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Die Zukunft als meditative Reise. Tobias betrachtet in seiner hochentwickelten Wohneinheit die Todesumstände seiner vergangenen Erdenleben. Der intensive Blick in seine Vergangenheit schmerzt, doch auf der Suche nach sich selbst, muss er diesen Weg gehen. Mit seiner Geliebten begleitet er eine Mission zum Mars. Doch dies ist nur eine kurz erwähnte Episode, die nach der Rückkehr zur Erde in die Tiefen seines Unterbewussteins führt.
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Seitenzahl: 187
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Michael Grun
DieJenseitsmaschine
Science-Fiction
Engelsdorfer Verlag Leipzig 2024
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
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Copyright (2024) Engelsdorfer Verlag Leipzig
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Titelbild © Damerfie [Adobe Stock]
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
www.engelsdorfer-verlag.de
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Ein Falke schwebte in luftigen Höhen der aufgehenden Sonne entgegen. Unter ihm erstreckten sich Wälder und Wiesen in einer endlosen Weite. Im selben Augenblick, in dem sich die Sonne vom Horizont zu lösen begann, stieß er einen Kampfesschrei aus, als wollte er den anbrechenden Tag willkommen heißen.
Der Falke scherte abwechselnd nach beiden Seiten aus, um sich in einer ausgedehnten Bahn der roten Sonne zu nähern. Er hinterließ unsichtbare Wellenlinien, die deutlich machten, wie sehr er sich in seinem Element Zuhause fühlte.
Mittlerweile hatte sich die rote Sonne vom Horizont gelöst und an Helligkeit zugenommen. Der Falke sah zum Boden hinab, ohne seine Flugbahn zu verändern.
Als er ein beinahe ausgetrocknetes Flussbett erreichte, begann der Donner von Feldhaubitzen die majestätische Ruhe zu durchschlagen. Der Falke taumelte, doch er fing sich rasch wieder.
Schüsse peitschten. Schreie hallten durch das Zeltlager. Mittendrin befand sich ein Baby, das verzweifelt mit den Augen rollte. Eine junge Frau hielt es umklammert und rannte durch das Schlachtfeld. Ein Soldat ritt mit gezücktem Schwert auf sie zu. Sie sah ihn und kehrte um. Sie vermochte jedoch nicht, ihm zu entkommen. Die junge Frau duckte sich, um der drohenden Enthauptung zu entgehen. Die volle Wucht des Schwerthiebes traf ihre Schulter. Sie begann zu taumeln und stürzte zu Boden. Das umklammerte Baby schrie auf. Der Reiter machte kehrt und trieb das Pferd über sie hinweg. Der Hengst stieß dabei unwillige Laute aus. Als der blau uniformierte Soldat bemerkte, dass die Hufe sie offenbar nicht berührt hatten, stieg er kurz darauf herab und ging stolzen Schrittes auf sie zu. Mit letzter Kraftanstrengung versuchte die junge Frau, mit ihrem Baby von der näher kommenden Gefahr wegzukriechen. Der Soldat riss die beiden herum und zerrte sie auseinander. Die junge Frau begann, markerschütternd zu kreischen. Er schmiss das Baby zu Boden, woraufhin es hilflos zu wimmern anfing. Der Soldat stürzte sich auf die junge Frau und riss ihr die Kleider vom Leib. Sein Schwerthieb hatte ihr eine klaffende Wunde verursacht. Das hinderte ihn nicht daran, sich die Hosen herunterzuziehen und in sie einzudringen.
Die Augen der jungen Frau wendeten sich ab. Ihre kraftlosen Hände versuchten, ihn wegzustoßen. Der Soldat griff nach seinem Messer, stieß es ihr einige Zentimeter tief in den Bauch hinein und schnitt langsam ihre Magendecke auf.
»Stopp!«, ertönte es, und die Szenerie fror ein. Unmittelbar vor der wiedergegebenen Verstümmelung befand sich ein riesiges, rundes Bett. Im Zentrum dieses gigantischen Bettes saß Tobias. Er war ein athletisch gebauter, in einen roten Bademantel gehüllter Mittdreißiger. Im Schneidersitz ließ er seinen traurigen Blick über das holografische Standbild gleiten. Er seufzte.
