Die Insel der flüsternden Felsen - Anne Willsch - E-Book

Die Insel der flüsternden Felsen E-Book

Anne Willsch

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Beschreibung

Wenn es auf der Insel Kratonien um die Leidenschaft Nummer eins geht, sind sich alle Trolle, Zwerge und Wassermänner ausnahmsweise einmal einig: Sie alle lieben Edelsteine. Doch die Zeiten der Eintracht sind längst Vergangenheit; die Insel ist krank. Wie eine Seuche breiten sich Habgier und Missgunst über alle Lande aus. Selbst vor den öden Niederungen des Südens macht der schonungslose Raubbau keinen Halt: Wie ein Rudel Wölfe stürzt sich die skrupellose "Bruderschaft" auf einen unerwarteten Goldfund und unterwirft das Volk der Schottertrolle, von denen zwei sich retten können. Yorn und Rayan fliehen und machen sich auf die Suche nach Verbündeten. Auf ihrer Reise begegnen sie nicht nur zwielichtigen Quacksalbern, besserwisserischen Steinlingen und schönen Zwerginnen; ihnen wird auch klar, dass hinter all den Geschehnissen um den plötzlichen Goldrausch mehr steckt. Ist es wirklich bloße Gier, die ihre Zeitgenossen zu bösartigen Bestien werden lässt?

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für Juan

Zu diesem Buch

Wenn es auf der Insel Kratonien um die Leidenschaft Nummer eins geht, sind sich alle Trolle, Zwerge und Wassermänner ausnahmsweise einmal einig: Sie alle lieben Edelsteine. Doch die Zeiten der Eintracht sind längst Vergangenheit; die Insel ist krank. Wie eine Seuche breiten sich Habgier und Missgunst über alle Lande aus. Selbst vor den öden Niederungen des Südens macht der schonungslose Raubbau keinen Halt: Wie ein Rudel Wölfe stürzt sich die skrupellose „Bruderschaft“ auf einen unerwarteten Goldfund und unterwirft das Volk der Schottertrolle, von denen zwei sich retten können. Yorn und Rayan fliehen und machen sich auf die Suche nach Verbündeten. Auf ihrer Reise begegnen sie nicht nur zwielichtigen Quacksalbern, besserwisserischen Steinlingen und schönen Zwerginnen; ihnen wird auch klar, dass hinter all den Geschehnissen um den plötzlichen Goldrausch mehr steckt. Ist es wirklich bloße Gier, die ihre Zeitgenossen zu bösartigen Bestien werden lässt?

Die Autorin

Anne Willsch, Jahrgang 1990, studierte Geologie an der Universität Erlangen-Nürnberg und ist heute als freie Schriftstellerin und Illustratorin tätig. Sie lebt zusammen mit ihrem Partner und drei Meerschweinchen im Herzen Frankens.

Weitere Infos zur Autorin und ihrer Romanreihe sowie Aktuelles zum Erscheinungsdatum der Fortsetzungen auf Instagram unter @annewillsch

Abonnieren und informieren lohnt sich, denn die Abenteuer von Yorn, Azura & Co gehen schon bald in die nächste Runde:

Band 1: Die Insel der flüsternden Felsen – Der Fluch des Goldes

Band 2: Die Insel der flüsternden Felsen – Das Blut der Drachen

Band 3: Die Insel der flüsternden Felsen – Das Herz des Gebirges (ausstehend)

Band 4: Die Insel der flüsternden Felsen – Schotter und Schnee (ausstehend)

Kratonien

Personenverzeichnis

Schottertrolle

Endrís: Einwohner von Yol Fanur, Freund von Rayan und Yorn

Esker: Jarl von Yol Fanur, Vater von Yanek

Grimo Uranssan: Onkel von Rayan aus Yol Dauliš

Horat Junior: Einwohner von Yol Fanur, Freund von Rayan und Yorn

Kieselgur: Dorfdruide von Yol Fanur und begeisterter Poet und Musiker

Rëga Rutilsdûn: Tochter des Kieshändlers Rutil, Schwester Rayans

Rutil Uranssan: Kieshändler aus Yol Fanur, Vater von Rayan und Rëga

Rayan Rutilssan: Kieshändler aus Yol Fanur, bester Freund Yorns

Sílur: Einwohner von Yol Fanur, Freund von Rayan und Yorn

Yanek: Einwohner von Yol Fanur, Freund von Rayan und Yorn

Yascha: Dorfschönheit von Yol Fanur

Yolga Uransdûn: Wirtin des Nagelfluh, Tante Rayans und Schwester Rutils

Yorn Yesnâssan: Wollyakhirte, Sohn Yesnas aus Yol Osnat, bester Freund Rayans

Bantorzwerge

Anatas von Hammerfest: einer der vier Stammesfürsten, Herr des Sichelgebirges

Azura: Thronfolgerin des Bantorreiches, Tochter des Königs Eklot XII

Baran Silberdaum: Einwohner Zirkonias, Bruder von Baris

Baris Silberdaum: Einwohner Zirkonias, Bruder von Baran

Darius (†474): Prinz des Bantorreiches, Sohn Eklots XII und Bruder Azuras

Dhan: Lakai am Hofe Azuras

Eklot XI (†410): König des Großreichs der Zwerge (395-410), Großvater Azuras

Eklot XII (†474): König des Großreichs der Zwerge (410-474), Vater Azuras

Eklot (†474): Prinz des Bantorreiches und Bruder Azuras

Emerald von Erzen: Stammesfürst, Herr des Nordbantormassivs

Eskam (†499): Bruder des Großkönigs Eklot XII, ehem. Regent des Bantorreiches

Korund von Knoblaucherz: Stammesfürst, Herr der Steppe

Lillit von Smara: Urenkelin des Stammesfürsten Omon von Smara

Omon von Smara: Stammesfürst, Herr der Ewigen Hügel

Smílla: Zofe Azuras

Yanna (†474): Prinzessin des Bantorreiches, Schwester Azuras

Kupferzwerge

Adamas: Prinz, Sohn König Aragads I und Thronfolger des Kupferreiches

Alaba: Prinzessin des Kupferreiches, Zwillingsschwester von Adamas

Aragad I: König des Kupferreiches (seit 474), „Kupferkönig“ oder „der Hammer“

Belmasch Breitaxt: Oberbefehlshaber des Westwehres, Hüter der Grenzen

Benjon Rotauge: Seidenglanz‘ Handlanger

Dreibaum: Kerkermeister der Dunklen Löcher von Rhyolia

Fimmel: Fürsprecher am Hofe Jaspas in Rhyolia

Hayuna (†474): Königsgemahlin, Ehefrau von Eklot XII, Mutter Azuras

Jaspa, die Eisige: Regentin des südlichen Kupferreiches, Schwester Aragads

Krummkorn: Königlicher Barrister am Hofe Jaspas in Rhyolia

Meister Pheisto: Medikus am Hofe Aragads in Malachia

Saška Seidenglanz: Sklavenhändler aus Malachia

Schrotpech: Oberstleutnant des kupferzwergischen Heers in den Bleibergen

Steinfisch: Wirt des Kupfernen Kraken

Sonstige

Dädal Dreizack: im Bannwald niedergelassener Edelsteinhändler / -heiler

Dosefine Dreizack: Dädals Mutter und Einwohnerin von Bal Auris

Eoke: Nebelfrau und Schülerin einer Seherin

Fränäk: Wirt der Bisamklause

Gerk: Steinling, Mitglied des Kabinetts in Bal Bantor und Regent der Karstlande

Grauzahn, Goldkönig: König der Goldenen Bruderschaft

Latta: Hafenmädchen aus Malachia, Sklavin von Seidenglanz

Mëschuk: Kobold und Pedell am Hofe Jaspas

Orla: Steinling, Famula an der Steinernen Akademie von Bal Bantor

Pévjan: auch Pev genannt; Klabautermann, Schmuggler und Mithäftling Rëgas

Rana Ragá: mysteriöse Wanderseherin

Salzpraline: Meerjungfrau und Hafendirne im Kupfernen Kraken

Topas Alraun: Meister Alraun, Fell- und Lederhändler in Bal Auris

Winz: Caldatischer Wüstenwichtel und Gefangener der Goldenen Bruderschaft

INHALT

Die Entstehung der Welt

Die Schülerin

Der Schottertroll

Die Augen der Azura

Große Gefahr

Adamas, der Alleskönner

Ein Licht im Regen

Hochzeitsnacht

Bannwald Baëldarin

Die Schwarze Stadt

Lauter Lügen

Gebirgsfieber

Dädals Geheimnis

Die Siedenden Sümpfe

Die Reize der Rëga

Ein reiner Tisch

Jaspa, die Eisige

Das Hexenhaus

Wachtmeister Dosenwein

Das Königliche Tribunal

Der Gräserflüsterer

Das Urteil

Zum Nagelfluh

Die Frau ohne Namen

Der Raum der Sieben Siegel

Das Redekabinett

Malachia

In Bauche Bantors

Von der Latrine in die Traufe

Baran und Baris

Im Hause Seidenglanz

Die magische Grotte

Der Kupferprinz

Die Schlangenbeschwörer

Ende und Anfang

ANHANG

Almanach

Dynastien

Zeittafel

Geologische Entstehung

Die Entstehung der Welt

Am Anfang herrschte die Dunkelheit und die junge Seele der Welt war schwarz und kalt. Um der Einsamkeit ihres eigenen Daseins zu entfliehen, schuf sich die Dunkelheit eine mächtige Gefährtin; malte und schmückte sie in den buntesten Farben und wildesten Formen, den schillerndsten Tönen und von unglaublicher Schönheit. Sie nannte sie Mâra, Göttin der Erde.

