Die Jagd - Alaina Urquhart - E-Book

Die Jagd E-Book

Alaina Urquhart

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Beschreibung

Etwas Dunkles lauert in den Sümpfen Louisianas: Ein brutaler Serienkiller mit Vorliebe für medizinische Experimente spielt sein grausames Spiel. Über die Polizei macht sich der hochintelligente Psychopath nur lustig. Alle Hoffnungen liegen nun auf Dr. Wren Muller, der besten Forensikerin der Südstaaten. Mit ihrem schier unerschöpflichen Wissen und ihrer jahrelangen Erfahrung als Gerichtsmedizinerin soll sie den Mörder zur Strecke bringen. Es gab noch keinen Fall, den sie nicht lösen konnte. Bis jetzt. Immer mehr Opfer landen auf ihrem Seziertisch, doch es gibt kaum greifbare Spuren. Es beginnt ein lebensbedrohliches Katz- und Maus-Spiel, das Dr. Muller an ihre Grenzen bringt.

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Seitenzahl: 278

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Das Buch

»Jeremy mag den Morgen. Er trinkt dann einen starken Kaffee und achtet stets darauf zu frühstücken.

Jeremy macht sich ein Rührei und isst dazu ein Truthahnwürstchen. Er hat schon mit dem Gedanken gespielt, Vegetarier zu werden, doch vom Gesundheitsaspekt abgesehen findet er keinen wirklich überzeugenden Grund dafür. Zwar hat er vor Tieren mehr Respekt als vor den meisten Angehörigen seiner eigenen Spezies – vor allem aufgrund ihrer Fähigkeit, von Geburt an zu überleben.

Nachdem er den Teller gesäubert hat, geht er hinunter in den Keller, um nach seinen Gästen zu sehen.

Katie ist auffällig still.«

Ein hochintelligenter Serienmörder und eine herausragende Forensikerin. Die Jagd beginnt. Doch wer jagt wen?

Die Autorin

Die wissenschaftsbegeisterte Alaina Urquhart ist Co-Moderatorin des bekannten Podcast Morbid: A True Crime Podcast. Ihre Tage verbringt sie mit Aufnehmen oder Ausweiden. Und als Autopsietechnikerin bietet sie eine einzigartige Perspektive aus den Tiefen des Leichenschauhauses: Wenn sie ihr Mikrofon an den Nagel hängt, ist es ihrer Meinung nach an der Zeit, die Toten sprechen zu lassen. Bevor sie ihren ersten Thriller schrieb, erwarb sie Abschlüsse in Psychologie, Biologie und Strafjustiz. Alaina Urquhart lebt mit ihrer Familie und Mops Bailey in Boston.

ALAINA URQUHART

DIE JAGD

Aus dem Englischen von Frank Dabrock

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe The Butcher and the Wren erschien erstmals 2022 bei Zando, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 01/2024

Copyright © 2022 by Alaina Urquhart

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Thomas Brill

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design unter Verwendung von Shutterstock.com (JIRISH, Massimiliano Paolino)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-30733-2V002

www.heyne.de

Für Mom und Dad, die dieses Buch nicht lesen müssen.

Ihr habt die Ereignisse darin zwar nicht inspiriert (ist es denn die Möglichkeit?), aber ihr habt mich zum Schreiben animiert. Ihr habt ein seltsames Kind, und irgendwie wusstet ihr, was zu tun ist. Dafür verdient ihr meinen ewigen Respekt.

Für John, der mir das Selbstvertrauen gibt, kreativ zu sein.

Ich liebe dich von Jahr zu Jahr mehr.

Hör nicht auf, in den unpassendsten Momenten R&B-Balladen aus den Neunzigern anzustimmen.

Für meine drei wunderbaren Kinder, die bessere Bücher schreiben als ich und schönere Haare haben, als ich je haben werde.

Ihr dürft dieses Buch nicht lesen. Legt es sofort wieder hin.

TEIL EINS

1

Jeremy kann durch die Lüftungsschlitze die Schreie hören. Aber er reagiert nicht darauf. Seine abendliche Routine geht ihm über alles. Wenn er diese banalen, alltäglichen Tätigkeiten verrichtet, hat er das Gefühl, mehr er selbst zu sein. Wenn er im Badezimmer den alten Hahn des sauberen Waschbeckens aufdreht, beruhigt ihn das und bringt ihn wieder ins Gleichgewicht. Meistens endet sein Abend hier vor dem Spiegel. Nachdem er geduscht hat, rasiert er sich anschließend in aller Ruhe gründlich. Er geht gerne körperlich und geistig gereinigt zu Bett. Er nimmt sich jeden Abend Zeit für dieses Ritual und lässt sich dabei durch nichts stören.

Doch an diesem Abend reißt ihn ein besonders lauter Schrei aus seinem gewohnten Ablauf. Er starrt in den Spiegel und spürt, dass ein Gefühl der Wut seine Sinne vernebelt. Wie ein penetranter Verwesungsgeruch steigt es in ihm auf. Er kann nicht klar denken, während die beinahe rhythmischen Schreie aus dem Keller zu ihm empordringen. Soweit er sich erinnern kann, hat er Lärm schon immer gehasst. Als Kind hatte er an einem lauten, belebten Ort stets das Gefühl, dass alles um ihn herum auf ihn einstürzte. Inzwischen sind die einzigen Geräusche, die er mag, die Geräusche des Sumpfes. Diese Symphonie aus Tierlauten besänftigt ihn, hüllt ihn ein wie eine warme Decke. Die Natur liefert immer noch den besten Soundtrack.

