Die Hüter der flüsternden Schlüssel (2). Ruf des Magitoriums - Tanja Voosen - E-Book + Hörbuch

Die Hüter der flüsternden Schlüssel (2). Ruf des Magitoriums Hörbuch

Tanja Voosen

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Beschreibung

Die Magie wurde entfesselt. Das Magitorium gerettet. Doch das größte Geheimnis der Magie ist noch verborgen … Beste Freunde, ein magischer Schlüssel und eine sprechende Katze als Gefährtin – Lenna fühlt sich in der neuen Stadt endlich zu Hause. Genau wie im Magitorium mit all seinen Zaubern. Aber plötzlich erreicht das Magitorium ein Hilferuf von einer unbekannten Key Keeperin und aus einer einfachen Rettungsmission wird eine neue Bedrohung! Denn jemand aus der Vergangenheit ist auf der Suche nach einem gefährlichen Artefakt. Plötzlich stecken Lenna, Rudi, Kimie und Pirro mitten in einer Prüfung, die nicht nur über ihr Schicksal als Hüter entscheidet, sondern auch mit einem großen Geheimnis verknüpft ist. Und die lange verborgene Wahrheit ist vielleicht sogar gefährlicher als ihr Feind … Atemlose Spannung, ein uraltes Geheimnis, neue magische Schauplätze: Tanja Voosen entfesselt mit Band 2 der Hüter der flüsternden Schlüssel ein weiteres magisches Abenteuer! Weitere Bücher von Tanja Voosen: Die Hüter der flüsternden Schlüssel (1). Verlorene Magie Die Hüter der flüsternden Schlüssel (2). Ruf des Magitoriums Die Zuckermeister (1). Der magische Pakt Die Zuckermeister (2). Die verlorene Rezeptur Die Zuckermeister (3). Das letzte Bündnis M.A.G.I.K. (1). Die Prinzessin ist los M.A.G.I.K. (2). Das Chaos trägt Krone

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Zeit:9 Std. 18 min

Veröffentlichungsjahr: 2025

Sprecher:Uta Dänekamp

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Weitere Bücher von Tanja Voosen im Arena Verlag:

Die Hüter der flüsternden Schlüssel

Verlorene Magie (1)

Die Zuckermeister

Der magische Pakt (1)

Die verlorene Rezeptur (2)

Das letzte Bündnis (3)

Tanja Voosen

wurde 1989 in Köln geboren und schreibt seit ihrem Abitur Kinder- und Jugendbücher. Sie liebt Hüte, DIYs und ganz besonders ihre drei Katzen Mika, Elly und Lilly. Als waschechte Nachteule fallen ihr die besten Ideen immer nachts ein. Wenn sie nicht am Schreibtisch sitzt und schreibt, stöbert sie gerne auf Flohmärkten nach kleinen Schätzen – so fiel ihr auch ihr ganz eigener magischer Schlüssel in die Hände, der den ersten Funken für die Idee zu »Die Hüter der Schlüssel« entzündete.

Isabelle Hirtz

ist in München groß geworden und verbrachte ihre jungen Jahre am liebsten damit, ins Kino zu gehen und Filmplakate zu sammeln. Diese Liebe, ein Hang zu Fantasybüchern und ein 2007 abgeschlossenes Kommunikationsdesign-Studium führten sie über Umwege nach Hamburg, von wo aus sie bis heute Cover und Illustrationen in den Bereichen Jugend- und Kinderbuch, Belletristik, Fantasy und Science Fiction gestaltet.

Emma Gillette

studierte Animation an der Brigham Young University. Ihre große Leidenschaft gilt dem Illustrieren von Büchern. Die Illustratorin lebt mit ihrem Ehemann und ihren zwei Töchtern im Norden Utahs, in der Nähe der Berge. In ihrer Freizeit liest Emma gerne, schaut Filme mit ihrem Ehemann und erkundet die Berge.

Für meine Animalis Mika, Elly und Lilly.Danke, dass ihr mir in schwierigen Schreibphasenimmer wieder ein Lächeln ins Gesicht zaubert.Und für Animalis Tiger. Du bleibst unvergessen.

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

1. Auflage 2025

© 2025 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg

arena-service@westermanngruppe.de

Alle Rechte vorbehalten.

Der Verlag behält sich eine Nutzung des Werkes für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Text: Tanja Voosen

Umschlagillustration: Isabelle Hirtz

Innenillustrationen: Emma Gillette, Ulyana Regener

Vignette für Innengestaltung: Shutterstock.com, New York/Mudrak, Janna

Lektorat: Laura Held

Layout und Satz: Malte Ritter, Berlin

E-Book-ISBN 978-3-401-81099-7

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1

Höher! Weiter! Schneller!

Lennas Magen schlug Purzelbäume, als sie kurz in der Luft schwebte. Die kleinen Flügel an ihren Turnschuhen flatterten kräftig und Lenna nutzte den Auftrieb, um durch einen gewaltigen Satz noch höher zu gelangen. Der Fledrix-Zauber war so cool! Es fühlte sich an, wie auf unsichtbaren Stufen durch die Luft laufen zu können! Lenna hatte schon fast die Decke der Himmlischen Bibliothek erreicht.

»Hey! Ich bin doch kein Sprungbrett!«, rief Lenna empört, als Binx ihre rechte Schulter als Zwischenstopp nutzte, um von dort aus nach links auszuweichen.

Der rostrote Kater drehte sich kurz um und streckte ihr die Zunge heraus. »Du wolltest doch eine zweite Runde«, erwiderte Binx frech. »Na, was ist?«

Lenna blieb die Antwort im Hals stecken, denn sie sank plötzlich tiefer hinab. Oje! Durch die Ablenkung hatte sie vergessen, sich zu konzentrieren! Mit ihrem Geist tastete sie nach der Verbindung zu ihrer Magie, legte ihren Fokus erneut auf ihren Zauber und stärkte ihn dadurch. »Ha!«, stieß sie triumphierend aus.

Ehe sie Binx nachjagen konnte, schoss Silver wie ein silbergrauer Blitz an Lenna vorbei und sie musste ausweichen. Dieses Mal schaffte sie es, ihr Gleichgewicht zu halten, und folgte Silver. Leider waren die beiden Katzen einfach zu flink.

Kein Wunder! Es handelte sich bei Silver und Binx um Animalis, Beschützertiere, geschaffen aus Magie. Sie hatten Lenna alles übers Zaubern beigebracht.

Weil das Fangenspielen so viel Spaß machte, ärgerte Lenna sich nicht darüber, dass sie auch die nächsten Runden verlor. Immer, wenn ein samtweiches Pfötchen sie anstupste, spürte sie, wie ein warmes Gefühl sie durchströmte. Welche Zwölfjährige hatte schon das Glück, mit zwei magischen Katzen zu spielen?

Lenna grinste breit. Sie hätte ewig so weitermachen können!

»Das versteht man heutzutage also unter Lernen?«

Beim Klang der dunklen Stimme bewegte Lenna sich nach unten und nahm das erstbeste Geländer ins Visier, das sich auf einer der oberen Etagen befand. Silver und Binx folgten ihr ohne Zögern. Schuldbewusst kletterte Lenna vom Geländer, sodass sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, und spähte hinab.

»Ich habe gedacht, du nimmst deine Rolle als Kuratorin ernst«, sagte Ashwin und klang ungewöhnlich streng. »Das ist sehr viel Verantwortung, Lenna.«

Lenna öffnete den Mund, aber da lachte Ashwin auf.

»Ihr müsstet mal eure Gesichter sehen«, sagte er. »Für einen Moment wart ihr ganz erschrocken. Ich bin doch kein oller Spielverderber wie Peter.«

Ashwin hob seine rechte Hand und drehte sie ganz leicht. Selbst von ihrem Platz aus sah Lenna das warmgelbe Glimmen um seine Finger und anschließend die weißsilbernen Magiefäden, die einen Zauber formten. Sie stoben empor und verwandelten sich in Papierkraniche, die zur Decke flatterten.

Lenna sah gebannt zu, wie die Illusion in bunte Funken zerfiel. Die Luft knisterte wie magisch aufgeladen. Wunderschön! Wie ein kleines Feuerwerk!

»Was für ein Angeber«, murmelte Silver, klang aber amüsiert.