Mâra war nicht nur lebensfroh und wild, sondern auch exzentrisch und entzog sich der führenden Hand ihrer Schöpferin. Die Dunkelheit war nun zwar nicht mehr allein, doch ihre neue Gefährtin entpuppte sich als unberechenbar. Als Mâra sich in einer Laune fünf Kinder schuf, die sie Yimris, Trajian, Nehal, Efendal und Fanur nannte, zog sich die Dunkelheit traurig zurück, da sie sich nicht mehr gebraucht und von Mâra hintergangen fühlte. Mâra und ihre Kinder lebten von nun an in einer Welt ohne Dunkelheit und voller Überfluss, doch als ihre Söhne und Töchter älter wurden, erkannten auch sie die launische und narzisstische Natur ihrer Mutter. Schon bald wurden sie ihrer Selbstherrlichkeit überdrüssig und verschworen sich gegen sie. Die fünf Kinder Mâras beschlossen, ihre Kräfte zu vereinen, um ihrer Mutter Erde Einhalt zu gebieten: Yimris schuf den Mond und die Sonne, die fortan auf die Wüsten und Berge Mâras niederbrannte, ihre Böden verdorren und ihre Gebirge spröde werden ließ; Trajian schuf das Wasser, das an den Küsten und steilen Klippen Mâras nagte, mächtige Flüsse und reißende Bäche, die das Gestein stetig spülten und in die Ozeane forttrugen; Nehal schuf den Wind, der unerbittlich über die steilen Gipfel und Ebenen Mâras blies und die Macht hatte, ganze Wüsten aus Sand und Staub fortzufegen; Efendal schuf das Erdenfeuer, welches das Gestein Mâras ins Wanken brachte und mit Rissen durchzog, ließ aschespeiende Vulkane wachsen und die Erde beben; und Fanur, der Jüngste der Geschwister, schuf das Eis und die Gletscher, die sich fortan wie träge Riesenschlangen durch Mâras Berge schoben und Unmengen Geröll von ihren Flanken raspelten.

Mâra war so erschüttert über den Verrat ihrer Kinder, dass sie augenblicklich erstarrte und zu Stein wurde. In ihrem Inneren, eingeschlossen im Fels, weinte sie bitterlich. Verborgen in den Tiefen des Gebirges blieben ihre Tränen als glitzernde Schätze an den Gängen und Spalten haften – an jenen Wunden, die ihre Kinder Mutter Erde zugefügt hatten.

Die Dunkelheit war erstaunt und verwundert über das, was aus ihrer Schöpfung geworden war. Sie beschloss, einmal am Tag auf die Welt zu blicken, um das Werk von Mâras Kindern zu betrachten und um mit schwarzem Mantel um das Schicksal der gezähmten Erde zu trauern.

Die Schülerin

Der Vogel, der den Schwarm verlässt, stirbt. Die Leute in ihrem Dorf hatten wieder einmal recht gehabt und Eoke hätte sich dafür ohrfeigen können, dass sie lieber auf ihre Meisterin gehört hatte, anstatt den anderen zu glauben. Immer schon war es ihr wichtiger gewesen, eine fleißige, gehorsame Famula zu sein, als allgemeingültigen Meinungen zu folgen; stets hatte sie jeden Befehl ihrer schrulligen, alten Mentorin ohne Zögern befolgt und jetzt – durfte sie deswegen um ihr Leben rennen.

Na vielen Dank auch!

Hätte die weiseste Seherin des Nebelreichs, vielleicht auch der ganzen Welt, nicht das Risiko vorhersehen können, dem sie Eoke ausgeliefert hatte? War ihr die drohende Todesgefahr nicht bewusst gewesen, als sie ihre Schülerin in die Schwarzlande geschickt hatte?

„Die Sa-che um die es hier geht, ist grö-ßer als du und ich.“ Die vertraute Stimme ihrer Meisterin ertönte in Eokes Erinnerung. Worte mit Silben zäh wie das Blut der Palmen, voll exotischem Singsang und gebettet in eine Rauchigkeit, die nur das jahrelange Paffen von Zigarren der übelsten Sorte zu erzeugen vermochte. Die Erkenntnis ergoss sich über Eokes Haare und Federschmuck wie der tropische Nachmittagsregen, der soeben eingesetzt hatte. Ihre Meisterin hatte es gewusst. Und sie war das Risiko bereitwillig eingegangen.

Zeit, die Fäuste zu ballen und wütend zu sein, blieb Eoke nicht. Panisch schlitterte sie einen glitschigen Hang aus rotem Lehm hinunter; eine schlechte Abkürzung, die ihren Verfolgern bereitwillig Eokes Spuren offenbaren würde. Nur mühsam balancierte sie auf ihren langen Beinen und versuchte mit ihrem drahtigen Körper, das Gleichgewicht zu halten. Ein Nebelmenschenkörper, von dem die Zwerge jenseits des Kamms gerne behaupteten, er sei tückisch wie der Morgendunst und könne mit dem Dschungel verschmelzen. Wenn das dumme Gerede der Zwerge doch nur ausnahmsweise einmal wahr wäre!

Zaubertricks wie unsichtbar werden hätten Eoke nun mehr genützt als die läppische Anfängermagie, die ihre Meisterin ihr bisher gelehrt hatte. Was brachte einem das Talent, das Wetter am Geschmack des Sonnenuntergangs vorherzusehen, wenn man von einer Horde Zähne fletschender Barbaren mit Säbeln verfolgt wurde?

Dabei waren die Wilden gar nicht Eokes größtes Problem. Wahrscheinlich hätte sie die schwergewichtige, ungelenke Wüstenbrut hinter sich hier in ihrer vertrauten Umgebung längst abgehängt, wäre da nicht diese eine ungünstige Sache. Palmblätter groß wie Boote und Lianen stramm wie Schlangen peitschten in Eokes junges Gesicht, als sie mit einem unguten Gefühl hinauf in die majestätischen Kronen der Urwaldriesen schielte. Da war er wieder! Dieser verfluchte Greifvogel, der ihren Verfolgern als Späher diente! Dieser verdammte Rotschnabel, bei dem sich Eoke sicher war, ihn schon einmal in völlig anderer Gestalt in Ashkent gesehen zu haben. In einer Gestalt auf zwei Beinen und mit einem hässlichen Grinsen im Gesicht.

In Ashkent, der Hauptstadt der Schwarzlande, wo Eokes Dilemma vor wenigen Sonnen begonnen hatte. In Ashkent, wo sich das Geheimnis des Sonnenkönigs zwischen dem Wispern des Wüstenwindes und den Schatten der Lehmhäuser verborgen hielt. Ein dunkles Geheimnis, welches das gesamte Eiland betraf; eine Insel so groß, dass viele behaupteten, sie hätte eher den Titel Kontinent verdient. Ein Geheimnis, das Eokes Meisterin ihrer besten Schülerin zu lüften beauftragt hatte.

Mit dem Gedanken an ihre Mentorin meldete sich erneut deren rauchige Stimme in Eokes Erinnerung. „Wir ha-ben nicht viel, aber wir ha-ben eine Pro-phe-zeiung: Wur-zeln des Bösen in des Berges Innerei. Blutig wie Adern, tödlich wie Blei. Das Herz-land wird richten mit ehernem Schwert. Gut wird Schlecht und umge-kehrt – finde he-raus, was das be-deutet! Finde he-raus, was die Worte meiner Schwester zu be-deuten ha-ben!“

Eoke hatte es herausgefunden und deshalb musste sie jetzt umso dringender überleben.

Rennend und nach Luft japsend verfluchte sich die junge Famula dafür, dass sie ihrer Mentorin keine Botschaft hatte zukommen lassen, als sie es noch gekonnt hatte. Wie blauäugig sie gewesen war! Niemals hätte sie daran gedacht, dass ihr Herumschnüffeln jemandem in Ashkent aufgefallen war; doch genau das war passiert.

Der nimmersatte Boden unter ihren Füßen schmatzte in der tropischen Hitze, während Eoke im Zickzack um die turmbreiten Baumstämme herum jagte. Keuchend kam sie zum Stehen, griff gekonnt nach einem der Pfeile im Köcher auf ihrem Rücken, spannte ihren Bogen, visierte den bösartigen Vogel über ihrem Kopf an und schoss. Surrend verlor sich der Pfeil weit oben im triefenden Grün des Himmels – doch fernab des Rotschnabels. Eokes Hände zitterten, als sie das Unterholz hinter sich zerbersten hörte wie unter einer Herde aufgebrachter Elefanten. Geschwärzte Gesichter, metallisch blitzende Säbel und blutrot durchtränkte Gewänder ließen Eoke die Füße in die Hand nehmen: Ihre Verfolger waren schneller gewesen, als sie es den plumpen Wilden zugetraut hatte.

Stolpernd hechtete sie hinein in den Urwaldsumpf. Nur ein paar Schritte waren notwendig, bis Eoke bemerkte, dass sie einen riesigen Fehler gemacht hatte. Unbarmherzig griff der tödliche Schlick nach ihren zarten Füßen. Ihre Schritte erlahmten wie die Bewegungen einer Fliege im Honig, während das hungrige Nass sich ihrer bemächtigte. Mit rasendem Herzen beobachtete Eoke, wie die Vasallen des Sonnenkönigs hinter ihr am Rande des Sumpfes zum Stehen kamen. Ein böses, hämisches Grinsen breitete sich auf ihren mit Kohle geschwärzten Gesichtern aus, die allmählich ihre Farbe im Regen verloren. Eoke war währenddessen bereits bis zum Bauchnabel eingesunken und verspürte den brennenden Schmerz der Zersetzung an ihren Fußgelenken.

„Schau an! Der Wald frisst seine Kinder!“, spottete eine Stimme. Eine dürre Gestalt in zerlumpter Kapuzenkluft trat hinter dem Wall aus groß gewachsenen Kriegern hervor. Voll Schrecken erkannte Eoke die ekelhaften Mundwinkel sofort, die sich vom regelmäßigen Kauen von Steinpech rot verfärbt hatten. Sofort verzogen sich diese zu einem hässlichen Grinsen, als ihr Besitzer einen Pfeil hinter seinem Rücken hervorzauberte. Eokes Pfeil.

„Der gehört dir, hab ich recht?“ Er genoss jedes Wort.

Die mutige Famula hatte nichts mehr zu verlieren. „Tu mir den Gefallen und mach schnell, Rotschnabel. Dann muss ich wenigstens die Galle nicht mehr riechen, die dein widerlicher Atem verströmt“, rief sie frech. Eoke schmeckte bereits die ersten Blutstropfen in ihrem Mund; der Sumpf hatte sich ihrer Innereien bemächtigt.