»Bad!«, sagte er. Etwa zehn Meter von ihm entfernt bildete sich ein halbrunder Spalt. Das hereinfließende Licht unterbrach nur wenig die noch immer aufrecht erhaltene Illusion von räumlicher Weite. Zielstrebig durchschritt er das dreidimensionale Abbild und verschmolz mit der Lichtquelle.
Kreisrund war die Grundfläche seines Badezimmers. Ebenso rundlich war die komplette Ausstattung. Beinahe selbstleuchtend erstrahlte die blauviolette Farbe der abgerundeten Armaturen.
Tobias beugte sich über das Waschbecken. Sogleich strömte klarstes Wasser über seine Hände.
»Dreiundzwanzig Grad Celsius!« Er tauchte sein Gesicht hinein. Einen innehaltenden Moment später richtete er sich wieder auf. Er betrachtete sein Spiegelbild. Das Geräusch fließenden Wassers verebbte. Dunkle Augen wanderten langsam über die markanten, feuchten Gesichtszüge des Ebenbildes.
»Moira«, hauchte er. Es war ein Ausdruck tiefster Anteilnahme und zugleich voller unbeantworteter Fragen. Moira war seine Geliebte, doch seit einigen Wochen hatten sie keinen Kontakt mehr zueinander. Tobias war auf Abstand gegangen, weil ihm die Tiefe ihrer Beziehung in gewisser Weise zu unheimlich wurde. Er hätte sich etwas mehr Alltäglichkeit, ja sogar Oberflächlichkeit gewünscht.
Ein Stirnband mit drei zusätzlichen Striemen hielt sein volles Haar niedergedrückt. Er nahm es sich ab und legte es beiseite. Mehrmals ließ er seine Finger durch die Haare gleiten. Dann sah er sich – so tief es nur ging – in die Augen. Er seufzte und wischte sich mit einem weichen Handtuch bedächtig das Gesicht ab. Mit einer beinahe meditativen Bewegung nahm er das lederähnliche Striemencappy. Während Tobias es sich wieder aufsetzte, betrachtete er die Bewegungen seines Spiegelbildes. Dann verließ er das Badezimmer. Gemächlich ging er durch die eingefrorene Szenerie eines Schlachtgetümmels. Rechts von ihm befand sich das riesige Bett. Er ging daran vorbei.
»Küche!« Wenige Meter vor ihm öffnete sich ein weiterer Spalt. Er betrat den sich offenbarenden Raum, der ebenso rund und blau-violett ausgestattet war wie das Badezimmer. Mit einer Flasche Rotwein, einem antiquarischen Öffner und einem formvollendeten Weinglas verließ er die Küche. Er ging zum riesigen Bett zurück.
»Tisch A!« Mittig des Bettes drehte sich ein kleiner, runder Ausschnitt um hundertachtzig Grad und ragte nun empor. Dort stellte er das Glas ab und entkorkte die Flasche.
»Also schön«, sagte er, »personifizieren!« Die gesamte Umgebung drehte sich um ihn herum. Als das Baby einige Meter vor seinen Füßen zentriert war, erstarb die Drehung. Ein roter Pfeil entstand und zeigte auf die Abbildung des Babys.
Tobias wunderte sich, dass das Programm das Baby als eines seiner vergangenen Leben anzeigte. Da er sich seit Wochen mit diesem Programm auseinandersetzte und nur die Todesumstände betrachtete, war sein viertletztes Leben offenbar nur ein sehr kurzes.
»So weit, so gut«, sagte er, »gehe ins Hauptmenü und vergleiche die historischen Begebenheiten mit diesem Geschehen!« Es formten sich blitzschnell zweireihig aufgeschichtete Buchstaben und Zahlen.
SandCreek, Colorado, USA, 29.11.1864Wahrscheinlichkeit 96 %
»Und weiter!« Er schenkte sich Wein ein und nippte daran. Schüsse, Schreie und Pferdegetrampel drangen aus allen Richtungen zu ihm. Das riesige Bett und das gemütliche Licht der noch immer geöffneten Räume markierten unnatürlich scheinende Fixpunkte innerhalb des Schlachtgetümmels.
Das Baby lag hilflos strampelnd im Dreck. Als wollte es sich der grausamen Schlacht entfernen, hob das Baby den Blick in den Himmel hinein. Tobias nahm einen tiefen Schluck Wein und sah mit bekümmerten Blicken zum hilflos strampelnden, kleinen Menschen hinunter.