Er versucht, die Schreie zu ignorieren. Seine Routine ist ihm heilig. Seufzend streicht er sich eine blonde Haarsträhne aus der Stirn und schaltet das Radio neben dem Waschbecken ein. Das einzige andere Geräusch, das ihm Trost spendet, ist Musik. Doch gerade als er sich entspannen will, dröhnt »Hotline Bling« von Drake aus den Lautsprechern, und er schaltet das Gerät sofort wieder aus. Manchmal hat er das Gefühl, in der falschen Zeit geboren zu sein.

Sorgfältig wäscht er Blut und Dreck von seinen Händen, während er versucht, dem gedämpften, schmerzerfüllten Stöhnen, das deutlich hörbar aus den Lüftungsschlitzen dringt, keine Beachtung zu schenken. Er mustert im Spiegel sein Gesicht. Es scheint, als würden seine Wangenknochen jedes Jahr etwas mehr hervortreten und sich immer deutlicher abzeichnen. Das ist einer der merkwürdigen Vorzüge des Alterns, und er schätzt sich glücklich deswegen. Viele Menschen bewundern einen markanten Schädel. Dabei ist den meisten nicht einmal bewusst, wie urzeitlich und verhängnisvoll diese Vorliebe ist. Die meisten Menschen wollen die grausame Seite der Psyche nicht wahrhaben, die sich im oft brutalen Überlebenskampf ihrer Vorfahren entwickelt hat. Jene Wesensmerkmale, die sich im Laufe der Evolution als nützlich erwiesen haben. Die Menschen sind einfach zu dumm, um zu begreifen, dass ihre eigenen Vorlieben auf einen Genpool zurückgehen, der seinen Ursprung in Gewalt hat.

Er sieht nicht unbedingt wie jemand aus, der schreckliche Dinge tut. Im Gegenteil, er wirkt harmlos und manchmal geradezu vorbildlich. Deshalb läuft auch alles so reibungslos. Es gibt eine Pflanze namens Amorphophallus titanum, die umgangssprachlich als Titanenwurz bezeichnet wird. Es handelt sich um eine große, wunderschöne Pflanze, der man nicht ansieht, dass sie gefährlich ist. Doch wenn sie etwa alle zehn Jahre erblüht, verströmt sie einen Geruch, der an verfaultes Fleisch erinnert. Dennoch überlebt sie. Und gedeiht. Er unterscheidet sich nicht allzu sehr von ihr. Zur Blütezeit strömen die Menschen in Scharen um diese seltsame Pflanze zusammen, und sie hat trotz ihrer Eigenarten eine Menge Bewunderer.

Morgen ist Donnerstag. Der Donnerstag ist sein Freitag. Er hasst es zwar, wenn die Leute auf der Arbeit so etwas sagen, dennoch gönnt er sich den Luxus, die Freitage freizunehmen, seit er sich an der Tulane University of Medicine fürs zweite Studienjahr eingeschrieben hat. Obwohl er sich dort durch ein paar Kurse quälen muss, beginnt für ihn am Freitag bereits das Wochenende. Diese Tage sind stets von großer Betriebsamkeit erfüllt. Er ist diesmal besonders aufgeregt, weil er mit seinen aktuellen Hausgästen am kommenden Wochenende Großes vorhat. Aber um seine Pläne vollständig in die Tat umzusetzen, braucht er noch eine weitere Person.

Emily wird ihnen Gesellschaft leisten. Er hat sie wochenlang beobachtet, seit er im Biologielabor mit ihr ein Team gebildet hat, und er ist sich sicher, dass sie jene Herausforderung darstellt, die er sich erhofft. Emily geht mehrmals die Woche joggen und stopft offenbar kein Junkfood in sich hinein. Sie verfügt also bestimmt über Ausdauer. Sie lebt zusammen mit zwei Mitbewohnern in Ponchatoula, wo sie außerhalb des Campus ein großes altes Haus gemietet haben. Abgesehen davon, dass sie ihrem neuen Laborpartner zu viel über sich erzählt hat, ist sie kompetent, selbstständig und intelligent, was für sie bei seinem Spiel von Vorteil sein wird. Zwar haben ihre Mitstreiter auch ihre Vorzüge, aber da sie schon länger hier sind, werden sie die für das Wochenende geplanten Aktivitäten wohl nicht bis zum Ende durchstehen.

Seine beiden anderen Gäste mussten seit ihrer Ankunft letzten Samstag ein paar Misshandlungen über sich ergehen lassen. Er war mit ihnen bei Buchanan’s spontan ins Gespräch gekommen. Normalerweise nimmt er sich Zeit, seine potenziellen Gäste erst kennenzulernen, so wie Emily, aber diese beiden sind ihm einfach in die Arme gelaufen. Als hätte ihn das Universum gebeten, den Müll rauszubringen. Natürlich war er der Bitte nachgekommen.

Katie und Matt sind furchtbar durchschnittlich. Ihnen mangelt es an der Fähigkeit zum eigenständigen Denken, und sie waren nur allzu bereit, einem Menschen mit scharf geschnittenen Gesichtszügen in der Aussicht auf Drogen nach Hause zu folgen. Inzwischen wissen Katie und Matt, dass sie einen Fehler gemacht haben. Er kann jetzt aus dem Lüftungsschacht erneut ein schmerzerfülltes Stöhnen hören und verliert langsam die Geduld.