Lenna blinzelte verwundert, denn die Funken bildeten nun ein Wort: LERNEN.

»Haha«, machte sie und blickte wieder zu Ashwin hinunter.

»Ich habe gesagt, dass ich kein oller Spielverderber wie Peter bin, aber nicht, dass Lernen nicht wichtig sei«, sagte er und winkte sie nach unten.

Lenna klemmte ihren Schlüssel an die Kette um ihren Hals und ging die Treppe hinunter. Ashwin hatte gut reden! Er war doch mal wieder mitten in ihrer heutigen Kuratorenlektion aus der Bibliothek gedüst …

Seit gut drei Wochen kam Lenna zu diesen Extrastunden ins Magitorium – mal allein, mal in Begleitung von Kimie, Rudi und Pirro –, und bisher hatte Ashwin immer einen Grund gefunden, um zwischendurch den Unterricht zu verlassen. Wie ein zerstreuter Professor, der Ideen in seinem geheimen Kämmerlein aufschreiben musste, ehe sie fort waren, fand Lenna. Sie war echt neugierig, was Ashwin in seinem Studierzimmer trieb, aber er verriet ihr nichts.

Unten an der Treppe stoppte sie. »Bin da. Was jetzt?«

»Ich möchte dir etwas Besonderes zeigen«, antwortete er.

»Okay«, erwiderte Lenna höflich. Es war nicht so, dass sie Ashwin nicht mochte – eigentlich war sie ihm gegenüber mittlerweile aufgetaut, aber sie hatte ihm noch nicht ganz verziehen. Er hatte ihren Freunden und ihr mit seinen Aktionen einiges an Kummer bereitet, und weil er der Zwilling von Alwina war, erinnerte er Lenna leider auch viel zu oft an deren Verrat. Dabei bemühte Ashwin sich mit seiner lockeren und freundlichen Art sehr, das alles hinter sich zu lassen, und das wollte Lenna auch.

»Cool«, schob sie nach. »Dann mal los.«

Ashwin und sie blieben in der Mitte der Himmlischen Bibliothek stehen. Zwei Statuen bewachten ein Podest, auf dem sich die Lunar-Sanduhr befand.

»Haben Binx und Silver dir erklärt, was das ist?«, fragte er.

Lenna nickte. »Die Sanduhr funktioniert wie ein Schalter.«

»Ganz genau«, sagte Ashwin. »Normalerweise sind die Bücher der Nachtbibliothek nur etwas für Fortgeschrittene, aber wir statten ihr heute einen Besuch ab.«

Neugierig sah Lenna ihn an. So wie er das sagte, klang es, als würden sie gleich einen anderen Ort betreten – und vielleicht stimmte das ja? Bei dem einen Mal, als ihr die Sanduhr heruntergefallen und umgekippt war, hatte das den weitläufigen Raum völlig verwandelt. Schon damals hatte Lenna sich gefragt, welche Geheimnisse die Nachtbibliothek wohl enthielt.

Silver trat zu ihnen. »Denkst du nicht, dafür ist es zu früh?«

»Zu früh für was genau?«, fragte Lenna verwundert.

Silver und Ashwin lieferten sich ein seltsames Blickduell.

Lenna überkam ein mulmiges Gefühl. Vor nicht allzu langer Zeit war die silbergraue Katze noch Ashwins Animalis gewesen – und die beiden verbunden durch ein Band der Treue und Freundschaft. Inzwischen gehörte Silver zu Lenna und sie verbrachten jeden Tag Zeit miteinander, lachten oder schliefen gemeinsam ein. Aber in Momenten wie diesen fühlte Lenna sich ausgeschlossen von den beiden.

»Hallo? Erde an Silver? Ashwin?«, bohrte Lenna nach.

»Ich denke, Ashwin möchte dir das Buch der Kuratoren zeigen«, kam es von Binx, der nun auch zu ihnen gestoßen war. »Es befindet sich in der Nachtbibliothek. Neue Kuratoren verewigen darin zu Beginn ihrer Amtszeit ihre Namen. Allerdings ist die Situation recht ungewöhnlich.« Der Kater sah Lenna gutmütig an. »Du bist die jüngste Kuratorin in der Geschichte der KeyKeeper. Das Unterzeichnen gleicht einem Schwur, den man der magischen Gesellschaft leistet – das muss gut überlegt sein.«

»Oh«, machte Lenna verunsichert. »Das klingt echt nach … viel. Ich bin ja noch dabei, mich als Kuratorin zurechtzufinden. Ich weiß so vieles nicht.«

Silver nickte Lenna bestärkend zu. »Es sollte auch deine Entscheidung sein, wann du dir das Buch der Kuratoren anschaust oder deinen Namen dort verewigst.« In ihren Katzenaugen blitzte Ärger auf, als sie wieder zu Ashwin sah. »Nicht deine.«

Ashwin hob abwehrend die Hände. »Natürlich weiß Lenna noch nicht genug darüber, was es bedeutet, eine Kuratorin zu sein. Aber sie wird es lernen. Das Magitorium selbst hat sie ausgewählt – oder hast du das vergessen? Das Buch kann ihr helfen, in ihre Rolle hineinzuwachsen. Ich werde nicht für immer hier sein.«

Silver starrte ihn überrumpelt an. »Wie bitte?«

»Wie meinst du das? Willst du etwa weggehen?«, fragte Lenna.

Ashwin wandte sich ihr zu. »Ja, ich möchte das Magitorium und auch die Stadt irgendwann verlassen. Meine Magie hat sich recht gut regeneriert und ich bin wieder gesund. Man hat mir eine zweite Chance gegeben. Die möchte ich nutzen. Es gibt da draußen Dinge, die mir keine Ruhe lassen. Das verstehst du sicher, Lenna.«

Lenna verstand ihn sogar sehr gut, denn auch sie zerbrach sich seit ihrem Kampf gegen Alwina den Kopf darüber, ob diese noch lebte. Steckte sie irgendwo da draußen? Plante vielleicht sogar ihre nächsten Schritte?

Behutsam strich sie über die zwei Schlüssel an ihrer Kette: ihren Lockardi und den Essenzschlüssel. Das vertraute Gewicht der zwei Schlüssel schenkte ihr stets Zuversicht, denn sie waren ein Symbol für alles, was Lenna gemeinsam mit Rudi, Kimie und Pirro und auch der Hilfe von Binx und Silver vollbracht hatte. Die schönen Seiten der Magie, an denen Lenna festhielt, wenn sie mal zweifelte.

»Ich verstehe das«, sagte Lenna langsam. Sie wollte Ashwin nach seinen genaueren Plänen fragen, aber da zupfte etwas an ihrem Innersten. Automatisch fuhr Lennas Hand zu der Stelle ihres Herzens, weil es aufgeregt schneller schlug. Nanu? Was war das für ein Gefühl? Lenna war so abgelenkt von diesem ungewohnten Gefühl, dass sie Silver und Ashwin einfach stehen ließ, als sie erneut über die Sache mit dem Buch der Kuratoren zu debattieren begannen.

Etwas rief sie zu sich …

Das Ziehen in ihr führte sie durch einen breiten Gang, zu dessen Seiten marmorne Wände ohne Türen lagen und der ähnlich einer Sackgasse im Nichts endete.

Nein, da war etwas! Ein Glitzern hob sich vom weißgrauen Marmor ab.

»Lenna!«, rief Binx, der ihr gefolgt war. »Was machst du da?«

»Da ist irgendetwas«, murmelte sie und berührte den glitzrigen Marmor.

Ein Geräusch wie von aufeinanderreibenden Steinplatten ertönte und die Umrisse einer Tür wurden nach und nach vor ihnen sichtbar. Sie war groß und abgerundet wie ein Torbogen. In ihrer Mitte saß das Wappen des Magitoriums des Wissens – eine Sanduhr, die oben eine Sonne und unten einen Halbmond zeigte. Der Rest der Tür war in vier verschiedenfarbige Kacheln unterteilt, die weitere Wappen zeigten.

»Windoria!«, entfuhr es Binx überrascht. »Lenna, das ist …«

»Ein neuer Raum im Magitorium!«, stieß sie aufgeregt aus.

