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In der Steiermark lauert der Tod: Ein Krimi aus der Kaiserzeit mit überraschend modernen Themen! Frohnleiten, 1897: Statt die Sommerfrische zu genießen, bekommt es Arzt Titus Pyrner in der Kaltwasserheilanstalt erst mit einem verschollenen Kurgast und dann mit dessen Leiche zu tun. Zusammen mit dem jungen Untersuchungsrichter Franz Stahlbaum folgt er den zahlreichen Hinweisen und stößt dabei nicht nur auf Gerüchte um verkaufte Kinder, sondern muss sich auch mit den Vorurteilen der bürgerlichen Gesellschaft auseinandersetzen. Doch dann bringt ein Gewitter die beiden der Lösung des Falls einen entscheidenden Schritt näher ...
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Seitenzahl: 374
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Gudrun Wieser, geboren 1987 in Frohnleiten, machte ihre Matura bei den Ursulinen in Graz (damals noch eine reine Mädchenschule), darauf folgte das Lehramtsstudium für Deutsch und Latein an der Karl-Franzens-Universität in Graz. Aus Leidenschaft für die alten Sprachen hängte sie 2017 noch ein Doktorat in Klassischer Philologie (Latein) in Graz und Wien an. Als Lehrerin verschlug es sie nach einem Abstecher als Lektorin an der Universität und mehreren Sprachkursen an der Urania an das geschichtsträchtige Akademische Gymnasium Graz, wo sie nun Latein, Deutsch, Interkulturelles Soziales Lernen und Darstellendes Spiel unterrichtet. Daneben tritt sie als Erzählerin allein und als Duo Wieser&Wiesler mit der Schauspielerin und Autorin Marion Wiesler auf.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2024 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Leonardo Magrelli
Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-149-2
Historischer Kriminalroman
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Textbaby Medienagentur Carsten Polzin.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen
insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Von allen Stellungen, in die ein Jurist im praktischen Leben gelangen kann, ist die des Untersuchungsrichters die eigenartigste. […] Von ihm wird jugendliche Kraft und frischester Eifer, ausdauernde, rüstige Gesundheit, umfangreiches, stets gegenwärtiges juridisches Wissen, nicht nur in strafrechtlichem, sondern auch in zivilrechtlichem Fache verlangt.
»Handbuch für Untersuchungsrichter als System der Kriminalistik«, Dr. Hans Gross
PROLOG
… etwa ein halbes Jahr bevor die Sommerfrische beginnt …
Natürlich hatte er gewusst, worauf er sich einließ.
Er hatte es ja so gewollt.
Von Anfang an hatte er es so gewollt.
Schon im Gymnasium hatte er diesen Plan gefasst, damals, als man ihm sowohl mit Worten als auch mit Schlägen und mehrmaligen Aufenthalten im Karzer klarmachen wollte, dass es für einen Galgenstrick und Tunichtgut – mochte er sich auch noch so großer Beliebtheit unter den Klassenkameraden erfreuen – keinen anderen Weg gab als den nach unten. In den Dreck, in die Gosse, auf das liederliche Pflaster, wo sich nur der Unrat der Gesellschaft herumtrieb und auf das ihm zugedachte Los harrte. Was erwartete so ein kleiner Proletarier auch anderes, der es allein durch die Fürsprache seines Pfarrers in eine anständige Schule geschafft hatte, nur um dort dann allen zu beweisen, dass es eben doch einen Unterschied zwischen denen gab, aus welchen etwas werden konnte, und jenen, die von Anfang an verloren waren?
Franz Stahlbaum verzog die Lippen zu einem grimmigen Lächeln, als er bei Nacht und rußig schmeckendem Nebel durch die engen Gassen der Stadt eilte.
Im Grunde hatten sie recht gehabt: Unter seinen Sohlen knirschte der Dreck der Gosse, das liederliche Pflaster, das man ihm immer prophezeit hatte. Allerdings hatten seine Lehrer, die mit Stock und Strafarbeiten sich damals redlich bemüht hatten, aus ihm doch noch ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu machen, ihn wohl eher in einer anderen Rolle imaginiert.
Ein Mann in der Uniform der Grazer Sicherheitswache winkte ihm von einer Toreinfahrt aus zu. »Herr Untersuchungsrichter, da oben«, er deutete auf eine schmale Treppe, die im Innenhof des Hauses in das oberste Stockwerk führte. Offensichtlich wohnten hier nur noch jene, deren Mittel gerade noch ausreichten, sich eine zugige Dachkammer zu leisten.
Franz nickte dem Mann zu, der daraufhin einen militärischen Gruß andeutete.
Für einen kurzen Moment fragte er sich, ob der Mann ihn dabei spöttisch angesehen hatte. Hielt er ihn auch bloß für einen Wichtigtuer, der seine Jugend und seinen geringen Stand mit Übereifer zu kompensieren suchte?
Aber er hatte es doch geschafft! Was vor Jahren niemand ihm zugetraut hätte, hatte er getan. Wer hätte erwartet, dass ausgerechnet der Schüler Stahlbaum, der mehr Stunden im Karzer verbracht und mehr Schläge einkassiert hatte als alle andern, tatsächlich die Matura bestand – obwohl sich mehr als ein Lehrer gegen ihn ausgesprochen hatte? Wer hätte erwartet, dass er tatsächlich ein Studium beginnen, sich mit kleinen Hilfsarbeiten so lange über Wasser halten würde, bis er sich Magister Iuris nennen würde und nun als Untersuchungsrichter genau das täte, was so viele andere, die dasselbe Amt bekleideten, am liebsten an andere delegierten?
Er war hier, am Tatort eines Verbrechens.
Auch wenn er wusste, dass er nicht immer so genau nach Protokoll vorgehen konnte, wollte er zumindest am Anfang seiner Karriere es seinem Vorbild Hans Gross nachmachen und wirklich dort sein, wo etwas geschehen war.
Auf der Treppe kam ihm ein Mann entgegen, den Hut tief ins Gesicht gezogen, eine unförmige Tasche an der Seite, der einen Gruß murmelte, ohne ihn anzusehen.
