Die Kälte der Mur - Gudrun Wieser - E-Book

Die Kälte der Mur E-Book

Gudrun Wieser

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Beschreibung

Eine turbulente Hetzjagd durch das kaiserzeitliche Graz – detailreich recherchiert und wortgewandt. Graz, 1882. Immer wieder werden Körperteile am Ufer der Mur angespült, und keiner weiß, zu wem sie gehören. Gendarm Wilhelm Koweindl steht vor einem Rätsel – und erhofft sich einmal mehr Rat von Hauslehrerin Ida Fichte. Kurz darauf verschwinden das Hausmädchen von Idas Dienststelle und dann die gnädige Frau höchstselbst. Wilhelm und Ida stürzen sich in die Ermittlungen, doch als sie erkennen, dass sie einer falschen Fährte folgen, ist es beinahe zu spät . . .. . .

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Gudrun Wieser, geboren 1987 in Frohnleiten, machte ihre Matura bei den Ursulinen in Graz (damals noch eine reine Mädchenschule), darauf folgte das Lehramtsstudium für Deutsch und Latein an der Karl Franzens Universität in Graz. Aus Leidenschaft für die alten Sprachen hängte sie 2017 noch ein Doktorat in Klassischer Philologie (Latein) in Graz und Wien an. Als Lehrerin verschlug es sie nach einem Abstecher als Lektorin an der Universität und mehreren Sprachkursen an der Urania an das geschichtsträchtige Akademische Gymnasium Graz, wo sie nun Latein, Deutsch, Interkulturelles Soziales Lernen und Darstellendes Spiel unterrichtet. Daneben tritt sie als Erzählerin allein und als Duo Wieser&Wiesler mit der Schauspielerin und Autorin Marion Wiesler auf.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung eines Motivs von arcangel.com/Magdalena Wasiczek

Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-076-1

Historischer Kriminalroman

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Textbaby Medienagentur Carsten Polzin.

Für Andreas,der meine Phantasie in Bezug auf Männer in historischen Uniformen schon immer heftig inspiriert hat …

1

… in welchem die Toten stückweise auftauchen und vorerst niemand weiß, was man mit ihnen anfangen soll …

Im Grunde hatte der Mord an Leutnant Vocelka gar nichts mit den grausigen Funden zu tun, welche der Gendarmerie von Gratwein monatelang das Leben schwer machten. Dennoch wäre die eine Sache wohl nicht ohne die andere rechtzeitig aufgeklärt worden. Und wer weiß, welches noch größere Unheil sich dann zugetragen hätte.

Die ganze Angelegenheit begann, als der Gendarm Wilhelm Koweindl von der völlig aufgelösten Schusterswitwe Magdalene Ertl aufgesucht wurde, die ihn mit äußerstem Nachdruck dazu drängte, sich einen gewissen Fund am Murufer anzusehen.

Eigentlich war sie nur wieder auf der Suche nach einem der Gemeindekinder gewesen, die ihr seit dem Tod ihres Mannes zur Pflege und als Zuverdienst anvertraut worden waren und ihr aus Gründen, die nie eine vollständige Aufklärung erfahren hatten, regelmäßig entwischten. Natürlich wusste sie, an welchen Orten sich die Bengel am liebsten herumtrieben, wenn sie sich vor ihren Schlägen oder der Arbeit drückten, doch diesmal hatte sie eine Entdeckung ganz anderer Art gemacht.

Lieber hätte der Gendarm sich in diesem Moment seiner Jause gewidmet, denn seit er einen minderjährigen Hühnerdieb dingfest gemacht hatte, brachte ihm der dankbare Kernbauer immer wieder ein paar Eier und Würste mit, wenn er zum Markt fuhr. Doch vor der Schusterswitwe gab es kein Entrinnen. Ehe die Frau womöglich ihre Drohung wahr machte und in seiner Amtsstube einem hysterischen Anfall erlag, folgte ihr Wilhelm lieber zur Mur hinunter.

»Na, Herr Gendarm, was ist das? Sagen Sie mir, was das ist!«, wiederholte die Frau ein ums andere Mal und deutete mit anklagend ausgestrecktem Finger auf etwas gräulich Bleiches, das im seichten Wasser lag.

»Gnädige, jetzt beruhigen Sie sich einmal«, sagte er mit aller amtlichen Strenge.

Ein Übermaß an Eile hatte noch keinen Sachverhalt befriedigend aufklären können.

»Da, schauen Sie!«, persistierte die Witwe.

Mit einem Blick, als überlegte er, ob er nicht einfach wieder kehrtmachen und sich seiner eigentlichen Arbeit widmen sollte, brachte er sie endlich zum Schweigen.

Seit dem letzten Unwetter hatte sich an dieser Stelle, wo die Mur eine Kurve Richtung Gratkorn beschrieb und das Zigeunerloch sich weithin sichtbar in den Felsen bohrte, eine Schotterbank gebildet. Sehr zur Freude der Buben der Umgebung, die nun nach Herzenslust Dämme bauen und alle möglichen selbst konstruierten Boote und Flöße schwimmen lassen konnten; die Leute, welche den Fluss als Transportweg benötigten, waren darüber weniger begeistert.

Vorsichtig trat Wilhelm einen Schritt näher, balancierte mit vorgebeugtem Oberkörper auf einem Stein, um nicht ins Wasser steigen zu müssen. »Das ist …« Er beendete den Satz nicht, denn als ihm klar wurde, was da vor ihm lag, zuckte er dermaßen zusammen, dass er ausglitt und sich nur mit einem wagemutigen Ausfallschritt seiner langen Beine vor einem Sturz retten konnte. Allerdings stand er danach knöcheltief im kalten Wasser der Mur, und nur mit Mühe konnte er Haltung und Anstand bewahren.

»Haben Sie es gesehen? Das ist doch …«

»… eine Hand«, beendete Wilhelm den Satz.

Das Wasser kroch klamm seine Hosenbeine empor, seine Schuhe – die einzigen, die er besaß – würden wohl tagelang nicht mehr trocken werden.

»Und was machen wir jetzt?«, wollte die Schusterswitwe wissen.

»Ich kann Sie beruhigen, gnädige Frau, Sie müssen gar nichts machen«, erwiderte Wilhelm nur mit einem Stoßseufzer gen Himmel. Für ihn selbst bedeutete dies, dass er sich nun überlegen musste, wie er dieses offenbar bereits im Verwesungszustand befindliche Körperteil vorschriftsgemäß an Land holte. Weiter musste er so rasch wie möglich Meldung erstatten und herausfinden, wem denn kürzlich eine Hand abhandengekommen sein könnte. Ein solcher Verlust konnte ja schwerlich unbemerkt bleiben.

Die Witwe Ertl ließ es sich nicht nehmen und beobachtete höchst interessiert, wie Wilhelm erst einige Minuten sinnend im Wasser stehen blieb (nasser konnte er ohnehin nicht mehr werden), ehe er kurz entschlossen die Ärmel seines Uniformrocks hochschob und mit zusammengekniffenen Lippen die Hand aufhob. Dann wandte sie sich ab und eilte von dannen, gewiss, um noch vor dem Mittagsläuten möglichst vielen Leuten von ihrer grausigen Entdeckung zu berichten.