Er beendet sein Schlafritual und eilt die Treppe zum Keller hinunter, wo seine Gäste untergebracht sind. Im selben Moment hört er, wie sich Katies leises Stöhnen in angsterfüllte Schreie verwandelt, und als er auf sie zugeht, zuckt ihr zierlicher Körper zurück.

»Du solltest nicht vergessen, dass du hier nur zu Gast bist«, sagt er und blickt ihr in die trüben braunen Augen.

Sie ist völlig unscheinbar. Ihr braunes glanzloses Haar klebt mit getrocknetem Blut an ihrem Hals. Sie sieht aus wie die typische Bewohnerin eines Trailerparks, obwohl sie sich größte Mühe gegeben hat, das zu verbergen. Ihre leicht vorstehenden Zähne hätten ja einen gewissen Charme, wenn sie nicht so ein unfassbarer Schwachkopf wäre. Als er sie in der Bar ansprach, erzählte sie Matt gerade von einem Erlebnis aus ihrer Cheerleader-Zeit an der Highschool – irgendeine armselige Geschichte, die angesichts ihres momentanen Zustands völlig abwegig klang. Jeremy zieht die Seile fest, mit denen sie an ihren Stuhl gefesselt ist, und überprüft, ob der Infusionsbeutel sie mit ausreichend Flüssigkeit versorgt. Im Schlauch sind keine Knicke, und der Beutel ist noch fast voll.

»Matt zeigt mehr Respekt. Nimm dir ein Beispiel an ihm, Katie.« Mit einem breiten Grinsen deutet er auf Matts stummen, reglosen Körper, der zusammengesackt auf dem Stuhl neben ihr sitzt.

Er hat das Bewusstsein verloren, wahrscheinlich durch den Schock, den er bei Jeremys letztem Besuch hier unten erlitten hatte. Katie beginnt, laut zu weinen, worauf Jeremy die Augen verdreht. Sie stellt seine Manieren auf eine Probe, und ihre Verzweiflung widert ihn maßlos an. Schweigend bleibt er neben ihr in der Dunkelheit stehen und drückt auf den Play-Knopf des tragbaren Lautsprechers zwischen den beiden Stühlen. »A Girl Like You« von Edwyn Collins erfüllt den Raum, und Jeremy grinst in sich hinein. Endlich ein angenehmes Geräusch.

»Ah, schon besser.« Er wiegt sich im Takt der Musik und gibt Katie Gelegenheit, sich zu beruhigen.

Doch nach dem ersten Refrain fängt sie an zu wimmern. Ohne zu zögern, greift er nach der Zange hinter ihrem Stuhl und reißt ihr mit einer zügigen Bewegung den quietschrosa lackierten Nagel vom linken Daumen. Dann zieht er ihr schreiendes Gesicht dicht an seines heran.

»Noch ein Laut von dir, und ich nehm mir deine Zähne vor. Verstanden?«

Sie bringt nur ein Nicken zustande, und er wirft die Zange in die Ecke und geht mit einem Augenzwinkern wieder nach oben.

In seiner Kindheit hat man Jeremy nur wenig Mitgefühl entgegengebracht. Er wurde stark vernachlässigt. Sein Vater war sehr streng, wenn auch gerecht, und erwartete von seiner Frau und seinem Sohn ein gewisses Maß an Gehorsam. Wenn Jeremy ihn in einem günstigen Moment erwischte, lernte er unter der gewissenhaften Anleitung seines Vaters die eine oder andere Fähigkeit und Lektion fürs Leben. Als Flugzeugmechaniker war sein Vater dafür verantwortlich, verschiedene Teile der Flugausrüstung instand zu halten. Obwohl dafür kein Berufsabschluss nötig war, erfüllte es Jeremy mit Stolz, dass sein Vater etwas mit Flugzeugen zu tun hatte, und er war ganz versessen darauf, etwas über eine der wichtigsten Erfindungen der Menschheit zu erfahren. Wenn er seinen Vater jedoch im falschen Moment erwischte, schlug ihm nichts als kalte Verachtung entgegen.

Trotz dessen Launen freute sich Jeremy jeden Tag darauf, wenn sein Vater von der Arbeit nach Hause kam. Zwar unternahmen sie kaum etwas zusammen, aber genau das schätzte er. Nachdem er den ganzen Tag mit seiner Mutter verbracht hatte, genoss er das vertraute Schweigen, während er mit seinem Vater vor dem Schlafengehen gemeinsam fernsah. Tagsüber war Jeremy die meiste Zeit sich selbst überlassen, und nur hin und wieder wurde dieser Zustand von einer der übertriebenen Aufmerksamkeitsbekundungen seiner Mutter unterbrochen, als könnte sie ihre Zuneigung plötzlich nicht mehr zurückhalten. Sie wechselte stets von einem Extrem ins andere.

