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Eine fesselnde Mörderjagd in der Steiermark der Kaiserzeit. Graz, 1883. Mehrere Menschen, die auf die eine oder andere Art mit dem ältesten Gewerbe der Welt zu tun haben, werden ermordet. Für die Bevölkerung ist klar: Das ist der Preis ihres sündigen Treibens. Während Gendarm Wilhelm Koweindl mit den Schatten seiner Vergangenheit konfrontiert wird, macht sich Hauslehrerin Ida Fichte auf die Suche nach dem Täter – und gerät in einen gefährlichen Strudel, der droht, sie von Wilhelm und allem, was ihr lieb ist, wegzureißen.
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Seitenzahl: 386
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Gudrun Wieser, geboren 1987 in Frohnleiten, machte ihre Matura bei den Ursulinen in Graz (damals noch eine reine Mädchenschule), darauf folgte das Lehramtsstudium für Deutsch und Latein an der Karl-Franzens-Universität in Graz. Aus Leidenschaft für die alten Sprachen hängte sie 2017 noch ein Doktorat in Klassischer Philologie (Latein) in Graz und Wien an. Als Lehrerin verschlug es sie nach einem Abstecher als Lektorin an der Universität und mehreren Sprachkursen an der Urania an das geschichtsträchtige Akademische Gymnasium Graz, wo sie nun Latein, Deutsch, Interkulturelles Soziales Lernen und Darstellendes Spiel unterrichtet. Daneben tritt sie als Erzählerin allein und als Duo Wieser&Wiesler mit der Schauspielerin und Autorin Marion Wiesler auf.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2024 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung eines Motivs von arcangel.com/Magdalena Wasiczek
Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-192-8
Historischer Kriminalroman
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Textbaby Medienagentur Carsten Polzin.
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Für Julia und Eva,
Prolog
1877. Tief in seinem Inneren, dort wo üblicherweise jene Gedanken saßen, die er tunlichst zu vermeiden suchte, wusste er, dass es wahrscheinlich nicht besonders klug war, was er da gerade tat. Allerdings war er auch nicht der Mann, der allzu lange über gewisse Dinge nachdachte. Vor allem dann nicht, wenn sie durch die militärischen Dienstvorschriften eigentlich ohnehin eindeutig geregelt waren.
Er verließ die Kaserne mit Einbruch der Dunkelheit, aber immer noch früh genug, dass er sicher sein konnte, vor dem Zapfenstreich wieder in seiner Stube zu sein. Rauscher und Platzny waren selbstverständlich der fixen Meinung, dass er nur zu einem der süßen Mädel unterwegs sein konnte, die doch so willig jeden Gruß eines Militärs mit einem seufzenden Augenaufschlag quittierten und bereit waren, einem jeden Offizier sogleich in die Arme zu sinken, wenn er nur zu einem halbwegs charmanten Wort fähig war. Allerdings bog er nun keineswegs in jene Gasse ein, wo in den ärmlichen Dachkammern die Grisetten schmachteten und auf ihre Erlösung durch einen Ritter oder wenigstens einen Leutnant hofften. Auch wenn dem jungen Mann die holde Weiblichkeit durchaus nicht völlig fremd war, waren an diesem Abend seine Gedanken auf eine ganz andere Angelegenheit konzentriert.
Wilhelm Koweindl marschierte mit raschem Schritt und einem unförmigen, länglichen Paket unter dem Arm von der Kaserne schnurstracks in Richtung des Murufers, wo im Schatten des Schlossbergs sich die Krämerläden drängten und in manchen windigen Geschäften Waren von höchst fragwürdiger Herkunft angeboten wurden. Einen kurzen Moment verharrte er vor einem Fenster, aus dem ihn zwei Puppen mit ausgeschlagenen Augen anlächelten, daneben eine Kiste, die an einen Kindersarg erinnerte, und eine offensichtlich gebrauchte Beinprothese. Abgerundet wurde die leicht verstaubte Ansammlung von einem Bügeleisen, einer Emailleschüssel mit hübschem Blumenmuster und einer Auswahl an Hosenträgern. Gott sei Dank hatte dieses Geschäft längst geschlossen. Wilhelm wollte sich nicht vorstellen, welche Art von Kundschaft hier ein und aus ging.
Sein Ziel war ein kleines Geschäft in einem Hinterhof, welches man ihm empfohlen hatte.
»Zwetschgenbaum – Kurzwaren und Sonstiges« stand auf dem Schild, welches unter einer der Renaissance-Arkaden baumelte. Die ganze Stadt war voll von diesen Innenhöfen, die wie aus der Zeit gefallen schienen, während sich draußen in den Straßen von Graz die Welt unerbittlich weitergedreht hatte.
Man hatte ihm gesagt, dass er jederzeit herkommen könne, solange es nicht der Schabbesabend sei.
Wilhelm zögerte, und ein Schatten hinter einer der Säulen tat es ihm gleich. Dann schritt er beherzt auf die schmale Tür zu, die offenbar der Eingang zu Zwetschgenbaums Laden war, und klopfte. Eine Weile war nichts zu hören außer dem Knarren eines Mansardenfensters, das von einem alten Dienstmädchen geöffnet wurde, um einen Schwall Waschwasser in die Regenrinne zu kippen. Schon wollte Wilhelm sich wieder umwenden, als sich die Tür einen Spaltbreit öffnete und sich ein junges und überraschend weibliches Gesicht zeigte.
»Was wollen S’?«, fragte eine Stimme, die jedoch nicht so recht zu dem Bild passen wollte.
»Sind Sie … Frau Zwetschgenbaum?«
»Nein. Zwetschgenbaum ist umgezogen.«
»Aber …« Er deutete auf das Schild über ihnen.
»Der Laden kann von mir aus heißen, wie er will, bloß ich bin kein Zwetschgenbaum.«
Dass es sich bei der jungen Frau um eine derartige botanische Rarität handeln könnte, hatte Wilhelm auch nicht angenommen. »Ja, nun … Ich hätte da was zum Verkaufen«, erwiderte er ungelenk.
»Sie sind von der Kaserne, nicht?«
Wilhelm nickte. »Ja«, sagte er dann, weil er sich nicht sicher war, ob die Person hinter der Tür in dem Dämmerlicht seine Geste gesehen hatte.
»Dann kommen S’ herein.« Die Frau trat zur Seite und gab den Blick auf einen spärlich beleuchteten und bis oben hin vollgestellten Raum frei.
Etwas beklommen trat Wilhelm ein und sah sich sogleich einer ausgestopften Wildsau gegenüber, die neben einer kunstvoll bemalten Tür stand. Jeder Fleck an den Wänden des Ladens war entweder mit Gemälden unterschiedlichster Qualität oder Jagdtrophäen gepflastert. In den Vitrinen lagen uralte Steinschlosspistolen neben feinen Spitzenkrägen und Kerzenleuchtern. Dort lehnte eine Geige, der zwei Saiten fehlten, hier stapelten sich Bücher, in einer Ecke lagen ein paar Hüte, und in einer Schatulle gab es Nähgarne und Knöpfe zu kaufen. Fasziniert betrachtete er das Sammelsurium und hätte fast vergessen, weswegen er überhaupt hierhergekommen war, wenn ihn die Frau nicht ungeduldig angeredet hätte: »Wenn S’ nur zum Schauen da sind, dann kommen S’ morgen wieder.«
»Ja … nein, ich …«, stotterte Wilhelm.