Ihr Gegenüber legte seinen Kopf zur Seite und erinnerte nun umso mehr an den listigen Greifvogel, der er eben noch gewesen war. Seine wässrigen Augen formten Schlitze. „Nicht doch. Niemand sollte diesem Wald seine Beute nehmen“, grinste er ein rotes, böses Grinsen. Eine minimale Geste seiner fleckigen, schwarzen Hand reichte aus, um den Trupp aus Kriegern zur Umkehr zu bewegen.

Eoke spuckte Blut. „Ihr macht einen riesigen Fehler!“, brüllte sie keuchend. „Euer Tun wird all das hier vernichten!“

Die dürre Gestalt hielt in ihrer Bewegung inne und blickte amüsiert zurück. „Falsch. Wir retten Kratonien, du naives Nebelgesicht. Wir bringen Kratonien wahren Glauben. Höheres Wissen. Fortschritt und Wohlstand.“

Es waren nicht die Worte, die Eoke erschreckten. Es war der Ausdruck auf dem Gesicht ihres Jägers, der der Famula jegliche Hoffnung für die Zukunft ihres Eilandes urplötzlich nahm. Rotschnabel hatte tatsächlich nicht die leiseste Ahnung, welches Übel er und seine Anhänger über Kratonien bringen würden. Sie wussten es nicht und mit ihrem letzten Atemzug war auch Eokes Chance verspielt, es ihnen zu sagen.

Der Dschungel fraß an diesem Nachmittag seine kostbarste Tochter.

Der Schottertroll

Betrachtete man einen Schottertroll, konnte man nie wirklich sicher sein, wo seine Kleidung aus Wollyakfell aufhörte und sein filziger, dunkelbrauner Pelz anfing. Zugegeben: Es kam ohnehin nicht oft vor, dass jemand von anderswo einem dieser „Wilden“ begegnete, als dass sich viele diese Frage hätten stellen können. Der Grund dafür war, dass die Heimat der Schottertrolle einfach viel zu weit im eisigen Nirgendwo lag und nichts bot, was eine entbehrungsreiche Reise gerechtfertigt hätte. Diese und einige andere Umstände hatten dazu geführt, dass die Bewohner Kratoniens den südlichsten Landzipfel ihres Eilands für gewöhnlich so gekonnt ignorierten wie einen gesunden Nachtisch auf einem Buffet.

Der Schottertroll Yorn war ein solcher in Vergessenheit geratener Zeitgenosse und dass sein Volk kaum die Aufmerksamkeit anderer genoss, war ihm nur recht. Sein vom Winter und Wetter gegerbtes Gesicht wurde von einer wilden Mähne aus Bartstoppeln und unzähmbarem Lockenhaar umrahmt, aus dem spitze Ohren ragten. Gemütlich lehnte Yorn an einem großen Felsbrocken und ließ runde, abgegriffene Steine durch seine rauen Finger gleiten. Nur ein waschechter Schottertroll hätte erkennen können, dass es sich bei Yorns Steinen nicht nur um einfache Kiesel, sondern um Göttersteine handelte; ein kostbares Erbe, mit dem man in die Zukunft blicken konnte, und das letzte Geschenk von Yorns Mutter an ihren Sohn. Geübt schwenkte der Troll die Steine in seinen Handflächen und warf sie dann mit Schwung auf den nassen Boden, auf dem die letzten Schneeflocken ihren Tod fanden. Yorn mochte diese Phase des Spätwinters nicht, in der die Temperatur knapp über und unter dem Gefrierpunkt herumtingelte und eine Nuance darüber entschied, ob alles in weiß-blauem Glitzer erstrahlte oder in braunem Matsch versank.

Als die Steine vor ihm zum Liegen kamen, war es nicht die Natur, sondern Yorns Gesicht, das zu Eis erstarrte. Weshalb erschrak er sich nur jedes Mal wieder von Neuem? Er wusste es doch längst! Seit Monden zeigten die Steine nun schon ein und dasselbe:

»GROSSE GEFAHR«

Aber was, in Fanurs Namen, hatte das zu bedeuten? Was wollten ihm die Götter mit dieser Warnung sagen? Mit einem mulmigen Gefühl ließ sich Yorn zurück gegen den Felsen sinken, der vom Rückzug der Gletscher vor langer Zeit zeugte, und griff in seine Hirtentasche. Der Beutel und sein Inhalt waren beinahe Yorns ganzer Besitz: ein Topf aus Blech, Feuersteine, ein Messer, ein wenig Alzarnikpech (mit dem man Feuer schwarz färben konnte, um unentdeckt zu bleiben) und eine Dose Kieselkraut. Yorn zog Letzteres heraus und genehmigte sich eine Prise. Kauend hielt er seinen kugelrunden Bauch und sah hinunter zum Fuß des Hügels, wo seine Tiere im Schlamm nach Nahrung wühlten.

Wenn man Yorn so sitzen und schmatzen sah, konnte man leicht den Eindruck gewinnen, dass er ein durch und durch typischer Schottertroll war: rustikal, ungestüm und mutig. Ein hartgesottener Haudegen, den Neuigkeiten wie »GROSSE GEFAHR« nicht aus der Fassung brachten. Nur leider war dem nicht so. Yorn war kein typischer Schottertroll. Yorn war ein Angsthase.

Anders zu sein, war in diesem Fall nichts Vorteilhaftes. Galt es doch hier, unter den „Yetis“, wie sie ihre Nachbarn abfällig betitelten, nicht als sonderlich schick, bei jeder Kleinigkeit Herzrasen zu bekommen und sich hinter dem nächsten Felsen zu verstecken. Yorn wusste um diesen Umstand und hatte in seinem Leben zwei Wege gefunden mit seinem peinlichen Charakterzug umzugehen: Der erste war es, stets einen gut gefüllten Beutel Kieselkraut als Nervenstärkung bei sich zu tragen. Der zweite, einen großen Bogen um jegliche Art von Abenteuer zu schlagen, so verlockend es sich auch anhören mochte. Wie passend, dass sich Letzteres hervorragend mit einem einsamen Leben als Hirte vereinbaren ließ. Hier unten in der Ödnis der Kältesteppe begegnete man kaum Leuten, die einen in irgendetwas Aufregendes hineingezogen hätten. Für Yorn war dies ein guter Grund mehr, die Grenzen seiner Heimat niemals hinter sich zu lassen und immer schön auf bekanntem Terrain zu bleiben. Yorns Welt und Vorstellungskraft endeten deshalb am Saum des Bannwaldes Baëldarin im Norden, den bitterkalten Fjorden im Süden, den spitzen, majestätischen Gipfeln des Kupfergebirges gen Morgensonne1 und den Ufern des Flusses Dauliš gen Abend2.

Doch nicht nur der Gedanke an die Fremde ließ Yorns Nackenhaare stramm stehen. Es gab auch eine naheliegendere Angelegenheit, die ihm den Schlaf raubte und seinen Kieselkrautvorrat dezimierte. Diese eine Sache aus seiner eigenen Vergangenheit. Ein Geheimnis, das er einfach nur vergessen wollte. Das Vergessen fiel leichter, seit er seiner Heimatstadt an der Küste den Rücken zugekehrt hatte und in das Herz der Schotterlande gewandert war. Hier kannte niemand die Vergangenheit des umgänglichen Wollyakhirten und es war einfach gewesen, den Leuten Lügenmärchen aufzutischen. Einmal war er der verschollene Sohn eines Specksteinschnitzers aus Yol Dauliš, der sich vor seinem rachsüchtigen Bruder in die Einsamkeit des Hirtendaseins zurückgezogen hatte, ein andermal dann der älteste Abkömmling einer Steinmetzdynastie aus Yol Kumliš, dem das Leben im Überfluss zu Kopfe gestiegen war und der nun Zerstreuung in der Natur suchte. Bald schon hatte Yorn festgestellt, dass seine neuen Freunde aus Yol Fanur bereitwillig alles glaubten; Hauptsache seine Märchen enthielten Romantik, böse Zwerge und ein gutes Ende. Nur seinem besten Freund Rayan hatte Yorn verraten, dass all seine Geschichten Flunkereien waren und er war Rayan dankbar, dass er niemals nachgebohrt hatte wieso.

Seit Yorns Flucht von der Küste und seiner Vergangenheit hatte er sich für ein Leben als Wollyakhirte entschieden und obwohl diese Wahl zu Beginn eher Mittel zum Zweck gewesen war, waren die Tiere inzwischen Yorns ganzer Stolz. Er besaß drei ausgewachsene Yaks namens Mondlocke, Winterstern, Eisblume und ein Kalb (das traditionsgemäß erst dann einen Namen bekam, wenn es seinen ersten Winter überlebt hatte). Das an einen Narwal erinnernde, spitze Horn auf der Stirnmitte der Yaks galt in den Schotterlanden als Symbol des Glücks und Yorn konnte dem nur zustimmen; seit er die Tiere sein Eigen nannte, schienen es die Götter das erste Mal in seinem Leben gut mit ihm zu meinen. Die Yaks schenkten ihm fettreiche Milch, warme Wolle und brennbaren Dung – alles Dinge, die Yorn auf dem Markt der Wetterfestung von Yol Fanur gegen ein paar Blätter Kieselkraut eintauschen konnte.

Der Handel, Yorns neue Freunde und der Ruf der Taverne waren drei der wenigen Gründe, die Hügel und Auen der Wildnis einen Abend lang hinter sich zu lassen. Die Siedlung Yol Fanur war vor langer Zeit aus dem Geröll der Gletscher erbaut worden und fügte sich beinahe unsichtbar in die braunweiße Winterlandschaft ein, so dass man sie im Vorübergehen gut und gerne übersehen konnte. Rayan und die anderen Schottertrolle waren stolz auf ihre Bauwerke aus Kieselsteinen – obwohl es dazu in den Augen Yorns eigentlich keinen Grund gab. Es war nämlich durchaus nichts Ungewöhnliches, dass das bröselige Dach einer Behausung einfach einstürzte, wenn eine nichtsahnende Schneeeule darauf landete. Ein weiterer Grund für Yorn lieber in seinem „Sternenzelt“ draußen in der Prärie zu schlafen. Hier musste man immerhin keine Angst haben, dass der Himmel mitten in der Nacht polternd über einem zusammenbrach.