Zwei Uniformierte versperrten ihm unversehens die Sicht. Fast schien es, als betrachteten sie ihn. Einer von ihnen schluckte und wendete sich angeekelt ab. Daraufhin sah sich Tobias um und erblickte, warum der eine Soldat angewidert zur Seite schaute.
Kein Laut kam über die zitternden Lippen der jungen Mutter. Praktisch regungslos lag sie mit gespreizten Beinen auf dem sandigen Boden.
Mit der gleichen Geste wie der Soldat wendete sich auch Tobias ab. Er schloss die Augen und atmete tief durch.
»Warum bist du so entsetzt?«, wunderte sich der andere Uniformierte. »Diese Bastarde haben es nicht besser verdient. Hier. Schau her, wie wir mit diesen Tieren umgehen!« Er hob sein Fuß und hielt ihn direkt über das Gesicht des Babys.
»So behandelt man noch nicht einmal Tiere!«, schrie sein Gegenüber und schlug ihm mit voller Wucht auf die Nase. Der Getroffene stürzte zu Boden und blieb liegen. Mit zitternden Händen griff der zornige Soldat nach seinem Revolver und ging durch Tobias hindurch. Letzterer nahm einen tiefen Schluck Wein und drehte sich erneut um.
Mit hasserfülltem Gesicht hielt der zornige Soldat dem grausamen Uniformierten die Waffe an den Hinterkopf. Tobias blickte zur Seite. Die Detonation verkrampfte kurzzeitig sein ansonsten entspanntes Äußeres. Er trank sein Weinglas leer.
Der zornige Soldat zerrte den toten Körper von der jungen Frau weg und bedachte ihn mit einigen Fußtritten. Schluchzend wendete er sich der jungen Frau zu, kniete sich zu ihr nieder und faltete ihre Hände über die Brust. Zärtlich küsste er ihre Stirn und zog nochmals seine Waffe. Unter Tränen hielt er sie ihr an die Schläfe.
»Verzeih mir!«, schluchzte er. »Verzeih mir!« Die Detonation war kaum verebbt, da schlug ein Gewehrkolben an seinen Hinterkopf. Der andere Soldat schmiss das Gewehr zu Boden und hielt sich die blutende Nase. Noch während der Ohnmacht des zornigen Soldaten formierten sich zwei weitere Männer, die ihn in Ketten schlugen. Tobias füllte indessen sein Weinglas und nahm erneut einen tiefen Schluck.
Der zornige Soldat erwachte mit zusammengekniffenem Gesicht und stellte sich zittrig auf die Beine. Der Uniformierte mit der blutenden Nase packte das Baby an den Unterschenkeln. Es schrie auf. Hilflos zappelnd hing es über dem staubigen Boden. Seine kleinen Hände versuchten, danach zu greifen.
»Hier! Fang auf!« Das Baby flog kreischend durch die Luft. Die hilflosen Augen des arrestierten Soldaten verfolgten die Flugbahn. Blitzschnell streckte er seine angeketteten Hände und fing das Baby auf. Die Männer um ihn herum lachten.
Das riesige im Erdreich verankerte Bett erhob sich in die Lüfte. Tobias trank das Glas leer und schenkte sich erneut ein. Unter ihm verebbten allmählich die Schüsse und Schreie, ohne jedoch ganz aufzuhören. Es bildete sich eine Information.
WeiblichesBaby nicht mehr beiBewusstsein
»Zeitraum der Ohnmacht überbrücken!« Die Sonne hatte den höchsten Punkt des Tages erreicht, als das Bett sich wieder dem Bodengeschehen näherte.
Die vielleicht fünfhundert Soldaten bahnten sich in einer langen Linie einen Weg durch die fast unerschlossene, grüne Ebene. Tobias kippte den Rest der Weinflasche in sein Glas. Sogleich trank er es leer.
Das Bett verharrte in der Luft. Etwa zehn Meter darunter marschierten die Soldaten. Mit der leeren Weinflasche ging Tobias über sie hinweg. Er betrat seine schwebende Küche und ersetzte die leere Weinflasche gegen eine neue.
Es war zu vernehmen, dass die Soldaten in ausgelassener Stimmung waren. Sie übertönten die Geräusche des knarrenden Holzes der Wagen und des Pferdewieherns. Die Männer hatten sich unübersehbar mit indianischem Kulturgut geschmückt. Manche sangen. Viele wirkten alkoholisiert.