2

»Nein … nicht neu, zumindest nicht für mich«, sagte Binx. »Windoria hat es immer gegeben. Aber das Magitorium scheint den Raum bisher verborgen zu haben.«

»Windoria«, wiederholte Lenna den Namen. »Du hast einmal zu mir gesagt, dass das Magitorium entscheidet, wer welchen Raum findet. Wir sollten reingehen, oder?«

Binx nickte. »Windoria ist der Raum, der die Magitorien miteinander verknüpft.«

Lenna runzelte die Stirn. »Was genau bedeutet das?«

Der Kater zwinkerte ihr zu. »Das kannst du gleich selbst herausfinden.«

Mehr brauchte es nicht – ein aufgeregtes Kribbeln breitete sich in Lennas Bauch aus. Da es keine Klinke gab, machte sie instinktiv ein paar Schritte nach vorne – und die Tür schwang zur Seite. Neugierig huschte sie hindurch. »Oooohhh, wie toll!«

Unter der Decke schwebten unterschiedlich lange Kristalle, die weiß schimmerten und alles hell erleuchteten. Die Wände waren in einem glänzenden Perlweiß gehalten und voller aufwendiger Verzierungen. Doch das Auffälligste waren die Fenster. Sie waren riesig! Bestimmt fünfmal so groß wie die bei Lenna zu Hause. Die Ecken des Raumes waren durch ausladende Nischen abgerundet und in jede davon war eines der Fenster eingelassen. Bei ihrem Anblick vergaß Lenna alles um sich herum.

Sie trat zu der Nische, die ihr am nächsten war.

Der Rahmen dieses Fensters bestand aus zwei antik wirkenden Säulen, welche oben und unten durch einen steinernen Bogen miteinander verbunden waren. Darüber war eines der Symbole von der Eingangstür eingemeißelt: ein verschlungener Knoten, in dessen Mitte eine geöffnete Lotusblüte saß. Im Inneren des Rahmens sah man eine imposante Eingangshalle, die mit dem vielen Marmor und Säulen an einen griechischen Tempel erinnerte. Ein See mit klarem Wasser war zwischen zwei Treppen eingebettet, die durch mit Efeu bewachsene Torbögen führten.

»Wie krass! Ist das etwa echt?«, fragte Lenna. »Was ist das für ein Ort?«

»Das ist die Haupthalle des Magitoriums des Herzens«, antwortete Binx.

»Oh!«, entfuhr es Lenna überrascht. »Das ist das Magitorium, welches Rudis Onkel als Kurator geleitet hat. Heißt das, alle Fenster zeigen Magitorien?«

»Ganz genau«, erwiderte Binx. »Die Fenster zeigen aber nur einen winzigen Ausschnitt des jeweiligen Magitoriums. Wie eine Art eingestelltes Bild.«

»Windoria verknüpft die Magitorien miteinander. Jetzt verstehe ich das!« Lenna wirbelte herum, um einen raschen Blick in die anderen Fenster zu werfen. »Das sieht alles so schön aus, aber gleichzeitig wirken die Orte alle so … leer.« Sie sah zu Binx. »Als du mir damals von der magischen Gesellschaft erzählt hast, hatte ich direkt ein Bild im Kopf – von Hunderten Leuten, die durch die Gegend laufen und lauter magische Dinge tun. Glaubst du, das wird eines Tages vielleicht wieder so sein?«

Binx lächelte matt. »Wer weiß? Vielleicht kehrt wirklich irgendwann das Leben dorthin zurück. Das fände ich toll. Früher bin ich oft mit Alwina in die anderen Magitorien gereist und …«, Binx zuckte zusammen, »vergiss es.«

Lenna kniete sich hin und strich ihm über das flauschige Fell. »Ist schon okay. Du hast sicher viele schöne Erinnerungen an die damalige Zeit.«

Binx senkte den Kopf. »Viele meiner Erinnerungen sind mit ihr verknüpft. Manchmal wünschte ich, ich hätte sie nicht durch den Mirabilis-Zauber alle wiederbekommen.«

Lenna setzte sich neben Binx und schlang einen Arm um ihn, um ihn fest an sich zu drücken. »Das ist sicher schwer für dich. Aber diese Erinnerungen sind ein Teil von dir und machen dich zu dem, der du bist. Ich bin total froh, dass es dich gibt.«

»Danke«, sagte Binx leise. »Ich bin auch froh, dass es dich gibt.«

»Jaja. Wer soll auch sonst ständig die Welt retten?«, scherzte sie.

Binx schnaufte und stupste sie mit einer seiner Vorderpfoten an. »Ashwins seltsamer Humor hat wohl während eurer Kuratorenlektionen auf dich abgefärbt.«

»Klar doch«, scherzte Lenna. Sie grinste breit, dann verstellte sie ihre Stimme, um Ashwin nachzuahmen: »Wissen, Weisheit und Wahrheit führen den Wandel der magischen Gesellschaft herbei. Du gehörst zu einer neuen Generation KeyKeeper und darum ist es ausgesprochen wichtig, dass du deinen Wissensschatz als Erstes erweiterst. Lies nun dieses alte, staubige Buch!«

Binx begann zu lachen. »Ashwin liebt alte, staubige Bücher wirklich.«

»Alte, staubige Bücher, in denen mehr über die Geschichte der KeyKeeper und Kuratoren steht, als ich mir jemals merken kann«, sagte Lenna. Ihre Gedanken schweiften zu einigen ihrer Kuratorenlektionen zurück. »Ich glaube nicht, dass ich in einer Situation sein werde, wo es mir hilft zu wissen, dass Ginevra De Santis die Kuratorin war, welche den Wissenden den Zugang zu den Magitorien ermöglichte. Oder dass Kurator Nikolai Wolkow den Barrio-Zauber erschuf. Ich würde gerne mehr über den Essenzschlüssel lernen oder die Bedeutung, Kuratorin zu sein. Denkst du, dieses Buch der Kuratoren kann mir dabei helfen?«

Binx wandte ihr das Gesicht zu. »Erst mal denke ich nicht, dass Ashwin von dir erwartet, all diese Fakten auswendig zu lernen. Die Beispiele, die du gerade genannt hast, zeigen gut auf, wie viel Unterschiedliches jeder einzelne Kurator zur magischen Gesellschaft beigetragen hat. Indem wir über sie lesen oder sprechen, ehren wir sie.« Binx lächelte. »Was das Buch der Kuratoren angeht: Ja, es kann dir helfen. Früher wurde es auch als Kompass bezeichnet. Kuratoren haben darin etwas verewigt. Mal einen Ratschlag, mal eine Erkenntnis oder sie haben von ihren Erfahrungen berichtet. Das Buch war stets allen KeyKeepern zugänglich, um sie wohlwollend zu leiten.«

»Das klingt ziemlich toll«, sagte Lenna begeistert.

Binx nickte. »Vergiss jedoch nicht: Du und die anderen habt viele Schritte in eurer Lehre als KeyKeeper übersprungen, weil es unsere Notlage so verlangt hat. Es ist wichtig, dass ihr nun in eurem eigenen Tempo weitergehen dürft. Die Bücher der Nachtbibliothek sind nicht umsonst dort. Ihr habt noch viel Zeit.«

Lenna dachte kurz darüber nach. »Ich verstehe, was du meinst.«

Für eine Weile betrachteten sie weiter das Fenster des Magitoriums des Herzens. Lenna malte sich aus, wie ihre Vorstellung zur Realität wurde: KeyKeeper, die dort ein und aus gingen. Darunter welche in ihrem Alter, die gemeinsam lachten und sich über besonders schwere Zauber austauschten. Wie schön wäre all das?

Ein schrilles Piepen zerriss Lennas Tagträume abrupt.

»Das kommt von oben!«, sagte sie alarmiert.

Über die goldene Wendeltreppe in der Mitte des Raumes gelangten sie in einen kleineren Raum, der rundum verglast war. Von hier konnte man die vier Fenster Windorias bestens im Auge behalten. Mehrere Schreibtische bogen sich unter der Last von altmodisch aussehenden Gerätschaften, die Lenna nicht kannte. Beim Anblick der vielen Knöpfe und Hebel wurde ihr schwindelig.

»Müssen wir einen Knopf drücken? Etwas tun?«, fragte sie.

Binx sprang auf einen der Tische. »Wenn ich das bloß wüsste.«

Aus den Augenwinkeln sah Lenna, wie sich etwas im Fenster des Magitoriums des Herzens veränderte – die Übertragung flackerte, als wäre der Empfang gestört.