Die verrückten Landsmänner Yorns, die die Grenzen ihrer Heimat schon einmal hinter sich gelassen, fremde Kontinente bereist hatten und mit Ratschlägen wie „Wir könnten Holz zum Bauen verwenden! Das würde unsere Höhlen stabiler machen!“ wieder nach Hause gekommen waren, schubste man hier gerne einmal in den nächsten Fluss. Was Kiesel als das Baumaterial Nummer eins anging, brauchte man mit Schottertrollen gar nicht erst zu diskutieren. Ebenso gut hätte man vorschlagen können, das Bernsteinbier in ihren Krügen gegen Salbeitee einzutauschen. Yorn wusste, dass die Schottertrolle mit ihrer Einstellung nicht alleine waren. Auf ganz Kratonien entlockte der bloße Gedanke an Holz als Baumaterial Steinmetzen und Bauherren nur ein verächtliches Augenrollen. Vergängliche, morsche Organik voller Gewürm und Ungeziefer – wer etwas auf sich hielt, benutzte so etwas Ordinäres höchstens als Brennmaterial für ein Lagerfeuer!

Je verächtlicher man dem Holz als solchem gegenüberstand (im Übrigen sehr zur Freude der Bäume selbst), desto brennender schlugen die Herzen der Einwohner Kratoniens für etwas ganz anderes (so unterschiedlich sie auch sein mochten und so gerne sie sich normalerweise die Köpfe gegenseitig einschlugen).

Sie alle liebten Steine.

Edelsteine, Erze, Mineralien; die Tränen Mâras, die glitzernden Juwelen der Berge und Täler, der Gipfel und Schluchten, der Flüsse und Seen, hatten seit Anbeginn der Zeit über das Leben und das Leid in allen kratonischen Landen bestimmt. Vom Kohletroll bis zum Kupferzwerg, vom schwemmländischen Wassermann bis zur Nebelfrau, vom Banditen im Bannwald bis zu den Steinlingen der Karstlande – sie alle träumten von steinernen Schätzen.

Sie waren es, um das sich hier alles drehte.

Doch als die Götter in grauer Vorzeit die kristallinen Reichtümer über die Landschaften, Berge und Tieflande verteilt hatten, war es dabei nicht wirklich gerecht zugegangen. Die Schöpfer von einst schienen die Schotterlande bei der Schaffung ihres steinernen Farbspektakels schlichtweg übersehen zu haben. Yorn vermutete, dass es ihnen einfach zu kalt und ungemütlich hier unten gewesen war. Grauer Kies und wertloser Abraum, den die Gletscher aus dem Kupfergebirge in den kargen Niederungen zurückgelassen hatten, waren alles gewesen, was die Götter den Schotterlanden zugestanden hatten. Wenn man es wie Yorn positiv sehen wollte, konnte man immerhin anmerken, dass kein anderes Volk es je für nötig befunden hatte, die schotterländischen Grenzen zu bedrohen, da es hier ohnehin nichts zu holen gab außer einer ordentlichen Erkältung. All das kümmerliche Geschiebe3 lockte keinen gierigen Zwerg, keinen langfingrigen Steinling, ja nicht einmal einen obdachlosen Poltergeist so tief in den eisigen Süden.

Da die Ebenen ihres Landes in Richtung der aufgehenden Sonne am Fuße des Kupfergebirges endeten, war Yorns Volk ausschließlich auf die Fracht der Flüsse aus den Bergen angewiesen. Wenn die Dinge günstig standen, konnte es passieren, dass die Wasseradern die eine oder andere Kostbarkeit aus dem fremden, verbotenen Gebirge wuschen und sie in die schotterländischen Auen schwemmten. Doch das Schürfen der wertvollen Fracht aus reißenden Flüssen war wenig ergiebig und mühsame Schwerstarbeit. Besonders dann, wenn in der Ferne die wilden Gipfel der Kupferberge neckisch in den Himmel ragten wie reizvolle Zuckerhüte und den Trollen beim Gedanken an die darin schlummernden Schätze das Wasser im Munde zusammenlief (während sie knietief, fluchend und frierend im eiskalten Nass standen). Yorn fragte sich, wer es seinen Landsmännern also verübeln konnte, wenn sie ab und an in das verbotene Zwergenreich stapften, um ein kleines bisschen hier und da nach Edelsteinen zu klopfen? Barg die beeindruckende Bergkette, die sich entlang der Ostflanke des gigantischen Eilandes erstreckte, nicht genug Schätze für alle?

Die eiserne Regentin auf der anderen Seite des Gebirges und ihr Volk sahen das anders, denn die zwergische Leidenschaft zu teilen hielt sich in Grenzen. Ihrer Ansicht nach gehörten die Kostbarkeiten im Gestein unter ihren Füßen nur einem: ihnen selbst. Wenn die Zwerge einen Troll bei der Langfingerei auf ihrem Hoheitsgebiet erwischten, waren sie deshalb in etwa so umgänglich wie eine Löwenmutter, deren Nachwuchs auf einem Spieß über dem Feuer grillte. Die Zwerge hassten die räuberischen Trolle aus dem Tiefland.

Und umgekehrt verhielt es sich genauso.

Immerhin brachte Yorns mangelnder Sinn für Abenteuer manchmal auch etwas Positives mit sich. Nie im Leben wäre es ihm eingefallen, es den anderen Trollen gleichzutun und die Steine der Zwerge zu stehlen. Beim Umherstreifen mit seinen Wollyaks achtete er deshalb penibel darauf, nicht zu nahe an die gefährliche Ostgrenze heranzukommen. Er sah einfach keinen Grund, warum es nicht bequemer sein sollte, auf dem nächstbesten Flecken Moos eine Prise Kieselkraut zu kauen, anstatt einen Nervenzusammenbruch wegen einer Handvoll Edelsteinen zu bekommen. Nein, diese Sache mit den Zwergen, über die Yorn nachgrübelte, betraf nicht ihn selbst. Sie betraf seinen besten Freund Rayan. Oder besser gesagt, Rayans Schwester.

Rëga war vor wenigen Vollmonden spurlos verschwunden und jeder in Yol Fanur wusste, was das zu bedeuten hatte. Sie war „gen Morgensonne gegangen“, war „dem Ruf des Gebirges gefolgt“ und dass sie bis jetzt nicht zurückgekehrt war, hieß nichts Gutes. Yorn fragte sich, was aus der stürmischen, frechen Rëga geworden war, als er die Umrisse Rayans in der Ferne auf sich zukommen sah. Er beobachtete, wie sein Freund den Hügel heraufmarschiert kam, während frostiger Südwind sanft und unbarmherzig durch die Gräsergerippe des Vorjahres strich. Schwere, dunkelgraue Wolken lagen über der Landschaft und nur ein schwacher, goldener Schimmer am Horizont verriet, dass sich der düstere Tag dem noch dunkleren Abend zuneigte. Yorn spürte, dass diese Nacht sternenlos und bitterkalt werden würde.

„’N Abend, Rayan“, sagte er, als sein Freund ihn erreicht hatte.

„’N Abend, Yorn“, grinste dieser.

Die beiden begrüßten einander auf südländische Art mit einem kurzen, aber bestimmten Kopfnicken und Rayan ließ sich neben Yorn auf den Hügel plumpsen. Rayan war etwas größer als sein Freund und hatte eine ebenso wilde, schwarze Mähne und pechfarbene Mandelaugen, die eine besondere Wirkung auf Trolldamen zu haben schienen. Er war ein impulsiver Geselle, der seinem Gesprächspartner überdurchschnittlich oft auf die Schulter klopfte, dreckiger lachen konnte als eine Sabberhexe und alle um sich herum mit „Bruder“ oder „Schwester“ ansprach (außer natürlich es handelte sich dabei tatsächlich um Familienangehörige wie Rëga). Auch wenn seine muskulösen Arme und seine breiten Schultern Rayan das Aussehen eines Kriegers verliehen, hatte er das Glück gehabt, nie einem heftigeren Gefecht als einer Kneipenschlägerei beizuwohnen. Auf einer davon hatte er Yorn kennengelernt. Nachdem er Yorn das Fell über die Ohren hatte ziehen wollen (weil der Fremde von der Küste „so komisch rüber geguckt hatte“), hatten sie schließlich brüderlich über einem Bernsteinbier Frieden und Freundschaft geschlossen.

Rayan gähnte herzhaft und entblößte dabei eine unvollständige Reihe von krummen, graugelben Zähnen. Dann kramte er zwei Trinkschläuche Bernsteinbier aus seinem Yakfellbeutel und reichte einen davon Yorn. Schweigend genossen sie den würzigen Sud und sahen hinunter auf die friedlichen Yaks und die Dampfwolken, die sich beim Ausatmen um die Nüstern der Tiere bildeten. Yorn holte zwei Flintsteine aus seiner Hirtentasche und schaffte es, mit einer geschickten Bewegung Funken zu erzeugen, die ein rauchiges, knisterndes Feuer entfachten. Das tanzende Orange erleuchtete die Gesichter der Freunde und schenkte ihnen Wärme, während eisige Kälte und Dunkelheit langsam an ihr Lager gekrochen kamen wie gierige Finger. Ja, es war etwas dran, wenn die Trolle in den Tavernen damit herumalberten, dass „der schotterländische Winter nichts für Süßweinschlüfer und Termalquellenplantscher aus dem Norden war“.

„Is‘ eine Weile her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, nich‘ wahr Bruder? Du wirst mir nich‘ glauben, was seitdem passiert is‘...“, durchbrach Rayan die abendliche Stille und nahm einige große Schlucke Bernsteinbier, so dass sein Adamsapfel auf- und ab hüpfte.

„Sag bloß, es gibt Neuigkeiten von Rëga?“, fragte Yorn erstaunt.