»Was wollen S’ denn verkaufen, Herr Offizier?«
Umständlich legte er ihr nun sein Paket auf den Tisch. Es war in ein Leintuch eingeschlagen, und als die Frau den Stoff auseinanderzog, wurden ihre Augen groß.
»Sind Sie da sicher?«
Wilhelm nickte nur und unterdrückte den Drang, sich nach etwaigen Lauschern umzusehen.
»Ich habe den Verdacht, dass das aber nicht das übliche Vorgehen in Ihrem Verein ist«, merkte die Geschäftsfrau gelassen an, ehe sie scheinbar beiläufig einen Betrag nannte, der nicht so hoch war, wie Wilhelm erhofft hatte, aber doch genug, dass er es sich zweimal überlegen musste, ob es sich auszahlte, noch zu feilschen.
»Das ist … für einen Freund, der …«
»Na, na, lassen S’ nur, so genau will ich’s gar nicht wissen«, unterbrach sie ihn. »Nehmen S’ das Geld oder nicht?«
Wilhelm schluckte. Es war trotz allem eine Menge, vor allem für ihn, der kaum je so viel in der Tasche gehabt hatte, dass er unbeschwert mit seinen Kameraden feiern konnte, ohne an den kommenden Tag zu denken. Ganz zu schweigen von den anderen Ausgaben, die man als junger Mann, noch dazu als Unteroffizier und guter Kamerad, zu tätigen hatte.
»Ist gut«, sagte er schließlich, ließ das Geld in seiner Tasche verschwinden und beeilte sich, das Geschäft Zwetschgenbaum so rasch wie möglich zu verlassen.
Der Schatten, der unter den Arkaden im Innenhof gewartet hatte, folgte ihm.
Mit langen, raschen Schritten marschierte Wilhelm zum Murufer. Das Rauschen des Flusses beruhigte ihn, und für ein paar Sekunden konnte er sich einreden, dass er das Richtige getan hatte. Er atmete durch, wollte schon zur Kaserne zurückkehren, als er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter spürte.
»Seit wann gehst du zu einem Juden einkaufen, Koweindl?«, schnarrte die Stimme seines Stubenkameraden Platzny in seinem Ohr.
Wilhelm blieb stehen. »Der Jude ist nimmer da, bloß das Geschäft heißt noch so«, erklärte er. »Und ich hab auch nichts gekauft«, wischte er die Hand mit einem Ruck von seiner Schulter.
»Ich weiß. Du bist offenbar ein ganz ein Feiner, ein Dieb bist du und hast dein Zeug dem Zwetschgenbaum da angedreht. Hat er wenigstens gut gezahlt?«
»Das war er nicht, der ist umgezogen!«
»Glaubst, das interessiert mich? Was hast du da gemacht, will ich wissen!«
»Ich hab auch nichts gestohlen!« Zornig fuhr Wilhelm herum und sah Platzny in die blassen Augen. »Ich habe für einen Freund etwas … hergebracht. Er hat mich drum gebeten.«
»Du bist so ein Idiot«, zischte sein Kamerad. »Der Blamberger ist weg – und du hast nichts Besseres zu tun, als ein paar Tage drauf seinen Säbel dem nächstbesten Tandler zu verkaufen. Ich will ja nicht glauben, was man so redet, dass es was mit eurer … Meinungsverschiedenheit zu tun hat, dass er auf einmal weg ist. Aber wenn man eins und eins zusammenzählt«, er machte eine ausholende Geste in Richtung des Krämerladens, »ist es schon ein bisserl verdächtig … Aber so deppert zu sein und den Säbel eines Unteroffiziers zu verscherbeln – Respekt, Koweindl. Das hätte ich nicht für möglich gehalten.«
»Ich habe doch nicht –«
»Gescheiter, du bist still. Beim Rapport wirst du schon noch zu Wort kommen.«
Wilhelm presste die Lippen zusammen, um nicht versehentlich etwas zu sagen, was sein Kamerad nur mit einer sofortigen Forderung zum Duell quittieren konnte. Schweigend folgte er Platzny zurück zur Kaserne, während der Zorn und schlimmste Vorahnungen in seiner Brust und hinter seinen Augenlidern brannten.
Besonders viel gab es beim Rapport beim Kasernenkommandanten ohnehin nicht zu sagen.
Rauscher und Platzny und noch ein paar andere Unteroffiziere, mit denen Wilhelm tags zuvor noch gelacht und sich amüsiert hatte, standen nun feixend daneben, während er nach allen Regeln der Militärhierarchie in Grund und Boden geschrien wurde. Er konnte nur strammstehen, die Hände zu Fäusten geballt, und warten, bis es vorüber war.
Der Unteroffizier Alois Blamberger war verschwunden. Dass dieser als Schwerenöter und Muttersöhnchen verschrien war, sorgte vielleicht für Gerede in der Kaserne, brachte aber keine weiteren Erkenntnisse. Es gab weder Spuren noch irgendwelche Hinweise, was vorgefallen sein mochte – lediglich sein heftiges Gespräch mit Wilhelm war einigen Kameraden in Erinnerung geblieben. Dass Platzny Wilhelm dann jedoch dabei beobachtet hatte, wie er den Säbel des Verschollenen einem jüdischen Hehler verkaufen wollte (seine wiederholten Beteuerungen, dass jenes Geschäft eben nicht mehr einem Juden gehörte, interessierten niemanden), warf Fragen auf, die Wilhelm allerdings weder beantworten konnte noch wollte.
Man steckte ihn daraufhin für unbestimmte Zeit in den Arrest, was Wilhelm mit verbissenem Schweigen hinnahm. Allerdings ließ sich in den folgenden Tagen – wie sehr man auch suchte und forschte – nichts weiter herausfinden, als dass der Unteroffizier Wilhelm Koweindl den Säbel des Kameraden zu Geld hatte machen wollen. Rauscher und Platzny schwadronierten zwar allerhand von Liebschaften und deren unliebsamen Folgen, aber auch da ließ sich nicht mehr herausfinden, als was in der Kaserne ohnehin allgemein bekannt war.
Schließlich musste man es bei einer für alle unbefriedigenden Lösung belassen: Über das mysteriöse Verschwinden des Unteroffiziers wurde so weit wie möglich Schweigen gebreitet. Offiziell hieß es lediglich, er habe den Dienst quittiert. Wilhelm Koweindl hingegen musste aus dem Militärdienst scheiden. Er verlor seinen Rang, und statt des Blaus der Infanterie musste er fortan das Dunkelgrün der Gendarmen tragen.
Der junge Mann, der ohnehin nie ein Ausbund an Eloquenz gewesen war, schwieg auch dazu, und in den folgenden Jahren wusste kaum jemand, was (abgesehen von seiner bemerkenswerten Körpergröße) ihn vom Militär zum Gendarmeriedienst verschlagen hatte.
Lediglich seine Mutter schrieb einen verzweifelten Bittbrief an das Regiment, dass man ihren Buben doch wieder zurücknehmen solle, er habe doch gewiss nichts Böses getan. Ob jenes Schreiben aber jemals in die Hände eines der Offiziere gekommen war, muss offen bleiben.
