen schwarzen Anzug und Schuhe einer teuren Marke. Sein Hemd war in Blut getränkt. Weil ihr der Anblick Gänsehaut bereitete, versuchte Tara, sich zusammenzureißen und weiterzugehen.

Das Dorf bestand aus kleinen Einfamilienhäusern, schmalen Straßen und gepflegten Gärten, aber keinen lebenden Einwohnern. Ein Hund bediente sich an den Innereien einer Frau, die auf dem Bürgersteig lag. Ein paar Straßen weiter fand sie einen umgekippten Feuerwehrwagen, tote Feuerwehrmänner und Soldaten. Auf der anderen Straßenseite hatten bunte Luftballons an einem Baum vor einem Haus Taras Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Schmerzvoll erinnerte sie sich daran, wie ihre Großmutter diese im Garten für Devins oder ihren Geburtstag befestigt hatte und dass die arme Frau jetzt im Wohnwagen eingesperrt war und einer von ihnen geworden war. Es war grauenvoll, dass die Normalität und die Realität für diese Leute einfach gestoppt hatten. Als die Mutter oder der Vater hier diese Ballons aufgehängt hatte, war das hier sicherlich das entfernteste Szenario, welches sie sich hätten vorstellen können. Niemand hatte doch mit so was gerechnet! Das war Science Fiction, Fantasy, aber nicht die Realität. Tara griff gedankenversunken nach einem rosafarbenen Ballon und im nächsten Moment drehte sich alles. Irgendwas schnappte zu. Ehe sie sich versah, hing sie kopfüber in einem Netz gefangen vom Baum herunter, der eben noch mit Luftballons geschmückt gewesen war. Verzweifelt versuchte sie, sich richtig herumzudrehen, doch ihr Fuß hing fest oder war verknotet. Sie sah nun verkehrt herum durch ein Netz auf die leeren Straßen von Badenweiler, denn sie war in eine Falle geraten. Aber konnten diese Monster Fallen basteln? Egal, ob sie es konnten oder nicht, Tara musste sich beeilen, damit sie nicht zum Zombieabendessen wurde. Verzweifelt wollte sie gerade nach dem Messer in ihrem Rucksack greifen, als plötzlich die Spitze eines Schwertes gegen ihre Kehle drückte. Vor Angst erstarrt, suchten ihre braunen Augen das Ende der Klinge. Dort stand ein rothaariger, hübscher Mann in einem schwarzen Hemd. Dieser neigte seinen Kopf skeptisch zur Seite. Er war vielleicht sieben oder acht Jahre älter als Tara selbst und auf seiner Nase saß eine schwarze Brille mit dickem Gestell. Er kam Tara von seinem Erscheinungsbild her nicht sehr böse vor. „Es ist kein Toter! Nur ein Mädchen“, hörte sie ihn altklug nach hinten rufen. Dabei schwang er sein Schwert und durchtrennte das Seil über ihrem Fuß. Schmerzvoll fiel Tara zu Boden.

Eine blonde Frau in seinem Alter verließ das Haus der gegenüberliegenden Straßenseite. Sie war in einer Jeans und einem weißen, blutverschmierten Hemd gekleidet, dessen Ärmel hochgekrempelt waren. Ihre blonden Haare waren zu einem Dutt gebunden und ihr Gesicht war außergewöhnlich schön, doch die Fremde wirkte streng auf Tara. „Ist okay“, sagte die Blonde, „Stell die Falle neu auf, Jens! Ich nehme sie mit hinein.“ Der Mann reichte der Journalistin seine Hand und zog sie hinauf, während die Frau sich neben ihn stellte. Noch bevor ihre großen, blauen Augen die Straße überprüfte, nickte sie zu dem Einfamilienhaus, aus welchem sie gekommen war. „Komm, Kleine! Draußen ist es zu gefährlich für dich.“

Anders als der Bauernhof war das Haus ziemlich intakt und machte einen ordentlichen, modernen und organisierten Eindruck. Dabei erstreckte sich die Wohnfläche auf zwei Etagen und in der sterilen, weißen Küche im Erdgeschoss waren kleine Tablets an den Wänden statt Schaltern angebracht, was sie an Devins Wohnung erinnerte. Es wirkte direkt heimisch auf Tara. Allerdings waren die Fenster mit Metallgittern versehen worden und auch hinter der Tür war ein ausfahrbares Metallrouleau. Da wollte aber jemand auf Nummer sicher gehen, dachte Tara verwundert.

An einem Küchenschank standen vier große vollgepackte Rucksäcke. Lange Schwerter in ihren Hüllen und Gürteln waren gegen die Küchentheke gelehnt worden. Es sah nach einem Aufbruch aus und Tara fragte sich, warum sie überhaupt noch hier waren. Die blonde Frau erklärte ihr: „Ich bin Lena. Er heißt Jens. Das ist sein Haus. Du hast Glück, dass du uns gefunden hast, denn wir waren gerade dabei, die letzten Sachen einzupacken und wollten uns für die Nacht verbarrikadieren. Komm, ich stell dir die anderen vor!“ Tara folgte Lena, die einen Kopf größer war als sie selbst, wortlos in das große Wohnzimmer. Hier saß ein Mädchen mit kurzen, blauen Haaren und einem Piercing in der Augenbraue neben einem Jungen auf einer schwarzen Ledercouch. Er hatte ein ziemlich mädchenhaftes Gesicht und war ebenfalls in der Lippe gepierct. „Dennis und Sina“, stellte Lena die beiden vor. Tara nickte grüßend: „Ich heiße Tara. Ich bin aus Berlin.“ Dennis und Sina nickten und lächelten sie kurz an. Sie wusste nicht, wie man sich in so einer Situation vorstellte. Es war ihr leicht unangenehm.