„Ne“, grunzte Rayan und seine Miene verfinsterte sich schlagartig. „Kein Wort. Nichts. Bestimmt haben diese Bastarde von Zwergen sie längst geschnappt.“

Die Freunde schwiegen unbehaglich. Yorn trommelte mit seinen dreckigen Fingernägeln auf seinem Trinkschlauch herum und bereute es, das Thema angeschnitten zu haben. „Was für Neuigkeiten gibt’s denn dann, mein Freund? Sind die Vorbereitungen für’s Fest etwa schon im Gange? Oder habt ihr endlich rausgefunden, wer der Rübendieb in Kieselgurs Hütte war?“, versuchte er es deshalb ins Blaue hinein. Er wusste, dass Rayan am besten aufzumuntern war, indem man ihn nach Tratsch aus dem Dorf fragte. Sein sonst so stolzer Freund nahm dann von einem Moment auf den anderen etwas Waschweibisches an, bekam ein breites Grinsen und begann mit Sätzen wie „Du glaubst nich‘, was ich neulich in der Taverne gehört hab“. Doch leider nicht dieses Mal.

„Vergiss Kieselgurs Rüben, Bruder“, kam es zurück, begleitet von einer verächtlichen Wischbewegung von Rayans Pranke. „Heute hab ich was Spannenderes zu erzählen! Du glaubst nich‘, was für ‘n Abenteuer ich in den letzten Tagen oben in Dauliš erlebt hab.“ Ein geheimnisvolles Funkeln trat in die Mandelaugen seines Freundes.

„Ein Abenteuer?“, wiederholte Yorn mit einer unguten Vorahnung, war jedoch froh, seinen Freund wieder bei besserer Laune zu sehen und gab nach. „Nu, erzähl schon!“

„Also gut“, entgegnete Rayan, als hätte Yorn ihn lange überreden müssen, mit seiner Geschichte herauszurücken. „Alles fing damit an, dass mein alter Herr und ich hoch nach Yol Dauliš gefahren sind, um dort ‘ne Fuhre Quarzitkies auszuliefern. Ware vom Feinsten, sag ich dir. Nich‘ ganz günstig. Die Daulišer da oben sind ‘n exquisites Völkchen, Bruder. Ganz anders als diese Bimshirne4 hier unten, die erstklassige Steine nich‘ von Geröll und Dreck unterscheiden können. Jedenfalls...“

Und so begann Rayan zu erzählen. Er berichtete Yorn, wie er und sein Vater in den Nahen Norden gefahren waren, Kiesgeschäfte mit den Trollen aus Dauliš gemacht hatten und ein paar Nächte bei einem Onkel namens Grimo untergekommen waren. Da Yorn noch nie in Dauliš gewesen war, beschrieb ihm Rayan die alte Handelsstadt, die um einiges größer war als Yol Fanur. „Dauliš is‘n verdammter Moloch, Bruder. Jeder scheint nur auf der Durchreise zu sein und ‘n schnelles Geschäftchen machen zu wollen. Aber bei den Göttern, Häuser gibt’s da oben Yorn; mit Gemäuern aus Steinblöcken und Glas in den Fenstern und so... ganz anders als hier“, sagte Rayan. Bei seinem Onkel Grimo, so berichtete er weiter, handele es sich um einen typischen Schwarzseher, der nur zu ertragen war, wenn man selbst ein oder zwei Bernsteinbierchen getrunken hatte, weshalb sie ihn am ersten Abend kurzerhand in eine Taverne im Zentrum von Dauliš geschleppt hatten. Weil die muffige Spelunke bereits bis unter die Decke gefüllt gewesen war, hatten sich Vater, Sohn und Onkel zu einer wilden Truppe von Bergmännern aus dem Tiefen Süden gesellt, die der allgemein bekannten Annahme „Wer viel arbeitet, kann auch viel trinken“ entsprochen hatten.

„‘N bisschen gewundert hat’s mich schon, was diese Yetis vom Kap so weit oben im Norden zu suchen hatten“, erzählte Rayan weiter, „also hab ich mir den Kleinsten und Lautesten von denen vorgenommen.“

„Und?“, hakte Yorn nach und fragte sich bei einem kräftigen Schluck aus seinem Schlauch, worauf die Geschichte seines Freundes wohl hinauslaufen mochte.

„Wollte mich erst grün und blau schlagen, weil ich ihn »Yeti« genannt hab“, erinnerte sich Rayan grinsend, „aber dann hat er mir verraten, dass sie wegen dem Gold gekommen waren.“

Das Gesagte verfehlte seine Wirkung nicht. Yorn hatte sich vor lauter Überraschung verschluckt und spuckte nun einen Schwall Bernsteinbier in das Feuer, wo es zischend verging. „Go-Go-Gold?“, röchelte er, als er wieder Luft bekam.

Rayan nickte, sichtlich zufrieden, welche Reaktion bereits der Beginn seiner Geschichte bei seinem Freund hervorgerufen hatte. „Verarschen kann ich mich selbst, Bruder, hab ich dem Bergtroll geantwortet, Gold, hier in Dauliš? Niemals! Nich‘ in diesem Leben! Aber der Yeti hat auf seinem Standpunkt beharrt und erzählte mir dann vom Geschenk Fanurs, wie er es selbst nannte. Es hieß, ‘n altes Mütterchen war’s gewesen, das das Gold beim Waschen in ‘nem Bergbach nahe der Grenze gefunden hat. Nich‘ weit von Dauliš, gen Morgensonne. Die Alte wollt‘s natürlich erst geheim halten, aber sowas lässt sich nich‘ geheim halten. Nich‘ wenn ein armes Bettelweib plötzlich ‘n paar Brocken funkelndes Gold ins Pfandhaus schleppt und behauptet, es sei nich‘ gestohlen. Als sie die Alte einsperren wollten, hat sie plötzlich gesungen wie ‘n Stollensittich; hat jedenfalls der Yeti behauptet.“

Rayan gestand, dass er das ganze Gerede zunächst für ein Märchen verrückter Bergleute gehalten hatte, die in ihrem Leben ein wenig zu oft und zu nahe an einer Sprengung gestanden hatten. Wahrscheinlich hätte er die Begegnung in der Taverne schon bald vergessen gehabt, wären ihm am nächsten Morgen nicht einige Dinge seltsam erschienen. Waren die Straßen schon tags zuvor so gefüllt gewesen? Hatte sich schon vorher so viel eigenartiges Volk auf den Plätzen von Dauliš getummelt? Kleine Trolle mit starkem Küstenakzent, eine Handvoll übel aussehender, rotaugiger Gestalten aus dem Vorgebirgsland von Yol Kumliš und altbekannte Kiesgesichter aus dem Herzen der Schotterlande, die sich über eine Schiefertafel gebeugt hatten, tuschelten und wild gestikulierten, hatten Rayan nachdenklich gestimmt. War das betrunkene Gerede des Yetis am Ende doch wahr gewesen?

Es hatte nicht lange gedauert, bis sich Rayans Vermutung bestätigt hatte: Offensichtlich war der Goldbach am Fuße des Kupfergebirges so geheim geblieben wie die Art Tratsch, die man mit einem „aber erzähl’s bloß keinem weiter“ hinaus in die Welt krakeelt. Die Kunde hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet und Glückssucher und Goldverrückte aus allen Teilen des Schotterreiches angelockt wie süßer Honig. Scheinbar waren Rayan, sein Vater und Grimo die Einzigen in der Stadt gewesen, die derart hinter den sieben Bergen lebten, dass sie bis jetzt nichts von dem Goldfund mitbekommen hatten.

Yorn konnte nicht länger umhin seinen besten Freund zu unterbrechen. „Gold in den Schotterlanden? Heiliger Hinkelstein! Ehrlich Rayan, ich kann’s nich‘ fassen! Wenn das mein altes Mütterchen noch erlebt hätte! Hätt‘ sich wahrscheinlich schleunigst ‘ne Waschpfanne besorgt und wär sofort nach Dauliš gerannt.“

„Verlockend, nich‘ wahr? Aber besser, sie hätt‘s nich‘ getan, Bruder.“ Rayan hielt inne, kratzte sich an seinen Barthaaren und räusperte sich geheimnistuerisch. „Besser sie hätt‘s nich‘ getan, denn tatsächlich kam alles völlig anders als gedacht.“ Rayan nahm sich einen Moment Zeit, die Spannung ins Unermessliche zu steigern und nippte bedächtig an seinem Bier. „Das Ganze sollte nämlich noch böse für Dauliš enden“, fuhr er endlich fort, „also hör zu und lass mich erzählen.“

Und das tat Yorn. Mit gespitzten Ohren lauschte er Rayan, der nun berichtete, wie ungemütlich die Stimmung in der Stadt geworden war. „Verdamm mich, Bruder, mein alter Herr und ich hätten dieses Hornissennest am liebsten sofort verlassen, aber wir hatten noch ‘n paar Tage dort zu tun“, fuhr Rayan fort. Vater und Sohn waren also geblieben und hatten mit mulmigem Gefühl beobachtet, wie die freudig erregten Gesichter auf den Straßen Sonne für Sonne weniger geworden und Misstrauen und Argwohn an ihre Stelle getreten waren. Die Goldsucher begannen die Einheimischen zu meiden, Abenteurer legten sich gegenseitig herein und die Daulišer verfluchten inzwischen das „Goldgesindel“, das ihre Stadt so plötzlich überschwemmt hatte. „Eine Schlangengrube“ hatte Grimo es genannt und Rayan hätte es nicht besser betiteln können.