Eine genauere Betrachtung des Fundstücks sparte Wilhelm sich vorerst. Dieses Sinnbild menschlicher Vergänglichkeit weit von sich gestreckt, marschierte er mit langen, triefenden Schritten zum Gendarmerieposten zurück, wo er mangels einer besseren Idee die Hand auf einen Teller legte, auf welchem eine Stunde zuvor noch eine vielversprechende Jause auf ihn gewartet hatte. Wurst und Eier hatten inzwischen ihren Weg in den Magen des jungen Leopold Leitner gefunden, der seit kurzer Zeit dem Posten Gratwein als Probegendarm zugewiesen war.

Wer jenen Burschen zum ersten Male zu Gesicht bekam, mochte vielleicht meinen, dass sich jemand einen Spaß erlaubte und in einer womöglich widerrechtlich angeeigneten Uniform sein Unwesen trieb. Leopold nämlich sah so wenig wie ein Gesetzeshüter aus, wie man es sich nur vorstellen konnte. Mit engelsgleich goldgelocktem Haupthaar und einem Milchbart, welcher schwerlich der Bezeichnung wert war, glaubte man ihm kaum seine vorschriftsmäßigen vierundzwanzig Jahre, die ihn zum Eintritt in ein Gendarmeriekorps berechtigten. Hinzu kamen Sanftmut, Geduld und Freundlichkeit in einem solchen Maße, dass sich Wilhelm heimlich fragte, ob der Bursche nicht in einem Priesterseminar besser aufgehoben wäre. Ganz zu schweigen von seiner geradezu unverschämt schönen Handschrift und exzellenten Beurteilungen in allen Fächern.

Leopold unterbrach seinen Bericht, an dem er schrieb, und erhob sich zum Gruß. Auch das geforderte militärische Verhalten wirkte an ihm irgendwie fehl am Platz. »Was soll das sein?«, fragte er, als er des überraschenden Fundes ansichtig wurde.

»Wonach schaut’s denn aus?«

Leopold zögerte. »Eine Hand?«

Ein unangenehmer Geruch begann sich langsam, aber deutlich auszubreiten.

»Na gratuliere«, brummte Wilhelm und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Mit einem leichten Würgen in der Kehle schaute er auf das makabre Stück Fleisch auf seinem Teller herab.

Bei näherer Betrachtung ließ sich erkennen, dass es sich um eine linke Hand handelte, die ein gutes Stück oberhalb des Handgelenks abgetrennt worden war. Auch wenn das Fleisch von der langen Zeit im Wasser aufgequollen und verfärbt war und den Blick auf helle Knochenfragmente freigab, konnte man erahnen, dass dafür ein halbwegs ordentliches Werkzeug, ein scharfes Messer und womöglich eine Säge, verwendet worden war. Jedenfalls war die Hand nicht lediglich mit roher Gewalt vom restlichen Körper getrennt worden.

»Wem gehört die denn?«

Wilhelm zuckte nur die Schultern. Vielleicht wäre es nun seine Aufgabe gewesen, dem jüngeren Kameraden eine Lektion in Sachen kluger und dummer Fragen zu erteilen, aber auf die Schnelle fiel ihm da auch nichts Passendes ein. Stattdessen versuchte er mit Hilfe eines Bleistifts – denn mit bloßen Fingern hätte er die Hand um nichts in der Welt mehr anfassen wollen – diese zur genaueren Inspektion herumzudrehen.

Als die Innenfläche sichtbar wurde, sogen beide Männer scharf die Luft ein. Nicht nur, weil sich irgendein bleiches Gewürm auf dem Teller regte, sondern weil nun erst sichtbar wurde, dass ein ungefähr viereckiges Stück Haut fehlte.

»Hat das jemand … abgefressen?«

Wilhelm warf dem Burschen, der sonst manchmal recht annehmbare Schlüsse zog, einen mitleidigen Blick zu. »Welches Vieh frisst denn bitte im Quadrat?« Zweifelsohne hatte ihn dieser Anblick mehr mitgenommen, als es zunächst den Anschein gehabt hatte.

»Das heißt, jemand hat der Hand … also eigentlich der Person, der die Hand einmal gehört hat, die Haut abgezogen.« Leopold beugte sich über den Teller. »Man kann die Sehnen sehen.«

Wilhelm gab einen unartikulierten Laut von sich. Lieber wollte er sich tagelang durchs Gedachs schlagen, um irgendeinen Wilderer einzufangen, als sich nun mit dieser Hand auseinandersetzen zu müssen. Vor allem, da sich die Frage aufdrängte, wo sich wohl der Rest dieser Person befand.

»Ich denke, die Hand gehörte einer Frau«, fuhr Leopold fort, indem er seine eigenen Extremitäten zum Vergleich heranzog. »Und es muss eine arbeitende Frau gewesen sein, keine feine Dame. Eine Linkshänderin, würde ich sagen.«

Wilhelm, der dem Jüngeren mit gerunzelten Brauen gelauscht hatte, fuhr ungehalten auf: »Wir haben nicht mehr als eine linke Hand, da kannst du das leicht behaupten! Lernt man jetzt in der Ausbildung auch die Hellseherei?«

»Nein. Verzeihung.«

Leopolds knabenhaft betretene Miene ließ seinen Unmut sogleich wieder verblassen und entlockte Wilhelm ein Schmunzeln. Wenn er ehrlich war – was er jedoch niemals zugegeben hätte –, war es lediglich die Art, wie der junge Mann die Dinge betrachtete und sogleich eine Erkenntnis daraus ableiten konnte, die ihn aufregte. Bisher hatte er nämlich nur eine einzige Person kennengelernt, die auf diese Weise denken und kombinieren konnte, und das war Ida Fichte. Allerdings hatte er sich zuletzt alle Gedanken an diese Frau verboten, weshalb der Name vorerst auch nicht weiter erwähnt werden soll.

»Schon gut. Bitte erklär mir, wie du darauf kommst.«

»Ich kann mich natürlich irren«, räumte Leopold ein, »aber da, auf der Fingerspitze, auf dem Mittelfinger, ich nehme an, das ist Hornhaut, wie auf den Ballen.«

Wilhelm nickte.

»Also muss die Person gearbeitet haben. Jedenfalls mehr als eine gnädige Frau, die den ganzen Tag nur Kaffee und Tee trinkt.« Er sah vorsichtig zu seinem Vorgesetzten auf, als befürchtete er, für seine Anmerkung getadelt zu werden. »Und diese Stelle auf der Fingerspitze vom Mittelfinger, ich kenne das von meinen Schwestern. Das kommt vom Nähen, jedenfalls wenn man keinen Fingerhut verwendet. Die Toni mag das nicht, sie sagt, dass sie damit einfach nicht das rechte Gefühl für die Naht hat und für die feinen Stoffe und die Spitze, also arbeitet sie ohne. Sie ist nämlich Weißnäherin, meine Schwester«, fügte Leopold hinzu.

»Das heißt, wir suchen also nach einer linkshändigen Frau, die viel nähte.« Wilhelms eigene Erfahrungen mit Nadel und Faden reichten nicht viel weiter als bis zu ein paar abgerissenen Knöpfen und einigen mehr schlecht als recht gestopften Strümpfen. In der Kaserne konnten sich nur die wenigsten für jede solche Kleinigkeit ein Nähfräulein leisten.

»Eine Mutter mit vielen Kindern.«

Kurz dachte Wilhelm an die Witwe Ertl und ihre Gemeindekinder. Doch die hatte ja noch beide ihre Hände. »Oder ein Dienstmädchen«, sagte er dann. »Eine Zugeherin.«

»Eine Nonne?«

Wilhelm sah ihn irritiert an.