Der Junge verteilte recht trockene aber sehr sättigende Kekse, während Lena ein Paket Nudeln kochte und Tara sich wunderte, dass in diesem Haus sowohl das Wasser funktionierte als auch der Strom. Sie war froh, dass Lena ihr etwas zu trinken angeboten hatte, denn von alleine hätte sie sich nicht getraut zu fragen. Kaum hatte sie das zweite Glas aus dem Wasserhahn geleert, fuhren die Rouleaus herunter und das Licht schaltete sich von allein an.

Als das Haus verbarrikadiert war, saßen alle zusammen auf der großen Couch am Wohnzimmertisch. Tara hörte ihnen dabei zu, wie sie den nächsten Tag planten. Die kleine Gruppe wartete scheinbar seit einer Weile hier in diesem Haus, was so abgesichert war, dass sie noch nicht hatten fliehen müssen. Allerdings sollte das nur eine Übergangslösung sein, denn der eigentliche Plan war, sich mit ihren Freunden Darius, Adrian und Leslie in Schömberg zu treffen, damit sich dann alle gemeinsam zu einer sicheren Auffangstätte im Norden von Hamburg aufmachen konnten. Dabei hatten sie sich einige Tage Rückstand gegönnt, um nicht in das größte Chaos zu geraten, welches nach dem offiziellen Ausbruch überall geherrscht hatte. Tara entschuldigte sich und fragte, was mit dem offiziellen Ausbruch gemeint war, und Jens’ Stirn kräuselte sich. Auch die anderen tauschten einen ungläubigen Blick aus. Tara fügte schnell erklärend hinzu, dass sie einige Tage von der Außenwelt abgeschnitten gewesen war. Die Information stellte den Rothaarigen jedoch nicht zufrieden und er erklärte ihr skeptisch: „Na, als die Toten plötzlich aufgewacht sind, haben sie sich innerhalb kürzester Zeit im Land verteilt. Man vermutet, dass es etwa in Jena angefangen hat und jetzt sicher über die gesamte Welt verbreitet wurde.“ Tara schlug sich schockiert mit der Hand vor den Mund. „Es ist fast unmöglich, das nicht mitbekommen zu haben“, fügte er hinzu und in Tara drehte sich alles. Wenn sie von Jena hergekommen waren, so mussten sie sicher auch in Berlin gewesen sein, dachte sie und spürte, wie sie panisch wurde. Die anderen aber betrachteten sie beinahe gelangweilt. „Ja, als es noch ein Fernsehprogramm gab, hieß es erst, dass es nur ein paar Verrückte waren“, sagte Lena und reichte ihr eine Wolldecke, „Dann war es eine Art von Grippe, die sich schnell verbreitet. Aber dann hat ein Sprecher der Regierung verkündet, dass es sich um einen Ausbruch handelt und es nicht sicher ist, ob man ihn stoppen kann.“ Dennis teilte einen Keks und reichte seiner Freundin die Hälfte. Er spielte mit seinem Piercing und erklärte leicht genervt: „Wie auch immer, das letzte Mal haben wir vor ein paar Tagen Instruktionen von Darius bekommen. Dann ist das Netz zusammengebrochen und für Funkgeräte sind sie zu weit weg.“ Tara fiel auf, dass auch der Empfang ihres Handys erst gestört und schließlich ausgefallen war, wobei sie dem abgelegenen Campingplatz die Schuld gegeben hatte.

Die Gruppe war zu ihrer Überraschung bestens ausgerüstet, wie Tara verstand. Sie hatten Batterien, Kabelbinder, Waffen, Seile, Bücher, Schlafsäcke, Wasserfilterflaschen, Medipacks und noch vieles mehr. Außerdem hatten sie eine Karte von Deutschland, welche mit kleinen Post-its, bunten Klebepfeilen, Markierungen und Notizen versehen war. Dennis erklärte seiner Freundin noch mal, wie man eine Rauchbombe bastelte, und stritt dann mit Jens darüber, welche Zündschnur am besten geeignet sei. Tara war erstaunt über diese Leute, aber es war ihr auch peinlich, als sie erklären sollte, was sie in ihrem Rucksack hatte: Kleidung, eine Flasche, ein Seil sowie ein Messer und der Perso. Jens zog nur die Brauen hoch und wurde sarkastisch: „Wow, bist du suizidgefährdet?“ Lena lachte und Dennis verdrehte die Augen. „Da habt ihr ja die Richtige aufgenommen, meinen Glückwunsch!“ „Nein, wir machen nur Spaß, Tara“, sagte die blonde Lena, „Mach dir keinen Sorgen! Wir haben von allem genug.“ Leicht beschämt zog die Berlinerin ihre Knie an und hielt sie mit ihren Armen fest. „Wo habt ihr das ganze Zeug her?“ „Internet?“, erwiderte Jens überrascht, als wäre die Brünette auf den Kopf gefallen, „Da, wo man alles herbekommt?“ „Die liefern jetzt noch?“, fragte Tara verwirrt. Jens und Dennis waren sichtlich verwundert über diese scheinbare Dummheit. Dabei kam Tara die Frage berechtigt vor und sie war sich nicht sicher, was sie Falsches gesagt hatte. Auf der anderen Seite schienen diese Leute auch ziemliche Besserwisser zu sein, die alles für selbstverständlich hielten, was für andere Neuland war. Tara zwang sich daher, ruhig und freundlich zu bleiben, denn schließlich hatten diese Menschen sie in ihre Gruppe aufgenommen, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Jens atmete tief durch, als musste er sich zwingen, sich auf das niedrigste Niveau mit dem niedrigsten Bildungsstand zu begeben: „Hast du noch nie einen apokalyptischen Film gesehen?“ Tara erklärte, dass dies doch der Fall gewesen war. „Und du hast nie darüber nachgedacht, dass das möglicherweise mal passieren könnte?“, fragte Jens und alle starrten sie an. Sie wünschte, die könnten aufhören, so mit ihr zu reden, und zuckte hilflos mit den Schultern. „Irgendwie nicht“, murmelte sie. „Das war dann wohl eine Fehlannahme. Nur weil es ein Film ist, heißt das doch nicht, dass es nicht passieren könnte. Und wenn es einem doch sogar vorgemacht wird, welche Sachen man am besten in solchen Notsituationen haben sollte, warum kauft man sie dann nicht vorher?“, fragte er rhetorisch und altklug. Tara fand zwar, dass das ein ziemlich treffendes Argument war, aber sich vor dem Ausbruch mit irgendwas in der Art wirklich zu beschäftigen, war einfach mehr als nerdig. Das war schon fast Blödsinn, dachte sie.