Jeremys Interesse für Bücher verschaffte ihm stets eine Auszeit von den unberechenbaren Stimmungen seiner Eltern, und nichts konnte ihn vom Lesen abhalten. Obwohl seine Mutter ihn so sehr vernachlässigte, ging sie mit ihm alle paar Tage zur Bücherei in der Nähe der St. Charles Avenue. Er war damals sechs Jahre alt und besuchte noch nicht die Schule. Sie gingen immer wochentags dorthin, wenn sein Vater auf der Arbeit war. Jeremy begriff damals noch nicht, dass seine Mutter ihr einziges Kind nur deshalb zur Bücherei schleppte, weil sie mit einem der Bibliothekare eine Affäre hatte. Doch er verinnerlichte die Lektionen der Täuschung, die ihm diese Besuche erteilten. Schon früh lernte er, seinem Vater nicht zu erzählen, dass seine Mutter ihn allein zwischen den Regalen zurückließ, während sie mit Mr. Carraway in einem Hinterzimmer verschwand. Aber vor allem brachte er sich selbst das Stehlen bei. Er nahm unter der Jacke oder im Rucksack Bücher mit nach Hause, die seine Mutter nicht ausgeliehen hatte. Inzwischen ist Jeremy davon überzeugt, dass die Mitarbeiter aus Mitleid einfach wegschauten, aber damals hatte er das Gefühl, er würde jede Woche einen Raubzug durchführen.

Hin und wieder versuchte Miss Knox, eine der Bibliothekarinnen, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Eines Tages fragte sie mit sorgenvoll zitternder Stimme, ob bei ihm zu Hause alles in Ordnung sei. Aber statt darauf zu antworten, erkundigte Jeremy sich bei ihr nach einem Buch über Lobotomie. Ihn faszinierten diese altmodische Behandlungsmethode und ihr leidenschaftlichster Verfechter Dr. Walter Freeman. Am Wochenende zuvor hatte sein Vater die Wiederholung einer Frontline-Folge mit dem Titel »Broken Mind« geschaut. Die Sendung warf einen schonungslosen Blick auf die psychiatrische Praxis und beleuchtete die Anwendung der Lobotomie an Patienten, bei denen man Schizophrenie und alle möglichen anderen Krankheiten diagnostiziert hatte; dabei wurden die Verbindungen oder Netzwerke durchtrennt, die man für das atypische Verhalten der Patienten verantwortlich machte.

Besonders Dr. Freemans präfrontale Lobotomie hatte es Jeremy angetan. Diese Methode war unter dem ziemlich reißerischen Begriff »Eispickel-Lobotomie« bekannt. Sie beschwor in seiner Vorstellung das Bild eines tadellosen Chirurgen herauf, der von dem perversen Verlangen getrieben war, den kranken Verstand zu erforschen. Als Jeremy 1992 mitbekam, wie die Presse mit diesem Begriff gedankenlos um sich warf, um die Methode zu beschreiben, mit der der Serienmörder Jeffrey Dahmer seine Opfer außer Gefecht gesetzt hatte, war er empört. Dahmer war derart geistesgestört, dass er glaubte, er könne seine eigenen Zombies erschaffen, indem er seinen Opfern Reinigungsmittel und Säure ins Gehirn injizierte. Er war ein Idiot. Sein Vorgehen als »Lobotomie« zu bezeichnen, ist so, als würde man Ted Bundys Handlungen als »Partnersuche« beschreiben. Jeremy konnte förmlich hören, wie Dr. Freeman sich im Grabe umdrehte.

Jeremy war ein wissbegieriges Kind. Und da er chronisch unterfordert war, befriedigte er seinen Wissensdurst mit Experimenten. Immer wieder geisterte ihm im Laufe der Jahre der frühe Ratschlag seines Vaters durch den Kopf.

»Wenn du etwas über eine Sache herausfinden willst, mein Sohn, dann musst du sie öffnen.«

2

Trotz der frühen Morgenstunde ist die Luft in Louisiana bereits stickig. Dr. Wren Muller blinzelt sich immer noch den Schlaf aus den Augen, als sie aus ihrem Wagen in die schwüle Nacht hinaustritt. Die Rechtsmedizinerin wirft einen Blick auf die Uhr und zuckt innerlich zusammen. Wie schön es doch wäre, wenn die Verbrecher ihrem ruchlosen Treiben nur für ein paar Monate nicht um zwei Uhr morgens nachgehen würden.

Sie steigt über dichtes, feuchtes Gestrüpp hinweg und findet Halt auf den freiliegenden Wurzeln einer kahlen Zypresse. Die Furchen im Stamm fühlen sich an, als könnte Wren wie in den verschrumpelten Händen einer urzeitlichen, mythischen Sumpfkreatur jeden Moment darin verschwinden. Sie bleibt stehen und wartet, bis ihre Augen sich an das Licht gewöhnt haben. Die Taschenlampen dreier Polizeibeamter sind auf etwas weiter unten am Ufer gerichtet. Ihre Strahlen zerschneiden die Dunkelheit und tauchen alles ringsum in noch tieferes Schwarz. Durch den Kontrast hebt sich der Tatort von der Umgebung deutlich ab.

Der halb nackte, verschrumpelte Körper der Toten liegt inmitten des hohen Grases entlang des Ufers. Kopf und Schultern sind vollständig vom trüben, schwarzen Wasser bedeckt. Der Rest des Körpers liegt mit dem Gesicht nach oben gekrümmt im Gras. Die Frau ist recht groß und nicht übergewichtig. Als Wren über die Schulter blickt, sieht sie, dass ihre beiden Assistenten ihr mit einer Trage folgen. Aber selbst zu dritt wird es nicht leicht, die Leiche aus diesem unheilvollen Sumpf fortzuschaffen.