»Na, die sticken doch auch immer irgendwas. Altartücher oder so.«

»Wie auch immer«, brummte er. »Ich werde ans Gendarmeriekommando telegrafieren, dass wir da was gefunden haben. Und irgendwie muss die Hand heute noch nach Graz kommen.«

Nachdem die Formalitäten, die ein solcher Fund nach sich zog, ordnungsgemäß erfüllt waren, begann wie zu erwarten die Suche nach der Herkunft der Hand. Doch dieses Unterfangen gestaltete sich – wenig verwunderlich – nicht so einfach, wie man es sich vielleicht erhofft hatte. Selbst der Versuch, mit Hunden die Umgebung der Schotterbank und des Zigeunerlochs abzusuchen, brachte kein Ergebnis außer einigen Hinweisen, dass immer noch Wilderer in der Gegend unterwegs waren, die sich aus den hochherrschaftlichen Ansprüchen auf die Trophäen ihres Rotwildbestandes nicht das Geringste machten. Zudem tauchte auch niemand auf, der just den kürzlichen Schwund seiner linken Hand zu vermelden hatte, und die amtskundigen Leute, die einhändig durchs Leben gehen mussten, waren ihres Körperteils bereits vor langer Zeit verlustig gegangen.

Da war zum Beispiel der Holzknecht Xandl – mit bürgerlichem Namen Alexander Sprangler –, der bei der Arbeit einmal unter einen stürzenden Baum geraten war und dabei seinen ganzen linken Arm eingebüßt hatte. Die Magd eines Bauern nahe Stift Rein hatte sich beim Schlachten einmal mit dem Ausbeinmesser dermaßen in die Hand geschnitten, dass bis auf den halben Daumen nicht mehr viel zu retten war. Der Bub vom Rossschmied hatte sich im vergangenen Jahr so grausam in der Esse des Vaters verbrannt, dass der Arzt ihm eine Woche später die schwärende Hand abnehmen musste; bei ihm war es allerdings die rechte gewesen, sodass er ohnehin nicht in Frage kam.

Außerdem zogen die Gendarmen Erkundigungen über sämtliche Näherinnen, Zugeherinnen und Dienstmädchen ein, die von Graz bis Stübing gemeldet waren, aber auch da ließ sich nicht viel Interessantes herausfinden. Wohl gab es mehrere Vermerke über unanständiges Verhalten mancher weiblicher Dienstboten, hier und da wurde ein uneheliches Kind erwähnt, und von zweien hieß es sogar, dass sie ohne Begründung und Dienstzeugnis ihre Stellung verlassen hatten; bei beiden war kein aktueller Wohnsitz bekannt.

»Das ist ja vollkommen blödsinnig, was Sie da treiben!«, stellte der Wachtmeister Stransky nach einigen Tagen fest, als Wilhelm und Leopold ihre jüngsten Erkenntnisse miteinander teilten.

»Ja, aber leider hat auch niemand in der Gegend einen einhändigen Toten gesehen«, gab Wilhelm zurück. »Da muss man eben alle Eventualitäten in Betracht ziehen.«

Stransky brummte etwas in Richtung seines beträchtlichen Doppelkinns und begann an einem Speck herumzusäbeln, den er aus der Lade seines Schreibtisches gezogen hatte. Seit sie die bleiche Hand aus der Mur dort am Teller gehabt hatten, verspürten weder Wilhelm noch sein Kamerad mehr das Bedürfnis, gerade an diesem Platz eine Jause einzunehmen.

»Vielleicht waren’s ja wieder die Zigeuner«, bemerkte Stransky kauend. »Die gehen zu keinem Arzt. Die verrecken lieber am Straßenrand, bevor sie sich helfen lassen.«

Wilhelm vermied es, seinem Postenkommandanten recht zu geben. In den seltensten Fällen hatten diese Leute das Geld, sich einen ordentlichen Arzt zu leisten. Allerdings befand sich der Fundort bei der Schotterbank nicht weit vom Zigeunerloch, das seinen Namen nicht von ungefähr hatte.

»Vielleicht ist es ein besonderes Ritual von denen, dass sie sich die Haut von der Handfläche abziehen und dann …« Leopold unterbrach sich, als Stransky sich verschluckte und ihm einen vorwurfsvoll angewiderten Blick zuwarf. Offenbar durften solche Überlegungen seine wohlverdiente Jause nicht stören.

Mangels weiterer Hinweise und weil weder eine lebendige noch eine tote Person auftauchte, die Anspruch auf die Hand anmeldete, wurde die Angelegenheit schließlich ad acta gelegt. Die menschlichen Überreste wurden verbrannt, da für eine anständige christliche Bestattung eindeutig nicht genug Material vorhanden war, und nach einigen Wochen schien es so, als würde die ganze Sache in Vergessenheit geraten – wenn nicht plötzlich eines der Gemeindekinder vor dem Gendarmerieposten gestanden hätte.

Der magere Bub, der offensichtlich wieder einmal der vom Amt festgesetzten Obhut der Schusterswitwe entkommen war, stand bleich und bebend vor der Tür, die Augen weit aufgerissen, mit rinnender Nase. »Ich hab da was«, stammelte er, als Wilhelm mit dienstlich strenger Miene auf ihn zutrat. Von seiner imposanten Höhe von fast einem Meter und neunzig Zentimetern schaute er auf den Knaben herab. Zitternd streckte dieser ihm etwas Unförmiges entgegen.

Wilhelm brauchte einen Moment, um sich zu fassen. Was der Bub ihm da mitgebracht hatte, war ein Fuß. Samt Unterschenkel. Also genau genommen ein halbes Bein.

Etwas umständlich schob er den Knaben mit seinem Fundstück in die Amtsstube, wo er das Bein auf den Schreibtisch legte. Ein zarter Geruch von beginnender Verwesung, der sich ganz hinten im Rachen festsetzte und nach und nach einen Hauch von Übelkeit auslöste, ging davon aus. Nie wieder würde er sich dort zu einer Jause niedersetzen.

»Wo hast du das … das Ding denn her?«, fragte Wilhelm, nachdem er vorsichtshalber ein paar amtliche Zettel und was sonst noch auf dem Tisch gelegen hatte, in Sicherheit gebracht hatte.

»Das darf ich nicht sagen.«

»Ich bin die Gendarmerie – und du hast da einen Fuß gefunden. Da darf man alles sagen.«

Der Junge presste die Lippen aufeinander.

Wilhelm atmete durch und versuchte geduldig und freundlich zu klingen. »Du brauchst keine Angst zu haben. Dir wird nichts passieren.«

»Aber die Ertl, die haut mich wieder, wenn sie davon hört.«

Es war kein Geheimnis und auch nicht verwunderlich, dass die Gemeindekinder, die der Schusterswitwe zur Pflege zugewiesen wurden, unter ihrer Hand kein leichtes Leben hatten. Aber was sollte man denn tun? Im Allgemeinen war man froh darüber, dass jene Kinder, die entweder gar keine Eltern mehr hatten oder deren Erzeuger im Zuchthaus oder gar an noch schlimmeren Orten gelandet waren, nicht irgendwo auf der Straße vegetierten, sondern unter christlicher Obhut und Zucht aufwachsen konnten, ohne der Öffentlichkeit allzu sehr auf der Tasche zu liegen. Und es hieß ja schon in der Bibel, dass, wer die Rute schone, sein Kind nicht liebe. An der regelmäßigen Züchtigung durch die Witwe Ertl war also, wenn man es so betrachtete, eigentlich nichts auszusetzen – auch wenn ihre Schützlinge verständlicherweise wenig Enthusiasmus für diese Erziehungsmethoden aufbringen konnten.