Kapitel 1
… in welchem es mehr als einen Walzer braucht, um gewisse Dinge auch ohne Worte endlich beim Namen zu nennen …
Wilhelm zupfte nervös an seinem Hemdkragen herum, der ihm auf einmal viel enger und steifer als der Kragen seiner üblichen Gendarmerie-Uniform schien, die er seit bald sechs Jahren tagtäglich zu tragen hatte. Zugleich fühlte er sich merkwürdig ungeschützt, fast nackt, wie er da in seinem einzigen zivilen Anzug neben einer mickrigen Droschke stand und auf Ida wartete. Der Kutscher kaute mürrisch auf einer erkalteten Pfeife herum, die beiden Pferde sahen drein, als würden sie längst den Tag des Jüngsten Gerichts als Ende all ihrer Mühen und Plagen herbeisehnen.
»Na, was ist? Kommt sie heut noch, oder wollen Sie da übernachten?«, knurrte der Kutscher ihn über die Schulter an.
Wilhelm hob den Blick zu dem kleinen Mansardenfenster, hinter dem er nun eine Bewegung wahrzunehmen meinte. »Natürlich kommt sie«, erwiderte er. »Wir sind ohnehin viel zu früh da.«
»Sie zahlen mir aber auch die Zeit, die ich da mit Warten vertue – das wissen Sie eh?«
Wilhelm nickte nur ergeben.
Nachdem das Mädchenpensionat am Annaberg aufgelöst worden war und Ida – wie zu erwarten – nach den skandalösen Vorfällen im Hause von Professor Lahothny auch dort ihre Stellung als Hauslehrerin hatte aufgeben müssen, war sie für eine Weile ohne Beschäftigung und ohne Bleibe dagestanden. Insgeheim hätte Wilhelm sie ja durchaus gern bei sich aufgenommen, aber erstens waren einem einfachen Gendarmen Frauen in seinem Militärzinszimmer nicht erlaubt, zweitens wäre dort kaum genug Platz gewesen und drittens musste er sich im Moment die schlichte Kammer ohnehin mit einem Kameraden teilen.
Er unterdrückte ein Seufzen und schaute abermals zu dem Fenster empor.
Ganze zwei Wochen hatte Ida unter dem Dach ihres Vaters zugebracht, ehe dessen beißende Kommentare über ihre offensichtlich glücklose Lebensführung, das ausdauernde Nörgeln ihrer um zwei Jahre jüngeren Stiefmutter und das nervenzersetzende Quengeln ihres kleinen Halbbrüderchens sie wieder aus dem Haus getrieben hatten. Mit ihrem Ersparten hatte sie sich daraufhin ein kleines Dachzimmer inmitten der Stadt genommen, das immerhin leidlich sauber und trocken, dafür aber auch reichlich eng und verwinkelt war. Von dort aus hatte sie sich nach einer neuen Stellung umgesehen, denn immerhin hatte sie ja mehrere Jahre lang als Lehrerin in einem Pensionat für höhere Töchter unterrichtet, sie verfügte über beste Umgangsformen, war in deutscher Literatur und Allgemeinwissen bewandert, konnte Klavier spielen, zeichnen und auch lateinisch lesen und schreiben. Im Grunde verfügte sie somit über jene Fülle an Bildung, die Wilhelm bisweilen heimlich schaudern machte, ihm aber auch Respekt und Bewunderung für diese Frau einflößte, an die er im Laufe des letzten Jahres fast täglich hatte denken müssen.
Plötzlich öffnete sich das Mansardenfenster. »Ich bin gleich da!« Ein Lachen regnete auf Wilhelm herab, und er konnte einen kurzen Blick auf Ida erhaschen, die sich in geradezu mädchenhaftem Übermut zu ihm herausgelehnt hatte, ehe das Fester sich wieder schloss.
»Na, Gott sei Dank …«, brummte der Kutscher nur.
Wilhelm beachtete den Mann gar nicht. Er versuchte sich vorzustellen, von welcher Farbe das Band in Idas Haaren gewesen sein mochte, die immerzu in Bewegung schienen, sich hinter ihren Ohren und über dem Kragen kräuselten. Gern hätte er einmal eine von diesen widerspenstigen Locken berührt, aber eine ihm unerklärliche Scheu hielt ihn zurück.
Überhaupt hatte er Ida, seit er den Chargen-Kursus angetreten hatte, weit nicht so oft gesehen, wie es ihm lieb gewesen wäre. Statt einer neuen Anstellung hatte sie nämlich gleich mehrere angenommen und unterrichtete nun die Töchter der Familie Mandelsüß zweimal die Woche im Klavierspiel, daneben verbrachte sie immer wieder einen Nachmittag bei zwei ältlichen Damen, die zusammenlebten und Ida dafür bezahlten, dass sie diese für ein paar Stunden mit Musik und Vorlesen unterhielt, und schließlich hatte ein Herr Fischer sie eingestellt, um seiner ausufernden Kinderschar wenigstens irgendeine halbwegs vernünftige Freizeitbeschäftigung näherzubringen. Also verdiente sie sich auch dort ihr Geld mit Musizieren, Zeichnen und dem Versuch, den überaus aufgeweckten Buben und Mädchen hier und da so etwas wie gute Lektüre schmackhaft zu machen.
Immerhin ermöglichten diese Stunden Ida ein schlichtes Auskommen, das sie von der Notwendigkeit befreite, ihren Vater um Unterstützung zu bitten. Seit sie nämlich vor mehreren Jahren gleich zwei Heiratsanträge zurückgewiesen hatte, betrachtete er ihren Lebenswandel als fortwährende Provokation.
Endlich ging die Tür des Hauses auf, und Ida trat heraus.
Sprachlos starrte Wilhelm sie an. Sie sah nicht aus wie die junge Lehrerin, als die er sie vor ungefähr einem Jahr kennengelernt hatte, auch jene vornehme Distanziertheit fehlte, die sie seiner Meinung nach anfangs als Hauslehrerin von Professor Lahothny umgeben hatte (und die ihn zum ersten Mal, seit er mit weiblichen Wesen Umgang pflegte, so etwas wie Eifersucht hatte spüren lassen). Sie trug ein modisch geschnittenes Kleid, das ihre Figur betonte und hinter einem züchtigen Streifen heller Spitze einen überraschenden Einblick in ihr Dekolleté erlaubte. Ein asymmetrisch geraffter Überrock wallte locker über eine dezente Tournüre, ihre Hände steckten in gehäkelten Handschuhen, eine ebenso gehäkelte Stola lag um ihre Schultern.
Dass es sich bei ihrer Garderobe übrigens um eines jener Kleider handelte, welche ihre frühere Arbeitgeberin ihr geschenkt hatte, die sich mittlerweile, eines Mordes überführt und ihres Verstandes verlustig gegangen, in der Landes-Irrenanstalt Feldhof befand, musste ja niemand wissen. Außerdem hatte Ida die teuren Gewänder fast vollständig auseinandergenommen, um sie neu und passend und ihrem Geschmack entsprechend wieder zusammenzunähen. Ein Kleid von dieser Qualität hätte sie sich nämlich kaum je leisten können.
»Ida … Fräulein Fichte?« Wilhelm wusste nicht recht, ob er vor ihr salutieren sollte (was er eigentlich gar nicht durfte, da er ja in Zivil gekleidet und noch dazu außer Dienst war), ihr die Hand lieber küssen oder schütteln oder sie gleich in seine Arme schließen sollte. Also blieb er einfach stehen und schaute sie weiter an, als hätte er noch nie ein weibliches Wesen aus der Nähe gesehen.
Erst ihr Lachen ließ ihn wieder zu sich kommen. »Ja, ich bin es leibhaftig.«
Nun wagte er doch, nach ihrer Hand zu fassen, welche er sich dann aber weder zu schütteln noch zu küssen traute und stattdessen einfach nur festhielt.