Erst vor zwei Wochen haben die Ermittler hinter der Twelve Mile Limit Bar die verweste Leiche einer anderen jungen Frau gefunden. Sie lag von modrigem Sumpfwasser durchnässt mit dem Gesicht nach unten in einer Pfütze. Wren fallen die Gemeinsamkeiten der beiden Fälle auf, während sie die Gegend inspiziert, und obwohl bei ihr sofort sämtliche Alarmglocken schrillen, unterdrückt sie dieses Gefühl. Sie begegnet jeder Leiche stets völlig unvoreingenommen. Doch während sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Leiche richtet, nimmt sie sich vor, nach versteckten Gegenständen zu suchen, die der Mörder zurückgelassen haben könnte. Als man vor zwei Wochen die andere Frau gefunden hat, entdeckte man in ihrem Mund mehrere zerknüllte Buchseiten. Sie waren durchweicht und unleserlich, aber eine Seite war größtenteils unversehrt.

Wren nähert sich vorsichtig dem aktuellen Fundort. Die Leiche trägt kein Hemd und ist bloß mit einer dreckigen abgeschnittenen Jeans und einem blauen BH bekleidet. Auf ihrem Bauch klafft eine große, horizontale Schnittwunde. Man hat sie mit einem primitiven Gegenstand regelrecht ausgeweidet. Unweigerlich muss Wren an den ohrenbetäubenden Lärm denken, den die Zikaden hier draußen bestimmt gemacht haben. Jedenfalls ist das der Fall, während das übernächtigte Team versucht, die letzten Momente dieser Frau zu rekonstruieren. Genoss der Mörder ihre letzten Atemzüge, als er ihren leblosen Leichnam hier herausschleppte, um ihn verwesen zu lassen? Die Gedanken moralisch verdorbener Individuen haben Wren stets fasziniert. Aber die letzten Gedanken der Toten umso mehr.

Sie wendet sich wieder dem Fundort zu und bemerkt ein geflochtenes Armband am linken Handgelenk des Opfers. Es war wahrscheinlich mal strahlend weiß, doch inzwischen hat es sich vom vielen Tragen dunkel verfärbt. Wren stellt sich vor, wie die Frau irgendwann mal dieses harmlose Accessoire gekauft hat. Wie sie es in die Hände nahm, herumdrehte und schließlich bezahlte. Ein Spontankauf, ein Gegenstand aus einem Aufsteller, der sie bis zu ihrem Tod begleitet hat.

Zusammen mit ihren Kollegen zieht Wren den Körper aufs abschüssige Ufer, und der Kopf gleitet langsam aus dem Wasser, sodass sie ihn genauer in Augenschein nehmen können. Auf dem Gesicht zeichnen sich deutlich die Totenflecken ab. Das Blut, das aufgehört hat zu pulsieren, als ihr Herz stehen blieb, hat sich infolge der Schwerkraft über ihr Gesicht ausgebreitet und auf Wangen und Stirn leuchtende Flecken gebildet. Im trüben Schein der Lampen kann man nicht besonders viel erkennen, aber Wren vermutet, dass die Totenflecken dunkelrosa verfärbt sind – was darauf hindeutet, dass das Opfer vor ungefähr zehn Stunden seinen letzten Atemzug getan hat. Totenflecken entstehen etwa eine halbe Stunde nach Eintritt des Todes, doch sie werden erst zwei oder drei Stunden später sichtbar. Nach etwa sechs Stunden nehmen die Flecken dann jene dunkle Rosafärbung an, die man mit bloßem Auge erkennen kann. Zwölf Stunden nach dem Tod sind sie am dunkelsten.

Als Wren ihren Blick auf das vor Entsetzen erstarrte Gesicht der Leiche herunterwandern lässt, bemerkt sie am Hals einen starken Bluterguss. Ein deutliches Anzeichen für eine Strangulation. Wren wird die Verletzungen in der Leichenhalle genauer untersuchen. Sie streift sich ein Paar violetter Latexhandschuhe über und lässt einen Finger über die Abdrücke am Hals gleiten.

Sie klopft die Taschen der Frau ab und tastet vorsichtig nach einem klobigen oder spitzen Gegenstand. Dieser zusätzliche Arbeitsschritt ist durchaus sinnvoll, denn schon oft hat sie von außen eine Spritze gespürt und sich auf diese Weise einen Besuch im Krankenhaus erspart. Sie kann jedoch keinen gefährlichen Gegenstand ertasten und greift in die Taschen. Sie sind leer – die Frau trägt keinen Ausweis bei sich.

»Habt ihr in der Nähe der Leiche irgendwas gefunden? Eine Brieftasche?«, fragt Wren, obwohl sie die Antwort bereits kennt.

Sie schaut zu den drei Polizeibeamten hoch, die daraufhin ihre Taschenlampen auf sie richten. Alle drei schütteln den Kopf.

Der junge Beamte zur Rechten lässt seinen Strahl flüchtig über den Bereich rings um die Leiche wandern. »Wir sehen dasselbe wie Sie. Keine Brieftasche, keine Ausweise und auch keine Waffe.«

Obwohl Wren sein Verhalten missbilligt, nickt sie bloß und bewegt die Gliedmaßen der Leiche, worauf eine alte, verblasste Tätowierung auf der Rückseite ihres Oberarms zum Vorschein kommt. Sie zeigt zwei betende Hände, durch die sich ein Rosenkranz schlängelt.

»Geben Sie mir die Kamera«, sagt Wren und streckt ihre Hand aus, den Blick weiter auf die Tätowierung gerichtet.

Einer ihrer Assistenten, der erst seit Kurzem für sie arbeitet, holt eilig die Kamera aus seiner Tasche und lässt sie beinahe fallen, bevor er sie ihr in die geöffnete Hand drückt. Wren fotografiert die Tätowierung und sucht dann nach weiteren.