Davon unberührt ging Tobias zurück zu seinem Bett. Sichtlich entspannt entkorkte er die zweite Weinflasche und schenkte sich ein weiteres Glas ein.
Der letzte Wagen dieses Zuges war gerade unter ihm entlang gefahren, da senkte sich das Bett bis kurz über Bodennähe und folgte den Männern. Am Heck des Wagens war der arrestierte Soldat angekettet. Er hielt den Blick gesenkt.
Das Bett beschleunigte und glitt durch den angeketteten Soldaten hindurch. Mit gekrümmten Rücken und hängenden Schultern folgte er kraftlos der vorgegebenen Richtung. Die laute Geräuschkulisse erstickte fast vollständig die Schreie des Babys. So sie denn vernehmlich waren, klangen sie dumpf aus dem Vorratskasten am Heck des Wagens heraus. Unmittelbar davor bremste das Bett auf Schrittgeschwindigkeit ab. Die scheppernde Kette, die zum Soldaten führte, pendelte regelmäßig durch Tobias’ Körper. Letzterer trank einen tiefen Schluck Wein.
Trompetenklänge unterbrachen die ausgelassene Szenerie. Der Zug kam sogleich zum Erliegen. Ein Reiter scherte aus dem mittleren Bereich heraus und galoppierte zurück. Er riss unsanft am Zaum. Das Pferd stoppte protestierend. Der Uniformierte mit der sichtbar gebrochenen Nase stieg herab und ging zielstrebig zum angeketteten Soldaten.
»Was ist bloß in dich gefahren?«, schrie der Soldat mit der gebrochenen Nase. Er sah dem Angeketteten fest in die Augen. Unvermittelt öffnete ersterer den Vorratskasten. Er nahm das schreiende Baby heraus und hielt es angeekelt in den Armen. Mit traurigem Gesicht hielt der Angekettete den Blick gesenkt und betrachtete die dunkelrote Polsterung, in der er steckte.
»Ich kann nicht glauben, dass wir Freunde waren«, flüsterte er.
»Du bist tot!«, schrie der Soldat mit der gebrochenen Nase. Die Schreie des Babys intensivierten sich. Der Soldat, der es hielt, bedachte das hilflose Wesen mit verächtlichen Blicken.
»Sie sehen aus wie Menschen«, sagte er, »doch sie sind keine.« Dann sah er zu seinem ehemaligen Freund, der den Blick noch immer gesenkt hielt.
»Ich hatte schon immer den Verdacht, dass die sonderbaren Bücher, die du liest, deine Gedanken vergiften«, fuhr der hassende Soldat fort. Ein Zucken huschte über die kantigen Gesichtszüge.
»Du willst doch sicher nicht, dass ich dieses Balg töte.« Er ging mit dem Baby ein paar Meter zur Seite und legte es auf einen riesigen, mit Moos bewachsenen Stein. Sogleich entfernte er sich und ging zu dem angeketteten Soldaten zurück. Sie standen sich nun so dicht gegenüber, dass sie sich beinahe küssen könnten. Ein unendlich trauriges Gesicht sah nach unten, ein grenzenlos hasserfülltes Gesicht sah geradeaus.
»Siehst du«, flüsterte der hasserfüllte Soldat, »ich habe es nicht getötet.« Er spuckte dem traurigen Soldaten ins Gesicht und ging zu seinem Pferd zurück.
Als Trompetenklänge zu hören waren, setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Der angekettete Soldat drehte sich um und sah ununterbrochen zum schreienden Baby, bis er als Schlusslicht des Zuges nach einigen Minuten im Dickicht hoher Gräser verschwunden war.
Tobias’ dunkle Augen wanderten über das holografische Abbild dieser weiten Landschaft. Wilde Gräser und vereinzelte Baumgruppen erstreckten sich geradezu paradiesisch über die angedeuteten Bodenerhebungen. Der Wind entlockte den Baumkronen und Gräsern ein friedvolles Geräusch, das sich ständig veränderte. Einmal kreiste es. Ein weiteres Mal verlief es schnurgerade.