Nicht für diese Leute. Sie hatten Waffen und Versorgung Monate, vielleicht Jahre vorher besorgt und jetzt war tatsächliche ihre Zeit gekommen. Dazu kam, dass sie Tara nicht nur für unbrauchbar, sondern scheinbar auch für ziemlich naiv hielten. In ihrem Kopf versuchte eine Stimme noch zu rechtfertigen, dass sie das nicht hätte wissen können, doch eine andere sagte etwas anderes. Als sie in einem Bett des Gästezimmers in der ersten Etage neben Lena lag, erzählte Tara ihr, dass sie in ein Flugzeug steigen werde, sobald sie einen Flughafen finden würde. Am besten in Stuttgart. „Du Arme“, meinte Lena mitleidig und streichelte Taras Haare, „Du hast das noch nicht verstanden, oder? Alle, die wir kennen, sind vermutlich gestorben. Die Flugzeuge und Züge funktionieren nicht mehr. Du kannst deine Familie nicht suchen, denn die sind entweder geflüchtet, tot oder gebissen worden.“ Tara brach direkt in Tränen aus. Lena nahm sie in den Arm. Das Mädchen spürte einen tiefen Schmerz in ihrer Brust, der alles zerriss.

Sie hätte es vielleicht nicht wissen können, aber sie hätte ihr perfektes Leben nicht für so selbstverständlich halten sollen. Tara hatte alles Denkbare gehabt: eine intakte, liebevolle Familie, den besten Bruder der Welt, ein riesiges Haus mit einem unvorstellbar schönen Garten, eine eigene Wohnung, einen Hund, ein bezahltes Studium, ein Auto, viele Urlaube, Freunde, Geld, Schmuck und es hatte ihr nie an etwas gefehlt. Hätte ihre Familie auch nur einen einzigen Tag darüber nachgedacht, das Haus zu sichern, für einen Schutz zu sorgen, einen Plan B zu machen, dann hätten sie eine gute Chance gehabt. Sie weinte, bis sie keine Luft mehr bekam. Lena umarmte sie, ohne etwas zu sagen. Hoffentlich, hoffentlich waren sie noch am Leben!

In der Nacht träumte sie von ihrer zerstörten Stadt, von ihrem Haus und der brennenden Firma ihrer Eltern, von ihrem Garten, der voller Monster war, und ihrem Hund, der tot auf dem Boden lag. Ihr Bruder war aufgeschlitzt und Tote waren über ihm gebeugt. Als sie am Morgen aufwachte, merkte sie, dass ihre Wangen nass waren. Sie wischte sich das Gesicht ab, schaltete ihr Handy an und suchte ein Bild ihres Bruders heraus. Weinend betrachtete sie sein strahlendes Gesicht, seine braunen Haare und seine breiten Schultern, bevor sich das Smartphone aufgrund des leeren Akkus von allein ausschaltete. Tara starrte an die Decke.

Ihr blieb ab jetzt keine andere Wahl, als sich zusammenzureißen. Sie konnte nicht schwach sein. Das würden weder ihre Eltern noch Devin wollen. Außerdem würde es die Gruppe belasten, die von ihr eh nicht sonderlich angetan war. Der Ausbruch war jetzt die Realität und sie musste sich zwingen, das zu akzeptieren und das Beste draus zu machen. Auch die anderen hatten schließlich ihre Angehörigen verloren. Aber die weinten nicht, dachte Tara und stand auf.

Nachdem jeder duschen war und es eine Kleinigkeit zum Frühstück gab, machten sie sich auf. Jeder bekam einen großen Rucksack aufgesetzt, außer Tara. Für sie war keiner übrig, weswegen sie mit ihrem eigenen laufen durfte. Dennis machte eine Bemerkung, dass sie eh nicht mehr tragen könnte, und es ging los. Jens warf einen letzten Blick auf sein eigenes Haus, nickte und schloss es ab.

3. Feuer

Sie wanderten den ganzen Tag lang durch den Wald. Jens und Lena unterhielten sich leise, aber die anderen schwiegen die meiste Zeit. Taras Füße und Beine brannten, doch sie traute sich nicht, nach einer Pause zu fragen. Sie hatte ihre langen, braunen Haare zu einem Zopf zusammengebunden, denn sie hatte keine Möglichkeit gehabt, ihre Haare mit Damenshampoo in Jens’ Dusche zu waschen. Vermutlich würde es noch eine Weile dauern, bis sie wieder auf Shampoo oder Conditioner treffen würde.