»Wir werden in der Rechtsmedizin bessere Aufnahmen machen, aber es ist ratsam, auf Nummer sicher zu gehen und zusätzliche Fotos zu machen. Man weiß nie, was beim Transport so alles passiert. Da wir keinen Ausweis haben, müssen wir alle vorhandenen Erkennungsmerkmale registrieren, sonst liegt sie monatelang bei uns in der Leichenhalle«, erklärt sie, gibt dem Assistenten die Kamera zurück und knackt mit den Fingerknöcheln. Sie weiß, dass das eine schreckliche Angewohnheit ist, doch sie kann es nicht lassen. »Na schön, wie können wir den Todeszeitpunkt bestimmen?«

Wren schaut zu ihren beiden jungen Schützlingen, und augenblicklich weicht die Farbe aus ihren Gesichtern.

Einer von ihnen stammelt: »Äh, also, da sind die Totenflecken …«

Er beugt sich vor und deutet auf das rote Gesicht der Leiche.

Wren grinst und nickt. »Ja, das sehen wir. Wie wäre es mit einer weniger offensichtlichen Methode?«

Sie weiß zwar, dass er intelligent ist und die Abläufe kennt, aber ihm fehlt es noch an Routine. Im Laufe der Zeit wird das alles schneller gehen. Bald wird er ohne nachzudenken am Tatort oder im Büro seinen Job verrichten.

Er fährt sich mit der Hand leicht nervös durch das schwarze Haar und erwidert: »Die Rektaltemperatur?«

Wren richtet den Zeigefinger wie eine Pistole auf ihn, doch dann verzieht sie das Gesicht und schüttelt den Kopf. »Sie haben einen guten Instinkt. Wenn wir uns in einer Umgebung mit gleichbleibender Temperatur befinden würden, wäre das eine korrekte Antwort. Leider können wir uns nicht darauf verlassen oder hoffen, dass diese Frau die ganze Zeit bei milden achtundzwanzig Grad hier draußen gelegen hat.« Sie deutet auf die Trage. »Öffnet den Sack, damit wir sie von hier wegbringen können.«

Während die Assistenten den weißen Plastiksack auseinanderfalten, fährt Wren fort. »Hinsichtlich der Totenflecken lagen Sie richtig. Sie haben die dunkelste Färbung angenommen, was bedeutet, dass die Frau wahrscheinlich seit mindestens zwölf Stunden tot ist. Nehmt ihre Arme.«

Ihre Begleiter treten hervor, und Wren fordert sie mit einem Nicken auf, jeweils einen der Arme zu packen. »Versucht, sie anzuheben«, sagt Wren, während sie dabei zusieht, wie sich die beiden abmühen, die Leiche auch nur ein paar Zentimeter zu bewegen.

»Wow, die ist völlig steif«, bemerkt einer ihrer Schützlinge.

Wren zieht ihre Handschuhe weiter über die Handgelenke. »Genau. Die Totenstarre ist voll ausgeprägt und hat noch nicht nachgelassen. Was bedeutet das?«

Die Polizeibeamten am Tatort sind sichtlich genervt und blicken unter Stöhnen theatralisch gen Himmel, als hätten sie mitten in der Nacht etwas Besseres zu tun. Aber Wren lässt sich durch ihre offen zur Schau getragene Ungeduld nicht aus der Ruhe bringen. Wenn sie schon um drei Uhr morgens ihre Zeit bei einer toten Frau im Sumpf verbringen muss, dann will sie wenigstens ein paar Berufsanfängern die verschiedenen Arbeitsschritte zeigen.

Der Assistent, der am nächsten zu ihr steht, streicht seine Hose glatt. »Nun, das stimmt mit dem Zeitfenster von zwölf Stunden überein. Sie könnte aber auch schon länger tot sein, bei dem Stadium der Totenstarre bis zu dreißig Stunden.«

Na bitte.

Sein wachsendes Selbstvertrauen ist vielversprechend. Bei ihrer Arbeitsbelastung kann Wren jede fachkundige Unterstützung brauchen.

»Bingo. Und sehen Sie, was wir hier haben«, sagt sie und zeigt auf die Schwärme schwarzer Fliegen, die die Beamten aus ihren Gesichtern verscheuchen. »Ich weiß, es gibt hier draußen unzählige Insekten, aber diese kleinen Viecher sind Schmeißfliegen. Sie sind als Erstes bei einer Leiche und legen darauf ihre Eier ab, aus denen dann die Larven schlüpfen. Da sind zwar noch keine Larven, aber sie könnten bereits Eier gelegt haben. Das stimmt alles mit unserem geschätzten Zeitraum überein. Es sieht so aus, als könnte der Mörder seine Tat sogar am helllichten Tag begangen haben. Wer auch immer das war, ist ein dreister Mistkerl.«

Die Neulinge spielen ihre Rolle als faszinierte Schüler, doch als sie schwankend ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagern, um wach zu bleiben, wird Wren klar, dass sie ihr nicht mehr richtig zuhören. Sie wollen gerade aufbrechen, da ruft ihnen ein junger Polizeibeamter von den Bäumen etwas zu.