»Ich hätte dich so ganz ohne Uniform auch fast nicht erkannt.«
»Ja, ich … hab mir die Weste extra gekauft, und das Halstuch hat mir die Mutter geschenkt und den Kragen gestärkt … Der Rock ist auch nicht der neueste, aber frisch aufgebürstet und –«
Ida unterbrach ihn, indem sie sich zu der Droschke wandte. »Wir fahren ja auch nicht zum Empfang des Kaisers, sondern zum Brauhaus-Ball.« Ehe Wilhelm reagieren konnte, war sie schon in den Wagen gesprungen. »Und es ist mir vollkommen gleichgültig, ob du ein rotes oder ein blaues Halstuch trägst – zu dieser feschen Weste würden sie nämlich beide nicht passen.« Mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen ordnete sie ihre Röcke, während der Kutscher auf ein Zeichen hin seine Rösser in Bewegung setzte.
»Wieso – welche Farbe hat denn meine Weste?«
Ida wusste um Wilhelms Geheimnis – nämlich, dass er vollkommen farbenblind war – und erwiderte: »Du trägst eine dunkelgrüne Weste, die übrigens recht gut zu meinem Kleid, allerdings eher schlecht zu dieser fliederfarbenen Halsbinde passt. Dein Anzug ist dunkelgrau. Du schaust also fast ein bisserl so aus wie ein Erzherzog, der sich als Steirer verkleidet hat.«
»Na, vielen Dank …«
»Ich finde das fesch.« Sie blinzelte verschwörerisch.
»Solang du nur mit mir tanzen magst.«
Die Droschke rumpelte in leidlich flottem Tempo durch den frühsommerlich lauen Abend.
Als hätte er Angst davor, womöglich gewisse Gefühle aufkommen zu lassen, berichtete Wilhelm Ida in überdeutlich sachlichem Tonfall von den Mühen und Leiden des Chargen-Kursus, den er mit Beginn des Jahres angetreten hatte. Quasi als Lohn für seine Verschwiegenheit in einer Angelegenheit, die dem 27. Infanterieregiment höchst unlieb gewesen war …
Als er im letzten Jahr, bevor noch der erste Schneefall über die Stadt hereingebrochen war und herbstlicher Nebel sich wie ein Leichentuch über die Mur gebreitet hatte, verletzt ins Militär-Spital eingeliefert worden war, da hatte er Ida um ihren Rat gefragt. Man hatte ihn nämlich vor eine unerwartete Wahl gestellt, und er hatte lediglich wissen wollen, ob sie ihn denn lieber als Soldaten oder als Gendarmen hätte. Ida allerdings hatte nur geantwortet, dass es sie nicht kümmerte, was er war, sondern wer. Da er sich auf diese kryptische Antwort hin nicht getraut hatte, noch einmal nachzufragen, hatte er schließlich getan, was ihm naheliegender erschien, und sich für den Chargen-Kursus entschieden, aus dem er – so er die Prüfung bestand – als Wachtmeister und vielleicht zukünftiger Postenkommandant hervorgehen würde.
Gewissermaßen drückte er nun also wieder die Schulbank.
Wenigstens konnte er sich so einreden, dass er auf diese Weise auch seinem Fräulein Lehrerin nahe war, während er sich Geschichte, Waffenlehre und Heeresorganisation neben den verschiedenen juristischen Gegenständen einzuverleiben suchte und mehr als nur einmal kurz davorstand, alles aus dem Fenster zu werfen.
»Du weißt, dass du mich um Hilfe bitten könntest?«, merkte Ida nach einer Weile an, in der sie geduldig seinem Lamento gelauscht hatte.
»Ja, aber das sind ja keine … Frauenfächer.«
Sie funkelte ihn von der Seite an, was ihm seinen Kragen gleich noch ein Stück enger werden ließ.
»Na, ich meinte nur …«
»Ich muss dazu ja kein Feldwebel sein. Ich bin bloß Lehrerin und habe lediglich gelernt, wie man effektiv verschiedenes Wissen in Schülerköpfe hineinbefördert.«
Wilhelm murmelte darauf eine Antwort, die irgendetwas von wegen »Weiberleut« beinhaltete, was allerdings unter dem Fluchen des Kutschers unterging, als eines der Pferde Anstalten machte, eine Abkürzung in den Straßengraben zu nehmen.
Schon lange hatten sie sich auf diesen Abend gefreut, an dem sie zusammen zum Brauhaus-Ball gehen wollten, ein schlichtes, sommerliches Tanzvergnügen, dem beide mit heimlicher Aufregung entgegengefiebert hatten. Obwohl Wilhelm für die Zeit seiner Ausbildung vom Gendarmeriedienst in Gratwein befreit war, hatte er ja kaum Gelegenheit gehabt, sich mit Ida zu treffen. Und auch Ida hatte bei Weitem nicht so viel freie Zeit zur Verfügung, wie sie es sich einmal ausgemalt hatte. Allerdings muss man hier anmerken, dass sie sich im Allgemeinen bemühte, sich nicht allzu viele Dinge auszumalen – vor allem, wenn diese eine höchst unwahrscheinliche Idee ihrer Zukunft beinhalteten.
Umso mehr freuten sich beide nun auf diesen Sommerball.
Schon von Weitem konnte man die hell erleuchteten Fenster des Brauhauses sehen und den mit Lampions erhellten Platz davor, auf dem sich längst die zahlreichen Gäste tummelten.
Ein barscher Befehl des Kutschers brachte endlich seine Rösser zum Stehen.
Mit einem fast knabenhaft aufgeregten Lächeln bot Wilhelm Ida den Arm und ging mit ihr zum Brauhaus, wo sie in einen Nebel aus Stimmen, Gelächter und den vorüberwehenden Takten der Musik eintauchten.
Während er sich ihren Weg zum Tanzboden bahnte, sah Ida sich in der Menschenmenge um. Alle schienen hier zu sein. Sie konnte ein paar pomadisierte Haarschöpfe erkennen, die zu Herren in eleganten Abendanzügen gehörten, mit silbernen und goldenen Taschenuhrketten, daneben hemdsärmelige Arbeiter. Da waren Damen, deren Kleider von geradezu frivolem Schnitt waren, und Mädchen, die ihr Sonntagskleid zum Tanz trugen, geschmackvolle Abendgarderoben und schlichte Nachmittagstoiletten, mit ein paar Spitzen und Bändern dem Anlass angepasst. In manchen Gesichtern lag die ausgelassene Freude eines lang ersehnten Festes, andere hingegen sahen sich gelangweilt um, manche suchend, manche überwältigt, gierig, lüstern, unbekümmert oder verloren. Einige Gäste schienen dem Bier des Hauses bereits ausgiebig zugesprochen zu haben, andere schauten sehnsüchtig zu den halb leeren Gläsern hin, die vergessen auf einem der Tische standen.
Schon hatten sie den Tanzboden erreicht, auf dem sich die Paare im Walzertakt drehten. Ohne ihr Gelegenheit zum Widerspruch zu geben, hatte Wilhelm Ida in die Mitte der Tänzer gezogen, sie fühlte seine Hand an ihrer Taille, einen sanften Druck, der sie in die Tanzrichtung drehte, und dann blieb ihr gar nichts anderes mehr übrig, als sich von ihm führen zu lassen. Sie hatte gerade noch Zeit, zu bemerken, dass er fast einen ganzen Kopf über die restlichen Tänzer hinausragte, als er sie bereits zur Coda des Walzers herumwirbelte, dass sie meinte, gleich davonzufliegen.