Oben erwartete ihn ein weiterer Wachbeamter, der vor einer windschiefen Tür stand. »Da drinnen«, sagte er nur und stieß die Tür auf, die dabei ein klagendes Geräusch von sich gab. »Der Arzt war schon da. Tot. Die Nachbarin und die beiden Schlafgänger warten unten zur Befragung.«
»Danke«, erwiderte Franz. »Ich werde gleich kommen.«
Im Grunde hätte er diese Arbeit getrost auch jemand anderem überlassen können, genügte es doch vollkommen, wenn er danach das Protokoll mit seiner Unterschrift abzeichnete. Aber er wollte es selbst machen, es richtig machen.
Franz trat in den kleinen Raum. Es brauchte nur einen kurzen Blick, um sich ein Bild der Situation zu verschaffen.
Eine Frau lag mit aufgerissenen Augen am Boden, ein umgestoßener Sessel neben ihr hatte mit seinem Poltern wohl die Nachbarin aufgeschreckt, die daraufhin die Sicherheitswache alarmiert hatte. Ein Waschkrug aus schwerem Steingut lag in Scherben neben der Toten, man konnte sich leicht vorstellen, dass ihr damit der Schädel zertrümmert worden war, was auch das Blut, das aus ihrem mausbraunen Haar sickerte, bestätigte.
Es gab kaum einen Platz in der Wohnung, an dem man aufrecht stehen konnte. Statt eines Fensters gab es lediglich eine Luke, die hinaus aufs Dach führte. Tatsächlich war es kaum mehr als eine Kammer unter den schrägen Giebelbalken, in die man einen mickrigen Ofen, eine Bettstatt und einen Tisch nebst Sessel gequetscht hatte. Die wenigen übrigen Habseligkeiten der Bewohner waren an die Dachbalken gehängt oder auf Regalbretter gestellt, die jeglicher Schwerkraft trotzend an die Wände genagelt waren. Ein verblichener Frauenhut, eine Schürze, ein paar Kleidungsstücke, mehrmals geflickt, ein Topf … Das Paar, das hier lebte, konnte sich kaum das Notwendigste leisten.
Wenigstens gab es hier keine Kinder.
Franz drehte sich einmal um die eigene Achse. Er konnte sich gut vorstellen, wie der Mord geschehen sein könnte.
Die Arbeiter in den Fabriken bekamen einmal in der Woche ihren Lohn ausgezahlt. In den meisten Fällen zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben, jeder Groschen schon genau verplant, ehe man ihn überhaupt in den Fingern hielt. Aber manchmal brauchte man auch ein wenig Vergnügen, ein paar Stunden, den Alltag leichter zu ertragen, ein paar Schluck Bier, die geschundenen Hände vergessen zu machen. Der Mann war heimgekommen, statt des bitter notwendigen Geldes in den Taschen Alkohol in der Kehle, die Frau machte ihm Vorwürfe.
Der Blick auf ihre abgezehrte Gestalt auf dem Boden ließ Franz in seinen Überlegungen einen Moment innehalten. Diese Geschichte hätte auch seine sein können …
Es kommt zum Streit. Es geht um enttäuschte Erwartungen, Vorwürfe, Drohungen – und am Ende beendet der Krug den Disput und das Leben der Frau. Die Arbeit in der Fabrik hatte einen Mann zum Mörder gemacht.
Franz schaute sich noch einmal um. Sobald sie den Namen des Mannes und seine Arbeitsstätte kannten, wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis man ihn hätte. Eine Formalität.
Plötzlich ließ ein Schatten in seinem Augenwinkel ihn herumfahren.
Eine Sekunde lang war er sich sicher, dass es bloß ein Tier gewesen war, das sich vor der Dachluke bewegt hatte, doch dann hörte er das Scharren und Knarren von Schritten, die sich über ihm bewegten.
Er hätte nach dem Wachbeamten rufen können, er hätte jemanden darauf aufmerksam machen können, dass womöglich der Täter noch ganz in der Nähe war – doch in diesem Moment vergaß Franz Stahlbaum, dass er nun Untersuchungsrichter war. Wie der Junge, der sich einst einen Sport daraus gemacht hatte, seinen Lehrern das Leben nach Kräften zu erschweren, wand er sich durch die Luke auf das Dach hinaus. Kurz wankte er auf den abschüssigen Ziegeln, doch seine Beine hatten seine früheren verbotenen Ausflüge nicht vergessen.
Ein paar Meter vor sich erkannte er eine Gestalt, die einen Augenblick lang in der Bewegung verharrte und ihn ungläubig anstarrte. In der nebeligen Dunkelheit konnte er nicht viel mehr sehen, als dass es sich wohl um einen Mann handelte, schmale Schultern und lange Gliedmaßen, die sich mit einem Ruck herumwarfen und über das Dach davonhetzten.
»Stehen bleiben!«, schrie Franz. Ohne weiter als bis zum nächsten Schritt zu denken, rannte er dem Mann nach.
Offenbar hatte jener keineswegs erwartet, von jemandem über die Dächer der Stadt verfolgt zu werden, denn schon trennten sie nur noch wenige Schritte.
»Stehen bleiben!«, brüllte Franz abermals.
Ein Wachbeamter, von dem Poltern und den Stimmen alarmiert, steckte seinen Kopf durch die Dachluke und sah wohl gerade noch, wie der Untersuchungsrichter Stahlbaum und eine unbekannte Person hinter der Giebelkante des Nebengebäudes verschwanden.
Für einen Moment meinte Franz, dass der Flüchtende vom Dach gestürzt wäre, doch dann entdeckte er die Leiter, die zu einem Sims weiter unten führte, von dem man sich an einer Regenrinne bis zur Straße hinunterhangeln konnte. Ohne einen weiteren Gedanken sprang er die Leiter hinab. Der Fremde war kaum eine Armlänge unter ihm.
Da traf ihn der Blick des Mannes. Im nächtlichen Dämmer konnte er nur die tiefen Augenhöhlen in einem mageren Gesicht ausmachen, breite, abgearbeitete Hände, die sich an die Dachrinne krallten. Hände, die womöglich einer Frau mit einem Krug den Schädel zertrümmert hatten.