Ihr kamen immer wieder die Tränen, wenn sie an ihre Familie dachte, allerdings schaffte sie es ganz gut, diese herunterzuschlucken, wofür sie dankbar war. Sie wollte mutig sein, dachte sie ehrgeizig.

Erst am Abend gegen neun bauten sie ein Camp zwischen den Tannen auf. Nachts zu laufen sei zu unsicher, erklärte Jens. Er beauftragte Sina und Lena mit der Konstruktion eines Sichtschutzes, Tara mit dem Feuer, während er zusammen mit Dennis Fallen aufstellte. Die Dynamik des Teams war beeindruckend. Jeder schien wie selbstverständlich zu wissen, wie man die Aufgaben höchst organisiert und effizient erledigte. Jens selbst schnürte in einem Abstand von zehn Metern Nylonfäden von Baum zum Baum um das Camp herum und hing kleine Glöckchen an das Band, sodass jeder gehört werden konnte, der sich der Gruppe nähern wollte. Dennis hing weitere Fallen auf und testete sie jeweils zweimal, bis er die nächste aufstellte.

Taras Aufgabe war es, ein Feuer zu machen. Dafür suchte sie sich trockene Stöcke zusammen und stapelte sie. Dann nahm sie einen dünnen Stock und rieb ihn zwischen ihren Händen, wobei sie die Spitze des Stocks auf das Holz presste. „Manchmal frage ich mich, ob dir blond nicht besser stehen würde als dunkelbraun“, sagte der rothaarige Jens belustigt und sein Freund lachte. „Willst du den ganzen Wald anzünden, Tara?“, fragte Dennis und setzte sich auf den Boden neben sie. Natürlich hatte sie es nicht richtig gemacht! Die Jungs gruben darauf ein zehn Zentimeter tiefes Loch und legten die Stöcke hinein. Mit Alufolie verkleideten sie es und legten um den Rand große Steine. Dann nahm Jens ein Feuerzeug, zündete Papierschnipsel an und warf sie auf die Hölzer. Tara kam sich dämlich vor, aber immerhin hatte sie es versucht.

Am Abend saßen sie um das Feuer herum und erzählten Tara, was sie vor dem Ausbruch gemacht hatten. Jens hatte eine Ausbildung zum Programmierer gemacht und hatte jetzt seine eigene IT-Firma. Tara musste zugeben, dass sie nicht ganz verstanden hatte, was er genau machte. Lena hingegen war Lehrerin für Geschichte, Philosophie und Pädagogik an einem Gymnasium. Sie und Jens kannten sich schon seit etlichen Jahren und waren beste Freunde. Lena war frisch verheiratet, aber ihr Mann hatte nicht mal den ersten Tag überlebt, als die Toten in ihre Stadt kamen. Dennis und Sina waren beide fast dreißig und arbeiteten an Sozialprojekten mit Jugendlichen. Jens und Lena waren zweiunddreißig. Mit ihren vierundzwanzig Jahren war Tara das Küken der Gruppe. Gerade wollte Sina etwas über ihre Arbeit sagen, da hörten sie eine Glocke klingeln.

Ohne zu zögern, standen sie auf und griffen nach ihren Waffen. Tara holte ihr Messer aus ihrem Rucksack, als sie schon hörte, wie sich das Grölen näherte. Etwa dreißig von den Toten hatten das Lager umzingelt und näherten sich mit ihren hungrigen Augen. Jens und Dennis stürmten auf sie zu und schnitten den Ersten die Köpfe ab. Lena stach einem mit ihrem Schwert ins Auge und Sina durchtrennte einen Schädel vertikal. Tara stand nutzlos und wie angewurzelt im dunklen Wald und hoffte, dass keiner auf sie zukam. Es dauerte eine Weile, da hatten sich die anderen im Wald verteilt, um sich den restlichen Toten zu stellen. Sie sollte ebenfalls auf die Monster zugehen und sie angreifen, aber stattdessen war sie vor Angst wie erstarrt. Einer der Toten hatte sie schließlich erblickt und schlich zu ihr herüber. Er hatte eine schwarzgraue Haut und dunkle Rastalocken. Zitternd spürte Tara, wie sie Gänsehaut bekam und es ihr kalt den Rücken herunterlief. Erst als er einen Meter von ihr entfernt war, konnte sie sich zwingen, einen Schritt zu machen. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter und zog die Klinge eilig durch seine Kehle. In den Kopf oder den Kopf ab lautete die Regel, nach der dieses Spiel hier gespielt wurde. Noch während ihr das Blut in den Kopf spritzte, fiel der Mann zu Boden.

„Das war’s!“, rief Lena aus dem Wald. Tara atmete erleichtert auf. Sie fragte sich, ob das irgendwann einfacher wurde. „Wo sind Sina und Dennis?“, fragte Jens und wischte sich mit seiner verschmierten Hand Blut aus dem Gesicht, was nicht wirklich half. Lena zuckte mit den Schultern und tauschte einen Blick mit ihrem besten Freund aus. Dann packten sie schnell die Rucksäcke zusammen, während Jens und Tara vorsichtig über die Leichen stiegen.