Als die Musiker viel zu bald schon endeten und von allen Seiten Applaus aufbrandete, standen sie errötend und ein wenig außer Atem einander gegenüber. Sie hatten kaum die letzten paar Takte des Walzers mitgetanzt, und fast betreten stellten sie fest, wie überaus eilig sie sich ins Getümmel gestürzt hatten.
»Noch einen?«, fragte Wilhelm.
»Selbstverständlich!«
Man muss wohl auf ewige Zeiten jenen feinen Herrschaften dankbar sein, die irgendwann beschlossen hatten, dass zu einem ausgiebigen Ballvergnügen mehr gehörte als bloß Menuette und charmante Contre-Danses, und stattdessen den Walzer in Mode gebracht hatten, der so viel Nähe erlaubte, wie man es in gesitteten Kreisen sonst kaum je gekannt hatte. Dementsprechend berauscht waren Ida und Wilhelm nun von den mitreißenden Melodien des Tanzes – und von den Berührungen des jeweils anderen. Denn wann hatte der Gendarm je zuvor die Gelegenheit gehabt, sie so fest an sich zu drücken, jede ihrer Bewegungen zu spüren? Wann sonst hätte Ida denn, ohne die Grenzen des guten Geschmacks zu überschreiten, ihre Stirn an seine Schulter lehnen können? (Denn weiter hätte sie bei seiner beachtlichen Höhe ohnehin nicht gereicht.)
Gewiss konnte man über die künstlerische Qualität der Tanzkapelle streiten, zumal fast jeder der Musiker bereits einen oder mehrere Krüge Bier unter dem Sessel stehen hatte, doch wenn sie etwas konnten, so war es, die Gäste restlos in den Bann des Dreivierteltakts zu schlagen.
Ida ließ es zu, dass sie alles um sich herum vergaß, dass sie wenigstens für die Dauer des Walzers nur in diesem Moment lebte. Verzückt schloss sie kurz die Augen, wollte sich vorstellen, dass es diesen Tanz nur für sie allein gäbe. Da ließ aber eine vorbeiwehende Schleppe sie aus dem Takt kommen, sie stolperte und versuchte, in Wilhelms Armen wieder in den Rhythmus zu finden.
Sie hob den Blick, da bemerkte sie, wie ein Mann sie vom anderen Ende des Tanzbodens her fixierte. Erst meinte sie, dass er ihre Hingabe beobachtet hätte und sich nun über ihr Straucheln amüsierte, doch während sie ihn an Wilhelms Schulter vorbei im Auge behielt, erkannte sie, dass er nichts anderes tat, als sie anzustarren. Steif, als hörte er die Musik gar nicht, stand er da. Unwillkürlich schauderte sie.
Dann tanzte ein Paar mit ausladenden Schritten in ihr Blickfeld, eine federbewehrte Frisur drehte sich an ihr vorbei, zwei Mädchen, die jauchzend im Ringelreihen sprangen – und der Mann war verschwunden.
Erst als der Dirigent den Taktstock aufs Pult legte, die Geiger ihre Instrumente vom Kinn nahmen und ein Blechbläser mit einem Schlenker Wasser aus dem Trichter seines Waldhorns rinnen ließ, löste sich das Gedränge am Tanzboden ein wenig auf.
Ida atmete durch, hakte sich bei Wilhelm unter und dirigierte ihn in einen Nebenraum, wo es angenehm nach Bratwürsten roch. Sie wollte möglichst weit weg von dem Fremden, dessen Starren sie immer noch im Nacken zu spüren meinte. Und sie hatte Hunger. Mit jeweils einem Krug des obligaten Biers und einer deftigen Jause suchten sie sich dann draußen unter den farbenprächtigen Lampions einen ruhigen Platz.
Ungeniert streifte Ida ihre Handschuhe ab und aß mit den Fingern (sehr zur Erleichterung Wilhelms, der es ihr daraufhin gleichtat), wobei sie ein wohliges Seufzen von sich gab. Nach einem herzhaften Schluck Bier wandte sie sich zu ihrem Begleiter, der sich gerade verstohlen den Schaum vom Bart wischte. »Ich wusste gar nicht, dass du so gut tanzen kannst.«
»Na ja, früher als Unteroffizier … Es gehört eben dazu«, antwortete er, als schämte er sich seines Könnens. »Wenn man einmal wo eingeladen ist, da wird eben erwartet, dass man die Damen … unterhalten kann.«
»Ach, das gehört also zu den militärischen Pflichten?«, erwiderte Ida schelmisch.
»So würde ich es auch wieder nicht nennen.«
»Für Gott, Kaiser und Vaterland.« Ida kicherte. Der Mann vom Tanzboden war vergessen. »Du brauchst dich nicht zu genieren. Ich habe es sehr genossen, mit dir zu tanzen.« Sie leerte ihren Bierkrug und stellte fest, dass sie sich gerade äußerst beschwingt, geradezu ein wenig beschwipst fühlte. »Allerdings befürchte ich, dass ich beim nächsten Walzer passen muss.«
Es war nicht unwahrscheinlich, dass Wilhelm das Flirren in ihren Augen aufgefallen war, allerdings war er keineswegs der Mann, der sich daraus nun einen Vorteil ausgerechnet hätte. Jedenfalls wäre ihm das niemals mit Ida Fichte in den Sinn gekommen.
»Viel lieber hätte ich noch einen Spagatkrapfen«, sagte sie. »Mit Schlag. Und Preiselbeeren.« Ein wenig ungelenk kramte sie in ihrer Rocktasche nach ein paar Münzen.
Grinsend beobachtete Wilhelm eine Weile ihre Bemühungen. So hatte er die junge Lehrerin noch nie gesehen, und ein wenig amüsierte ihn der Anblick. »Lass nur«, meinte er schließlich. »Lauf mir nur nicht weg, ich bin gleich wieder da.«
Ida wusste selbst nicht recht, wie ihr war, während sie auf der Bank unter dem langsam verlöschenden Lampion saß und ein Kribbeln auf ihren Lippen spürte, das jeden Moment in ein unbeschwert glückliches Lachen zerbersten wollte. Wie unfassbar weit weg waren die Schrecken des Annabergs, die Gräuel, die sie in ihrer letzten Stellung erlebt hatte.
Irgendein nächtliches Insekt flatterte, vom Licht angezogen, gegen den Lampion. Immer wieder, als gäbe es nichts Süßeres als das brennende Licht hinter dem roten und gelben Pappmaché, bis es resigniert eine große Schleife zog, nur um noch einmal mit aller Kraft gegen die bunte Papierhaut zu fliegen. Das Rascheln der Flügel ließ Ida aufschauen. Ein weiterer Versuch, zu dem verlockenden Licht zu kommen – und das Insekt fiel scheinbar überrascht von seinem eigenen Missgeschick in ihren Schoß. Die großen grau-braunen Flügel ließen Ida zusammenzucken.
»Na, na, Fräulein, vor so einem Flattermann brauchen Sie sich nicht zu fürchten.«
Ein Mann stand vor ihr, ein Lächeln unter dem akkurat geschnittenen Bart, eine goldene Uhrkette an der Weste. Im ersten Moment dachte sie, es wäre wieder der unheimliche Mensch vom Tanzboden, doch diesem fehlte vollkommen jene Steifheit, die so gar nicht zum Brauhaus-Ball passte.