Franz ersparte es sich, den Abstand zur Straße noch einmal genauer in Erwägung zu ziehen. Mehr als ein Stockwerk konnte es kaum sein. Hoffte er zumindest. Mit einem Schrei ließ er sich fallen, wobei er den Mann mit sich riss.
Teilweise ging sein Plan auch auf, denn er landete vergleichsweise unbeschadet auf dem Pflaster. Doch statt dass sich der mutmaßliche Mörder, der bei dem Sturz einen unsäglichen Fluch von sich gegeben hatte, nun geschlagen gab und festsetzen ließ, warf dieser sich mit ungeahnter Kraft herum, setzte Franz sein Knie auf die Brust und seine Hände an die Kehle.
»Hundsfott, elendiger«, zischte er, während er ihm die Luft abdrückte.
Zu einer Erwiderung hatte Franz weder den Atem noch die Gelegenheit. Denn während ihm vage dämmerte, dass es wohl doch keine so glorreiche Idee gewesen war, ganz allein einem potenziellen Mörder quer über die Dächer von Graz zu folgen, begannen sich purpurfarbene Ringe vor seinen Augen zu drehen, und ein merkwürdiges Rauschen breitete sich in seinen Ohren aus.
Von irgendwo waren Schritte zu hören.
»Verrecken sollst«, keuchte der Mann und beugte sich immer tiefer über Franz.
Erst jetzt traf ihn wie ein Schlag die Erkenntnis, dass er gleich sterben würde, und panisch versuchte er, um sich zu schlagen. Er wollte schon die Augen schließen, um nicht länger die Fratze des Mannes über sich sehen zu müssen, da stieß dieser plötzlich einen überraschten Laut aus – und stürzte zur Seite.
Zugleich wurden die Schritte immer lauter, und zwei Wachbeamte beugten sich über Franz.
»Der Idiot …«, murmelte jemand.
Langsam, mit rasselndem Atem richtete Franz sich auf und sah sich um. Die purpurnen Ringe lösten sich auf, und blinzelnd erkannte er den Mann, der ihm zuvor den Weg zum Tatort gewiesen hatte, dann schaute er nach links, wo ein Uniformierter den Fremden in Eisen legte.
Eine weitere Gestalt, deren Gesicht unter dem Hut nicht recht zu sehen war, wechselte ein paar Worte mit den Wachleuten, während von der anderen Seite bereits zwei Männer herbeieilten. Franz hatte den verwirrenden Eindruck, dass um ihn herum alles mit zähflüssiger Langsamkeit passierte und doch zu schnell, als dass er alles hätte mitverfolgen können.
Ein Mann hielt ihm die Hand hin, um aufzustehen.
»Gratulation, Herr Untersuchungsrichter, Sie haben sich von unserem Täter fast selbst umbringen lassen«, sagte jemand. Jedes Wort triefte vor Sarkasmus.
Franz brauchte ihn gar nicht anzusehen, die Stimme des zivilen Ermittlers Anton Meisl erkannte er auch so. Keiner vertrat dermaßen deutlich die Ansicht, dass der einzig wahre Platz eines Studierten am Schreibtisch war, umgeben von Papier, in einer wohlgeheizten Amtsstube. Untersuchungsrichter sollten da keine Ausnahme machen – und die meisten taten es auch nicht.
»Ich habe ihn wenigstens nicht einfach übers Dach entkommen lassen.«
»Unsere Leute hatten ihn schon längst im Visier.«
»Aha …« Franz versuchte den feuchten Straßendreck von seinem Mantel zu klopfen und der Peinlichkeit der Szene zu entkommen.
»Glauben Sie, wir kennen die Falotten nicht?«
»Und wer hat ihn schlussendlich niedergeschlagen?«
Meisl lachte so laut auf, dass sich zwei der Sicherheitswachen nach ihm umdrehten. »Das war der Arzt, der bei unserer Leiche zuerst den Tod festgestellt hat. Das muss auch so ein Talent wie Sie sein, der hat sich nämlich verlaufen und würde wohl bis zum Morgengrauen da in den Gassen herumrennen, wenn Sie beide ihm nicht vor die Füße gefallen wären.«
»Ist eh ein Wiener …«, merkte einer der Uniformierten an, der gerade wenig sanft den Gefangenen auf die Beine bugsierte.
Irritiert schaute Franz sich um.
Es war der Mann, der ihm auf der Treppe zum Tatort entgegengekommen war, der vor einem der Wachmänner stand. Die unförmige Tasche lag noch immer am Boden. Kurz blickte der Mann zu Franz hin, der unter dem Hut nur seine Augen blitzen sah, dazu ein bitteres Zucken um den Mund.
Eilig hob er sein Hab und Gut auf. »Wie heißt er?«
Meisl zuckte die Schultern. »Steht dann eh im Protokoll.«
Ehe Franz sich noch entschließen konnte, den Arzt anzusprechen, deutete dieser einen Gruß an und verschwand mit langen Schritten, die Tasche an sich gepresst, in der Nacht.
»Und Ihnen würde ich auch empfehlen, dass Sie heimgehen. Morgen werden alle Unterlagen schon auf Ihrem Schreibtisch sein. Soll jemand Sie begleiten?« Das höfliche Angebot klang aus dem Mund von Anton Meisl wie eine Beleidigung.
Franz schüttelte nur den Kopf.
Während er den vertrauten Weg zu seiner Wohnung ging, malte er sich bereits aus, welche Witze und Schmähungen demnächst die Runde machen würden. Natürlich, der Proletarier, der es versehentlich bis zum Untersuchungsrichter gebracht hatte, versuchte auf eigene Faust, einen Verbrecher zu stellen – das konnte ja nur gründlich in die Binsen gehen! Oh, wie würden die feinen Herren Juristen frohlocken, wenn dann allgemein bekannt würde, dass ausgerechnet der Arzt, der zuvor die Leichenbeschau vorgenommen hatte, ihm das Leben retten musste.
Alle Achtung – den Stahlbaum darf man ohne ärztliche Begleitung nicht vor die Tür lassen!