»Schau mal!«, sagte Lenna energisch über das Piepen hinweg. Dunkelheit erfasste das Fenster und sie erkannte, dass der Ort darin gewechselt hatte. Für wenige Herzschläge sah Lenna eine Frau mit einem abgehetzten Gesicht. Das ganze Bild wackelte, verschwand und dann war dort wieder die marmorne Eingangshalle.

Plötzlich spürte sie eine Hand auf der Schulter und zuckte zusammen.

»Was machst du da?«, fragte Ashwin verwundert.

»Da war jemand! Eine Frau!«, sagte Lenna.

Ashwin nahm die Hand von ihrer Schulter. »Wovon sprichst du?«

Lenna bemerkte, dass das Piepen verstummt war. »Ich …«

Silver sah sie erwartungsvoll an. »Erzähl uns bitte, was passiert ist.«

Rasch fasste Lenna ihnen alles zusammen. Sofort machte sich Ashwin an dem Kontrollpanel zu schaffen und ging verschiedene Einstellungen durch, welche das Fenster des Magitoriums des Herzens von einem Bild zum nächsten springen ließ.

»Da ist nichts«, meinte Ashwin stirnrunzelnd. Verwundert blickte er zu Lenna, als habe sie ihm einen Streich gespielt. »Du musst dich geirrt haben.«

»Ich habe eine Frau gesehen«, beharrte Lenna. »Ganz sicher.«

»Es könnte eine Fehlfunktion gewesen sein«, sagte Silver.

Lenna starrte sie sprachlos an. Glaubten die zwei ihr etwa nicht?

»Was auch immer das war«, sagte Binx. »Es ist vorbei. Aber wir sollten nicht vergessen, dass das MagitoriumWindoria nicht ohne Grund geöffnet hat.«

»Das Magitorium weiß eben, dass Lenna bereit für Neues ist«, sagte Ashwin.

Silver warf Ashwin einen verärgerten Blick zu. »Es reicht für heute.«

»Es reicht wirklich!«, sagte Lenna. Sie spürte, wie Ärger in ihr hochkam. »Erst streitet ihr und ignoriert mich dabei, dann glaubt ihr mir nicht und jetzt fangt ihr schon wieder an zu diskutieren! Das nervt mega! Ich gehe jetzt nach Hause!«

Lenna warf Binx einen entschuldigenden Blick zu, dann lief sie los.

Für heute reichte es ihr. Ab in die normale Welt!

3

»Ist Pirro nicht cool?«, flüsterte Millie Lenna leise zu.

»Wieso? Hat er sich in ein Einhorn verwandelt?«, murmelte Lenna abwesend. Dieses olle Stück Krepppapier wollte einfach nicht so wie sie! Lenna war sich sicher, dass nicht einmal ein Zauber diese traurige kleine Knolle retten konnte.

Millie stupste sie den Ellbogen an. »Schau doch.«

Grummelnd sah Lenna zu Pirro hinüber. Er hing lässig in seinem Stuhl und starrte gelangweilt aus dem Fenster. Was war daran bitte cool? Allerdings war sie ein klitzekleines bisschen neidisch auf die vielen Krepppapierblumen, die er im Handumdrehen gebastelt hatte. Wäre sie nur halb so gut darin …

Sie hatten zu Beginn der Stunde die Tische zusammengeschoben und Gruppen in der Klasse ausgelost, um die Aufgaben für den anstehenden Tag der offenen Tür zu verteilen – Lennas Gruppe war für das Basteln der Plakate zuständig.

Zuerst hatte sie das gar nicht so schlecht gefunden. Bei ihr zu Hause waren Do-it-yourself-Aktionen immerhin an der Tagesordnung, da ihre Mum und ihre Tante auf ihrem VideoblogPinsel & Plunder ständig Tipps gaben, wie man aus den scheinbar unbrauchbarsten Sachen etwas Tolles zauberte. Aber das Kreativ-Gen hatte sie wohl nicht geerbt.

»Ich geb’s auf«, sagte Lenna frustriert. »Das kann in den Müll.«

»Mit viel Fantasie könnte das doch eine, ähm … Tulpe sein«, meinte Azra aufmunternd. »Soll ich dir noch mal vormachen, wie es geht?«

Im selben Moment sagte ihr Klassenlehrer Herr Biegart laut: »Ich brauche zwei Freiwillige, die mehr Materialien aus dem Kunstraum holen gehen.«

Lenna schoss aus ihrem Stuhl hoch. »Hier! Ich!«

Dabei konnte man zumindest nichts falsch machen.

»Ich gehe mit«, sagte Pirro, der ebenfalls aufstand.

Herr Biegart übergab ihnen den Schlüssel für den Kunstraum und Lenna und Pirro verließen das Klassenzimmer. Kaum waren sie im Flur, grinste Pirro breit. »Du wolltest wohl unbedingt von der Gruppenarbeit wegkommen, oder?«

»Kann ja nicht jeder so ein Papierflüsterer sein wie du«, grummelte sie.

Pirro prustete los und Lenna boxte ihm gegen den Arm, musste dann aber auch lachen. Sie holten die Kisten mit weiterem Bastelkrams, die Herr Biegart ihnen beschrieben hatte, und liefen wieder zurück.

Lenna war heilfroh, dass die Doppelstunde Deutsch danach schnell zu Ende ging – und noch viel glücklicher, als sie einige Stunden später mit Rudi, Kimie und Pirro das Schulgebäude verließ und über den Pausenhof in die Freiheit spazieren konnte.

Die meisten stürzten sich direkt in das Gedrängel an der Bushaltestelle, aber die vier blieben immer noch auf dem Hof stehen und quatschten etwas. Jeden Tag brachte jemand anderes einen Snack mit. Weil Rudi dran war, kramte er eine Tüte mit sauren Gummischlangen aus seinem Rucksack und alle nahmen sich etwas daraus.

Lenna liebte dieses kleine Ritual inzwischen sehr.

»Wie war’s denn in eurer Arbeitsgruppe?«, fragte Pirro.

Kimie strich einige Strähnen ihres Ponys glatt, die der Wind zerzaust hatte. »Ach. Ganz okay. Wir haben einen echt guten Plan für den Wohltätigkeitsflohmarkt erstellt. Ist zumindest mal eine coolere Idee als die üblichen Tag-der-offenen-Tür-Sachen.«

»Ich werde ein paar Ableger verkaufen«, sagte Rudi stolz. »Und bei euch so?«

»Ich wäre lieber in einer anderen Gruppe«, murmelte Lenna.

»Wegen Millie? Fragt sie euch wieder Löcher in den Bauch?«, hakte Kimie nach. »Als ich nämlich eben auf dem Klo war, fing sie an, mich über die Lockardi auszuquetschen. Ich dachte, als Wissende, na ja … weiß sie halt Dinge über magischen Kram.«

»Genau genommen ist ja nur Millies Oma eine Wissende und die scheint Millie nicht viel zu sagen«, meinte Pirro. »Mich starrt Millie in letzter Zeit immer so komisch an, und wenn ich zurückgucke, schaut sie ganz ertappt weg. Richtig nervig.«

Rudi biss einer sauren Schlange den Kopf ab. »Zu mir ist sie voll nett.«

»Ja, Millie ist nett«, sagte Lenna. »Ich meinte, wegen diesem Bastelzeug.«

»Ist echt wie im Kindergarten«, stimmte Pirro zu.

Lenna nahm sich noch was Süßes aus der Tüte. »Sagt derjenige, der genug Krepppapierblumen gebastelt hat, um ’nen ganzen Garten zu füllen.«

Kimie kicherte. »Pirro gibt dir bestimmt gerne Nachhilfe im Papierfalten.«

»Hey, wo wir schon bei Nachhilfe sind«, ging Rudi dazwischen. »Wie war denn gestern deine Kuratorenlektion mit Ashwin? Ist was Spannendes passiert?«

»Ja!«, rief Lenna aufgeregt. Rasch blickte sie sich um, ob auch niemand in der Nähe war, der ihr Gespräch belauschen konnte. Dann gab sie den anderen wieder, wie sie mit BinxWindoria entdeckt und was sie dort alles gesehen hatte.