»Ich werde ein gutes Wort für dich einlegen«, versprach Wilhelm.

»Bei der Schotterinsel, beim Zigeunerloch«, rückte der Knabe endlich mit der Sprache heraus.

Wilhelm unterdrückte ein Stöhnen. »Schon wieder dort …«

»Ist das sehr schlimm?«

»Nein. Es ist nur … schau, dass du dort in nächster Zeit nicht mehr spielst.«

»Weil dort immer die Toten angeschwemmt werden?«

Wilhelm zuckte zusammen. »Wie kommst du darauf?«

»Na ja«, hob der Bub nur die Schultern. »Zuerst die Hand – da war die Ertl dann so fertig, dass sie drei Tage lang keinem von uns auf die Finger hauen konnte – und jetzt der Haxen. Und im Frühjahr, wie das Eis geschmolzen ist, da haben wir weiter unten auch so einen Knochen gefunden. Der Peter hat gemeint, dass er von einem Reh war, aber er war ziemlich groß, er könnte auch von einem Menschen gewesen sein, oder?«

Die schlichte Begeisterung, mit welcher der Knabe berichtete, ließ Wilhelm erschauern. »Ein großer Knochen. Und was habt ihr dann damit gemacht?«

»Wir haben ihn dann im Wald eingegraben.«

»Ihr habt ihn …? Wieso denn?«

»Was hätten wir denn sonst damit tun sollen?«, fragte der Junge zurück. »Und außerdem macht man das doch so, oder?«

»Ja, schon, aber … Gut.« Wilhelm versuchte sein amtliches Gebaren wieder zu finden und Ordnung in seine Gedanken zu bringen. »Morgen kommt jemand zu dir, dem wirst du ganz genau zeigen, wo ihr den … das Stück vergraben habt. Verstanden?«

»Aber muss ich morgen nicht in die Schule?« Der Junge sah ihn hoffnungsvoll an.

»Nein. Wenn die Gendarmerie dich braucht, dann muss der Lehrer auf dich verzichten.«

Höchst zufrieden mit diesen Aussichten zog kurz darauf das Gemeindekind ab und ließ Wilhelm mit dem halben Bein auf dem Schreibtisch zurück. Noch ein Toter, schoss es ihm durch den Kopf, als er den Fund näher betrachtete.

Es war klar, dass das Bein nicht zur selben Person gehören konnte, welcher die Hand abhandengekommen war, denn hier hatte die Zersetzung noch kaum begonnen, während die Linke schon vor Wochen weit übler dran gewesen war. Ganz zu schweigen von dem Knochen, den es irgendwo im Wald noch auszugraben galt.

»Also drei …«, murmelte Wilhelm.

Als eine Weile später Leopold die Wachstube betrat und erst einmal erbleichend auf die Gliedmaße starrte, hatte Wilhelm sich bereits ein paar Vermutungen über deren Besitzer zusammengereimt: Ganz offensichtlich war es ein rechtes Bein, der Fuß eher klein, sodass es sich entweder um einen noch recht jungen Menschen oder eine Frau handeln musste. Die Zehen allerdings schienen etwas verkrümmt, die Großzehe in einem schmerzhaft aussehenden Winkel nach innen gedrückt, sodass ein Hallux valgus den Fuß verformte, als hätte die Person lange Zeit kein passendes Schuhwerk getragen. Also handelte es sich wohl eher um eine erwachsene Frau. Zudem passten auch die dunklen, aber feinen Härchen auf dem Bein nicht recht zu einem Mann.

»Also womöglich wieder eine arbeitende Frau«, fasste Wilhelm zusammen und sandte einen Stoßseufzer zum Himmel.

Was ihm jedoch noch viel mehr Sorgen bereitete, waren die sauberen Schnitte, mit denen die Achillessehne freigelegt worden war.

Es wiederholte sich nun das Prozedere des ersten Fundes. Wieder wurde in aller Form zum Gendarmeriekommando telegrafiert und das Bein nach Graz geschickt, wo es diesmal sogar mehrfach fotografiert wurde, ehe man es zunächst einmal für eine Weile in den Eiskeller verfrachtete, wo auch andere sterbliche Überreste auf ihre Beerdigung oder Beseitigung warteten.

Abermals wurde die Umgebung des Fundortes genauestens abgesucht und auch wieder Spürhunde hinzugezogen, doch selbst wenn es einmal brauchbare Spuren bei der Schotterbank gegeben hätte, so hatte die Mur sie längst hinweggespült. Alle möglichen Leute wurden befragt und sogar eine Familie von Fahrenden, die nahe Stübing aufgegriffen wurde, aufs Strengste verhört – doch ohne den geringsten Erfolg.

Immerhin konnte das Gemeindekind nach einigen Fehlschlägen die Stelle wieder ausfindig machen, wo es im Frühjahr mit ein paar anderen Buben den großen Knochen vergraben hatte. Bei der Exhumierung stellte sich heraus, dass es sich tatsächlich nicht um ein Reh oder ein Rind handelte, sondern dass es das Stück eines menschlichen Hüftknochens war. Eines wahrscheinlich weiblichen Hüftknochens, wie der eilig hinzugezogene Amtsarzt bestätigte, ehe auch dieses Fundstück in die Stadt geschickt wurde.

»Drei Frauen«, sagte Leopold nur, und Wilhelm spürte, wie etwas seine Kehle eng machte.

Er war eigentlich gerne bei der Gendarmerie – auch wenn es damals noch einen anderen Grund (außer seiner beachtlichen Körpergröße) gegeben hatte, weswegen er vom Militär zu den Ordnungshütern versetzt worden war. Doch manchmal, da bereiteten ihm die furchtbaren Dinge, die um ihn herum geschahen, eine Angst, ein Grauen, das er vergeblich hinunterzuschlucken suchte. Wie sollte er denn jemals in einer solchen Welt eine Familie gründen, ein normales Leben führen, wenn er wusste, was es da draußen noch alles gab? Dann stellte er sich bisweilen vor, dass es doch die einfachste Lösung wäre, diese Erz-Irren allesamt zu erschlagen und auf diese Weise für Ruhe in der Welt zu sorgen.

Leopold sah seinen Vorgesetzten an. Gewiss war ihm nicht entgangen, dass irgendein Gedanke ihn kurz erfasst hatte, den er nicht zulassen wollte.

Er räusperte sich. »Wenn die … Leichenteile immer bei der Mur gefunden wurden«, fuhr er fort, um Wilhelm aus seinem Grübeln zu reißen, »dann sind sie wohl vom Fluss angespült worden, nicht? Sonst hätte man doch am Ufer wenigstens irgendeine Spur gefunden. Sie müssen also schon weiter oben, in Frohnleiten oder Mixnitz oder womöglich sogar in Bruck, in die Mur geraten sein. Vielleicht hat man ja noch woanders in letzter Zeit … was gefunden. Eventuell auch weiter unten, in Graz, in Leibnitz, Radkersburg.«

Wilhelm nickte vage.