Franz unterdrückte einen Fluch, als er sich in seiner Wohnung auf den durchgesessenen Fauteuil fallen ließ. Kurz überlegte er, ob eine Zigarre oder ein Kognak seine Stimmung aufhellen könnten, doch während er darüber noch nachdachte, fiel er in einen unruhigen Schlummer, aus dem er erst erwachte, als seine Haushälterin ihm am nächsten Morgen eine Tasse Kaffee unter die Nase hielt.
»Mir scheint, Sie haben verschlafen«, stellte sie fest.
Er verzichtete darauf, ihr auch noch recht zu geben, stattdessen verbrühte er sich die Zunge an dem Kaffee, den er viel zu eilig trinken wollte, und kam dennoch zu spät in seinem Büro an. Sehr zum Gaudium aller, die mittlerweile von seiner nächtlichen Heldentat gehört hatten.
Dass der Mann, den er verfolgt hatte, schlussendlich weder der Ehemann noch der Mörder der Frau gewesen war, machte die Sache nicht besser. Es hatte sich lediglich um einen gemeinen Dieb gehandelt, der sich erhofft hatte, durch eines der Dachfenster leichter in die unteren Stockwerke vorzudringen, wo er reichere Beute erwartet hatte. Offenbar war er nicht besonders ortskundig gewesen.
Es war auch nicht der Gatte der Toten gewesen, der sie im Streit um das magere Arbeitergehalt erschlagen hatte, wie Franz zunächst geschlussfolgert hatte. Der Mörder, den ein paar Tage später ausgerechnet Anton Meisl dingfest machte, war ein Schlafgänger gewesen, dessen Zudringlichkeiten die Frau zurückgewiesen hatte, bis er nicht mehr an sich halten konnte und sie aus Zorn mit dem Krug erschlagen hatte.
Der Ehemann, der in dieser Nacht zum Witwer geworden war, hatte derweil sein mageres Einkommen mit Überstunden in der Fabrik aufgebessert. Als er vom Tod seiner Frau erfuhr, warf er sich nahe der Poudrette-Fabrik in die Mur.
Montag, 19.7.1897
EIN KURGAST WIRD VERMISST
Von allem Anfange an sollte man über den Fall gar keine Meinung haben.
Dr. Hans Gross
Langsam, aber sicher begann sich Titus zu fragen, was er hier eigentlich machte.
Die Gesellschaft war angenehm, die Konversation zu jeder Tageszeit anregend, ohne aufzuregen, die Herren waren politisch weitgehend desinteressiert und leidlich belesen, die Damen charmant, das Personal erfreulich zurückhaltend. Man hätte das Wetter als außerordentlich wohltuend, die Luft überaus würzig, den leichten Wind geradezu balsamisch nennen können – wenn es nicht seit Wochen schon das Gleiche gewesen wäre. Außerdem ließen diese endlosen Sonnentage die unmännlichen Sommersprossen, mit denen er geschlagen war, nur noch deutlicher hervortreten.
Natürlich war Dr. Titus Pyrner offiziell seiner Gesundheit und Erholung wegen in die Kaltwasserheilanstalt nach Frohnleiten gekommen, denn nirgends sonst gab es ein solches Übermaß an lieblicher Landschaft, dazu die Ruine Pfannberg links und die Burg Rabenstein rechts der Mur, einen belebten Hauptplatz, an dem sich praktisch ein Gasthaus an das nächste reihte, und ein lauschiges Dörfchen kaum eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt. Zudem verfügte der Kurort über einen modernen Bahnhof, mit dem es Titus jederzeit freigestanden hätte, die Flucht zu ergreifen. Dennoch blieb er. Obwohl es ihn bei dem Gedanken an die täglichen kalten Güsse, die er über sich ergehen lassen musste, schauderte.
Wenigstens war das Essen meist gut.
Zerstreut nickte er einem älteren Herrn zu, der mit angespannter Miene auf die Terrasse trat, um gleich darauf wieder zu verschwinden.
Es war hoffnungslos. So eine Blödheit hatte auch nur ihm einfallen können. Er konnte den sarkastischen Kommentar seines Vaters schon förmlich hören! Da hatte er es im vergangenen Jahr wenigstens einmal geschafft, seinen alten Herrn auf Kur zu besuchen, und sich gleich am ersten Abend – wieder einmal – so sehr mit ihm gestritten, dass er den folgenden Tag schmollend an der Murpromenade verbracht hatte, wo er dann im Überschwang des Unmuts irgendeinem jugendlichen Frauenzimmer sein Leid geklagt hatte. Und statt über diese peinliche Episode mit männlichem Gleichmut hinwegzugehen, saß er nun hier und hoffte, dass ebenjenes Fräulein Salome, an das er Jahr und Tag gedacht hatte und von dem er nichts als seinen Namen und ein süßes Lächeln besaß, wieder zur Sommerfrische hier auftauchte.
Gewiss hätte er in dieser Angelegenheit damals auch etwas klüger vorgehen können. Aber als ihm seine lächerliche Situation bewusst geworden war, hatte er schon wieder im Zug über den Semmering gesessen. Ja, er hatte sogar per Telegramm noch versucht, unter einem langwierig ausgetüftelten Vorwand, vom Kurhaus den vollen Namen des Fräuleins herauszufinden. Doch da zu dieser Zeit gleich mehrere Herren mit jungen Damen, die angeblich oder tatsächlich ihre Töchter waren, dort logiert hatten und er sich nicht getraut hatte, ihren Namen preiszugeben – er wollte das Fräulein Salome ja nicht kompromittieren! –, hatte er sich mit dem wenigen, das er wusste, bescheiden müssen.