Rudi zog einen Schmollmund. »Immer verpasse ich die coolen Sachen.«

»Klar, Windoria ist sicher cool«, meinte Pirro. »Aber was ist mit dem Piepen? Und der Frau, die Lenna gesehen hat? Das war beides bestimmt kein Zufall.«

»Echt blöd, dass Ashwin und Silver sich lieber gestritten haben, statt dir richtig zuzuhören«, sagte Kimie mitfühlend. »Das Piepen hat sicher was zu bedeuten und sie haben es einfach runtergespielt. So was passiert nicht ohne Grund.«

»Die haben es bestimmt nicht böse gemeint«, sagte Rudi.

Lenna seufzte. »Ja, schon … ich wünschte nur …«

Dass Ashwin und Silver sie weniger ausschlossen? Nicht alles nur unter sich ausmachten? Ihr besser zuhörten? Frustriert friemelte sie an ihrem geflochtenen Zopf herum, der ihr über die linke Schulter fiel. Lenna kam sich plötzlich kindisch vor. Vielleicht hätte sie nicht einfach aus dem Magitorium abzischen sollen …

»Guck mal, Kimie! Da ist dein Vater«, sagte Rudi.

»O Mist. Ist es schon so spät?«, murmelte Kimie. »Bis später!«

Kurz beobachteten Rudi, Pirro und Lenna, wie Kimie ihrem Vater entgegeneilte und die Hände zu einer entschuldigenden Geste zusammenpresste. Er schüttelte den Kopf und legte ihr einen Arm um die Schulter.

»Puh«, machte Lenna. »Ist wohl noch mal gut gegangen.«

Lenna hatte erst vor Kurzem erfahren, dass Kimies Bruder Jae vor knapp zwei Jahren spurlos verschwunden war. Irgendwann war ein Brief von ihm eingetrudelt, in dem er schrieb, dass es ihm gut ging, aber er wurde bis heute nie wieder gesehen. Herr und Frau Seong-Riis lebten seitdem in ständiger Sorge, Kimie könnte irgendetwas zustoßen, und deshalb musste Kimie sich eng an Absprachen halten.

»Wenn wir den nächsten Bus kriegen wollen, sollten wir auch mal zur Haltestelle rüber«, sagte Rudi. »Außerdem gibt’s bei uns heute Pfannkuchen!«

»Manchmal vergesse ich, dass dein Onkel auch noch was anderes kann als meckern«, witzelte Pirro. »Pfannkuchen zubereiten, ist viel zu normal.«

Rudi grinste. »Unnormal gut schmecken die!«

Er sauste los. Lenna und Pirro folgten ihm.

»Hey, Lenna?«, meinte Pirro. »Was wolltest du gerade noch sagen?«

In seinen bernsteinfarbenen Augen lagen Wärme und Sorge und je länger er sie ansah, umso mehr schmolzen die frostigen Gedanken in ihrem Kopf dahin.

Wie sie ihm allerdings erklären sollte, was für ein Murks sich in ihrem Kopf zusammenbraute, wusste sie nicht. Damals hatte AshwinSilver aus Not an Lenna gebunden. Aber jetzt war alles anders: Ashwin wieder gesund und die Welt gerettet. Silver und sie hatten seitdem so viele schöne Sachen erlebt und Lenna wollte das nicht mehr hergeben. Aber sobald sie das Magitorium betraten, drehte sich nur noch alles um Zauber und Magie – und Silver klebte förmlich an Ashwin. Ob sie wusste, woran Ashwin im Studierzimmer arbeitete? Bei der Vorstellung, die zwei würden Geheimnisse teilen, fühlte Lenna sich wieder ausgeschlossen.

»Lenna?«, fragte Pirro im gleichen Moment, als Rudi schrie: »Der Bus kommt!«

Pirro und Lenna spurteten zur Haltestelle. Die Linie, mit der Lenna und Rudi fuhren, stoppte und die Türen öffneten sich. Rudi stieg sofort ein, aber Lenna zögerte.

»Das wird schon«, sagte sie zu Pirro.

Er nickte, als würde er sie verstehen, obwohl sie gar nicht wirklich geredet hatten.

Rudi und Lenna suchten sich zwei freie Plätze und setzten sich.

»Was hat er dir gegeben?«, fragte Rudi.

»Was meinst du?«, erwiderte sie.

Rudi deutete auf ihren Rucksack. »Er hat dir was zugesteckt.«

Da sah Lenna es auch. In der vorderen Tasche ihres Rucksacks steckte etwas, das vorher nicht da gewesen war. Eine pinke Krepppapierblume, die Lenna an den Magnolienbaum im Grünen Grimoire erinnerte. Wann hatte Pirro denn …?

Behutsam strich sie mit den Fingern über das Papier und ihr Herz schlug ein bisschen schneller. Sie lächelte. Vielleicht wurde ja wirklich alles wieder gut.

4

Lenna hastete durch die Himmlische Bibliothek, weil sie viel zu spät dran war. Der Magieunterricht folgte keinem festen Stundenplan, da Binx und Silver sich nach dem Alltag von Rudi, Kimie, Pirro und ihr richteten – aber für heute waren sie fest verabredet und es war kein schönes Gefühl, als Letzte einzutrudeln.

Lenna hatte beim Quatschen mit ihrer Mum einfach die Zeit vergessen.

Atemlos erreichte sie das Artema-Areal, welches auf einer der oberen Etagen des Magitoriums, nahe dem Kaleidoskop lag. Der Unterricht war in vollem Gange und Lenna warf Binx und Silver einen entschuldigenden Blick zu, ehe sie sich setzte.

»… habt ihr noch Fragen dazu?«, beendete Silver gerade ihren Satz.

Kimies Hand schoss hoch. »Wann gehen wir wieder ins Kaleidoskop? Ich würde so gerne die neuen Zauber üben.«

Jemand räusperte sich und Lenna entdeckte Rudis Onkel, der in einer der hinteren Reihen saß. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte drein wie sieben Tage Regenwetter. Er musste den armen Rudi wieder bequatscht haben, damit er ihn mit ins Magitorium nahm – und das endete meist in eher unschönen Debatten.

»Das haben wir für nächste Woche fest eingeplant«, antwortete Silver.

»Ich halte das nicht für ratsam«, warf Herr Berger ein. »Wenn ich mir den Allmagie-Atlas so ansehe, müssten die Kinder sich noch viel mehr magische Theorie aneignen. Es wäre besser, wenn sie die Sache mit der Zauberei vorerst ganz lassen.«

Automatisch huschten Lennas Augen zur Decke, die spitz wie ein Zelt zulief und über die sich eine große Malerei erstreckte. In schnörkeliger Schrift befanden sich in der Mitte die Worte Allmagie-Atlas, von denen Linien zu den drei Zauberkategorien Mentaris, Korparis und Elementaris führten. Unter den Kategorien standen jeweils Dutzende Zaubersprüche. Die Animalis hatten ihnen erklärt, dass der Allmagie-Atlas wie eine magische Lernkarte war, die sich dem Wissenstand seiner Lehrlinge anpasste. Und so zeigte er jene Zauber, welche Rudi, Kimie, Pirro und Lenna bereits alle vier erfolgreich gemeistert hatten.

Lenna fand, dass es echt viele waren!

»Die Kinder haben sich in der kurzen Zeit ihrer Lehre einen enormen Wissensschatz angeeignet«, erwiderte Silver kühl. »Durch unseren Crashkurs beherrschen sie sogar einige Zauber, welche ehemalige Lehrlinge viel später erlernt haben – nicht, dass wir uns vor Ihnen rechtfertigen müssten. Sie sind hier nur Gast.«

Herr Berger schnaufte, sagte aber erst mal nichts mehr.

»Gut«, meinte Silver. »Dann fahren wir fort.« Sie blickte zu der riesigen Tafel, welche fast die gesamte Wand bedeckte und auf der bereits allerhand stand. Als sie die Augen wieder nach vorne richtete, lächelte sie Lenna kurz an. »Wir sprachen über die verschiedenen Wege der magischen Kommunikation – einen Bereich, der noch zu den Grundkenntnissen zählt, den wir bisher aber nicht behandelt haben.«

Lenna lächelte zaghaft zurück und schlug ihre Keeper-Mappe auf. Da sie alle einen festen Sitzplatz im Artema-Areal hatten, ließen sie ihre Mappen einfach hier. Das war praktisch und obendrauf auch besser für die Geheimhaltung der Magie. Die schwarze Mappe war so verzaubert, dass sie endlos Platz im Inneren hatte. Auf der Vorderseite befand sich in Gold eine Abbildung von Lennas Lockardi, was sie besonders cool fand.