Tobias schenkte sich ein weiteres Glas ein. Mit einem einzigen Schluck leerte er es. Nachdem das Glas wieder gefüllt war, stellte er beides, die leere Weinflasche und das volle Weinglas, auf den mittig emporragenden, runden Tisch. Er seufzte bedeutungsschwanger, nicht zuletzt deswegen, weil sein andauernder Weinkonsum einsetzendes Sodbrennen zur Folge hatte.
Er neigte sich nach links und beobachtete die winzig kleinen Arme, die aus den Spitzen des wilden Grases emporragten. Die von den Windgeräuschen zerfließenden Schreie des Babys verebbten zusehends.
Unvermittelt hob sich das Bett in die Lüfte. Tobias beugte sich über die Kante und sah hinunter zum Baby. Der ebenmäßige Stein war umwuchert von wildem Gewächs. Sechs alte Bäume befanden sich um den Stein herum in geradezu geometrischer Anordnung. Wie zufällig ergab sich mit dem Stein und dem Baby im Mittelpunkt die Form eines Sechsecks.
Der Schrei eines Raubvogels erklang in der Ferne. Tobias richtete sich auf und sah einen Falken, der sich ihm im eleganten Bogen näherte. Der majestätische Raubvogel umrundete gleitend das schwebende Bett und sank spiralförmig nach unten. Das Bett folgte der luftigen Spur in gebührendem Abstand. Rasant schraubte sich die Szenerie dem Boden entgegen.
Auf einem der Bäume landete der Falke. Das Bett positionierte sich in unmittelbarer Nähe zu dem Baby. Es schien, als verschmolz die Außenkante der Polsterung mit dem Randbereich des Steines.
Der Falke verließ den Baum und landete direkt zu Füßen des Babys. Tobias’ Gesicht zeigte sich ungläubig und erstaunt gleichermaßen. Staunenden Blickes pendelte sein Augenpaar zwischen dem Falken und dem Baby hin und her.
Der Kopf des Falken bewegte sich sanft und beinahe unmerklich. Der Wind spielte mit dem Gefieder. Auch das Rauschen des Grases und der Bäume verriet eine zeitliche Abfolge.
Tobias nahm einen tiefen Schluck Wein und sah zum Baby. Die kleinen Hände und Füße zuckten ganz leicht und unregelmäßig. Das kleine, runde Gesicht sah geradezu unnatürlich friedlich aus. Es lächelte.
Tobias zuckte spürbar zusammen, als der Falke einen ungewöhnlich lauten Schrei ausstieß, in der Geste einem Wolf gleich, der den Mond anheulte. Dann beugte sich der Falke zu dem Baby hinunter, das leer vor sich hin lächelte. Unvermittelt erhob sich der Raubvogel schreiend in die Lüfte. Das Bett tat es ihm mit geringerer Geschwindigkeit gleich, so dass der Falke allmählich außer Sichtweite geriet.
Ungläubig schüttelte Tobias den Kopf. Er wusste, dass die Ureinwohner Nordamerikas Schamanen waren, aber so weit konnte ihre Naturverbundenheit nicht gehen, dass die Seele des Babys auf einen Falken überging. Er vermutete, dass sein Programm die Begebenheiten künstlerisch frei auslegte. Dreidimensionale, rote Buchstaben bildeten sich vor dem Bett.
WeiblichesBaby gestorbenAstrologischesInkarnationsprogramm 4. Potenz beenden?
»Ja. Indirekte Beleuchtung. Außensicht. Nachtmodus.« Er trank den Rest seines Weinglases leer. Währenddessen veränderte sich das Umfeld. Im sanften Halbdunkel stellte er das Weinglas auf den kleinen, runden Tisch. Betäubt vom Alkohol vergaß er fast, sich seines Bademantels zu entledigen. Er zog ihn aus und ließ ihn auf den Boden fallen. Seufzend vergrub er sich unter seiner Decke.
Ein schweres Seufzen durchströmte die Stille. Mit wirrer Körperhaltung lag Tobias inmitten seines riesigen Bettes. Langsam beugte er sich hoch und begab sich in den Schneidersitz. Er stöhnte. Mit geschlossenen Augen atmete er tief durch.