»Ich Volltrottel …« Titus seufzte und überlegte, ob nicht nun der richtige Zeitpunkt wäre, seine Sachen zu packen und von hier zu verschwinden. Solange er keinen Bekannten über den Weg liefe, könnte er immer noch behaupten, dass er den Sommer irgendwo in den steirischen Bergen verbracht hätte. Keine halbe Stunde würde er brauchen, um sich reisefertig zu machen. Außer einem Koffer und seiner Arzttasche hatte er ja nichts mitgebracht. Weshalb er Letztere überhaupt in ein Kurhaus mitgenommen hatte, wo es an medizinischer Versorgung ja nicht mangeln sollte, vermochte er sich selbst nicht genau zu erklären. Wahrscheinlich war es irgendeine lächerliche Form der Selbstvergewisserung, die ihn dazu zwang, sich täglich zu beweisen, dass er tatsächlich ein echter Doctor medicinae war, auch wenn er sich bis auf Weiteres die Wiener Praxis mit seinem Vater teilen musste …
Das eine halbe Jahr, in dem er einen Freund seines alten Herrn vertreten hatte, welcher wegen eines Lungenleidens eine längere Reise unternehmen musste, war ihm durchaus erfreulich in Erinnerung geblieben. Auch wenn er sich bis zuletzt in Graz nicht recht heimisch gefühlt hatte und man ihn in der Praxis doch immer nur als den »Ersatzarzt« betrachtet hatte. Wenigstens hatte der Vater nicht jeden seiner Handgriffe überwachen können.
Er war doch ein erwachsener Mann. Er konnte tun, was ihm beliebte. Er könnte heute noch einen Zug nach Prag besteigen oder nach London reisen – oder nach Dschibuti! Oder er gönnte sich tatsächlich noch ein paar Tage in den Bergen.
»Das ist äußerst unangenehm.«
»Allerdings …«, murmelte Titus und starrte auf seine Hände.
»Es wurde nichts von einer Bergtour oder Ähnlichem gesprochen.«
»Ich werde wohl nicht um Erlaubnis bitten müssen, wenn ich meine Pläne ändere …« Selbst auf seinen Fingern waren diese leidigen Sommersprossen zu sehen, die ihn von Kopf bis Fuß wie einen wandelnden Farbunfall sprenkelten.
»Üblicherweise teilt man uns mit –«
»Wieso sollte ich ausgerechnet ihm …?«
»Wie meinen?«
Titus fuhr auf und spürte, wie ihm schlagartig die Röte von seinem roten Haaransatz bis in den Kragen rann und jede einzelne Sommersprosse auf seiner Stirn zum Glühen brachte. »Verzeihen Sie, ich war in Gedanken …« Das kam davon, wenn man zu lang allein vor sich hin sinnierte. Jetzt hielten ihn die übrigen Kurgäste bald nicht mehr nur für einen melancholischen Einzelgänger, sondern auch für eine Debilen, der mit sich selbst Zwiesprache hielt und sich ungefragt in anderer Leute Konversationen einmischte. »Verzeihung«, wiederholte er abermals und machte sich daran, so unauffällig wie möglich zu verschwinden.
»Herr Doktor?«
Titus hielt inne und wandte sich um.
Der Direktor des Kurhauses sah ihn mit verzwicktem Gesichtsausdruck an, neben ihm stand der ältere Herr, den er zuvor kurz auf der Terrasse bemerkt hatte. »Entschuldigen Sie die Störung, aber der Ingenieur Loidl hat sich gerade nach dem gnädigen Herrn Eisenpaß erkundigt. Haben Sie ihn denn kürzlich gesehen?«
Titus hatte sich in den letzten Tagen nur sehr oberflächlich mit den übrigen Kurgästen befasst und musste erst in seiner Erinnerung kramen, von welchem Herrn Eisenpaß wohl die Rede war. »Ich … denke nicht«, erwiderte er nach einigen Sekunden und fügte dann pflichtschuldig noch hinzu: »Was ist denn geschehen?«
»Nichts, nichts«, antwortete der Direktor sogleich, wobei seine Miene ihn Lügen strafte.
»Er ist nämlich mein Zimmernachbar«, erklärte der Ingenieur Loidl, »und deshalb weiß ich, dass er seit gestern nicht mehr da war. Jedenfalls habe ich meine Zigarre am Vorabend allein rauchen müssen – und heute war der Theodor auch nicht beim Frühstück und nicht bei seinem Morgenspaziergang.«
»Nun, da wird es sicher einen guten Grund geben«, versuchte Titus, sich freundlich aus der Affäre zu ziehen. Dass ein Kuraufenthalt nicht immer allein dem gesundheitlichen Wohl diente und die Gäste bisweilen ihr Heil auch jenseits von kalten Güssen und Rohkost suchten, war wohl kein Geheimnis.
»Nun«, der Direktor räusperte sich umständlich und sah sich um, als befürchtete er, von jemandem belauscht zu werden.
Tatsächlich pflügte just in diesem Moment die imposante Gestalt der Geheimratswitwe Brandhauer an ihm vorbei, die sich angeblich jedes Jahr mit Diäten und Kaltwasserkuren verjüngte, nur um sich im folgenden Jahr von Neuem, einem Schlachtschiff gleich, in Frohnleiten einzufinden.
»Womöglich ist der gnädige Herr auch bereits einen Tag früher abgereist«, fuhr der Direktor fort, nachdem die Dame sich entfernt hatte. »Obwohl das sehr unwahrscheinlich ist, denn sein Gepäck ist noch da. Und außerdem hat er keine Nachricht hinterlassen …«
»Ich verstehe«, sagte Titus.
»Er ist verschwunden«, präzisierte Ingenieur Loidl.
»Ich bitte Sie! Davon kann nicht die Rede sein!«, unterbrach ihn der Direktor.
»Aber wenn … Sollte man dann nicht wenigstens die Gendarmerie –«
»Auf gar keinen Fall!«, fiel ihm der Direktor abermals ins Wort und fügte mit einem geradezu flehenden Blick zu Titus hinzu: »Gewiss ist das alles nur ein dummes Missverständnis. Es gibt ja Zufälle …«
Titus nickte. »Selbstverständlich.« Kurz zögerte er, doch dann passierte, was ihm wohl schon mehr als einmal fast Kopf und Kragen gekostet hätte. Ohne weiter über die möglichen Folgen nachzudenken, meinte er: »Ich könnte mich ja im Ort einmal erkundigen, ob jemand den werten Herrn Eisenpaß gesehen hat. Sicher lässt sich alles leicht aufklären.«
»Das wäre zu freundlich von Ihnen!«
Erst als der Direktor des Kurhauses Titus’ Hand packte und dermaßen ausgiebig schüttelte, dass er bereits Sorge um die Unversehrtheit seiner Gliedmaßen bekam, wurde ihm bewusst, welchen fatalen Fehler er begangen hatte. Nun konnte er sich nicht mehr so einfach sang- und klanglos aus dem Staub machen; nun musste er sein Wort halten und sich wenigstens einmal an allen halbwegs plausiblen Orten nach dem verschollenen Kurgast erkundigen.