„Bei den Göttern, das war wie ’n Haufen giftiger Nattern. Alle waren zu beschäftigt damit, sich gegenseitig in‘n Schwanz zu beißen, so dass keiner die wahre Gefahr erkannt hat, die auf sie zurollte“, erzählte Rayan weiter. Eine Gefahr, die weitaus boshafter war als alle trollischen Trickdiebe, Schatzsucher und Streithähne der Stadt zusammen und die anfangs so unscheinbar dahergekommen war. „Mir sind sie ja au‘ kaum aufgefallen in dem ganzen Durcheinander“, gestand Rayan ungewöhnlich kleinlaut. „Ich mein, ‘n wenig exotisch sind mir diese gruseligen Gestalten schon vorgekommen, ja, aber man denkt ja nich‘ immer gleich das Schlechteste von’n Leuten von anderswo, nich‘ wahr? Ich mein, es waren ja immerhin keine Zwerge nich‘.“

Rückblickend wusste Rayan nun, dass ihm Zwerge um ein Vielfaches lieber gewesen wären als die ausgemergelten Fremden in ihren braunen Kapuzenmänteln, die so ganz und gar nicht in die Schotterlande gepasst hatten. Erst war es nur einer von ihnen gewesen. Dann eine Handvoll. Und schließlich immer mehr dieser finsteren Gestalten, die in dem Gewirr aus Händlern, Goldsuchern und Einheimischen auf- und untergetaucht waren. Und als sich alle Schottertrolle Daulišs schließlich bewusst geworden waren, welcher Parasit sich in ihre Stadt geschlichen und unbemerkt die Kontrolle übernommen hatte, war es bereits zu spät gewesen.

Das Gold hatte sie alle blind gemacht.

Yorn hielt den Atem an und wagte es nicht, seinen Freund zu unterbrechen.

„Vor drei Monden zeigten sie dann ihre wahren Gesichter, als wir un‘ der Rest der Stadt tief und fest schliefen“, erzählte Rayan erregt weiter. „Brachen Türen und Tore auf, zertrümmerten Einrichtungen, raubten, plünderten un‘ brandschatzten in ganz Dauliš. Enthaupteten den Jarl5 un‘ jeden, der sich ihnen in den Weg stellte. Mein alter Herr, Grimo und ich haben es rechtzeitig aus dieser verdammten Hölle rausgeschafft. Den Göttern sei Dank! Sonst säße ich heute nich‘ hier, Bruder.“

„We-Wer in Fanurs Namen...?“, begann Yorn, hielt jedoch inne, als er merkte, wie sehr seine Stimme zitterte. Um sie herum war es inzwischen still geworden. Selbst der Wind und die Wollyaks waren verstummt und schienen an den Lippen des bärtigen Erzählers zu kleben.

„Dämonen, Kreaturen der Finsternis“, sagte Rayan bitter und der Tanz der Flammen spiegelte sich auf seinem Gesicht. „Grimo und mein alter Herr meinen, sie stammen aus‘m Hohen Norden, jenseits des Bannwaldes, du weißt schon. Ihre Seelen gieren nach Gold und sie folgen seinem Ruf überall hin.“

Der Hohe Norden. Alleine der Klang der Worte prickelte unangenehm auf Yorns Haut wie eine schlechte Erinnerung. Der Hohe Norden. Das Unbekannte. Das Unheimliche.

„Is‘ das erste Mal, dass sie sich hier runter in unseren Süden wagen, sagen die Leute im Dorf. Noch nie hat’s sowas hier gegeben, nich‘ wahr?“, redete Rayan weiter. Ein Schatten der Unsicherheit war auf seiner sonst so selbstsicheren Miene hängen geblieben.

„Bis jetzt gab‘s hier auch nichts zu holen“, flüsterte Yorn.

„Du sagst es, Bruder“, nickte Rayan ernst.

„Und Yol Fanur? Is‘ es sicher hier?“, fragte Yorn ängstlich.

»GROSSE GEFAHR« züngelte die Offenbarung der Steine jäh durch seine Gedanken und er schluckte.

„Nu, das sagen zumindest die Dorfältesten und Kieselgur. Bei‘n Göttern Yorn, hier in Yol Fanur gibt’s doch kein Gold nich‘. Und Dauliš is‘ weit genug weg, nich‘ wahr?“, antwortete Rayan mit fester Stimme, als wolle er sich selbst überzeugen.

„Weit genug weg“, wiederholte Yorn nur. Beklommen stocherte er in der zischenden Glut ihres Lagerfeuers herum. In den orangenen, knackenden Flammen tauchten teuflische Fratzen und ausgemergelte Augen auf, die ihn bösartig anstierten. Dämonen, Kreaturen der Finsternis, die ihn unter diesem Mond bis in seine Träume verfolgen würden.

Die warmen Körper seiner Wollyaks, die sich später beruhigend neben ihm hoben und senkten, reichten in dieser Nacht nicht aus, um Yorns Seele Frieden zu schenken. Der Schottertroll konnte das ungute Gefühl nicht abschütteln, dass Rayans Bericht erst der Anfang einer weit bedeutenderen Geschichte gewesen war. Yorn hatte Angst und dieses eine Mal fürchtete er, dass sie nicht unbegründet war.

1 Morgensonne: kratonisch für Osten

2 Abendsonne: kratonisch für Westen

3 Geschiebe, das: von Gletschern transportiertes Material

4 Bimsstein, der: sehr poröses Vulkangestein, allerorts zum Hornhautraspeln von Trollfüßen bekannt

5 Jarl, der: schotterländischer Häuptling

Die Augen der Azura

Azura gehörte zu der Art Zwergendame, die man auf den zweiten Blick lieben lernte. Oder vielleicht sogar erst auf den dritten. Ihr abweisendes Verhalten, das ihr den Ruf eines „ungeschliffenen Rohdiamanten“ eingebracht hatte, kam nicht von ungefähr. Kannte man die Vergangenheit der stillen Zwergendame, konnte man ihr die Bitterkeit und Kälte kaum mehr übelnehmen, die einem anfänglich entgegenschwappten wie ein Eimer Eiswasser.

Eine wallende Mähne aus rotblondem, geflochtenem Haar umrahmte Azuras hartes, sorgenvolles Gesicht, das ihr junges Alter nur offenbarte, wenn sie lächelte (was jedoch selten vorkam). Ihr Kinn wurde von einem rötlichen Bart gesäumt, in den Steinperlen aus Jaspis, Türkis und Lapislazuli eingeflochten waren. Türkis war auch die Farbe ihrer traurigen Augen, deren Bann sich niemand entziehen konnte. Abergläubisch wie das einfache Volk im Berg nun einmal war, munkelte man tief im Fels über Azuras Gabe, mit einem intensiven Blick jeden Willen brechen zu können. Aufgeklärtere Zeitgenossen behaupteten dieses „magische Talent“ läge wohl eher an Azuras gesellschaftlicher Stellung, als an der bloßen Kraft ihrer Augen. Dass die Zwergin aus herrschaftlichem Hause stammen musste, verrieten auch ihre Hände, die nicht die Schwielen jahrelanger Arbeit mit dem Eisenhammer aufwiesen, und ihr aufrechter Gang, der davon zeugte, dass sie nicht den Großteil ihres Lebens mit gebückter Knochenarbeit tief im Gebirge verbracht hatte.

Aus hohem Hause zu stammen, bedeutete im Bantorreich nicht automatisch ein sorgenfreies Leben zu führen. Hohe Erwartungen ruhten auf den Schultern Azuras, der letzten Überlebenden ihrer Blutslinie, deren Geschichte beinahe so alt war wie das Gebirge selbst. Eine silberne Kette mit fünf tropfenförmigen Anhängern, die Azura um ihren Hals trug wie einen kostbaren Schatz und die sie nicht einmal zum Schlafen ablegte, war alles, was sie noch mit ihren Eltern und Geschwistern verband. Die Silberkette und – nun ja – die Verantwortung über ein komplettes Königreich im zentralen Hochgebirge Kratoniens. Denn auch wenn man es auf den ersten Blick nicht vermutete: In den Adern Azuras floss königliches Blut.

Die Alten ihres Volkes bekamen immer noch einen selig schwelgenden Ausdruck auf ihren Gesichtern, wenn sie von den „Goldenen Zeiten“ sprachen, in denen Azuras Vater, König Eklot, mit seiner schönen, geheimnisvollen Gemahlin, Lady Hayuna, über halb Kratonien geherrscht hatte. Viele Zwerge schienen nicht überzeugt, dass in seiner jüngsten Tochter Azura genauso viel Stärke steckte wie einst in ihm, dem „Adler“. Auch die fehlende Anmut Lady Hayunas veranlasste einige zur Munkelei darüber, ob Azura ernsthaft die Tochter der beiden sein konnte. Doch selbst ihre härtesten Widersacher mussten zähneknirschend zugeben, dass die magischen, türkisen Augen der ungewöhnlichen Prinzessin eindeutig die ihrer Mutter waren.

Nun war es im Bantorreich der Zwerge seit jeher Tradition, dass der Thronfolger (oder wenn es unbedingt sein musste eben die Thronfolgerin) den Silberthron mit sechsunddreißig Sommern bestieg; jenem Alter also, das hier im Hochgebirge als die Schwelle zum Erwachsensein galt. Es schien deshalb zunächst nicht weiter verwunderlich, dass Azura mit ihren vierunddreißig Sommern das Erbe ihrer Familie noch nicht angetreten hatte. Die fehlenden zwei Jahre waren jedoch nicht der einzige Grund, weshalb man bei Azuras Krönung nicht einfach ein Auge zugedrückt hatte (denn bisher hatte man ja auch kein Problem damit gehabt, einen Dreijährigen zum König zu krönen, wenn gerade kein anderer verfügbar war). Die Prinzessin entsprach – wie sollte man sagen – einfach nicht der gängigen Vorstellung eines Herrschers. Die Adligen sehnten sich nach einem Patriarchen, den sie im Griff hatten. Nach einem, der aus ihrem Holz geschnitzt war und den sie einschätzen konnten. Doch nicht nur sie, auch das fleißige Zwergenvolk in den Stollen schien nach einem starken König zu verlangen, zu dem es treuherzig aufblicken konnte. Einem, der Weisheit, graue Haare und im besten Falle keine Brüste mitbrachte.