»Und dann müssen wir uns auch fragen, wieso jemand die Toten auf diese Weise loswerden will. Dass es keine zufälligen Sterbefälle sind, liegt wohl auf der Hand – aber wieso vergräbt man die Leichen dann nicht? Wieso zerteilt man sie und schmeißt sie dann in die Mur?«

»Weil eine ganze Leiche im Fluss zu schnell auffällt«, erwiderte Wilhelm, indem er seine Gedanken wieder zur Ordnung zwang. »So ein einzelnes Stück kann leicht einmal verschwinden. Ein Fuchs, ein Hund … da bleibt ein Trumm zwischen den Steinen hängen, und keiner findet es, bis nichts mehr davon übrig ist. Wenn ich jemanden in die Mur schmeißen wollte, würde ich ihn auch nicht in einem Stück lassen.«

Leopold starrte ihn entgeistert an.

»Theoretisch, meine ich«, präzisierte Wilhelm.

»Ja … natürlich.« Er versuchte sich an einem unsicheren Lächeln.

»Und außerdem sollten wir irgendwie herausfinden, wer diese Leute, diese Frauen … die Personen eben, denen die Körperteile gehört haben, sein könnten. Weil dann wissen wir vielleicht, wer sie loswerden wollte, und dann …« Wilhelm ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen.

Selbstverständlich wussten beide, was nun ihre Arbeit war – und natürlich war ihnen auch klar, dass es kein leichtes Unterfangen werden würde.

Während also der steirische Sommer endgültig in den Herbst hinüberkippte, das Grün der Wälder erst einen warmen, goldigen Ton annahm, ehe langsam die bronzenen und kupferroten Farben die Oberhand gewannen, wurden entlang der Mur die Ufer von Gendarmen und ein paar freiwilligen Hilfskräften abgesucht. Mit und ohne Spürhunde.

Das Ergebnis war nicht unbedingt erfreulich.

Kaum ein paar Kilometer südlich von Bruck fanden zwei Probegendarmen etwas im Ufergestrüpp, das sie zunächst für die Überreste eines verendeten Wilds halten wollten. Doch nähere Untersuchungen ergaben, dass es sich um ein menschliches Schulterblatt samt einem Großteil der dazugehörigen oberen Extremität handelte. Viel mehr als die Knochen und ein paar Sehnen war nicht mehr vorhanden. Dennoch zweifelten die beiden jungen Männer für eine Weile an ihrer Berufswahl, und nur ein äußerst ernstes Wort mit ihrem Vorgesetzten und die Erinnerung an die heroischen Opfer, die der Dienst für Gott, Kaiser und Vaterland verlangte, konnten sie wieder auf Spur bringen.

Am Fuße der Burg Rabenstein bei Frohnleiten entdeckte man zwischen ein paar Steinen im Flussbett eingeklemmt ein Brustbein inklusive ein paar zerbrochener Rippen. Auch hier hatte die Biologie der Umgebung dafür gesorgt, dass man nicht viel mehr über jene Überreste aussagen konnte, als dass sie eindeutig menschlich waren und lange genug dem Fluss und seinen Einwohnern ausgesetzt gewesen waren, um nur noch blanke Knochen zu sein.

Zwischen Peggau und Stübing fand ein älterer Gendarm ein verwestes Stück Fleisch nahe dem Ufer, das wohl einmal zu einem Oberschenkel gehört und vor seiner Entdeckung sicherlich mehreren Aasfressern als Jause gedient hatte. Zwei Wochen später reichte der Mann seinen Abschied ein und sollte seither als Messdiener und Friedhofswächter ein geruhsames Leben führen. Außerdem sei er Vegetarier geworden, hieß es.

Ein paar Knochenüberreste, die sich allerdings kaum näher bestimmen ließen, tauchten bei der Poudrettenfabrik in Graz auf. Um ehrlich zu sein, konnte an diesem Ort, wo die städtischen Fäkalien zu Düngemitteln verarbeitet wurden, so ziemlich alles im Fluss auftauchen. Ein Zusammenhang mit den übrigen Funden war möglich, aber tatsächlich wollte sich zumindest hier niemand wirklich festlegen.

Und schließlich meldete sich noch ein Bauer, der beobachtet hatte, wie sein Hund ein paar äußerst ungewöhnliche Beutestücke angeschleppt hatte. Bei näherer Untersuchung stellte sich heraus, dass das Tier einen weiteren Fuß (noch einen rechten) und ein paar Wirbelknochen, die mit Sehnen und Fleischresten verbunden waren, mitgebracht hatte. Leider konnte der Hund weder durch Schläge noch durch gutes Zureden dazu gebracht werden, anzuzeigen, wo er die Leichenteile aufgestöbert hatte. Ein paar Tage später erschoss der Bauer den Hund mit einer Schrotflinte.

»Und jetzt?«, fragte Leopold, als er mit Wilhelm die makabre Liste der Funde betrachtete. »Das sind ungefähr acht Tote, die wir da haben. Vielleicht auch weniger, falls ein paar Stücke zu denselben Leuten gehören.«

»Weitersuchen wahrscheinlich …«, erwiderte Wilhelm mit der Ergebenheit eines Märtyrers. »Die Herren Doktoren in Graz haben gemeint, dass es zumindest bei den meisten Teilen plausibel wäre, dass sie zu weiblichen Leichen gehören. Zarterer Körperbau und so … Aber sicher können die auch nichts mehr sagen.«

»Und dass die ältesten Überreste vermutlich noch vor dem letzten Winter entsorgt wurden, sozusagen«, ergänzte Leopold. »Diese Rippen von Frohnleiten, sie sollen irgendwelche Spuren vom Eisgeschiebe im Fluss haben – und der Bub von der Witwe Ertl hat auch gemeint, dass sie ihren Knochen gefunden haben, wie wieder das Eis geschmolzen ist.«

»Also ungefähr ein Jahr«, sagte Wilhelm. »Vielleicht zehn Monate.«

Plötzlich erhellte sich die Miene des Jüngeren. »Das heißt«, schoss es aus ihm heraus, »dass wir nur herausfinden müssen, was vor einem Jahr oder zehn Monaten passiert ist, dass von da an irgendwer irgendwelche Leute – wahrscheinlich Frauen – unbedingt umbringen und zerstückeln und in der Mur entsorgen wollte!«

Wilhelm sah Leopold an und wusste nicht, ob er nun lachen oder ihm eine Ohrfeige geben sollte. Irgendwer hatte also irgendwann beschlossen, irgendwen umzubringen. Na fein. So weit war er auch schon gewesen. Allerdings … wenn sie einfach mangels einer besseren Idee davon ausgingen, dass, wer auch immer für die Leichenteile verantwortlich war (und Wilhelm hoffte inständig, dass es sich dabei nur um eine einzige Person handelte), einen guten Grund für seine Taten gehabt hatte, dann mussten sie wohl irgendwann im vergangenen Spätherbst danach suchen.

»Im letzten Herbst hat also jemand begonnen, seine Leichen zu zerteilen«, wiederholte Wilhelm. Oft half es ihm nämlich, wenn er sich selbst beim Denken zuhören konnte. Noch besser war es, wenn er mit jemand anderem im Duett denken konnte, doch sein junger Probegendarm schien dafür irgendwie nicht so ganz die richtige Person zu sein.

»Ja, und wir müssen herausfinden, warum! – Und außerdem frage ich mich, wo die Köpfe geblieben sind …«, fügte Leopold hinzu.

»Gut.« Wilhelm strich sich über seinen Oberlippenbart. Die zweite Anmerkung seines Kameraden hatte er vorerst beschlossen zu ignorieren, über Köpfe und sonstige Körperteile konnte er sich später auch noch Gedanken machen. »Dann wirst du morgen nach Graz fahren und sämtliche Zeitungen von … sagen wir, September 1881 bis jetzt durchlesen und schauen, was so passiert sein könnte.«

Leopold klappte den Mund auf. »Alle?«, brachte er endlich hervor.