»Bitte, Sie werden das gewiss diskret behandeln, Herr Dr. Pyrner?«
»Selbstverständlich.« Was blieb Titus auch anderes übrig?
»Gott sei Dank«, fiel da auch der Ingenieur mit ein. »Wissen Sie, ich reise nämlich morgen schon wieder ab, und ich hätte es mir nicht verzeihen können, wenn meinem Freund und Zimmernachbarn womöglich … na ja … Es wird ja wohl nichts gewesen sein.«
Titus unterdrückte ein Seufzen und brachte seine Hand in Sicherheit. Mit deutlichen Zeichen der Erleichterung zog darauf der Direktor ab, während Ingenieur Loidl sich zufrieden auf der Terrasse hinter einer Zeitung verschanzte.
Ein Frauenzimmer, das seit seiner Ankunft bereits jeden Tag hustend und briefeschreibend im Schatten saß, nickte zu ihm herüber. Er deutete eine Verbeugung an und beeilte sich davonzukommen, ehe er noch gezwungen war, höfliche Konversation zu führen.
Etwas verloren stand Titus vor dem Kurhaus und schaute den Hauptplatz hinauf, an dessen Ende die Servitenkirche streng auf das weltliche Treiben blickte. So schnell konnte die Lage sich also ändern. Statt völlig unsinnig auf jene Salome des Vorjahres zu hoffen, die – er musste es sich wohl langsam eingestehen – ohnehin nicht auftauchen würde, durfte er sich nun ebenso unsinnig nach dem Verbleib eines gewissen Herrn Theodor Eisenpaß erkundigen. Er hörte schon, wie sein Vater ihn auslachte: Siehst du, Bub, deshalb kann ich dich nicht allein eine ganze Ordination führen lassen. Mit solchen Ideen …
»Aber nichts tun und keine Ideen haben ist auch nicht immer besser«, brachte er die väterliche Stimme hinter seiner Stirn zum Schweigen. Titus straffte sich und rückte seinen Hut zurecht. Er hasste es, wenn die Leute unterwegs auf seine roten Haare starrten.
So schwer konnte es ja nicht sein, einen Kurgast ausfindig zu machen, der offensichtlich noch nicht abgereist war. Wahrscheinlich hatte dieser Eisenpaß tatsächlich bloß einen Bekannten getroffen und sich zu einem spontanen Abstecher entschlossen. Kein Grund zur Sorge; der Direktor des Kurhauses hatte schlicht übertrieben.
Titus entschloss sich, seine Erkundungen bei den Gasthäusern des Ortes zu beginnen. Und derer gab es in Frohnleiten eine ganze Menge …
Ohne sich eine weitere Verzögerung zu erlauben, machte er einmal linksum und betrat die erste Gaststätte, die sich praktischerweise direkt neben dem Kurhaus befand. Neben dessen modernem, einladendem Portal wirkte der Eingang dieses Wirtshauses wie aus der Zeit gefallen.
Schon an der Tür des sogenannten »Steirerhofs« überschwemmte Titus ein Geruch von Rauch, Fett und Bier. Das Scheppern von Gläsern im Hintergrund wurde von dem gleichmäßigen Schnarchen eines Mannes untermalt, der direkt unter dem Herrgottswinkel den Schlaf der Gerechten schlief, während an einem anderen Tisch ein paar Gestalten beim nachmittäglichen Kartenspiel zusammensaßen.
»Guten Tag«, versuchte Titus, den Wirt auf sich aufmerksam zu machen. »Verzeihung?«
»Bier oder Obstler?«, kam es zur Antwort.
»Nein. Danke. Ich wollte mich nur nach einem Herrn erkundigen, einem Kurgast. Ob ein Herr Eisenpaß kürzlich hier war.« Noch während er redete, spürte Titus, dass er gerade weder eine rhetorische Glanzleistung ablieferte noch mit irgendeiner Hilfe zu rechnen hatte.
»Willst jetzt ein Bier oder nicht?«
Titus schüttelte den Kopf. »Recht groß, mit grauem Bart und gräulichen –«, versuchte er es abermals.
»Jaja, du bist mir auch so ein Gräulicher«, unterbrach ihn der Wirt unsanft. »Geh, schleich dich, wenn du nichts trinkst. Zu uns kommen die feinen Herrschaften aus dem Kurhaus eh nicht, die findest du oben in der ›Sonne‹ oder beim ›Engel‹.«
Titus ließ sich diesen Hinweis nicht zweimal geben und verschwand eilig aus der Gaststube. Hier hatte er sich jedenfalls gründlich blamiert. Wenigstens würde es ihm in Zukunft nicht allzu schwerfallen, auf einen weiteren Besuch in Frohnleiten zu verzichten, wenn er sich im Ort einmal rundum unmöglich gemacht hatte.
Ergeben marschierte er den Hauptplatz hinauf zum nächsten Wirtshaus. In der »Linde« fand er eine Wirtin vor, die immerhin die Güte hatte, sich nach seiner ausführlichen Beschreibung an verschiedene Kurgäste zu erinnern, welche sich bei ihr regelmäßig kulinarisch von ihren Diäten erholten und von denen einer sogar der verschollene Herr Eisenpaß sein könnte.
»Ein feiner Herr«, bestätigte sie und fügte hinzu: »Wenn er sich mit seinem Freund da getroffen hat, sind sie immer lange beisammengesessen, und getrunken haben sie selten vom Billigen.«
»Mit seinem Freund?«, wiederholte Titus in der Hoffnung, bereits vor des Rätsels Lösung zu stehen.
»Auch so ein Herr im guten Rock, fescher Bart, aber auch nicht mehr der Jüngste.« Sie setzte einen Kennerblick auf. »Früher war der sicher einmal ein stattliches Mannsbild.«
»Und wo kann ich diesen Herrn finden?«
»Ja, was weiß ich?« Die Wirtin begann, mit einem feuchten Lappen vor sich herumzuwischen. »Seit einem Jahr hab ich den hier nimmer gesehen. Heuer ist Ihr Eisenhauer –«
»Eisenpaß«, korrigierte Titus.