Etwas weiter von Camp entfernt konnte man ein leises Schluchzen vernehmen. Sie näherten sich dem Geräusch und sahen die beiden neben einer Tanne. Sina lag im Dunkeln auf dem Boden und ihr Schwert ein paar Meter weiter. Blut strömte aus ihrem Bauch über ihren Körper. Tara hielt ihre Hand vor den Mund. Sina war gebissen worden. Dennis kniete sich neben sie und begann zu weinen. Sina hob ihre Hand mit letzter Kraft und streichelte durch sein Gesicht. Dann fiel ihr Arm herunter und sie schloss ihre Augen. Es war vorbei. Dennis zog sein Schwert und trennte ihr mit einem Schlag den Kopf von den Schultern. Das würde sie davon abhalten, einer von ihnen zu werden, erklärte Lena traurig. Jens ging zu ihm und zog ihn hoch. Dennis schluchzte laut und bedeckte sein Gesicht, während Tara schweigend die Schwerter einsammelte und sie sich mit Lena aufmachten. Sinas Freund weinte die ganze Nacht lang und fast den ganzen Morgen. Niemand sagte irgendein Wort. Keiner versuchte, ihn zu trösten. Für so was gab es einfach keine tröstenden Worte, die Sinn machten, dachte Tara. Sie brach beinahe unter der Last von Sinas Rucksack zusammen, in welchen auch ihre Sachen gestopft worden waren. Tara biss die Zähne zusammen, denn auch heute wanderte die Gruppe den ganzen Tag lang durch den Wald.

4. Beförderung

Jens und Lena unterhielten sich viel. Oft so intensiv, dass sie alles andere um sich herum vergaßen. Auch ließen sie meist keine anderen an ihrer Diskussion teilhaben, was allerdings auch nicht nötig war, denn die beiden sprachen über sehr spezielle Themen in einem solch ernsten Ton, dass kaum einer etwas dazu beitragen konnte. Manchmal wusste Tara nicht mal, worüber sie überhaupt redeten. Jens und Lena waren nicht nur beste Freunde, sondern wie füreinander geschaffen. Das hatte auch den Vorteil, dass man, wenn man zu fertig war vom Tag, um zu reden, einfach nur ihren Streitigkeiten und ihrem Ideenrausch zu folgen brauchte.

Die Themenvielfalt war massiv: Staatsformen, Abwasserkanalsysteme, Geschichte, Baukunst oder einfach nur, wie man Strom erzeugen konnte. Die beiden diskutierten sich tot! Jens war sehr gut auf der naturwissenschaftlichen Ebene, während Lena viel aus Pädagogik und Philosophie lieferte. Eines Abends zum Beispiel saßen sie um das Lagerfeuer herum und hörte ihnen dabei zu, wie sie über Platons Vorstellung der Seele redeten. Lena spielte mit ihren Fingern an ihren blonden Haaren und erzählte, dass sie eine Unterrichtsreihe mit ihrer Klasse vor dem Ausbruch begonnen hatte. Nach Platon – einer der bedeutendsten Philosophen der Weltgeschichte – teilte sich die menschliche Seele in die Begierde, den Mut und die Vernunft. „Daraus entstehen die drei Tugenden: Mäßigung, Tapferkeit und Weisheit. Bei einer gesunden Seele herrscht die Vernunft über den Mut und beide über die Begierde.“ Genauso sollte auch ein idealer Staat aufgebaut werden: Eine kleine Elite weiser Menschen herrschten über die mutigen Wächter, welche den Staat verteidigten, und über das Volk, der den begehrenden Teil repräsentierte. Nur wenn das gegeben wäre, könnte es zur vierten Tugend – der Gerechtigkeit – kommen. Dabei soll jeder einzelne Bürger den Platz einnehmen, für den er am besten gemacht wäre. „Das hört sich nicht sehr demokratisch an“, gab Jens zu und biss in einen Müsliriegel. „Platon war ja auch der Meinung, nicht jeder hätte das Zeug dazu, zu wissen, was das Beste für den Staat ist“, entgegnete Lena, „Nur wenige wären fähig, vernünftige und richtige Entscheidungen zu treffen und könnten Einsicht in die Idee des Guten bekommen. Für einen wahrhaften gerechten Staat bräuchte es Menschen, die sich das zum obersten Ziel machen würden.“ Tara fand es unheimlich interessant und unterhaltsam, Lena zuzuhören, zumal es das Internet oder das Fernsehen wohl erst mal nicht mehr gab. Wenn sie sich nur nicht immer so dumm dabei vorkommen würde, hätte sie gerne Fragen gestellt. „Wie jetzt? Und das findest du gut, oder was?“, lächelte Dennis angriffslustig und setzte sich in einen Schneidersitz. Lena beugte sich zum Feuer und wärmte ihre Hände. „Na ja“, sagte sie, „Ich finde schon, dass er einen ziemlich guten Punkt hat, dass nur jemand ein Volk anführen sollte, der gerecht ist und nur das Beste für sein Volk will.“ Dennis spielte mit seinem Piercing und grinste: „Du kannst doch nicht die Demokratie infrage stellen.“ „Erst mal sollte man alles infrage stellen“, brachte sich Jens ein. „Ich will es dir anders erklären, Dennis“, diskutierte Lena, „Ich rede ja nicht von einem einstigen Staat der alten Welt. Da würde ich dir direkt recht geben. Aber es geht hier um etwas anderes. Wir stellen uns vor, dass wir hier in dieser Welt einen neuen Staat gründen, ja? Und unser Ziel ist es – das absolut oberste Ziel meine ich – einen gerechten Staat aufzubauen. Stell dir vor, du würdest ein Unternehmen neu gründen! Würdest du deine Mitarbeiter jede einzelne Entscheidung über das Aussehen der Firma, das Firmenlogo, den Produktionsplan, den Absatz und was weiß ich nicht alles treffen lassen, dann würdest du sicher sehr lange dafür brauchen. Ihr kämt sicher nicht wirklich auf einen grünen Zweig. Wenn aber ein Unternehmer sich zum obersten Ziel machen würde, den Gewinn zu maximieren, statt auf die einzelnen Extrawünsche der Mitarbeiter einzugehen, denkst du dann nicht, dass er dann eher den Gewinn maximieren könnte als im ersten Fall?“ Dennis nickte und Lena fuhr fort: „Wenn man sich also vorstellt, dass es einen Herrscher gibt, der vernünftig ist und wirklich die Gerechtigkeit in seinem Land maximieren will, solange wie er es aufbaut, wird er das eher erreichen, als wenn er für jede Entscheidung das Volk zusammenruft. Sicherlich muss der Herrscher im Auge behalten werden, ohne Zweifel. Auch muss es eine Verfassung geben, wonach er direkt abgesetzt werden könnte, sobald er gegen sie verstößt, aber trotzdem ist dann sichergestellt, dass sich wirkliche Profis um die Gerechtigkeit sorgen, oder nicht?“ Dennis zuckte mit den Schultern: „Aber darf das Volk sich den Herrscher aussuchen?“ „Ja, an sich ja … aber es darf keiner sein, der machtbesessen ist und einfach nur herrschen will, weil das Spaß macht, weißt du? Meiner Meinung nach sollte es Charaktertests geben, Prüfungen und Ähnliches für Kandidaten, welche gewählt werden wollen, damit es niemals zu einer Tyrannei kommen kann. Aber mein Punkt ist, dass erst mal das Unternehmen stehen muss, bevor sich der Unternehmer den Luxus erlauben kann, auf einzelne Wünsche des Volks einzugehen.“ „Also eine Aristokratie mit demokratischen Grundzügen?“, fragte Jens neugierig. „So kann man es wohl sagen“, gähnte Lena müde. Dennis nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche. „So hört sich das schon ganz anders an“, meinte er.