»Natürlich nicht.« Ida versuchte, das zappelnde Insekt von ihrem Rock zu befördern, allerdings ohne diesem dabei allzu nahe zu kommen. Sie hatte noch nie eine besondere Zuneigung zu Tieren empfunden, die mehr als die üblichen maximal vier Beine hatten.
»Sie gestatten?« Der Mann beugte sich über sie und griff den Nachtfalter so sicher und behutsam, als hätte er nie etwas anderes getan. Dann wandte er sich um und warf das Insekt in die Luft, wo es einen Augenblick lang verwirrt zwischen Himmel und Erde hing, ehe es sich flatternd herumwarf und den nächsten Lampion ansteuerte.
Ida sah dem Wesen hinterher, das ahnungslos von Gott und der Welt von Licht zu Licht tanzte, und bemerkte dabei nicht, dass der Mann noch immer vor ihr stand.
»So schöne Wesen sieht man ja nicht oft«, sagte er und sah sie dabei auf eine Weise an, dass in Ida Zweifel aufkeimten, ob er nun sie oder das Insekt meinte. »Was so eine Sommernacht alles zutage befördert …«
Sie lächelte und nickte unverbindlich. Sie wollte ja nicht unhöflich sein.
»Sie brauchen nicht schüchtern zu sein, Fräulein. Ich bin nur hier, um zu tanzen. Sie tanzen doch auch, wie ich hoffe?«
»Ja. Durchaus«, erwiderte sie. Ida fühlte sich von seiner Aufmerksamkeit ebenso geschmeichelt wie verunsichert. Sie war ja kein Backfischlein mehr, das über ein paar charmanten Worten eines Mannes schier den Verstand verlor, aber sie war noch jung genug, Freude an derlei Beachtung zu finden. »Ich muss Ihnen jedoch gestehen, dass ich nicht alleine hier bin.«
»Ich sehe aber niemanden an Ihrer Seite.«
»Er ist gerade –«
»Nein, nein, ich will gar nichts hören, Fräulein. Ich bestehe auf den nächsten Tanz.« Schon hatte er ihre Hand ergriffen und Ida von der Bank auf die Füße gezogen. So selbstbewusst, geradezu selbstverständlich hatte er dies getan, dass Ida gar nicht auf die Idee kam, zu protestieren. Dass er sich bislang auch noch nicht einmal gebührend vorgestellt hatte, war ihr – nebenbei bemerkt – noch gar nicht in den Sinn gekommen.
»Hören Sie auch den Walzer?« Beim Tanzboden hatte die Musik wieder eingesetzt, nicht unbedingt melodischer, aber in jedem Falle ebenso schwungvoll wie zuvor. »Kommen Sie!«
»Ja … nein, ich …«
»Seien Sie doch nicht so spröde, Fräulein!«
»Nein, ich warte lieber auf –«
»Sie brechen mir das Herz!« In scherzhafter Verzweiflung fasste er sich an die Brust. »Nur einen Tanz, Fräulein, einen einzigen.«
»Lieber nicht.«
»Ich bestehe darauf!« Und plötzlich veränderte sich sein Blick, und er wiederholte: »Ich – bestehe darauf.«
Ida sah ihn an. Hatte zuvor noch hinter ihrer Stirn das wohlig-wattige Prickeln von Tanz und Musik und dem ungewohnten Konsum von Alkohol vorgeherrscht, so fühlte sie sich nun schlagartig wach und nüchtern. »Nein. Vielen Dank, ich möchte mit Ihnen nicht tanzen«, wiederholte sie abermals.
»Aber ich mit Ihnen. Dafür sind wir doch hier. Außerdem g’fallen mir die Hantigen eh am besten, da weiß man, was man hat.« Er blinzelte anzüglich. »Fräulein …«
Idas Gedanken reichten noch nicht so weit, dass sie Angst bekommen hätte – immerhin befand sie sich ja nicht irgendwo an einer zwielichtigen Ecke der Stadt oder beim Murufer, wo gewiss schon so manche Tat mit den kalten Fluten fortgeschwemmt worden war, sondern beim Brauhaus-Ball. Dennoch warf sie verstohlen einen Blick über die Schulter des Mannes, ob denn nicht Wilhelm bald käme. Mit oder ohne Spagatkrapfen, denn im Moment hatte sie ohnehin wenig Gusto auf etwas Süßes.
»Jetzt kommen Sie und tun Sie nicht so bigott!«, machte der Mann plötzlich Anstalten, sie mit sich in Richtung Tanzboden zu zerren. Zugleich lachte er auf, rau und übermütig, dem Siegesruf, den ein Jäger nach erfolgreichem Abschuss ausstoßen mochte, nicht unähnlich.
»Lassen Sie mich!«
Er lachte abermals, wobei er überraschend wohlgeformte Zähne entblößte. Als er noch näher kam, roch sein Atem nach Bier und süßem Zigarrenrauch. »Dann müssen Sie sich schon mit einem Kuss auslösen, Fräulein.« Herausfordernd zog er sie an sich.
Ida sträubte sich.
»Und bist du nicht willig …«
Selbstverständlich war Ida auch in jener prekären Situation bewusst, dass sich der Mann mit diesen Worten gerade an keinem Geringeren als Goethes Erlkönig vergriff. Unbeeindruckt von seinen literarischen Reminiszenzen hob sie den Arm, um ihn entweder mit Nachdruck von sich zu stoßen oder ihm mit einer Ohrfeige wenigstens Respekt – wenn schon nicht vor ihrer eigenen Person, dann zumindest vor dem Dichterfürsten höchstselbst – beizubringen.
»Sie küsse ich ganz sicher nicht!«, gab sie zurück, bereits drauf und dran, sich einer gewissen Handgreiflichkeit schuldig zu machen.
Der Mann grinste scheinbar entzückt von ihrer weiblichen Kratzbürstigkeit, als eine Stimme ihn mitten in der Bewegung erstarren ließ.
»Wenn das Fräulein einen küsst, dann mich!«
Es hatte kaum eines Herzschlags bedurft, dass Ida Wilhelm erkannte, der nun mit finster zusammengezogenen Brauen und zwei Tellern mit Spagatkrapfen (mit Schlag und Preiselbeeren) auf sie zustapfte.
»Jetzt lassen Sie das Fräulein los und verschwinden, bevor ich Ihnen versehentlich eines Ihrer Tanzbeine breche, Sie Sauschädel, Sie!«
Nur kurz fuhr der Blick des Fremden in Wilhelms Richtung. In dem flackernden Licht des Lampions war schwer zu erkennen, ob er überrascht, erschrocken oder erzürnt war. Dann ließ er Ida einfach stehen und verschwand mit langen Schritten irgendwo im Gewühl der Ballbesucher.
Ein paar Sekunden verharrte Wilhelm vor Ida, wobei er sie ansah, als hätte er noch nie zuvor bemerkt, dass auch sie zwei Augen, Nase und Mund von ausgesprochen selbstbewusster und liebreizender Lebendigkeit hatte.
Später einmal würden beide nicht mehr mit Gewissheit sagen können, was genau zu dem nun Folgenden geführt hatte. Vielleicht war es das Bier und die beschwingte Stimmung des Brauhaus-Balls gewesen, der allem eine bis dahin ungewohnte Leichtigkeit verlieh; vielleicht war es der fremde Mann, der mit seinem zügellosen Benehmen auch in Wilhelm eine Begierde geweckt hatte, der er bis dahin mit militärischer Sitte und Anstand Zügel angelegt hatte; vielleicht aber war es auch schlicht ein Naturgesetz des menschlichen Lebens, dass einmal geschehen musste, was nun eben geschah: Wilhelm stellte sorgsam die beiden Tellerchen mit den Spagatkrapfen auf die Bank, dann legte er die Arme um Idas Schultern, beugte sich ein wenig ungelenk zu ihr herab – und küsste sie.