Im Gegensatz zu Azura war ihr Vater, König Eklot, ein Bild von einem starken Anführer gewesen. Nach dem tragischen Tod des „Adlers“ im Jahre 474 hatte zunächst der Zweitgeborene, Azuras Onkel Eskam, die Regentschaft über das Bantorreich angetreten. Dieser war vor sechs Sommern verstorben und hatte keine Nachkommen hinterlassen. Azura hatte die Lakaien flüstern hören, ihr Onkel sei vergiftet worden, doch die Diener tuschelten einen Haufen Blödsinn und sie hatte es nicht ernst genommen. Nach Eskams Ableben war zunächst ein Konvent aus vier Stammesältesten gegründet worden, der das Bantorreich bis zu Azuras Krönung führen sollte. Diese „Übergangslösung“ kam vielen recht elegant vor – ganz besonders den Stammesältesten selbst: Emerald von Erzen, Fürst über das Nordbantormassiv, Anatas von Hammerfest, der Herrscher über das Sichelgebirge, Korund von Knoblaucherz, Herr des Steppe, und Omon von Smara herrschten seither über das Volk zwischen den mächtigen, weißen Gipfeln des Bantormassivs und den sanften Wölbungen der Ewigen Hügel. Azura hatte den Fürsten heimlich die Namen Wiesel, Kröte, Geier und Krähe verpasst. Wiesel, weil Emeralds Gedanken stets unruhig umherpendelten wie das Köpfchen eines Marders; Kröte, weil Anatas aussah wie eine fette, alte Unke; Geier, weil Korund mürrisch und kahlköpfig daherkam wie ein gieriger Aasfresser und Krähe, weil Omons drahtiger Körper und seine Hakennase Azura an einen hinterlistigen Vogel erinnerten.

In jungen Jahren war Azura froh gewesen, einfach nur ein Kind sein zu dürfen. Ein Kind ohne Regentschaft, ein Kind ohne Verantwortung. Ja, es hatte Zeiten gegeben, in denen sie ihren Onkel und die Fürsten bewundert hatte und froh gewesen war, alles aus sicherer Entfernung zu beobachten. Doch das Kind Azura war zur Frau geworden, die sich danach sehnte, das Erbe ihrer Eltern selbst fortzuführen. Inzwischen ärgerte sie sich darüber, dass Wiesel, Kröte, Geier und Krähe sie während des Konvents kaum beachteten und nur überheblich lächelten, wenn die Prinzessin es wagte, etwas einzuwerfen. Azura merkte wohl, wie sehr sich die Grau- und Weißbärtigen bemühten, nebulös und umständlich über einfachste Dinge zu schwadronieren; ganz so, als hofften sie, Azura verlöre so das Interesse. Die Prinzessin zwang sich deshalb, umso wachsamer zu bleiben und lernte, dass man auch als Statistin erstaunliche Dinge erfahren konnte, wenn man nur die Ohren spitzte.

So hatte es eines kalten Tages im Spätwinter nicht lange gedauert, bis Azura begriffen hatte, dass der Konvent über ihr eigenes Schicksal debattierte. Meister Geier hatte weder ihren Namen noch ihren Titel genannt, doch es ging eindeutig um sie, als er davon sprach „die Zwergenstämme des Morgens und Abends wieder miteinander zu vereinen“ und „alte Bande zu erneuern“. „Ich bin kein Vieh, das man auf dem Mondmarkt von Bal Auris verschachert!“, hatte Azura wütend gerufen, doch die Fürsten hatten sie nur breit lächelnd angeblickt, als wüssten sie es besser. Dies sei ihre Chance etwas Gutes zu bewirken, hatte Meister Krähe ungerührt gesagt. Es würde die alten Reiche einander näherbringen, die einst ein mächtiges Königreich unter der Herrschaft ihres Vaters gewesen waren, hatte Fürst Wiesel hinzugefügt. Dem Erbe ihrer Eltern würde endlich Gerechtigkeit widerfahren, hatte Geier aufgebracht gerufen. Der Vierte im Bunde, Meister Kröte, hatte schließlich auf ganz andere Art versucht, Azura zu überzeugen. Mit dem charmantesten Lächeln, das sie je auf seinem fetten Gesicht gesehen hatte, fing er an, eine Lobeshymne auf ihren Zukünftigen, den Prinzen des Kupferreiches, zu quaken. Wie kühn und stolz er sei, dieser Adamas. Verehrt von seinem Volk, ein Liebling der Götter. Meister Krähe hatte daraufhin angeboten, eine prächtige Feier am Sitz seines Fürstentums, in der Stadt Smara, auszurichten. Überschwänglich hatte er vom Süßwein seiner höfischen Kelterei geschwärmt, den exotischen Tänzerinnen und den berühmten Meersalzdatteln im Palmenblattmantel. Eine Hochzeit ganz nach ihrem Geschmack, hatte er gekrächzt.

Azura erinnerte sich nicht mehr, an welchem Punkt sie schließlich schwach geworden war. Waren es die warmen Worte über ihren unbekannten Zukünftigen? Die Erinnerung an ihre Pflicht als Tochter Eklots? Oder waren es doch die Meersalzdatteln im Palmenblattmantel gewesen?

Mit gemischten Gefühlen grübelte Azura über die Pläne der Stammesfürsten nach, denen sie letzten Endes zugestimmt hatte, während ihre Finger langsam durch die fünf Silbertropfen ihrer Halskette glitten. Es stand fest: Sie würde Zirkonia nun verlassen müssen. Zirkonia, die Stadt der Edelsteinschleifer. Zirkonia, ihre Heimat. Die prunkvolle, aus dem Gebirge gemeißelte Metropole, die Azuras Ahnen vor langer Zeit erbaut hatten, klebte wie ein Wildbienenstock an den Ausläufern des mächtigen Bantormassivs im Zentrum Kratoniens. Wie Wildbienen so waren auch ihre Einwohner – emsig, fügsam und akkurat. Die prächtigen grau-weißen, steinernen Balkone, Terrassen, Simse und Türme an der Flanke des Gebirges boten einen weiten, beeindruckenden Blick auf die Hochlandebene, so dass die Prinzessin bei guter Wetterlage meinte, sogar die zarten Umrisse der fernen Ewigen Hügel am Horizont erkennen zu können. Doch die Heimat Azuras wäre keine echte Zwergenstadt gewesen, hätte sich das eigentliche Leben nicht untertage abgespielt. Treppen, Fenster und Galerien waren letztlich nur das Tor zu einer verborgenen Welt im Fels – robuster Gneis, der seit Jahrhunderten das Herz und Volk der Stadt vor Wind, Wetter und Feind beschützt hatte. Angst vor steilen Abgründen und Dunkelheit durfte man als Zwerg Zirkonias wahrlich nicht haben; die Kavernen und Tunnel waren eng, denn große Hohlräume im Fels machten diesen instabil und die Zwerge, Kenner ihres Fachs, wussten über Derartiges im Gegensatz zu Schottertrollen bestens Bescheid.

Die Hauptstadt war Dreh- und Angelpunkt eines weit verzweigten Gewirrs aus Gängen, geheimen Wegen und Pfaden, die das gesamte Gebirge durchlöcherten wie das Röhrensystem eines Termitenhaufens. Während viele dieser Wege tagtäglich als Handelsrouten, für Lorenschienen oder als Stollen zu den Schätzen des Gebirges genutzt wurden, waren andere Gänge längst in Vergessenheit geraten oder durch ein Erdbeben eingestürzt. So war es in Zirkonia durchaus nichts Ungewöhnliches, dass man beim Reinigen seines Abortes plötzlich feststellte, dass diesem ein ganzes Netz aus vergessenen Tunneln angeschlossen war, das bis tief zu den Silberadern hinab führte und viel zu gut für die bloße Verwendung als Kloake gewesen war.

Allerlei Gelehrte hatten sich daran versucht, dieses undurchsichtige Tunnelgewirr zu kartieren. Viele der weisen Frauen und Männer hatte die Aufgabe in den Wahnsinn getrieben oder sie waren für immer verschollen geblieben, nachdem sie sich zu tief in einen unbekannten Gang gewagt hatten. „Wie die Kartierung von Bantors Bauch“ betitelte im Volksmund daher eine Aufgabe, die niemals enden wollte oder schlichtweg aussichtslos schien. Azura hatte sich als kleines Mädchen einen großen Spaß daraus gemacht, ihrer strengen Zofe Smílla zu entfliehen und das geheime Netz der Tunnel selbst zu erforschen. Doch allzu tief hatte sie sich selbst als Kind nicht in das dunkle Gestein vorgewagt und die Gefahr gespürt, die von dem bodenlosen und magischen Irrgarten ausgegangen war.

Bantor, das Gebirge, war für die Einwohner Zirkonias etwas Lebendiges – ein Riese, der sein Volk mit kostbaren, glitzernden Schätzen versorgte, die seinen mächtigen Gesteinskörper entlang von Adern, Flözen6 und Drusen7 durchzogen (einige Grubenarbeiter behaupteten sogar felsenfest, schon einmal seinen Herzschlag im Inneren des Gebirges gehört zu haben). Ob das Pochen nun von Bantor oder ihren Hämmern gestammt hatte, war unwichtig – wichtiger war es, den Riesen ruhig und friedlich zu stimmen. Denn war Bantor in Rage, erwachte das Gebirge zum Leben und brachte all seine Bewohner in schreckliche Gefahr.

Auch Azuras Leben fühlte sich im Moment an, als hätte darin ein Erdbeben gewütet. Kein Stein schien mehr auf dem anderen zu stehen. Nichts würde so bleiben, wie es schon immer gewesen war. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend blickte sie hinab auf ihr Reisegepäck, das sie vor sich auf dem nackten Fels ihres Gemachs ausgebreitet hatte. Röcke aus zirkonischer Spitze, Mieder aus Leder, ein Mantel aus Bantorhermelin, abgegriffene Bücher, ein angelaufener Handspiegel, Stiefel aus schwarzer Natternhaut und ein wenig Silberschmuck mit Lapislazuli, Diamanten und Saphiren. Für Damen ihres Standes, die sich für gewöhnlich mit ganzen Bergen unnötiger Entourage umgaben, war es nicht sonderlich viel. Doch zum einen war Azura nicht wie andere Damen, zum anderen hatte sie trotz ihrer Zusage noch immer keinen rechten Frieden mit ihrer Abreise in die Fremde machen können.