Und so diskutierten Jens und Lena den gesamten Tag lang. Auch wenn Tara ihnen schrecklich gerne zuhörte, so wurden aber die Nächte immer schrecklicher. Der Waldboden war auf Dauer unangenehm hart und man konnte nicht sagen, dass die Schlafsäcke allein ausreichten, um sich vor Kälte zu schützen. Zudem hatte Tara das Gefühl, jede halbe Stunde aufzuwachen. Sie hatte Angst davor, einzuschlafen und nicht bereit zu sein, wegzulaufen. Auch mochte Dennis sie nicht sonderlich, vor allem weil Tara viel Hilfe benötigte und noch viel lernen musste. Sie versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen, was nicht einfach war, wenn sie wanderten.

Oft erzählte die Gruppe von den anderen in Schömberg. Darius und Adrian waren sehr gute Freunde von ihnen. Sie wohnten im Ruhrgebiet, waren aber zur Zeit des Ausbruchs zu Besuch bei Leslie, einer weiteren Freundin. Schon in ein paar Tagen würden sie auf sie stoßen, hatte die blonde Lena ihr erklärt. Tara fragte sich, wie die wohl drauf waren. Schließlich würden diese Leute für eine Weile so etwas wie ihre Familie sein. Tara seufzte. Sie vermisste ihre echte Familie unermesslich und es fiel ihr sehr schwer, das für sich zu behalten, auch wenn sie es wirklich jede Sekunde versuchte.

Am nächsten Tag erklärte Jens in erster Linie Lena, wie Solarzellen funktionierten und wie sich die Atome in einer Zelle verhielten. Tara musste zugeben, dass es anstrengend war, ihm zu folgen, auch wenn die Firma ihres Vaters Solaranlagen verkaufte und installierte. Aber damit hatte sie ja nichts zu tun. Zudem war sie schrecklich müde. „Ich dachte, dass das Wechselstrom wäre“, meinte Lena. Jens lachte: „Ja, das war wohl eine Fehlan …“

Diesmal aber wurde er unterbrochen von einem Schrei. Sie hörten schnelle Schritte und sahen einen jungen Mann durch den Wald laufen. Er kam auf sie zu, war vielleicht etwas kleiner als Jens, hatte ein hübsches Gesicht und kurze hellbraune Haare. Während er um sein Leben lief, schrie er panisch: „LAUFT!“ Und die Gruppe hörte auf seinen Rat. Sie rannten, so schnell sie konnten, einen Waldweg entlang. Tara dachte, sie müsste unter dem Gewicht ihres Rucksacks sterben. Es dauerte nicht lange, da standen sie plötzlich an einem Abhang und hörten die Toten hinter sich grölen. Vor ihnen war ein Steinbruch, der sicher zehn Meter tief war. Der junge Mann sah sich um und rutschte den Steinabhang hinunter. Dennis, Jens und Lena taten es ihm gleich, doch Tara traute sich nicht. „Spring!“, „Spring einfach!“ und „Sie tut’s nicht“, hörte sie von unten. Die Geräusche wurden immer lauter. Tara biss sich auf die Lippe und sah noch mal hinunter. Jetzt bot sich ihr die Wahl, zu springen oder gebissen zu werden. Sie schloss die Augen, atmete tief durch, nahm ihren Mut zusammen und rutschte ebenfalls den steinigen Abhang hinunter. Schmerzvoll überschlug sie sich mehrere Male, bis ihr schließlich schwarz vor Augen wurde.