Um genau zu sein, war es nicht eine Wiederholung jenes brüderlichen Kusses auf die Wange, mit dem er sich einst für ihre Hilfe bei den Mordermittlungen am Annaberg bedankt hatte, sondern ein Kuss, bei dem sein Bart sie ein wenig in der Nase kitzelte und sie einen Hauch seines Pfeifentabaks auf den Lippen schmeckte.
Das langsam versiegende Licht der Lampions verdeckte die Röte ihrer Wangen, als sie nach einigen endlosen Augenblicken wieder voneinander ließen. Sprach- und atemlos standen sie einander gegenüber, und es wäre wohl gelogen zu behaupten, dass nicht beide den Drang verspürten, das Geschehene auf der Stelle zu wiederholen.
»Ich … Das heißt, ich hoffe … War ich … Verzeihung«, formulierte Wilhelm schließlich mit der gesamten Eloquenz, derer er in diesem Moment fähig war, was ihm am Herzen lag.
Wundersamerweise verstand Ida ihn diesmal vollkommen. »Ja … Ich meine, das war … in gewisser Weise, wenn du … aber schön«, erwiderte sie nicht minder formvollendet.
Verschämt lächelten sie einander an.
»Tanzen?«, brachte Wilhelm endlich heraus und bot ihr seinen Arm.
»Gern.«
Die Spagatkrapfen auf der Bank waren vergessen, und es besteht Grund zur Annahme, dass irgendein anderes Paar sich der verwaisten Süßspeisen dankbar annahm, sodass zumindest ein Abglanz des Glücks, das Ida und Wilhelm an diesem Abend verspürten (auch wenn sich beide nicht die Mühe machten, es ausführlicher in Worte zu fassen), noch weitere Kreise zog.
Kapitel 2
… in welchem über vieles geredet und schließlich ein Toter erwähnt wird …
Es war ein wunderbarer Taumel, mit dem Ida den folgenden Tag begann. Nachdem sie in ihrer winzigen Wohnung die notwendigen Arbeiten verrichtet und ein paar Zeilen in ihr Journal notiert hatte, bereitete sie sich auf ihre Musikstunde bei Familie Mandelsüß vor. Ein paar einfache, aber melodische Etüden sollten den Mädchen endlich wenigstens ein Gefühl von Modulation am Klavier näherbringen, wo sie bislang zwar eifrig, aber mit der Eleganz von Hackbrettspielerinnen gefuhrwerkt hatten.
Auf dem Weg wollte Ida noch in einem Café eine Kleinigkeit essen. Auch wenn es gewiss billiger gewesen wäre, wenn sie für sich auf ihrem mickrigen Herd etwas zubereitet hätte, fühlte sie sich im Moment für derlei prosaische Arbeit einfach nicht geschaffen. Wenigstens einen Tag lang wollte sie sich dem süßen Gefühl, das in ihrer Brust schwelte, ergeben und sich vorstellen, was für wundervolle Dinge sie und Wilhelm erwarten könnten, ehe sie sich wieder entschlösse, vernünftig und besonnen zu sein und der Realität ins erbarmungslose Auge zu blicken.
Im Grunde war ja auch nichts weiter geschehen – abgesehen von jenem einem Moment, den Wilhelm und Ida für die restliche Dauer des Brauhaus-Balls jedoch behandelten wie eine Fata Morgana, von der sie sich beide nicht sicher sein konnten, ob sie selbige tatsächlich gesehen oder bloß imaginiert hatten. Nicht mit einer Silbe berührten sie den Kuss, und als Wilhelm sie spätnachts zu ihrer Wohnung zurückbrachte, plauderten sie scheinbar belanglos über den Ball, die Musik und einmal mehr über den vermaledeiten Chargen-Kursus, der dem Gendarmen selbst zu dieser Stunde Kopfzerbrechen bereitete.
Als sie sich verabschiedeten, hatte Ida ihm allerdings in einem unbedachten Moment angeboten, doch einfach zu ihr zu kommen, wenn sie ihm bei seinem Pensum irgendwie helfen könne. Immerhin war sie Lehrerin – auch wenn das, was Wilhelm lernen musste, gewiss nicht zu ihren Spezialgebieten zählte. Dass die Hausbesorgerin, eine vierschrötige Person, deren Damenbart manchem Burschen schon zur Ehre gereicht hätte, sich womöglich weiß Gott was denken mochte, wenn die junge Frau unter ihrem Dach Herrenbesuch erhielt, fiel Ida erst viel später ein.
Sie verdrängte jenen unerfreulichen Gedanken, während sie sich zum Ausgehen fertig machte.
Fast verwegen kam sich Ida vor, als sie schließlich in einem Café saß und dabei durch das nur mangelhaft geputzte Fenster auf die Straße blickte. Vielleicht war es ja unschicklich, als Frau allein in einem Lokal zu sitzen, aber es bedeutete auch eine ungeahnte Freiheit, wenn man wenigstens für eine kurze Zeit niemandem Rechenschaft schuldig war.
Der Gedanke veranlasste sie zu einem Seufzen.
Ihr ganzes Leben lang war sie von einer Abhängigkeit in die nächste geschlittert. Aus ihrem Elternhaus in die Lehrerinnenbildungsanstalt, dann ins Pensionat am Annaberg und weiter in den Haushalt von Professor Lahothny. Was auch immer sie tun wollte, immer hatte sie sich erklären müssen, um Erlaubnis fragen. Erst ihren Vater, dann den Direktor, die Oberlehrerin, den Hausherrn.
Ida lehnte sich zurück und leckte ungeniert den Löffel ab. Mochte man sie doch für eine Grisette halten. Auch wenn sie sonst durchaus auf ihren Ruf bedacht war, hier und jetzt kümmerte sie es nicht. Zumindest für eine kurze Weile wollte sie sich dies einreden. Tatsächlich wusste sie natürlich, dass eine alleinstehende Frau – dazu in einem Alter, das eine Ehe noch nicht gänzlich ausschloss – kaum ein anderes Kapital als jenen so zerbrechlichen Ruf vorzuweisen hatte, wenn es um ihre Zukunft ging. Allein die Vorstellung jedoch, dass es auch anders sein könnte, hatte etwas Berauschendes.
Als es Zeit wurde, zu Familie Mandelsüß aufzubrechen, rückte Ida forsch ihren Hut zurecht, packte ihre Tasche mit den Noten und machte sich auf den Weg. Die Familie wohnte am eleganten Ufer der Mur, nicht weit vom Fluss entfernt, in einem frisch renovierten Haus, selbstverständlich in der Beletage. Dass die Familie reich war – um genau zu sein: neureich –, war offensichtlich, und man gab sich auch nicht die geringste Mühe, dies zu verbergen.
Ein Diener in Livree ließ sie ein und führte sie in das Musikzimmer, wo die beiden Töchter des Hausherrn, Victoria und Valentine, Backfische in dem überaus gefährlichen Alter von vierzehn und fünfzehn Jahren, bereits auf sie warteten. Die Mutter, eine große, schlanke Erscheinung, deren dunkle Augen und das bereits zart mit Silber durchzogene schwarze Haar irritierend ehrfurchtgebietend wirkten, saß etwas missmutig auf einem Sofa.