Er hält eine Taschenlampe in der Hand und hat sie auf den Boden gerichtet. »Hey! Hier ist ein Kleidungsstück!«

Wren kann sich ein Kichern nicht verkneifen und bemerkt spöttisch: »Und ihr dachtet schon, ihr könntet den Fundort wieder freigeben.«

Einer der Beamten wirft ihr einen verärgerten Blick zu, bevor er Richtung Bäume läuft. Wren folgt ihm und gibt den Forensikern ein Zeichen, bei der Leiche zu bleiben. Als sie sich dem von der Taschenlampe erleuchteten Bereich nähern, erscheinen zwei Gegenstände in ihrem Sichtfeld, die hier nicht hergehören. Unter einem Strauch liegt ein ordentlich gefaltetes T-Shirt, und darauf steht ein Paar schwarzer Flipflops. Es wird ein Foto gemacht, bevor einer der Beamten die Gegenstände aufhebt und in eine Beweismitteltüte steckt. Dabei entfaltet sich das T-Shirt, und ein Gegenstand fällt mit einem leisen Schlag zu Boden.

»Ist das ein Buch?«, fragt Wren, während sie in die Hocke geht und ihre kleine Taschenlampe einschaltet.

Vor ihr liegt ein kleinformatiges Taschenbuch mit dem Titel Die Leichenfledderer. Bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass es sich um eine Sammlung von Horrorgeschichten handelt. Jemand hinter ihr macht ein weiteres Foto, und Wren richtet sich mit dem Buch in der Hand wieder auf. Sie betrachtet es von beiden Seiten und hält es den Beamten entgegen.

»Sagt Ihnen der Titel irgendwas?«

Sie schütteln die Köpfe. Einer von ihnen streckt die behandschuhte Hand aus, um es an sich zu nehmen.

»Glauben Sie, dass es dem Opfer gehörte?«, fragt er und schlägt das Buch geistesabwesend auf.

»Ich schätze, das werden wir herausfinden«, erwidert Wren und sieht dabei zu, wie er das Buch zusammen mit den Kleidungsstücken für die Analyse in der Tüte verstaut.

Als sie auf dem Absatz kehrtmacht, versinkt sie im feuchten Erdreich. Mit einem hörbaren Glucksen zieht sie ihren Fuß wieder heraus und läuft zum Opfer zurück. Dort hilft sie den anderen, die Leiche in den Sack und dann auf die Trage zu verfrachten. Erneut begutachtet sie die Totenflecken und streift ihre Handschuhe ab. In dem veränderten Licht wirkt das Rosa noch kräftiger. Mit der Leiche und ihren zwei Assistenten im Schlepptau geht sie langsam zum Transporter der Rechtsmedizin zurück. Sie öffnet die Hecktür, und während sie wartet, bis ihr Team sich seinen Weg durch das unebene Gelände gebahnt hat, denkt sie mit Grauen daran, dass jetzt noch eine weitere unidentifizierte Tote in ihrer Leichenhalle liegt.

»Wer vermisst dich heute Abend?«, fragt sie leise, als die Leiche an ihr vorbeigetragen wird.

Ein Polizeibeamter in der Nähe fängt an zu kichern.

»Hat eine der Leichen je darauf geantwortet?«, sagt er.

Wren wirft ihm einen kurzen Blick zu, bevor sie die Tür zuschlägt und zur Fahrertür geht.

»Sie wären überrascht, wie viele Geheimnisse die Toten mir schon anvertraut haben.«

3

Jeremy mag den Morgen. Er trinkt dann einen starken Kaffee und achtet stets darauf zu frühstücken. Der Rest des Tages verläuft oft unvorhersehbar und chaotisch, und da er seine Mittagspause zur Recherche nutzt, kommt er nicht immer dazu, eine richtige Mahlzeit zu sich zu nehmen. Er schaut zu dem kleinen Fernseher über der Küchenanrichte hinauf. Die Sender berichten jetzt in der zweiten Woche über die Flucht zweier Sträflinge aus der Clinton Correctional Facility in Dannemora, New York. Selbst in Louisiana sind die Menschen fasziniert von der Geschichte einer verliebten Gefängnismitarbeiterin, die den beiden verurteilten Mördern wie in dem Film Die Verurteilen bei der Flucht geholfen hat.

Den Blick auf den Bildschirm gerichtet, macht Jeremy sich ein Rührei und isst dazu ein Truthahnwürstchen. Er hat schon mit dem Gedanken gespielt, Vegetarier zu werden, doch vom Gesundheitsaspekt abgesehen findet er keinen wirklich überzeugenden Grund dafür. Zwar hat er vor Tieren mehr Respekt als vor den meisten Angehörigen seiner eigenen Spezies – vor allem aufgrund ihrer Fähigkeit, von Geburt an zu überleben. Aber Mitgefühl empfindet er nicht, weshalb er kein Bedürfnis verspürt, sich eine leicht verfügbare Proteinquelle vorzuenthalten. Nachdem er den Teller gesäubert hat, geht er hinunter in den Keller, um nach seinen Gästen zu sehen.

Katie ist auffällig still.

Offensichtlich hängt sie doch noch an ihren Hasenzähnchen, denkt er.