Als sie aufwachte, war sie immer noch im Steinbruch, aber weit und breit waren keine Toten zu sehen. Ihre Gruppe aß vom Proviant des Neuen ein paar Meter weiter. Sie unterhielten sich mit dem Jungen, dessen Name Phil war. Er erzählte, dass er ein Altenpfleger sei und dass er mit seinem Kumpel Thomas aus München geflohen war. Dabei hatte er zwei andere kennengelernt, die wohl noch in der Nähe sein mussten. Thomas hatten die Toten kurz vor dem Steinbruch erwischt. „Dabei haben wir einfach nur Wasser suchen wollen“, erklärte Phil niedergeschlagen. Das war wohl etwas, woran man sich gewöhnen musste. Bevor ihr der Gedanke an ihre Familie hochkam, richtete sich Tara langsam auf und die anderen sahen zu ihr. Ihr Bein war leicht verletzt, was sie durch ihre Jeans am Knie sehen konnte, weil diese dort aufgerissen war. Allerdings war es wohl verbunden worden. Phil kam zu ihr und sah sich ihr Gesicht und ihre Wunde an. „Wie fühlst du dich?“ Tara lächelte: „Könnte schlimmer sein!“ „Ja, du hast dir eine ordentliche Wunde zugezogen, als du den Abhang heruntergefallen bist.“ Er reichte ihr einen Schokoriegel und erklärte: „Wir haben nicht mehr viel Vorrat. Aber der wird dir sicher gut tun!“ Tara bedankte sich bei ihm und die Gruppe brach langsam wieder auf. Scheinbar hatte nur Taras Ohnmacht sie davon abgehalten, weiterzuziehen. Phil erzählte von Thomas, der Medizin studiert hatte. Jens und Lena sahen sich enttäuscht an. Er sagte, dass Thomas sein bester Freund gewesen war und dass sie in einer WG gewohnt hatten. Er tat Tara fürchterlich leid.

Auf Phils Freunde Can und Cihan trafen sie gegen Abend im Wald. Sie hatten beide in einem Zelt gewohnt, was sie aber zurücklassen mussten. Beide waren Mitte zwanzig und frisch verheiratet. Can hatte schwarzes Haar und war sehr schlaksig, während Cihan ein schönes Gesicht hatte und ein blaues Kopftuch trug. Ähnlich wie Tara hatte sie eine sehr zierliche Figur. Besonders gefielen Tara ihre großen dunklen Augen, welche einnehmend aber auch sehr abweisend wirkten. Während die anderen das Camp aufbauten und sich für die Nacht bereit machten, hatten Can und Jens einen Hasen gefangen, den sie über dem Feuer grillen wollten.

Dennis und Lena erzählten Phil und seinen Freunden von der Fluchtstätte in Hamburg und überredeten sie, sich mit ihnen auf den Weg zu machen. Die anderen waren dankbar um jeden Plan, denn alles war besser für sie, als sich hier im Wald zu verkriechen. Die Fluchtstätte bot wenigstens eine vernünftige Versorgung und vielleicht sogar Hoffnung auf ein Bett mit einer Matratze, so lange bis der Normalzustand wieder hergestellt werden konnte. Jens erklärte ihnen, dass sie kurz nach dem Ausbruch davon gehört hatten und dass sie sich mit Freunden nördlich von hier verabredet hatten, nach Hamburg zu ziehen.

„Weißt du, was geil wäre?“, begann Jens, fuhr sich durch seine roten Haare und sah in den Nachthimmel. „Sag’s mir einfach“, entgegnete Lena erschöpft und drehte das Fleisch im Feuer. „Wenn wir einen Maurer hätten“, behauptete Jens, ohne sich von Lenas Unmut beeinflussen zu lassen. Seine Freundin lächelte zustimmend: „Ja, das wäre wirklich toll.“ Beide vertieften sich erneut in eine Diskussion darüber, wie sie an einen Maurer kommen könnten, und waren beschäftigt. Phil stocherte in den Flammen herum und versuchte, Tara in ein Gespräch zu verwickeln, doch ihr war nicht danach. Sie fühlte sich schlecht, weil sie es schon wieder geschafft hatte, sich zum Außenseiter der Gruppe zu degradieren, als sie erzählt hatte, dass sie kein Fleisch aß. Jeden Tag aufs Neue, dachte sie. Deprimiert legte sie sich auf ihren Schlafsack und starrte auf den mit Stöcken errichteten Sichtschutz. Ein paar Tränen liefen ihr über das Gesicht. Ihr war natürlich klar, dass es ein Unterschied war, ob man mit Fleischkonsum die Massentierhaltung unterstützte oder versuchte, sich nach einer Apokalypse am Leben zu halten. Trotzdem fiel ihr der Gedanke schwer.

Bevor sie am nächsten Tag aufbrachen, sah sich Phil Taras Bein an. „Die Wunde wird gut heilen. Gut, dass wir sie von Anfang an gesäubert und die verschobene Haut wieder an ihre alte Stelle gebracht haben, sonst hätte sie sich mit Sicherheit entzündet und es würde auch nicht so schnell heilen. Aber ich gebe dir noch einen neuen Verband.“ Dann stand er auf und Jens reichte ihm die Hand: „Glückwunsch! Sie wurden soeben zum Teamarzt befördert.“ Erfreut schob Jens seine Brille zurecht und schüttelte Phils Hand, während dieser leicht rot wurde.

5. Nicht allein

Einige Tage, nachdem sie Phil und seine Gruppe gefunden hatten, trafen sie im Wald auf ein altes Anwesen, das laut Namensschild mal einem Arzt gehört hatte. Es folgte ein großer Garten nach einer beeindruckenden Einfahrt. Die kleine Gruppe bestieg das Grundstück durch einen Eisenzaun. Tara lief ihnen als Letzte hinterher. Die Familie, die hier gewohnt hatte, war längst geflohen, denn die Garage stand offen und es fehlten Autos. Jens erklärte, dass dies das Haus von Leslies Familie war. „Sie wird sicher auf uns gewartet haben“, vermutete Lena, band ihre blonden Haare in einen Zopf und erklärte, dass die Gruppe von ihr, Dennis, Sina, Jens, Adrian, Darius und Leslie schon lange befreundet gewesen war, sie viele Urlaube miteinander verbracht und schließlich trotz der Entfernung ihrer Wohnorte einen sehr guten und engen Kontakt gepflegt hatten.