»Na, der ist letzte Woche nur einmal kurz bei mir aufgetaucht, hat so ein paar Italienern ein Gulasch und ein Bier bezahlt und ist wieder abgezogen. Normalerweise kommen mir die Katzelmacher nicht in die Stube, aber was fragt man lang, wenn die Zeche passt?«
»Italiener?«
»Werden von der Lehmgrube drüben gewesen sein. Solange die dort noch einen einzigen Ziegel aus dem Boden kratzen können, werden sie den Laden nicht dichtmachen – und wenn die Leut über ihrer Arbeit verhungern.« Sie zuckte die Schultern und wischte weiter, wobei Titus vermutete, dass sie den Schmutz eher gleichmäßig über ihre Budel verteilte, als ihn zu beseitigen.
»Aha. Wissen Sie, was der Herr Eisenpaß mit diesen Leuten zu tun gehabt haben könnte?«
Die Wirtin hielt in ihrer Arbeit inne und stemmte die Hände in die wohlgeformten Hüften. »Na, junger Mann, schau ich so aus, als hätt mich das interessiert?«
Ehe Titus noch etwas erwidern konnte, drängte eine Gruppe ausgelassener Burschen mit und ohne weibliche Begleitung in die Stube und beanspruchte die Aufmerksamkeit der Wirtin. Unbemerkt verschwand er wieder.
Die »Goldene Sichel« machte einen reichlich desolaten Eindruck, weshalb Titus davon absah, sich ausgerechnet dort nach dem Kurgast zu erkundigen, und so betrat er schließlich mit einem gewissen Gefühl von Unmut den Gasthof »Straßburg«.
Überraschend freundlich wurde er da von einem überaus hübschen Servierfräulein begrüßt, das ihn sogleich an den Herrn Wirt verwies, der gerade mit beiden Händen voll gut gefüllter Krüge den Gastraum betrat.
»Moment, der Herr, ich komm gleich!«, bemerkte ihn der Mann im Vorbeigehen, und Titus blieb nichts anderes übrig, als sich ergeben an einen Tisch zu setzen und zu warten.
Natürlich hätte er nun auch einfach gehen können und diesen vermaledeiten Herrn Eisenpaß bleiben lassen, wo der Pfeffer wuchs. Die Vorstellung war überaus verlockend, aber während er es sich noch in allen Farben ausmalte, wusste Titus, dass er das nicht tun würde. Er hatte es dem Direktor des Kurhauses ja quasi versprochen – und solange er sich nicht dazu entschließen konnte, Frohnleiten zu verlassen, hatte er auch nichts Besseres zu tun.
»So«, setzte sich der Wirt nach einer Weile zu ihm und stellte ungefragt ein Glas kühles Bier vor ihn. »Was gibt’s?«
»Ja«, begann Titus und nahm einen Schluck. »Ich wollte mich bloß erkundigen, ob ein Herr Eisenpaß, ein Kurgast, kürzlich hier war.«
»Kurgäste kommen immer wieder ins ›Straßburg‹.«
Titus beschrieb den Herrn, so gut er konnte, und kam sich dabei wie eine Gouvernante vor, die nach ihrem entlaufenen Mamsellchen fahndete.
»Hm … Na, in der letzten Woche ist einer da gewesen, das mag er schon gewesen sein, den Sie suchen, der hat sich nach dem Zilli Schorsch erkundigt.«
»Nach wem bitte?«
Der Wirt zuckte mit den massigen Schultern. »Ist auch einer von den Arbeitern aus der Lehmgrube.«
»Den Ziegelarbeitern?«
Der Mann grunzte bejahend.
»Und wann war das genau?«, fragte Titus weiter.
Der Wirt zog die Brauen zusammen. »Was wollen S’ denn von ihm?«
»Vom Herrn Schorsch … oder Zilli will ich gar nichts«, erwiderte Titus eilig. »Den Herrn Eisenpaß suche ich, weil er … gerade nicht da ist.«
»Aha.« Der Wirt sah ihn skeptisch an, dann wandte er sich in Richtung der Schank und rief: »Leni, wann hat’s denn die Flecksuppe gegeben?«
Das Servierfräulein hielt in seiner Arbeit kurz inne, um in einer malerischen Pose, welche sein Dekolleté besonders gut zur Geltung brachte, nachzudenken. »Am Donnerstag, glaub ich. Ja, am Donnerstag muss es gewesen sein, weil am Freitag hat der Rest schon einen Stich gehabt.«
»Bitte, da haben S’ es. Der gnädige Herr war am Donnerstag da.«
Titus fragte vorsichtshalber nicht nach, wie man von einer Flecksuppe auf den Herrn Eisenpaß schließen konnte. Er bezahlte folgsam das Bier, das er nicht bestellt hatte, und fand sich danach auf dem Hauptplatz wieder. Planlos drehte er sich einmal um die eigene Achse. »Da steh ich nun, ich armer … Trottel«, murmelte er vor sich hin. Immerhin wusste er nun, dass Eisenpaß sich am Donnerstag noch in Frohnleiten befunden, im vergangenen Jahr öfter mit einem Freund in der »Linde« verkehrt und jüngst ein paar italienischen Arbeitern das Essen gezahlt hatte. Eine glorreiche Ausbeute …
Im Gasthaus »Alte Post« fand er ebenso wenig Neues heraus wie im Gasthaus »Zum Jäger« – dann stand er vor der Kirche. Fünf Wirtshäuser, und das allein auf der einen Seite des Hauptplatzes. Titus zog seine Taschenuhr hervor. Langsam neigte sich der Nachmittag dem Abend zu.
Das Kollern eines Handkarrens, auf dem ein Bursche einen Stapel Gepäckstücke in Richtung des Kurhauses zog, ließ ihn aufschauen. Neue Gäste kamen an, Damen und Herren, wie er an den fröhlichen Stimmen erkannte. Für einen Moment spürte Titus, wie sein Herz einen anderen Takt anschlug, als er den Herrschaften nachsah. Doch sein Fräulein Salome vom letzten Sommer war nicht unter ihnen.