Ein Grund dafür saß auf der Kante ihres Bettes. Er fixierte Azura mit seinen schmalen Augen, während er versuchte, seinen samtenen Frack zu schließen ohne hinzusehen. Schließlich gab er es auf und wandte seinen Blick hinab auf seine Mondsteinknöpfe. Es stand außer Frage, dass Azuras Liebhaber Dhan ein besonders schön geratenes Exemplar von Hochlandzwerg war. Sein pechschwarzes, welliges Haar trug er zu einem Zopf gebunden, sein Kinn säumte ein gepflegter Bart und seine Haut schimmerte glatt und makellos wie hellbraunes Wildleder.

Azura begann aufgebracht in ihrem Schlafgemach auf- und abzuschreiten. „Was erwartest du von mir?“, fragte sie händeringend. „Das Volk und die Stammesältesten verlangen dieses Opfer von mir, Dhan. Es ist meine Pflicht. Ich bin nicht die Tochter eines Bergmannes, die aus Liebe heiraten kann. Diese Allianz wird uns helfen, unser Reich stärken.“

„Unser Reich stärken? Unser Reich stärken? Unser Reich wird nicht stärker, wenn du es verlässt, sag ich“, rief Dhan ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass ihn jemand hören könnte. „Schon einmal dran gedacht, dass all das ein abgekartetes Spiel sein könnte? Dass es den Fürsten sehr gelegen kommt, wenn du Zirkonia verlässt, mein Edelstein? Du bist die Letzte, in deren Adern Eklots Blut fließt. Das Blut des Adlers!“

„Ja, genau das bin ich. Und als letzte Nachfahrin Eklots ist es meine Pflicht, das Reich zu stärken. Egal wie. Und... und so wie ich das sehe, kann ich das als Zwergin ohnehin nur indem ich heirate... und Kinder gebäre. So ist das eben“, suchte Azura nach Worten. „Wir haben immer gewusst, dass es nicht ewig gut gehen kann.“

„Haben wir das? Haben wir das? Die Alten scheinen dir ja ganzschön den Kopf gewaschen zu haben!“, kam es spitz zurück.

„Beim Barte Bantors, Dhan! Was glaubst du denn? Etwa, dass es mir leicht fällt? Ich möchte dich und Zirkonia genauso wenig verlassen! Wenn du einen Ausweg kennst, dann bitte – sag ihn mir!“ Azura fing den Blick ihres Geliebten auf und sah ihn durchdringend an.

„Tsss...“ Dhan zuckte trotzig mit seinen Schultern, so dass er für einen Moment wie ein kleiner Junge wirkte. Er war ebenfalls aufgestanden. „Weiger dich! Leiste Widerstand! Du bist die Prinzessin, du bist unsere Thronfolgerin und sie können nicht einfach... einfach...“ Seine Augen verengten sich wieder zu Schlitzen. „Hör auf, mich so anzusehen! Du weißt, dass ich es hasse, wenn du das machst. Hör auf, mich zu verhexen!“

„So lasse ich nicht mit mir reden!“ Azura war ebenfalls lauter geworden und ihre Stimme hatte etwas Herrisches angenommen. „Du vergisst dich! Und du vergisst, wer du bist und dass du Dinge wie diese nicht einschätzen kannst. Du bist nur ein... ein...“

„Ja? Bitte! Sag es!“ Dhan funkelte sie leidenschaftlich und wütend zugleich an.

„EIN DIENER!“, schrie Azura und Blut schoss ihr in die Wangen.

Die Luft um sie herum knisterte.

„Ach so. Alles klar“, sagte Dhan ruhig, strich den Samt seines Lakaienfracks glatt und setzte eine überhebliche Miene auf. Bebend sah Azura ihm nach, wie er erhobenen Hauptes durch ihr Gemach schritt und in dem Geheimgang hinter einem mit Smaragden gesäumten Spiegel verschwand. Ihre Wut verpuffte augenblicklich wie Wasser auf einem Brocken heißer Lava. Ausgelaugt ließ sich Azura auf ihr Bett sinken und starrte hinauf in den mit Sternen und Tieren bestickten Baldachin.

„Ich will doch auch nicht gehen“, hauchte sie leise, diesmal zu sich selbst. Ihre Hand wanderte erneut zu der Kette um ihren Hals und ihr Herzschlag verlangsamte sich allmählich. Das Silber an ihren Fingerkuppen beruhigte sie. Ein silberner Tropfen für jeden von ihnen. Vater. Mutter. Eklot. Darius. Und Yanna. Azura dachte darüber nach, wie ihr Leben nun auch ohne Dhan aussehen würde. Ohne seine Sticheleien, seine Schmeicheleien und ohne ihre Heimlichkeiten und Geheimnisse, die nur sie beide teilten.

Der nächste Tag auf dem Hochplateau begann sonnig aber kühl. Raureif bedeckte die wenigen Grashalme der Steppenlandschaft am Fuße der Stadt und Azura zurrte ihren warmen Mantel aus Bantorhermelin enger. Schlecht hatte sie geschlafen in dieser letzten Nacht, hatte sich ruhelos hin- und hergewälzt wie eine sich häutende Schlange, bis der Schimmer des Morgens sie endlich erlöst hatte. Als die Sonne im hellblauen Dunst über der Hochlandebene aufgegangen war und sich der Boden allmählich unter den Füßen der Zwerge erwärmt hatte, war es für Azura und ihr Gefolge an der Zeit gewesen aufzubrechen. Jubelndes Volk aus dem Berg, die Stammesältesten Emerald, Omon, Anatas und Korund, ihre Knappen und Diener, Azuras Zofe Smílla, einige Soldaten der Fürstengarde und zwanzig Smaragdadler erwarteten die Prinzessin auf der obersten Palisade über der Stadt. Obwohl Azura noch nie zuvor einen der majestätischen Vögel hatte besteigen dürfen, verband sie etwas tief Vertrautes mit den Tieren. Sie hatte gehört, dass es jenseits Zirkonias nur wenige Zwerge gab, die sich einen Smaragdadler leisten konnten. Der königliche Hof besaß gleich mehr als zwei Dutzend der stolzen Tiere, die gleichzeitig das Wappentier ihrer Stammeslinie waren. Ihr schwarzes Gefieder schimmerte in der Sonne und das Orange-Grün-Blau ihres Halses und Kopfes ließ jeden Pfau blass aussehen. Ungeduldig und mit blitzenden Augen scharrten die Smaragdadler mit ihren Krallen, als könnten sie es nicht erwarten, endlich loszufliegen. Azura teilte ihre Vorfreude nicht. Mit flauem Magen ließ sie sich von einem Knappen auf den Rücken eines Tieres helfen und betrachtete unsicher dessen gefiederten Nacken.

„Das erste Mal?“, zischte der spitze, gelbe Schnabel unter ihr missmutig.

„Ja...“, presste sie hervor.

„Na, fabelhaft“, ächzte der Smaragdadler und schüttelte sich, so dass einige schwarze und bunte Federn durch die Luft segelten. „Die Anfänger geben sie immer mir. Nun denn. Festhalten! Keine Mätzchen machen! Und reiß mir bloß keine Federn aus!“

„Moment mal! Ich bin...“, entgegnete Azura erzürnt, suchte jedoch im gleichen Moment erschrocken Halt, denn da ging es auch schon los. Lautstark begannen die Smaragdadler mit ihren Flügeln zu schlagen. Noch mehr lose Federn stoben in die Lüfte und die Vögel erhoben sich mit den Zwergen auf ihren Rücken über die Türme der Stadt. Mit einem jähen Gefühl von Übelkeit lehnte sich die Prinzessin nach vorne und schlang ihre Arme um den Hals der Kreatur, die nun beinahe senkrecht in der Luft stand wie ein scheuendes Pferd. Trotz ihrer Angst zwang sich Azura, die Augen offen zu halten. Mit pochendem Herzen versuchte sie, Dhan zwischen all den winkenden Zwergen an den Simsen und Treppen auszumachen, doch im Gewusel der Gesichter und Hände konnte sie ihn nicht finden.

Nach ihrem Streit war Azuras Geliebter nicht wieder aufgetaucht. Das verpasste Lebewohl schmerzte die Prinzessin beinahe mehr als die Tatsache, ihn für immer zu verlassen. Ein kräftiger Flügelschlag riss sie aus ihren schweren Gedanken. Azura klammerte sich tiefer in das Gefieder des Vogelwesens und wandte ihren Blick von der Menge ab. Zirkonia wurde kleiner und kleiner, bis es irgendwann aussah wie eine Spielzeugstadt. Die „Glückauf“-Rufe unter ihr verhallten in der Ferne. Azura ahnte, dass ihr Volk seine Arbeit am Fels ohnehin nur ungern unterbrochen hatte und sich alle nach ihrem Abflug schnellstmöglich zurück auf ihren Weg in die dunklen Stollen machen würden. Die Smaragdadler ließen sich inzwischen von der Wärme der aufgeheizten Gebirgsflanke nach oben wirbeln und segelten hinaus über die flirrende Hochebene. Während die Prinzessin und die Fürsten das Privileg genossen, auf besonders großen und stattlichen Tieren zu reiten, flatterten Azuras ängstlich dreinblickende Zofe Smílla, die Knappen, Diener und Soldaten auf weniger potenten Exemplaren neben ihnen her, die ähnlich grazil flogen wie Stockenten. Zwei schwerbeladene Adler am Ende des Flugkommandos ächzten unter dem Gepäck, der Vesper und den wertvollen Geschenken aus Edelsteinen und Silber für ihre zukünftige Familie aus dem Kupferreich.

Azura hoffte, dass es eine kluge Entscheidung gewesen war, das Angebot Omons, der Krähe, anzunehmen. Dass die Feierlichkeiten nun in der Hauptstadt seines Fürstentums in Smara, im äußersten Osten ihres Reiches, ausgerichtet wurden, hatte den Vorteil, dass sich Braut und Bräutigam nun auf halber Strecke treffen konnten. Außerdem war es Azura taktvoller erschienen, nicht in Dhans Anwesenheit zu heiraten – auch wenn sie sich bereits wünschte, anders entschieden zu haben.