Blau-violett schimmerte sanft die Umgebung. Es wirkte beinahe, als gäbe es weder eine Hallendecke noch einen Fußboden, lediglich dieser vielschichtige Farbton markierte die räumliche Begrenzung. Doch auch die Ausmaße dieser Halle trugen zur Unfixierbarkeit bei. Die Innenhöhe betrug etwa vier Meter. Die Seitenwände des rechteckigen Raumes maßen vierzig und zwanzig Meter und ließen eine abgedunkelte Rundumsicht auf die Außenwelt hinein.
Die vier Ecken dieser Halle waren dermaßen abgerundet, dass schwer zu erkennen war, wo eine Seitenwand begann und in die nächste überging. Verstärkt war der rundliche Charakter durch vier große Säulen, die in perfekter Geometrie etwa zwei Meter vor jeweils einer Hallenrundung angeordnet waren. Zusammen mit dem riesigen, runden Bett im Zentrum ergab sich eine räumliche Harmonie, wie sie atmosphärischer nicht sein konnte.
Tobias’ Atem verflachte zusehends. Unvermittelt atmete er tief durch. Dann öffnete er seine Augen. Er hatte sehr intensiv geträumt, als er aufwachte.
»Traummodus«, sagte er. Als nichts geschah, verriet sein markantes Gesicht einen Hauch Irritation. Mit der Hand fuhr er sich durch das zerzauste Haar. Unmittelbar darauf durchsuchte er sein zerwühltes Bett und wurde fündig. Er setzte sich das Striemencappy auf. Letzteres war ein Sensor, der für die Steuerung seiner spirituellen Programme unvermeidbar war. Dieses Cappy stimulierte seine Gehirnwellen und sein Drittes Auge. Der Haken an der Sache war, dass ohne dieses Striemencappy auch keine alltäglichen Befehle mehr vom System verstanden werden konnten. Also musste er es immer aufgesetzt haben, egal, wo er war.
»Traummodus!« Unmittelbar vor ihm bildete sich eine zweidimensionale Fläche im klarsten Himmelblau. Nachdenklich schloss er die Augen und senkte den Kopf.
»Projizieren!« Er betrachtete die flächige Holografie. Das Bild veränderte sich in ein Rauschen und allmählich in ein Standbild. Es war ein sehr kleiner, verkommener Raum mit einem winzigen Fenster zu erkennen.
»Bild für Bild! Abfolge: fünf Sekunden!« Das winzige Fenster vergrößerte sich. Nun konnte er erkennen, dass sich ein fast vollständiger Neumond mit einer hellen Sichel auf der linken Seite im Zentrum des Fensters befand.
Die Perspektive drehte sich. Im selben Augenblick nahm die Bildqualität rapide ab. Die Silhouette einer Person war zu erkennen. Sie lag auf einem schäbigen Feldbett. Dann durchstieß die Szenerie die kleine Zimmerdecke. Das Bild begann zu zittern. Mit einer rapiden Geschwindigkeit verließ die Szenerie das Bodengeschehen. Wenige Augenblicke später war bis auf ein Rauschen nichts mehr zu sehen.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Tobias. Er hatte ganz andere Bilder in Erinnerung. Er träumte von einer fremden, ganz anderen Welt. Er war dort ein Gast und Lichtjahre von der Erde aus gereist. Für ihn war unbegreiflich, dass davon auf dieser flächigen Holografie nichts zu sehen war.
Er nahm die leere Weinflasche und das leere Glas vom kleinen, runden Tisch und stellte sie auf die blau-violette Fußbodenebene.
»Analyse!«, sagte er währenddessen. Links vom Bildschirm bildete sich eine Information.
Input nicht kompatibel
Nachdenklich starrte Tobias ins Nirgendwo. Dann atmete er tief durch.
»Tagmodus!« Die abgedunkelte Außensicht hellte langsam auf und kam zur vollen Entfaltung.
»Bettwäsche!« Der kleine Tisch drehte sich und versank. Ein sehr viel größerer Halbkreis erhob sich aus dem Mittelbereich. Die ebene Seite markierte die Öffnung. Luftige Wärme strömte heraus. Müden Blickes stopfte Tobias seine bunte Bettwäsche hinein.
»Reinigung und anschließende Sortierung!« Der halbrunde Ausschnitt versank.
»Tagsessel A!« Der Mittelteil des Bettes drehte sich um hundertachtzig Grad und verschwand im Boden. Noch währenddessen gingen ebenfalls zwei daneben liegende Abschnitte in die Tiefe. Zwei komfortabel gepolsterte Hälften standen sich mit ihrer Öffnung gegenüber.