»So viele sich eben ausgehen«, erwiderte Wilhelm und verließ die Amtsstube.

Er brauchte ein wenig frische Luft, um seinen Hirnkasten durchzulüften. Oder eine Pfeife. Eine Pfeife zum Nachdenken wäre nun genau das Richtige. Er starrte in den ungewöhnlich klaren Himmel und schüttelte den Kopf. Nein, selbst der beste Tabak, den er sich üblicherweise nur an Feiertagen erlaubte, würde hier nicht helfen. Außerdem hatte er sich vorgenommen zu sparen.

Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als könnte er so einen dummen Gedanken beiseitewischen. Er war ein einfacher Gendarm, in ein paar Jahren schaffte er es bestenfalls zum Wachtmeister, zum Postenkommandanten, wenn der Stransky endlich das Feld räumte – also wofür sollte er denn sparen? Er betrachtete seine Schuhe, die seit seinem Ausflug in das Uferwasser der Mur nicht schöner geworden waren. Gut, vielleicht sollte er sein Geld beizeiten dafür investieren.

Wilhelm machte ein paar Schritte. Unwillkürlich glitt sein Blick zum Annaberg, wo sich bis zum Sommer noch ein Pensionat für höhere Töchter befunden hatte. Ja, wenn er ganz und gar ehrlich zu sich war, dann wusste er, wofür er heimlich sparte, aber daran durfte er jetzt nicht denken. Allein über die Leichenfunde sollte er sich den Kopf zerbrechen – das war seine Aufgabe! Aber wie sollte er vernünftig nachdenken, wenn er sich immer wieder fragte, welche Farbe wohl ihre Augen wirklich hatten – und er genau wusste, dass er die Antwort darauf niemals bekommen würde.

Ida fehlte ihm. Ida Fichte, die klügste Frau, die er je getroffen hatte. Ida, die nun als vornehme Hauslehrerin für einen Professor und dessen Sohn arbeitete und seit Wochen keine Zeit mehr gefunden hatte, wenigstens seine Briefe zu beantworten.

Wilhelm trat einen Stein vom Straßenrand.

Womöglich waren seine schlichten Briefe ja zu ungelenk gewesen für die gescheite Frau Gouvernante. Vielleicht hatte sie nach dem dritten Rechtschreibfehler einfach das Papier zusammengeknüllt und in den Ofen geworfen. Dabei hatte er in seiner Ausbildung ebenso gute Aufsätze geschrieben wie seine Kameraden, mindestens so gute wie dieser blondlockige Streber Leopold …

Ida. Der Name hallte in ihm wider. Er bemerkte Zorn und Eifersucht und eine irritierende Sehnsucht, wenn er an sie dachte. Was hatte er sich vor einem halben Jahr nicht alles ausgemalt – und jetzt?

Wenn er einfach vor ihrer Tür auftauchte, dann konnte sie ihn doch nicht so anstandslos abweisen, dann musste sie mit ihm sprechen, dann musste sie ihm zuhören. Wilhelm wusste, dass er über kein besonderes rhetorisches Talent verfügte, und selten genug verspürte er das Bedürfnis, mit jemandem zu reden. Doch mit Ida verhielt sich das irgendwie anders. Er musste schlichtweg mit ihr sprechen – und vielleicht ginge ihm dann auch ein Licht in Bezug auf diese grausigen Leichenfunde auf …

2

… in welchem große Erwartungen nicht erfüllt werden und Unerwartetes passiert …

Ida betrachtete ihr Spiegelbild.

Es war ungewohnt, sich so zu sehen. Jahrelang hatte sie sich im Pensionat am Annaberg ebenso schlicht gekleidet wie ihre Zöglinge. Ein dunkles Kleid, ein heller Kragen, höchstens eine Uhrkette als Schmuck. Das gute Nachmittagskleid musste, garniert mit ein paar Spitzen, ebenso als Ballkleid genügen wie zum feierlichen Hochamt. – Und nun das!

Die gnädige Frau Lahothny hatte es sich nicht nehmen lassen, ihr gleich zwei abgelegte Kleider aus ihrem eigenen Kasten zu schenken. Natürlich musste Ida noch ein paar kleine Änderungen vornehmen – den Brustbereich etwas enger nähen, den Saum ein wenig herauslassen –, aber im Grunde sah sie mit diesen Kleidern nun aus wie eine feine Dame.

Sie drehte sich zur Seite, um ihre modische Silhouette mit der angedeuteten Schleppe besser zu genießen. Das dunkle Grün stand ihr, ließ ihre hellbraunen Haare honiggolden strahlen, der hohe Kragen ließ ihren Hals lang und schlank wirken. Dass die aufwendigen Rüschen etwas aus der Mode gekommen waren, störte sie nicht im Geringsten. Niemals hätte sie sich solch ein Kleid leisten können!

Und das andere erst! Ida war bewusst, dass die gnädige Frau ihr diese teuren Geschenke wohl nur gemacht hatte, um sich selbst ein wenig besser zu fühlen, um sich quasi an ihrer Dankbarkeit zu weiden – und wieso hätte sie ihr diese Genugtuung verwehren sollen? Ja, ein wenig hatte Ida freilich ein schlechtes Gewissen. Sie wusste ja nicht einmal, wann sie diesen Traum aus Taft und Spitze je tragen sollte. Silbergrau wand sich der Stoff in gewagten Drapierungen um ihre Taille; die Schleppe ließ sich seitlich hochstecken, sodass sie beim Tanzen nicht im Wege war. Die Spitze am Ausschnitt war geradezu frivol – wenn auch mit einer höchst geschmackvollen Samtschleife vor dem Busen versehen. Auf einen Hofball hätte sie mit diesem Kleid gehen können – sie brauchte nur die passenden Handschuhe dazu und ein paar feine Schuhe … und weiße Seidenstrümpfe.

Nur kurz streifte der Gedanke an einen gewissen Gendarmen hinter ihrer Stirn vorüber. Wilhelm Koweindl würde sie in so einem Kleid wohl nicht einmal erkennen. Ganz abgesehen davon, dass seine Aufgaben ihm ohnehin kaum die Zeit und Gelegenheit ließen, sie zu treffen, wie sie aus seinen letzten Briefen nur zu deutlich herausgelesen hatte.

Ida seufzte. Mit diesem Kleid könnte sie sich sowieso schwerlich irgendwo sehen lassen. Jedenfalls nicht mit dem silbernen. Das grüne würde sie sich zurechtmachen und tragen, sie war ja immerhin nicht mehr irgendeine arme Lehrerin in einem Fräuleinpensionat, sondern die Privatlehrerin von Theodor Ignaz Lahothny, dem Sohn des bekannten Zoologen Professor Lahothny.

Normalerweise wäre dieser Posten wohl einem studierten Lehrer zugekommen, doch man war der Ansicht, dass der Knabe zu schwach war, um männlicher Erziehung überantwortet zu werden.

Sie reckte das Kinn, stellte sich vor, dass ihr Spiegelbild ein Gemälde war.