Can schlug im Erdgeschoss ein Fenster ein und sie warteten eine Weile, ob Tote von dem Geräusch angezogen wurden oder nicht. Doch es kam keiner, weswegen sie über das Fenster ins Haus kletterten. „Hier werden wir Darius antreffen“, erklärte Jens zufrieden und ließ sich auf ein großes Sofa in dem teuer und stilvoll eingerichteten Wohnzimmer fallen. Tara beobachtete ein paar ausgestopfte Tiere an der Wand, während sich die anderen im Haus umsahen. Ihr fiel Dennis’ Gehässigkeit über ihre Einstellung zu Tieren wieder ein. Sie wünschte einfach, dass er sie in Ruhe lassen könnte. Schließlich hatte sie ihm nichts getan. Lena staunte, als sie sich umsah: „Wäre ich mal lieber Arzt geworden!“ „Du hättest den Patienten sicher totdiskutiert, noch bevor die Krankheit ihn gekillt hätte“, antwortete Jens trocken. Lena lachte und suchte sich eine frische, blaue Bluse aus dem Kleiderschrank von Leslies Mutter. Die Lehrerin hatte einen recht weiblichen und dennoch sportlichen Körper. Zudem gefiel Tara ihre aufrechte, selbstbewusste Körperhaltung. Sie fand, dass der Blondine die Bluse stand. Die Berlinerin dachte darüber nach, sich auch neue Kleidung zu suchen, doch sie wollte sich nicht wieder etwas anhören müssen. Außerdem kannte sie Leslie nicht gut genug, um sich an den Sachen ihrer Mutter zu bedienen.

Die anderen wunderten sich, wo die drei waren, auf die sie warteten. Als die große Bibliothek im Arbeitszimmer neben dem Wohnzimmer als letzter Raum erkundet worden war, stieg Phil auf eine Leiter und sah sich ein paar Bücherreihen an, während Can und Jens einige Dosen Ravioli öffneten. Cihan und Tara saßen auf dem Sofa und warteten. Lena und Dennis hielten unterdessen Wache, indem sie aus dem Fenster starrten. „Sie sind sicher bald hier“, murmelte Lena. Dennis nickte und spielte ungeduldig mit seinem Piercing.

Das Essen verlief ruhig. Tara hatte sich daran gewöhnt, nichts mehr zu sagen, außer wenn sie was gefragt wurde. Sie merkte, dass sie nicht sonderlich beliebt war, und hielt sich daher einfach zurück. Allerdings merkte sie auch, dass sich Jens, Lena und Dennis vermehrt Sorgen um Leslie, Darius und Adrian machten, die längst hätten auftauchen müssen. Tara hoffte für sie, dass ihre Freunde unversehrt waren.

Nach dem Abendessen saß Phil in einem großen Sessel im Wohnzimmer und las ein Medizinbuch. Cihan und Can spielten ein Brettspiel, während Dennis am Fenster saß und in die Dunkelheit blickte. Jens und Lena waren in eine Diskussion über fiktive Städtenamen oder so ähnlich vertieft. Während Jens’ Augen immer wieder zu Cihan drifteten, stritt er sich mit Lena darüber, wie der Ablativ von einem lateinischen Wort sein müsste. Dann wanderten sie schnell zum nächsten Thema über. Schließlich hörte Tara die ehemalige Lehrerin leise sagen: „Hältst du das für eine gute Idee mit Phil?“ „Es geht so“, antwortete Jens, „aber wir haben zwei Möglichkeiten: Warten, bis jemand Besseres kommt, oder ihm die Ausbildung zu ermöglichen in der Hoffnung, dass er es am Ende einfach drauf hat. Wenn wir einen echten Arzt finden, dann haben wir Glück, aber wir können es nicht einfach darauf ankommen lassen.“ Tara konnte es sich auch nicht vorstellen, dass Phil nur durch Bücher ein Studium nachholen könnte. Aber so dringend brauchten sie ja jetzt keinen Arzt, dachte sie.

„Da ist etwas“, sagte Dennis leise und alle sprangen zu den Fenstern. Er hatte recht. Es war so, als ob sich der Wald bewegte. Sogar Jens war sprachlos. Es musste sich dabei um mehr als hundert Monster handeln. Sie wimmelten zum Anwesen und hatten das Haus innerhalb von Minuten umzingelt. Jetzt versuchten sie, durch die Türen zu kommen. Dabei drängten sich alle an das Haus heran, sodass die Vordersten zerquetscht oder umgeschubst wurden. Tara wunderte es nicht, dass sie sich nicht aufhalfen, sondern über ihre Artgenossen stiegen. Je mehr Tote aber umfielen, desto höher konnten die anderen steigen. Es war, als bildeten sie eine menschliche Treppe. Tara lief es kalt den Rücken herunter. Sie schoben sich immer weiter nach oben, sodass sie schließlich durch die Fenster kamen. Die Gruppe vernahm das Zerschmettern der Scheiben. Jens und Can rannten mit Dennis zur Tür und verbarrikadierten diese mit Möbeln. Es dauerte nicht lange, da konnte man die Toten gegen die Tür hämmern hören. Lena und Jens tauschten einen Blick aus.