Ihre linke Hand ist mit Blut verkrustet, das daran heruntergetropft und am Stuhlbein und Boden getrocknet ist. Sie hockt zusammengekauert da, um sich zu beruhigen, was in Jeremy das starke Verlangen weckt, sie ein wenig aufzuschrecken. Leider ist er spät dran und hat an diesem Morgen keine Zeit für derlei nebensächliche Vergnügungen. Stattdessen zwinkert er ihr zu. Als Matt ihn sieht, bekommt er einen heftigen Wutanfall und spuckt fluchend in Jeremys Richtung, während er mit dem Arm an den Ketten zerrt, mit denen er gefesselt ist. Jeremy bemerkt, dass Matt in der Nacht versucht hat, den Stuhl aus der Verankerung im Kellerboden zu reißen. Dabei ist lediglich ein Teil des Stuhlbeins gesplittert. Diese Stühle wurden vor langer Zeit im Fundament einzementiert, sie lassen sich nicht bewegen. Dennoch fragt er sich, was Matt vorhat, falls es ihm auf wundersame Weise gelingen sollte, den Stuhl umzuwerfen. Aber er kommt rasch zu dem Schluss, dass es sich nicht lohnt, darüber nachzudenken. Matt ist zu dumm und inzwischen zu schwach, um ihn zu überrumpeln. Jeremy überprüft ihre Infusionsbeutel und beginnt, sie nachzufüllen, während Matt sein Bestes gibt, den harten Mann zu markieren.

»Ich schwöre, ich werde dich verdammt noch mal in Stücke reißen, du Weichei!«, brüllt er und benetzt Jeremys Wange mit übel riechender Spucke.

Jeremy überlegt, mit einer Zange Matts Vorderzähne zu bearbeiten, aber er hat kein weiteres sauberes, gebügeltes Anzughemd zum Wechseln da. Außerdem kann man für einen Mann, der einen in seiner eigenen Pisse sitzend als Weichei beschimpft, eigentlich nur Verachtung empfinden. Er packt Matts Gesicht und gibt ihm einen kräftigen Kuss, wobei er ihm so fest auf die Unterlippe beißt, dass er ein befriedigendes Knacken hört. Manchmal erlaubt er es sich, seinen hedonistischen Trieben nachzugeben, und er hat das bisher nur selten bereut.

»Du bist freiwillig hergekommen. Vergiss das nicht«, knurrt er, während sich Matts Mund mit Blut füllt.

Matt brüllt und stammelt irgendwelches wirres Zeug, während Katie neben ihm leise wimmert. Jeremy wirft den beiden ein Lächeln zu und geht wieder nach oben. Mit einem Papiertaschentuch wischt er sich Matts Blut vom Mund und mustert sich kurz im Flurspiegel, streicht eine widerspenstige Strähne seines blonden Haars glatt und verlässt das Haus.

Jeremy arbeitet in einer Lager- und Logistikfirma, wo er für die Datenerfassung und Abrechnungen zuständig ist. Der Job ist genauso langweilig und stumpfsinnig, wie es sich anhört, und er hasst es, dass er den Großteil der Woche damit verbringt, ein Computerprogramm mit Zahlen zu füttern.

Er betritt die Eingangshalle von Lovett Logistics und lässt die stickige Luft draußen hinter sich. Wenn man in Louisiana im Sommer einen Parkplatz überquert, hat man das Gefühl, als würde man durch warme Butter stapfen. Die Luft ist drückend, feucht und schwül. Im Innern des Gebäudes hat sein Körper Mühe, sich an die kalte Luft zu gewöhnen, die aus sämtlichen Richtungen in den Raum gepumpt wird. Die auf Hochtouren laufende Klimaanlage, die schwachsinnigen Angestellten und das Wissen, dass er für die nächsten paar Stunden in dieser Petrischale eingezwängt sein wird, machen das hier zu einem absoluten Albtraum für ihn. Er greift in seine Tasche und stellt fest, dass er die Schlüsselkarte für das Büro vergessen hat, weil Katie ihn gestern Abend abgelenkt hat. Mit einem Seufzen geht er auf die Frau hinterm Empfangstresen zu. Sie ist leicht übergewichtig, und ihre Arme, die sie mit ärmellosen Kleidern und Blusen regelmäßig zur Schau stellt, lassen ihn an eingeölte, knusprige Hühnchenhaut denken. Ihr rundes Gesicht wird von ihrem totfrisierten blonden Haar umrahmt, das eigentlich dunkel ist. Er hat nie darauf geachtet, welche Augenfarbe sie hat, denn von den Unmengen Make-up in ihrem Gesicht wird ihm schlecht. Heute bemerkt er darin einen Grünton, als hätte sich in ihren Augenhöhlen ein Pilz eingenistet und ihre Lider durchbrochen, um auch den Rest ihres runden Gesichts zu besiedeln. Wie üblich wischt sie über ihr Smartphone und sieht sich die zweideutigen Offerten an, mit denen unzählige Trottel den Posteingang der Dating-App fluten, über die sie ihren Seelenverwandten zu finden hofft.

»Kann ich etwas für Sie tun, Jeremy?«, fragt sie, als er näher tritt.

Er zuckt zusammen, als sie ihn mit seinem Namen anspricht, denn er hat sich ihren absichtlich nicht gemerkt. Er setzt ein freundliches Lächeln auf und stützt sich vor ihr mit dem Ellbogen auf den Tresen.

»Seien Sie so lieb und öffnen Sie die Türverriegelung für mich«, sagt er charmant und deutet auf seine Tasche. »Ich habe meine Keycard vergessen und kann es gar nicht abwarten, da reinzukommen, um mich an die Arbeit zu machen.«

Sie lacht laut auf und bedeckt ihren Mund, als würde sie auf diese Weise wie eine Dame aussehen. Er unterdrückt einen Brechreiz und stimmt in ihr Lachen ein. Sie lächelt und betätigt mit einem ihrer Acrylnägel die Entriegelungstaste.

»Dafür schulden Sie mir was«, sagt sie mit einem Augenzwinkern.