Ein Klopfen an ihrer Tür ließ sie aus ihren Träumen fahren. »Fräulein Fichte?«

Ida schloss für einen Moment die Augen und zählte bis drei. Seit das letzte Hausmädchen vollkommen sang- und klanglos seine Stellung verlassen hatte, musste vorübergehend eine Zugeherin dessen Arbeit übernehmen. Sie hatte sich, ohne zu murren, in der zugigen Kammer unter dem Dach einquartiert und keine weiteren Forderungen gestellt, als dass sie zweimal am Tag anständiges Essen und Fett für ihre ausgetretenen Schuhe verlangte. Die Frau mit den graubraunen Haaren, die wahrscheinlich weit jünger war, als sie aussah, konnte gewiss kräftig und fleißig zupacken, von dem Benehmen, das in einem Haushalt wie diesem von den Dienstleuten erwartet wurde, hatte sie allerdings wenig Ahnung.

»Ja, Leni?« Sie öffnete die Tür, bevor sie noch einmal anklopfte und mit dem Lärm womöglich den Sohn des Hauses in seiner Nachmittagsruhe störte.

»Der Tee«, sagte die Zugeherin und entblößte beim Lächeln zwei abgebrochene Zähne. Mit ein Grund, weshalb man ihr verboten hatte, mehr als das Allernotwendigste zu sprechen. »Die Gnädige will, dass Sie gleich kommen.«

Ida nickte. »Danke, Leni.«

Mit einem Knicks, der so unelegant war, dass er genauso gut ein zufälliges Stolpern hätte sein können, wandte sich die Zugeherin um und stapfte in Richtung des Salons, während sie an der weißen Schürze herumzupfte, die an ihrer kräftigen Statur reichlich fehl am Platz wirkte. Ihre Hände waren über und über von Narben gezeichnet. Wahrscheinlich hatte sie sich irgendwann einmal heftig verbrüht. Handschuhe anzuziehen, wie es auch andere Dienstmädchen taten, dazu war sie allerdings nicht zu bewegen.

Einen Augenblick zögerte Ida. Lieber wäre es ihr gewesen, wenn sie noch Zeit gehabt hätte, sich vor dem Tee mit Frau Lahothny umzuziehen. Ihre gewohnten Kleider waren gut genug, zumal sie sich den Luxus geleistet hatte, sie mit ein paar modischen Accessoires aufzuputzen. Das grüne Kleid fühlte sich noch allzu fremd an und benötigte außerdem noch ein paar Änderungen. Doch wenn man zum Tee rief, wurde kein Aufschub geduldet. Die gnädige Frau war der Meinung, dass es ihren Nerven nicht guttat, wenn ihr Tee nicht die richtige Temperatur hatte.

Als Ida den kleinen Salon betrat, saß Frau Lahothny bereits mit einer Tasse auf der Chaiselongue und blickte ihr erwartungsvoll entgegen. In dem ockerfarbenen Hauskleid mit den gestickten Ranken, dem locker darübergeworfenen Schal und den nachlässig hochgesteckten Haaren sah sie ein wenig aus wie welker Salat. Dünn und farblos.

Die Vorstellung, dass diese Person je etwas Unerwartetes, Leidenschaftliches oder gar Mutiges tun könnte, wäre jedem Betrachter ebenso unwahrscheinlich erschienen wie die Idee, dass sich ein vernünftiger Staat auch ohne Kaiser regieren ließe.

»Ich dachte schon, ich müsste auf Ihre Gesellschaft verzichten. Natürlich, gewiss haben Sie auch andere wichtige Dinge zu erledigen …«

Ida wusste, dass es nach dieser Begrüßung ihre Aufgabe war, wortreich auf jene Vermutung zu reagieren und die Hausherrin davon zu überzeugen, dass es nichts Angenehmeres in ihrem Tagesablauf gäbe, als mit ihr Tee zu trinken.

»Aber ich sehe – Sie tragen ja bereits mein Kleid!« Erstmals stahl sich so etwas wie ein Lächeln auf ihre schmalen blassen Lippen. »Die Farbe steht Ihnen. Wie schön Sie darin aussehen.«

»Es ist wirklich …«

»Natürlich werden Sie es noch ein bisschen ändern müssen.« Frau Lahothny füllte Idas Tasse, während sie fortfuhr: »Wenn Sie wollen, können Sie es zu meiner Schneiderin schicken.«

»Das ist zu freundlich, aber ich denke, ich werde das selbst –«

»Nein, nein«, sie stellte die Teekanne beiseite, »auf meine Kosten selbstverständlich. Es wäre zu schade, wenn Sie sich womöglich mit einem Kompromiss zufriedengeben müssten. Ich kann mit dem Kleid ohnehin nichts mehr anfangen … und wer weiß, wie lange ich noch hier bin …«

Ida sah bei diesen Worten irritiert von ihrer Tasse auf. Sie mochte den bittersüßen Geschmack des Tees nicht unbedingt. Lieber war ihr ein schlichter Kräutertee, am liebsten Melisse. »Sie haben vor zu verreisen?«

Das anfängliche Lächeln auf Frau Lahothnys Gesicht nahm einen wehen Zug an, der über ein kurzes Aufblitzen hinter ihren Augen hinwegtäuschte. »Ach … ich meinte nur … vergessen Sie es, Ida. Wie geht es meinem Sohn mit den griechischen Stammformen?«, wechselte sie das Thema.

»Er ist ein gescheiter Junge.«

»Das freut mich zu hören.« Ihre Worte klangen wie eine Pflichtübung, die es zu absolvieren galt, wann immer das Gespräch auf ihren Sohn kam. »Sie gehen doch behutsam mit ihm um? Er ist so ein sensibles Kind. Er spürt es, wenn etwas in der Luft liegt … eine Missstimmung. Und wenn mein Gatte sich wieder ganz in seine Forschung zurückzieht …«

Ida nickte nur. Es war nicht das erste Mal, dass Frau Lahothny in diesem Ton mit ihr sprach. Manchmal erwartete sie dann, dass Ida sie mit irgendwelchen Geschichtchen und Anekdoten wieder auf andere Gedanken brachte, manchmal brauchte sie nur eine geduldige Zuhörerin, der sie die herben Seiten ihrer Ehe mit einem Mann der Wissenschaft darlegen konnte.

Die Hauslehrerin kannte längst die Erzählung, wie Clementine Lahothny, damals noch ein blutjunges Mädchen, dessen Gedanken von ihrem Vater, einem evangelischen Pastor, in geradezu naiver Reinheit erhalten worden waren, bei einer Landpartie mit ihren Freundinnen dem jungen und feschen Studenten der Zoologie begegnet war, der ein paar Jahre später ihr Ehemann werden sollte. Es sei ihm damals furchtbar peinlich gewesen, dass sie ihn mit zerrissenen Hemdsärmeln und zerkratzten Armen angetroffen habe, erzählte sie gern. Er habe versucht, einen gefangenen Dachs aus einer Schlagfalle zu befreien, ehe er das arme Tier schließlich doch habe erlösen müssen.

»Seither habe ich ihn viel zu oft mit völlig derangierter Kleidung gesehen«, meinte Frau Lahothny mit einem kurzen Auflachen, in dem der schneidende Klang von Scherben lag. »Wieso kann ich keinen Botaniker zum Mann haben oder einen Gelehrten, der sich lediglich mit dem Staub uralter Bücher die Kleider ruiniert?«

Darauf gab es nicht viel zu erwidern.

Von den wenigen Malen, bei denen Ida mit dem Hausherrn höchstselbst zu tun gehabt hatte, war ihr vor allem seine kühle Strenge in Erinnerung geblieben. Als sie die Stellung im Hause angetreten war, hatte er sie nur eingehend von Kopf bis Fuß gemustert und dann einmal kurz genickt. Ihre Zeugnisse hatte er keines Blickes gewürdigt; nur ihren Taufschein hatte er einmal kurz angesehen.