»Ah, Fräulein Fichte. Endlich.« Sie sah bei Idas Eintreten auf und wies in Richtung des Klaviers. »Die Mädchen haben eifrig geübt.«
Ida deutete einen Knicks an und lächelte, während sie erwiderte, dass sie auch nichts anderes von den jungen Damen erwartet habe.
Frau Mandelsüß nahm das Kompliment wohlwollend entgegen, ehe sie fortfuhr: »Sie müssen allerdings entschuldigen, dass das Haus im Moment nicht in bester Ordnung ist.«
Ida hatte nichts dergleichen bemerkt; die Mädchen seufzten nur.
Die gnädige Frau hatte offenbar das Bedürfnis, sich weiter über die Missstände in ihrem Domizil auszulassen. »Unser Hausmädchen ist im Moment aushäusig. Offenbar tut den jungen Dingern vom Land die Stadtluft nicht gut.« Ihr Ton ließ vermuten, dass die Bedienstete auch im Falle ihrer Rückkehr nicht lange bleiben würde. »Unzuverlässig, allesamt. Und was das für ein Beispiel für meine Töchter ist! Wenn ich das geahnt hätte … Na, wenigstens sind Sie nun hier.«
Ida ersparte sich eine Antwort. Von verschwundenen Dienstmädchen hatte sie seit ihrer letzten Anstellung eindeutig genug, da wollte sie lieber gar nicht mehr über das ungebührliche Verhalten der Bediensteten erfahren. Die Alpträume kamen auch ohne dies immer wieder zurück. Außerdem hatte sie die Hausangestellte kaum ein- oder zweimal vorüberhuschen sehen, wenn sie zum Klavierunterricht kam.
»Nun gut. Das sind eben die Plagen, wenn man einen ordentlichen Haushalt führen muss. Ich habe noch ein paar Korrespondenzen zu erledigen«, erhob sich die Hausherrin endlich und schickte sich an, das Musikzimmer zu verlassen. »Sie rufen, wenn Sie etwas benötigen. Der Marek wird Ihnen später noch einen Kaffee bringen, wenn Sie wollen.«
»Vielen Dank.« Ida legte die Noten auf das Pult. »Wir sollten uns heute ein paar Etüden widmen«, sagte sie zu den Mädchen gewandt.
Gehorsam, wenn auch ohne nennenswerte Begeisterung klimperten sich die Schwestern abwechselnd durch die Übungen. Wenigstens waren die beiden reich genug, dass in Zukunft jeder ihr Spiel für äußerst charmant halten würde, sobald er nur eine ungefähre Ahnung von den Ausmaßen ihrer Mitgift hatte.
Mit einer theatralischen Geste der Erschöpfung ließ sich Valentine schließlich nach hinten sinken. »Ich kann nicht mehr«, verkündete sie.
Victoria rümpfte dazu nur ihr leicht gekrümmtes Näschen. »Da bist du aber auch selber schuld.«
»Woran soll ich schuld sein?«
»Na, wer hat denn die halbe Nacht wach bleiben müssen, um die Marie abzupassen, wenn sie mit ihrem Liebhaber wieder heimkommt?« Das Wort wurde mit äußerster Emphase ausgesprochen, sodass Valentine tatsächlich ein Hauch von Röte in die Wangen stieg.
Ida hatte dem Disput der Schwestern irritiert gelauscht, ehe sie sich doch bemüßigt fühlte, einzugreifen. »Darf ich fragen, von wem die Rede ist? Denn wenn es sich um keine allzu wichtige Angelegenheit handelt, würde ich vorschlagen, dass wir uns noch dem Herrn Schumann widmen. Ich würde gern hören, wie weit ihr mittlerweile gekommen seid.«
»Ach, es geht nur um die Marie«, erklärte Valentine mit einer wegwerfenden Geste.
»Das Hausmädchen«, fügte Victoria erklärend hinzu. »Die Mutter hat ja gesagt, dass sie weg ist. Jedenfalls ist sie gestern nicht wie sonst wieder heimgekommen, wenn sie mit ihrem Schatz unterwegs war. Der Marek hat uns sogar das Frühstück servieren müssen! Und die Sonja, Mutters Zofe, hat der Köchin zur Hand gehen müssen! Stellen Sie sich das vor!«
Ida nickte nur vage. Sie war zwar Haushalte mit mehreren Dienstboten gewöhnt, mit Zofen hatte sie bisher allerdings wenig zu tun gehabt. Nichtsdestotrotz reichte ihre Vorstellungskraft für dieses Szenario durchaus: ein Szenario, das dem Weltenbrand der nordischen Sagen gewiss nur um weniges nachstand.
»Und der Mann, mit dem sich unsere Marie heimlich trifft, der gefällt der Vali so gut, dass sie sogar stundenlang am Fenster ausharrt, nur um ihn einmal zu sehen«, fügte Victoria maliziös hinzu. »Wenn das die Mutter wüsste …«
»Wenn du nur ein Wort sagst, dann verrate ich ihr, was du für Fotografien unter deinen Büchern versteckst! Schauspieler und Zauberkünstler!«
»Wenigstens sind sie fesch! Der, den du anschmachtest, der schaut ja aus wie gebrandmarkt!«
»Das stimmt überhaupt nicht! Das ist nur irgendein Fleck – und den sieht man unter dem Hemdkragen fast gar nicht!«
»Ach, so genau hast du ihn schon inspiziert?«
»Hab ich nicht!«
Es fehlte nicht viel und die beiden jungen Damen hätten vollkommen auf Sitte und Anstand und Idas Anwesenheit vergessen und wären einander an die elegant aufgedrehten Locken gegangen oder – noch schlimmer! – hätten sich gegenseitig an ihren teuren weißen Spitzenkrägen vergriffen.
»Nachgestiegen bist du ihnen sogar!«
»Du doch auch!«, konterte Valentine sogleich. »Es war ja deine Idee, dass wir den beiden nachgehen und schauen, was die Marie an ihrem freien Nachmittag so macht!«
»Ich hatte meine Arbeiten fürs Lyzeum aber auch schon erledigt. Du hast nachher von mir abschreiben müssen!«
»Aber du wolltest die Marie beobachten! Ob sie wirklich diese Sachen macht, die in deinen Büchern stehen. So wie diese Schauspieler …«
Ida hatte zwar in ihrer Zeit im Pensionat am Annaberg eine Ansammlung von ganzen siebzehn Mädchen erlebt (ehe durch einige tragische Morde ihre Zahl dezimiert wurde), dass es unter den jungen Damen jedoch so hitzig zugegangen wäre, hatte sie nicht in Erinnerung. Offenbar hatte in der Erziehung der beiden Schwestern Contenance bisher eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Sie ersparte sich, nachzufragen, um was für Sachen es sich handeln mochte. Ihre Phantasie reichte auch so ungefähr dazu aus, um sich vorzustellen, was den Geist der beiden jungen Fräulein dermaßen entfachte.
»Dabei sind sie eh nur zu diesem Trödelladen gegangen …«, verriet Valentine schließlich ihre Enttäuschung, dass sie keiner skandalöseren Szene beiwohnen durfte. »Nur ein altes Geschäft mit hässlichem Plunder – und es hatte am Sonntag offen! Ich habe gelesen, dass solche Geschäfte Hehlerei betreiben.« Sie betonte das Wort auf eine Weise, die nahelegte, dass sie zwar nicht genau wusste, was denn Hehlerei sein mochte, allerdings davon ausging, dass es jedenfalls höchst empörend war.