»Kommunikationszauber fallen nicht, wie man vielleicht meinen könnte, in die Kategorie der Korparis. Man versendet keine handfesten Nachrichten, wie es in Form von Briefen in der normalen Welt üblich ist«, sagte Silver. »Sie fallen in die Kategorie der Mentaris, da die Nachrichten auf geistiger Ebene übertragen werden.«

Lenna blätterte zu einer freien Seite und schrieb ab, was Silver der Tafel diktierte – die Tafel fasste nämlich alles Gesagte selbstständig zusammen.

»Der Comuta-Zauber wird am häufigsten zum Versenden magischer Botschaften verwendet«, übernahm Binx, der neben Silver vorne auf dem Pult saß. »Obwohl er ein sehr geläufiger Zauber ist, hat er im Gegensatz zu anderen kommunikativen Zaubern einen großen Vorteil: Er weist den Absender durch eine besondere Magiesignatur aus. Ein weiterer Vorteil ist, dass man ihn dadurch nur sehr schwer manipulieren kann.«

»Wie kann ich mir das vorstellen?«, fragte Pirro.

»Genau«, meinte Lenna. »Was ist eine Magiesignatur?«

»So etwas wie ein magischer Fingerabdruck«, antwortete Binx. »Er entsteht jedes Mal, wenn ihr eure Lockardi entschlüsselt und auf eure Magie zugreift. In jedem eurer Zauber schwingt eure Intention und euer Wille mit. Das hinterlässt Spuren. Bei den meisten Zaubern ist diese Signatur nicht dauerhaft und verklingt mit dem Zauber. Wenn man aber zum Beispiel jemanden heilt, bleibt stets eine winzige Spur der Person zurück, die euch mit ihrer Magie geheilt hat.«

Sofort dachte Lenna daran, dass Ashwin sie einmal geheilt hatte – ihre Freunde waren von Alwina verzaubert worden und Pirro hatte Lenna an der Schulter verletzt. Dort befand sich eine feine Narbe, die nie ganz verblassen würde, denn Heilzauber konnten nur unterstützen, keine Wunder wirken. »Ist es schlimm, wenn diese Signatur zurückbleibt?«, fragte sie.

»Keineswegs«, antwortete Binx. »Die Signatur hat keine Auswirkungen, sie ist vielmehr etwas, wodurch man die Magie anderer Keeper erkennen kann. Um zurück zu dem Comuta-Zauber zu kommen: Vielleicht machen wir eine Ausnahme, damit ihr besser versteht, was genau wir mit der Magiesignatur meinen.«

Silver nickte ihm zu, dann sah sie zu Kimie. »Wie wäre es mit dir?«

Herr Berger stand polternd auf. »Ihr lasst die Kinder außerhalb des Kaleidoskops zaubern? Kein Lehrling sollte während der Ausbildung ohne …«

»Es ist ein Kommunikationszauber, Peter«, unterbrach ihn plötzlich Ashwin. Er schlenderte herein und zog sich einen Stuhl heran. »Wovor hast du Angst? Dass ein herumflatternder Buchstabe dir durch die Ohren saust? Wie lächerlich.«

»Lächerlich?«, erwiderte Herr Berger. »Es geht um die Sicherheit der Kinder.«

»Setz dich wieder«, meinte Ashwin locker. »Oder muss ich dir erst mit einem Zauber die Zunge verknoten, damit du aufhörst, den Unterricht zu stören?«

Herr Berger sah aus, als wolle er Ashwin gleich an die Gurgel gehen.

Silver sagte extra laut: »Nun, Kimie. Möchtest du uns helfen?«

Kimie nickte und trat ans Pult zu den Animalis.

Neugierig richtete Lenna ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorne.

»Als Erstes überlegst du dir, was für eine Nachricht du versenden möchtest und an wen. Wichtig dabei ist, dass du ein klares Bild von beidem vor Augen hast«, leitete Silver sie an. »Es hilft, sich die Wörter ganz genau vorzustellen und das Gesicht der Person, welche sie empfangen soll. Nimm dir kurz Zeit und geh in dich.«

Kimie presste die Lippen aufeinander und schien zu grübeln. Sie schob ihre Brille ein Stück auf ihrer Nase nach oben und holte ihren Lockardi heraus. »Bereit.«

»Nun wie gehabt: entschlüsseln. Entscheiden. Entfesseln«, sagte Silver.

Erneut nickte Kimie und zog ihre Hand mit dem Lockardi sanft durch die Luft. Für Lenna sah Kimies Art zu entschlüsseln so aus, als würde sie ein Musikorchester dirigieren wollen – der kleine Finger ihrer rechten Hand stand ab, während sie etwas Unsichtbares nachzog. KimiesLockardi glomm gelb auf.

»Comuta!«, sagte Kimie klar und deutlich.

Lenna beugte sich im Stuhl weiter vor. Was würde nun passieren?

Weißsilberne Magiefäden brachen aus der Spitze von Kimies Schlüssel heraus, lösten sich aber direkt auf. Hatte Kimie etwa die Verbindung zu ihrer Magie verloren?

Im nächsten Augenblick tanzte etwas vor Lenna in der Luft.

Sie blinzelte verwundert. Es waren kleine Musiknoten, die so weißsilbern glitzerten wie Kimies Zauber. Lenna hörte Kimies vertraute Stimme, die ihr ins Ohr flüsterte: »Herr Berger guckt wie ein saures Zitrönchen und Ashwin benimmt sich wie die Prinzessin auf der Erbse mit Kuratorenkrönchen.«

Lenna prustete los und wäre dabei fast vom Stuhl gerutscht.

»Hä«, kam es von Rudi. »Was ist passiert?«

»Kimies Zauber scheint funktioniert zu haben«, meinte Binx.

Kimie sah zu Lenna und grinste breit und Lenna grinste zurück.

»Jup. Hat perfekt funktioniert«, sagte Lenna.

»Also ich habe nichts gesehen«, sagte Rudi verwirrt.

»Das ist wahrscheinlich Sinn des Zaubers«, sagte Pirro. »Kimie hat die Nachricht an Lenna geschickt und deshalb haben wir davon nichts mitbekommen, oder?«

»So ist es«, sagte Silver. »Wie hast du Kimies Magiesignatur wahrgenommen, Lenna?«

Lenna beschrieb den anderen, was sie gesehen hatte. Den Inhalt der Nachricht behielt sie aber für sich. Kimie setzte sich und dann durften sie eine Weile – sehr zu Herrn Bergers Missfallen – alle üben, sich gegenseitig Nachrichten zu senden. Lenna hatte den Verdacht, dass Silver und Binx dies nur erlaubten, um Rudis Onkel auf die Palme zu bringen – es war kein Geheimnis, dass Herr Berger sich mit seinem ständigen Gemecker unbeliebt bei den Animalis gemacht hatte. Wahrscheinlich duldeten sie ihn nur noch dem armen Rudi zuliebe.

»Oh«, entfuhr es Lenna begeistert, als sie bereits die dritte Nachricht von Rudi bekam. Seine Magiesignatur bestand aus hübschen Blüten, die um sie herumwirbelten, ehe sie seine Stimme in ihrem Ohr hörte: Er ratterte ein Paar Fakten über Kakteen herunter, was Lenna an ihre erste Begegnung auf dem Schulhof erinnerte.

Pirros Botschaften tauchten zwischen blubbernden Wasserblasen auf.

Und Lennas eigene Nachrichten – das fand sie insgeheim – sahen am allercoolsten aus. Denn ihr Zauber verwandelte sich in einen Pfeil, dessen Schweif Funken sprühte.

»Das ist so viel besser, als Zettelchen in der Schule zu schreiben«, sagte Kimie.

»Außerhalb des Magitoriums wird nur im Notfall gezaubert«, sagte Binx streng. »Ich hoffe, das habt ihr bei alldem Spaß die letzte halbe Stunde nicht vergessen.«

»Endlich sind wir uns mal einig«, grummelte Herr Berger.