Es war kein Geheimnis, dass Professor Lahothny vor allem für seine Wissenschaft lebte. Er befasste sich mit der Phylogenese des Bewegungsapparats bei Fluchttieren. Jedenfalls hatte die gnädige Frau Ida das so erzählt. Bisweilen war er kaum für ein höfliches Wort zugänglich, wenn er mit den Gedanken bei einem neuen Projekt weilte, und hätte selbst auf Essen und Schlaf vergessen, wenn ihn sein Studienassistent nicht an derlei Banalitäten erinnert hätte.

Bei einem anderen Gespräch hatte der Professor Ida nur angewiesen, mit aller Sanftmut und weiblichem Zartgefühl seinem einzigen Sohn die notwendigen Kenntnisse beizubringen, damit er – sollte sich der schwache Zustand seiner Nerven je wieder bessern – seine Schullaufbahn an einem Gymnasium fortsetzen könnte.

Dabei gestaltete sich diese Aufgabe im Grunde nicht schwierig, standen Ida doch alle möglichen Bücher und Lehrmittel zur Verfügung, und was immer sie sonst für den häuslichen Unterricht des Knaben benötigte, wurde auf ihren Wunsch hin ohne weitere Nachfragen angeschafft. Auch war Theodor mit seinen ungefähr zwölf Jahren ein lieber und gelehriger Junge – solange nicht irgendetwas sein Gemüt erregte.

»Mein Bub ist eben feinfühliger als andere Kinder. In seinem Alter war ich das wohl auch …« Frau Lahothny starrte in ihre Teetasse, als überlegte sie, ob sie ihrem Sohn ein solches Getränk zumuten könnte.

Das erste Mal, dass Ida einen derartigen Ausbruch ihres Schülers miterlebte, hatte sie wie gewöhnlich mit ihm zu Mittag gegessen, eine leichte Bouillon mit Griesnockerl, da man dem Sohn des Hauses im Allgemeinen fast nur Schonkost erlaubte, um seinen nervenschwachen Zustand nicht noch zu fördern. Plötzlich – kaum dass er einen einzigen Bissen zu sich genommen hatte – schrie er auf, verfiel förmlich in Panik, stieß den Suppenteller vom Tisch und war nicht mehr dazu zu bewegen, wieder an den Tisch zu kommen. Erst am Abend konnte Ida ihn überreden, wenigstens noch einen Becher Milch zu trinken, ehe er in einen unruhigen Schlaf fiel.

Der Teller mit dem eleganten Orchideen-Muster, den er in seinem Anfall zu Boden befördert hatte, war nicht mehr zu retten gewesen.

Frau Lahothny seufzte. »Ich bin froh, dass Sie sich um meinen Sohn kümmern.«

»Ich tue mein Bestes.«

»Gewiss wäre es meine Aufgabe … aber ich habe einfach nicht die Kraft dazu. Wissen Sie, Ida, wenn man jung ist, dann meint man, dass die Liebe alles richten kann, dass Liebe allein genügt. Ich hätte … Ich habe alles für Ignaz getan, aber er lebt ja nur für seine Forschung, für seine Experimente. Für die akademische Anerkennung, die ihm zusteht.« Erschreckend bitter klangen ihre Worte. »Was weiß ich denn schon, was ein Geistesmensch wie er benötigt. So oft wie er an der Universität ist und seine vielen kleinen Studienreisen … Manchmal frage ich mich, was oder wen er da studiert. Aber eine gute Frau darf danach nicht fragen. Das ist wohl das Vorrecht der Männer … Wahrscheinlich wurde ich ihm ja schon kurz nach unserer Hochzeit zur Last, und wenn nicht unser Sohn …« Sie sank noch mehr in sich zusammen. »Ab und zu denke ich mir, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn ich …« Sie unterbrach sich abermals, starrte einige Sekunden blicklos an die mit gelblichen Mustern tapezierte Wand. Nicht zum ersten Mal hatte es den Anschein, als wäre sie drauf und dran gewesen, noch mehr zu sagen. Doch was auch immer es war, etwas hielt sie zurück.

In solchen Momenten wusste Ida, dass es nichts gab, womit sie Frau Lahothny aus ihrer Schwermut hätte befreien können. Unauffällig sah sie auf die Uhr an ihrem Gürtel. Bald müsste sie ohnehin wieder bei Theodor sein, um ihm seine Jause zu bringen und noch ein paar Stunden Unterricht zu bestreiten.

Wie schön hatte sie es sich vorgestellt, als sie zum Ende des Sommers hierhergekommen war. Nach der Katastrophe im Pensionat am Annaberg hatte sie zunächst vorgehabt, einige Wochen in ihrem Elternhaus zu bleiben. Doch unter dem Regime ihrer um zwei Jahre jüngeren Stiefmutter hatte sie es nicht lange ausgehalten. So hatte sie sich lediglich eine kleine Wohnung in der Stadt genommen, bis sie hier in die Beletage des eleganten Stadthauses hinter dem Schlossberg einziehen konnte. Wie eine feine Dame hatte sie sich gefühlt, als sie ihr neues Zimmer betreten hatte, das gut und gerne dreimal so groß war wie die Kammer, die sie im Pensionat bewohnt hatte. Welche Wunder hatte sie sich nicht ausgemalt, die ihre neue Stellung mit sich bringen würde – und nun war sie zugleich die Gesellschafterin der gnädigen Frau, die Hauslehrerin des Sohnes und, wenn nicht bald ein brauchbares Dienstmädchen gefunden wurde, auch noch die Haushälterin.

Ein Klingeln aus einem der hinteren Räume zeigte an, dass Theodor seine Nachmittagsruhe beendet hatte. Da er nur ungern allein war, bedeutete dies für Ida, dass sie nun wieder ihren Pflichten als Gouvernante und Erzieherin nachkommen musste.

»Gnädige Frau.« Sie stand auf. »Vielen Dank für den Tee.«

Frau Lahothny lächelte welk.

Mit leidlichem Enthusiasmus las Theodor seine Lateinhausübung vor. Trotz aller Eigenheiten des Jungen stand außer Frage, dass er einen hellen Verstand und ausreichend Lerneifer besaß. Da er vor etwas mehr als einem Jahr den Besuch des Gymnasiums abbrechen musste, da sein nervenschwacher Zustand diesen nicht länger erlaubt hatte, war von da an auch sein Lehrplan meist seinen eigenen Bedürfnissen und den Fähigkeiten seiner Lehrer angepasst worden. Aus diesem Grund beherrschte er Latein bereits weit besser als andere moderne Sprachen und konnte die Hauptflüsse der Vereinigten Staaten eher aufzählen als die steirischen Orte, die an der Mur lagen.

Diese Ungleichverteilung des Wissens sollte nun Ida ausgleichen.

Wie üblich stand nach der Nachmittagsjause zunächst ein wenig Literaturgeschichte auf dem Programm, was vor allem darin bestand, dass Ida ihm aus ausgewählten Werken vorlas (allerdings nur Passagen, die seine Nerven nicht zu sehr aufregten) und er ihr mit halb geschlossenen Augen lauschte. Danach kam eine Lektion Latein – die er ausgezeichnet bestritt –, gefolgt von ein wenig Algebra, womit das tägliche Pensum abgeschlossen wurde.