»Rückenlehnen! Tisch C!« Die äußeren Hälften der Polsterungen und ein großer mattroter Tisch im Mittelpunkt gingen in die Höhe.
In einer fließenden Bewegung zog sich Tobias das Cappy vom Kopf und legte es auf die dunkelrote Sitzfläche. Dann nahm er die leere Flasche und das Weinglas und ging zu einer der Säulen. Die Küchentür war geöffnet. Freundliches Licht strömte heraus.
Sogleich verließ er sie. Mit leeren Händen ging er zur dreißig Meter entfernten nord-westlichen Säule. Ebenso wie die Küche stand auch das Badezimmer seit dem projizierten Massaker offen. Im knallroten Boxershort und mit schlurfendem Gang betrat er es.
Im knallroten Bademantel und mit Tablett samt Frühstück verließ Tobias frischgefönt die Küche. Er ging südwärts auf eine dritte Säule zu.
»Lift!« Die Säule öffnete sich. Licht strömte heraus. Ein Drittel des Platzes nahm ein halbrundes Sofa ein. Mit seinem Frühstück in den Händen blieb Tobias stehen und drehte sich um.
»Terrasse!« Beinahe unmerklich setzte sich der Lift in Bewegung. Ebenso dunkelrot wie Tobias’ Bett war auch dieses Sofa.
Die Tür öffnete sich. Er verließ den Lift und betrat die süd-östliche, abgerundete Ecke einer zwanzig mal vierzig Meter großen Grünfläche. Ein schlichter Gartenzaun umgab sie. Wild wuchernde Büsche und Pflanzen umschlossen einen gepflegten Rasen. Tobias selbst trug nichts zu seinem ordentlichen Garten bei. Er beauftragte regelmäßig Gärtner für diese Zwecke.
Die Nachmittagssonne schien zwischen vereinzelten Wolken hindurch. Ihr Licht brach sich auf der silbern glänzenden Oberfläche des drei Meter herausragenden Zylinders, dessen Tür offen stehenblieb. Ebenso silbern glänzte ein großes Fluggerät. Es befand sich in unmittelbarer Reichweite des Liftes.
Tobias ließ beides hinter sich. Er blinzelte leicht, als ihn die Helligkeit des klaren Nachmittags begrüßte. Zielstrebig näherte er sich einer Gruppe von blauviolett gepolsterten und wetterfesten Gartenmöbeln, die sich nicht ganz im Zentrum des Geländes befanden.
Er stellte das Tablett auf den großen, runden Tisch ab und setzte sich. Nachdem er sich Kaffee eingeschenkt hatte, legte er seine nackten Füße überkreuzt auf den Rand des Tisches. Nun lehnte er sich zurück und nippte an seinem Kaffee. Tobias begann, den Himmel zu beobachten. In der Ferne flogen einige Vögel durch die Lüfte.
Minutenlang saß er beinahe unbeweglich im Sessel und ließ seine Gedanken schweifen.
Die Energiekrisen der Vergangenheit waren überwunden. Arbeit diente nicht mehr dem Broterwerb, sondern der Selbstverwirklichung. Wer es sich leisten konnte, hatte ein eigenes Fluggerät, das gemeinhin Gleiter genannt wurde. Viele Straßen waren nun begrünt. Die Architektur hatte sich grundlegend verändert. Seit Jahrzehnten erfuhr die heilige Form der Pyramide eine Renaissance. Ein neues Äon, das Wassermann-Zeitalter, war gekommen. Doch waren die Menschen glücklicher?
Tobias dachte an seine Eltern, die vor zwei Jahren bei einem tragischen Absturz ums Leben kamen. Er war Einzelkind und Alleinerbe eines beachtlichen Vermögens.
Er trank den Rest seines Bechers leer und stellte ihn ab. Er verließ die Sitzgruppe und ging zur vorderen, vierzig Meter breiten Abgrenzung. Einen Weg durch die Sträucher und Pflanzen gebahnt, beugte er sich über das Geländer.
Unter ihm erstreckten sich die unzähligen Baumkronen eines trügerisch grenzenlosen Waldgebietes. Der ruhige Wind erzeugte ein harmonisches Blätterrascheln, das den Abstand von zwanzig Meter zwischen Baumkronen und Gartenterrasse spielend überbrückte.
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