Lenna verdrehte die Augen. »Natürlich vergessen wir das nicht. Wir …«

Ein Piepen schrillte los und ihr blieben die nächsten Worte im Hals stecken. Sie wusste sofort, was das bedeutete: Über Windoria wurde erneut ein Signal ausgesandt!

5

Lenna war sofort auf den Beinen und lief zeitgleich mit Ashwin zum Ausgang des Artema Areals. Die anderen zögerten nicht und hefteten sich an ihre Fersen. Gemeinsam erreichten sie Windoria und die Tür schwang für alle beiseite.

Das Fenster des Magitoriums des Herzens war dunkel geworden.

»… bin in großer Gefahr und benötige dringend Hilfe!«

Lenna erstarrte. Die Stimme klang verzweifelt und ängstlich. Auf einen Schlag wurde die Übertragung im Fenster heller, als habe jemand etwas an einer Einstellung geändert. Eine Frau trat in den Fokus – es war jene, die Lenna beim ersten Signal kurz gesehen hatte. Lenna wurde ganz anders, als sie bemerkte, dass der elfenbeinfarbene Hidschab der Frau an der Schläfe blutdurchtränkt war.

Im Hintergrund waren dumpfe Geräusche zu hören.

»Bitte«, sagte die Fremde atemlos und kniff die Augen zusammen. »Ich brauche …«

Kimie stieß einen spitzen Schrei aus, als die Frau zusammenbrach. Kurz darauf riss die Übertragung samt Piepen ab. Lenna fühlte sich ganz zittrig, als sie sich umdrehte. Rudi und Pirro sahen entsetzt zum dunklen Fenster.

»Zur Wendeltreppe!«, sagte Lenna und stürmte darauf zu. Fieberhaft überlegte sie, ob die anderen und sie es schaffen konnten, das Kontrollpanel zu benutzen. Vielleicht ließ sich die Verbindung wiederherstellen – oder irgendwie anders helfen.

Noch während ihr diese Gedanken durch den Kopf schossen, hörte sie Ashwin sagen: »Jemand scheint die Verbindung gewaltsam unterbrochen zu haben. Die Leitung ist tot – wir müssen versuchen, das Notfallprogramm hochzufahren!«

»Ich weiß noch, wie es funktioniert«, erwiderte Herr Berger.

Lenna stoppte oben an der Treppe und sah, dass Ashwin und Herr Berger an zwei der Schreibtische saßen. Offenbar waren sie hochgeeilt, während Lenna und die anderen erschrocken vorm Fenster stehen geblieben waren. Ein Glück, dass die beiden angesichts der Lage zusammenarbeiteten!

»Was ist das hier alles?«, murmelte Rudi.

»Ist doch egal«, meinte Pirro. »Wir müssen dieser Frau helfen.«

»Da war so viel Blut«, sagte Kimie zittrig. »Denkt ihr, sie wurde angegriffen?«

»Könnt ihr die Verbindung wiederherstellen?«, fragte Lenna, aber die Erwachsenen waren so vertieft in ihre Bemühungen, dass sie Lenna nicht wahrnahmen. Sie wandte sich Binx zu, der genau wie Silver alles angespannt beobachtet hatte. »Gibt es einen Weg, wie wir ins Magitorium des Herzens kommen?«

»Ja, den gibt es«, antwortete Binx. »Ich verstehe, dass du sofort etwas unternehmen möchtest. Mir geht es genauso. Aber wir sollten einen kühlen Kopf bewahren. Sich unüberlegt in eine Rettungsmission zu stürzen, wäre unklug. Wir wissen zu wenig.«

»Jemand wurde verletzt und hat um Hilfe gebeten«, sagte Lenna. »Was müssen wir denn noch wissen? Wir verlieren gerade Zeit, vielleicht ist es sonst zu spät!«

»Lenna«, sagte Silver sanft. »Erinnerst du dich an das, was ich dir beigebracht habe? Wenn du dich selbst nicht an erste Stelle setzt, kannst du auch andere nicht mehr schützen.«

»Das weiß ich doch«, erwiderte Lenna gequält. »Aber …«

»Das Magitorium des Herzens war, genau wie alle anderen magischen Orte, für die Dauer des Siegelzaubers verschlossen – fünfundzwanzig Jahre lang hat niemand mehr diese Orte betreten«, unterbrach Silver sie. »Bitte, denk nach. Sei klug.«

Lenna biss sich auf die Unterlippe. Klar, Silver hatte recht! Wer wusste schon, was sie dort erwartete? Aber ihr ging das abgehetzte Gesicht der Fremden nicht mehr aus dem Kopf. Vielleicht war sie dort völlig allein – und wirklich angegriffen worden.

»Wie ist diese Frau überhaupt in das Magitorium gekommen?«, fragte Pirro.

»Vielleicht hat sie irgendwie einen Lockardi in die Finger bekommen?«, meinte Kimie nachdenklich. »Aber wenn sie einen hätte, könnte sie doch auch zwischen den Magitorien wechseln? Da muss mehr dahinterstecken.«

»Ist doch erst mal egal. Wir sollten ihr helfen!«, sagte Rudi entschieden.

Lenna wollte erneut versuchen, Silver zu überzeugen, aber ein Fluchen von Ashwin lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf ihn. Er erhob sich aus seinem Stuhl.

»Was ist mit der Verbindung?«, fragte Lenna angespannt.

Ashwin schüttelte den Kopf. »Es ist zwecklos. Durch einen Fehler lässt sich nicht einmal das Notfallprotokoll aktivieren. Uns bleibt nur noch der direkte Weg.« Er deutete auf eine Tür, die Lenna zuvor nicht bemerkt hatte – die Wendeltreppe schlängelte sich einige Meter weiter zu einer Plattform empor, auf der eine gläserne Tür thronte.

Instinktiv nahm Lenna ihren Lockardi von ihrer Kette. »Was sollen wir tun?«

»Halt!«, rief Herr Berger und sein Blick schnellte zu Rudi – er und auch Kimie und Pirro hatten ebenso ihre Lockardi gezückt. »Ihr habt gehört, was die Animalis gesagt haben. Wenn ihr schon nichts auf mein Wort gebt, dann vertraut zumindest ihnen. Es ist nicht eure Aufgabe, eine Rettungsmission anzuführen.«

»Wir können Samira nicht im Stich lassen!«, sagte Ashwin.

Lenna runzelte die Stirn. »Sekunde, ihr kennt diese Frau?«

»Und das sagt ihr erst jetzt?«, schob Pirro nach.

»Ihr Name ist Samira Yilmaz. Sie war, genau wie Peter und ich, einst eine Kuratorin«, antwortete Ashwin. »Aber wir haben keine Zeit für ein Teekränzchen. Ja, wir sollten klug vorgehen, aber wir müssen auch handeln – und zwar jetzt!«

»Onkel Peter, wir wollen helfen«, sagte Rudi entschlossen. »Bitte.«

Herr Berger fuhr sich durch seinen dichten, roten Bart und schüttelte den Kopf. »Nein … nein, ihr Kinder werdet nicht in eines der anderen Magitorien reisen. Das ist viel zu gefährlich. Es gibt sicher einen anderen Weg … Ja, genau! Der fünfte Schlüssel!«

»Fünfter Schlüssel?«, wiederholte Lenna.

»Na klar!«, rief Kimie. »Als Binx und Silver uns damals ins Celestarium gebracht haben, bekamen Rudi, Pirro und ich am Fünfdeck die Kästchen mit den Rohlingen. Du hattest deinen Schlüssel ja schon.«

Nun machte es auch bei Lenna klick! Sie hatte sich damals sogar gefragt, ob der fünfeckige Tisch eine besondere Bedeutung hatte. Wenn sich dort noch ein fünfter Rohling befand, konnte einer der Erwachsenen einen neuen Lockardi erschaffen.

»Der fünfte Schlüssel ist fort«, sagte Ashwin knapp.

Herr Berger blinzelte irritiert. »Wie bitte?«

»Was soll das bedeuten?«, fragte nun auch Silver. »Hast du ihn etwa genommen? Ashwin, das verstößt gegen sämtliche Regeln, die das Kuratorium …«

»Ich habe ihn nicht«, würgte Ashwin sie ab. »Er ist fort.«

Lenna wollte fragen, was das bedeutete, aber Pirro fasste sie behutsam am Arm und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Da halten wir uns lieber raus.«

Vielleicht hatte Pirro gespürt, dass die ohnehin schon angespannte Stimmung gleich explodieren würde. Gleich darauf fuhr Rudis Onkel auch schon mit drohendem Zeigefinger zu Ashwin herum und fixierte ihn mit einem lodernden Blick. »Ashwin! Was soll das heißen, fort? Seit wann? Wo ist der Schlüssel aus dem Fünfdeck?«

»Das ist jetzt nicht die Zeit für Diskussionen«, sagte Ashwin.

»Wo ist der Schlüssel?«, fragte Herr Berger mit Nachdruck.

Alle Augenpaare im Raum richteten sich nun auf Ashwin. Er seufzte und gab schließlich nach. »Als es damals die ersten Anzeichen dafür gab, dass Alwina an den Plänen für den Allmagieschlüssel arbeitete, habe ich Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Natürlich konnte ich nicht ahnen, dass sie einen Siegelzauber erschafft und die magische Gesellschaft lieber ausradiert, anstatt sich dem Kuratorium zu beugen, aber … mir war klar, dass ich irgendeine Art von Absicherung brauchen könnte. Also habe ich das Kästchen aus dem Fünfdeck entwendet und versteckt. Ich war mir sicher, dass niemand mein Versteck am Rande der Stadt aufspüren könnte, aber ich habe mich geirrt. Als ich vor einer Weile nachgesehen habe, war der Rohling fort.«

»Du willst mir also sagen«, begann Herr Berger und seine Brust hob und senkte sich schneller, »dass seit Monaten ein KeyKeeper im Besitz eines Lockardi durch die Gegend läuft? Und du hast es nicht für nötig gehalten, uns zu warnen?«

»Entschuldige, Peter«, sagte Ashwin sarkastisch. »Ich war damit beschäftigt, gegen meine Schwester vorzugehen, die unsere Welt mit Magie ins Chaos stürzen wollte – ach und nebenbei bemerkt, bin ich dabei auch noch fast draufgegangen.«

»Dir geht es seit Wochen besser!«, hielt Herr Berger dagegen. »Du …«

Lenna versuchte, das Geschrei der beiden auszublenden, und wandte sich ihren Freunden zu. »Das mit dem Schlüssel ist eine Sache für später. Viel wichtiger ist jetzt, was wir tun wollen. Wir sind die KeyKeeper dieses Magitoriums – und Samira ist in Not. Aber Silver und Binx haben auch recht: Wir wissen nicht, was uns im anderen Magitorium erwartet. Es wird vielleicht gefährlich. Was wollen wir tun?«

Rudi streckte seine Hand aus. »Ich bin dafür, dass wir Samira helfen. Wir müssen es zumindest versuchen! Sie sah so ängstlich und verzweifelt aus.«

Kimi legte ihre Hand auf seine. »Ich stimme Rudi zu – auch wenn ich nicht möchte, dass euch etwas passiert. Wir sollten auf jeden Fall vorsichtig sein.«

Lenna nickte und legte ihre Hand als Zeichen des Zusammenhalts auf die der anderen beiden. »Alles wird gut ausgehen. Wir sind immerhin Team Schlüssel.«

Sie blickte zu Pirro, der bisher ungewöhnlich still geblieben war.

»Wir gehen unter einer Bedingung«, sagte er. »Sobald einer von uns kein gutes Gefühl mehr bei der Sache hat, drehen wir alle um. Einverstanden?«

Als Rudi, Kimie und Lenna zustimmten, legte Pirro seine Hand dazu.

»Wir werden eure Entscheidung respektieren«, sagte Silver.

»Und natürlich werden wir euch begleiten«, erklärte Binx.

Dankbar nickte Lenna den beiden zu. Da Ashwin und Herr Berger sich immer noch angifteten, entschlüsselte Lenna ihren Lockardi. »Glimmar!«

Die grünen Magiefäden eines Elementaris lösten sich aus der Spitze ihres Schlüssels und eine Handvoll Feuerfunken begannen laut in der Luft zwischen den Streithähnen zu knistern. Sie sprangen auseinander und starrten Lenna an.

»Wir, die KeyKeeper dieses Magitoriums, haben eine Entscheidung getroffen«, sagte Lenna ernst. »Wir werden in das Magitorium des Herzens reisen. Ihr könnt euch uns anschließen oder hierbleiben – eure Entscheidung. Also, was sagt ihr?«

6

Herr Berger antwortete als Erster: »Nein! Das lasse ich nicht zu.«

Rudi trat an Lennas Seite und blickte seinen Onkel entschlossen an. »Du hast immer wieder gesagt, dass du mich und meine Freunde beschützen möchtest – und jetzt möchten wir jemanden beschützen, der uns braucht. Wir gehen mit dir oder ohne dich. Ich wünsche mir, dass du mitkommst. Bitte, sei dieses Mal auf unserer Seite.«

Etwas veränderte sich in der Miene von Herrn Berger. »Das ist eine absolute Ausnahme, Rudi. Und gut finde ich diese Rettungsmission noch lange nicht.«

Rudi nickte. »Wie kommen wir in das andere Magitorium?«

Silver deutete mit der Pfote auf die gläserne Tür. »Eure Lockardi funktionieren mit jedem Schloss im Einklang. Denkt fest an den Ort, den ihr betreten wollt.«

Lenna nahm die wenigen Stufen zum Vorsprung und betrachtete die Tür. Das Schlüsselloch befand sich mittig unter einem kristallenen Knauf. Sie schob ihren Lockardi hinein und atmete ein paar Mal tief durch, ehe sie fest an das Bild aus dem Fenster des Magitoriums des Herzens dachte. Als sie den Schlüssel herumdrehte, flossen leuchtende Wellen vom Schlüsselloch aus über die Tür. Um den Türknauf herum erschien eine Lotusblüte, die in einem verschlungenen Knoten saß.

Hinter sich hörte Lenna Laute des Staunens von Rudi, Kimie und Pirro.

Ein nervöses Kribbeln ging durch Lennas Körper. Gleich würde sie einen weiteren magischen Ort betreten! Was sie dort wohl erwartete? Wie es dort aussah?

»Sind alle bereit?«, fragte Binx. Zustimmendes Murmeln folgte.

Lenna öffnete die Tür, zog ihren Schlüssel ab und ging gemeinsam mit Silver voraus. Sie gelangten auf einen Pfad, der zu beiden Seiten von einer Hecke und mehreren Steinstauen eingerahmt wurde. Über ihnen spannten sich in regelmäßigen Abständen marmorne Bögen, an denen Kletterpflanzen wuchsen.

»Sieht aus, als wären wir draußen. Wie ist das möglich?«, fragte Kimie.

»Magie macht alles möglich«, sagte Rudi euphorisch. »Boah, habt ihr das gesehen? Die eine Statue hat mir zugezwinkert! Ob die leben wie unsere Porträts?«

»Denk dran, wir sind nicht zum Spaß hier«, meinte Pirro.

»Pirro hat recht«, sagte Herr Berger. »Das Magitorium des Herzens kann einen wahrlich verzaubern, aber bleibt aufmerksam und haltet eure Lockardi bereit.«

»Peter und ich werden ab hier vorausgehen«, entschied Ashwin und schlenderte an ihnen vorbei. »Komm, Peter. Meine Key-Breaker-Magie reicht für uns beide.«

Herr Berger schnaufte, folgte ihm jedoch. »Ohne mich wärst du eh verloren.«

Mit Silver an ihrer Seite ging Lenna den Erwachsenen nach, während Pirro und Binx hinter ihnen liefen und Kimie und Rudi das Schlusslicht bildeten. Ein wenig kam es Lenna vor, als würden sie den seltsamsten Klassenausflug aller Zeiten machen, wie sie so in Zweiergrüppchen den Pfad entlangschlenderten. Von hier aus konnte Lenna bereits einen schlossähnlichen Bau ausmachen. Sicher das andere Magitorium!

Lenna blieb aufmerksam und hielt ihren Lockardi bereit, aber als sie das Ende des Pfads erreichten, war es um ihre Konzentration geschehen. Dieser Ort war zauberhaft!



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