Schweigend marschierte Titus an der Kirche vorbei, warf der Pestsäule einen grimmigen Blick zu, betrachtete kurz die Fassade des Bezirksgerichts und stand dann vor dem Gasthof »Goldene Sonne«. Lieber hätte er sich nun einer weiteren Kaltwasser-Kurbehandlung unterzogen, doch der grantige Wirt im »Steirerhof« hatte ihn zur »Sonne« verwiesen, also konnte er genauso gut hier noch einmal sein Pech versuchen, ehe er ins Kurhaus zurückkehrte.
In der Stube war es noch recht ruhig, zu spät für die nachmittäglichen Gäste, zu früh für jene, die eine gesellige Runde der abendlichen Ruhe am heimischen Herd vorzogen. Titus sah sich um. Hinter der Schank stand ein alter Mann, der ihn interessiert musterte.
»Verzeihung.« Titus trat zu ihm hin. »Ich wollte mich nach einem Kurgast erkundigen. Herr Eisenpaß, falls Ihnen der Name was sagt.«
Der Alte schaute ihn sinnend an, sodass Titus schon befürchtete, er sei schwachsinnig oder womöglich taub, bis sich seine Miene zu einem zahnlosen Lächeln weitete. »Der Eisenpaß Theo, nicht?«
Titus nickte erfreut. »Ja. Sie kennen ihn?«
»Ein Wirt kennt alle«, erwiderte der Alte stolz und reckte den ergrauten Kopf. »Der ist ja seit Jahren immer da gewesen im Sommer, seit die Kuranstalt eröffnet hat. Ja, das muss im siebenundsechziger Jahr gewesen sein, wie der Rumpelmaier da gesagt hat, dass das kalte Wasser Wirkung zeigt. Dabei haben wir uns ja auch immer nur kalt gewaschen – und hat’s uns was gebracht? Alt sind wir trotzdem geworden.« Er lachte auf. »Na, da hat er sich immer mit einem Freund getroffen, oft sind die da bei uns gesessen und haben geredet … Na, manchmal werden s’ auch woanders gesessen sein, gibt ja genug Gasthäuser da.«
Titus konnte dazu nur nicken.
»War ein netter Herr, der Eisenpaß Theo, und sein Freund! Der hat allerweil irgendwo herumgegraben und über die Erde und das, was drin ist, geredet –«
»Er war also auch einer von den Ziegelarbeitern?«, fiel Titus ihm ins Wort.
»Wer?«
»Der Bekannte, mit dem sich Herr Eisenpaß getroffen hat.«
»Nein, so bekannt war er auch wieder nicht, aber gescheit geredet haben die immer, wenn sie beisammengesessen sind, über alles Mögliche.«
»Interessant.« Titus nickte freundlich. »Und wann war der Herr Eisenpaß zuletzt hier?«
»Im siebenundsechziger Jahr, wie die Kuranstalt, also die Kaltwasseranstalt –«
»Nein, wann Sie ihn zuletzt gesehen haben.«
»Wen?«
Langsam dämmerte Titus, dass der eloquente alte Wirt doch keine gänzlich zuverlässige Quelle darstellte. »Den Herrn Eisenpaß«, wiederholte er ergeben.
»Ah, der Theo.«
»Geh, Vater, was redest denn schon wieder?« Ein Mann, die Schürze noch umgebunden und ein fleckiges Geschirrtuch in der Hand, war aus der Küchentür getreten. Grüßend nickte er Titus zu. »Ich hab dir gesagt, wenn Gäste kommen, sollst mich rufen.«
»Das ist immer noch mein Wirtshaus!«, gab der Alte zurück.
»Sicherlich, Vater. Was hätte der Herr denn gern?« Die Frage war ebenso an den Alten wie auch an Titus gerichtet.
»Eine Auskunft«, erwiderte Titus.
»Wann der Theo zuletzt da war«, präzisierte der Altwirt mit erhobenem Finger. »Der kommt nämlich jedes Jahr, seit die Kaltwasserkuranstalt eröffnet wurde, im siebenundsechziger Jahr, vom Herrn Rumpelmaier, das war nämlich ein bekannter Wasserheilkundler. Und wenn der das nicht getan hätte, dann würde heut kein Zug mehr in Frohnleiten stehen bleiben. Der Theo ist ein netter Herr – und der Rumpelmaier Franz auch.«
»Schon gut«, beschwichtigte der Wirt seinen Vater, ehe er sich zu Titus wandte. »Er war immer sehr stolz drauf, dass er alle seine Stammgäste genau gekannt hat. Selbst die, die nur alle paar Jahre im Sommer einmal gekommen sind. Der Herr Theo Eisenpaß, wenn Sie den meinen, der war am Freitag kurz da, hat mit dem Vater ein bisserl geplaudert. Über die alten Zeiten und was ihm so in den Sinn gekommen ist. Aber«, er senkte ein wenig seine Stimme, »Sie dürfen meinem Vater nimmer alles glauben, was er sagt. Seit bald sechzig Jahren ist er der Wirt, aber inzwischen beginnt für ihn die Zeitrechnung nur mehr mit der Kaltwasserheilanstalt.«
Titus lächelte. »Ich verstehe.«
»Wollen S’ noch was trinken?«
»Nein, danke. Ich muss … die Kur.«
Der Wirt blinzelte ihm wissend zu. »Schon gut, aber wenn Sie sich einmal von der Kur erholen wollen, dann kommen S’ her.«
»Gern.« Titus wandte sich zum Gehen.
»Zu uns kommen nämlich alle!«, rief ihm der Alte hinterher.
Mit einem schiefen Grinsen spazierte Titus den Hauptplatz wieder in Richtung des Kurhauses hinunter. Wenn sein Vater eines Tages auch so würde, dann konnte er sich noch auf einiges gefasst machen. Er konnte nur hoffen, dass er bis dahin eine eigene Praxis hatte, am besten weit weg von der seines alten Herrn.
Beim Abendessen, das Titus am liebsten in einem geruhsamen Winkel im Speisesaal einnahm, wurde seine Muße jäh unterbrochen, als sich auf einmal der Ingenieur Loidl ihm gegenübersetzte.
»Sie haben sich also wirklich den ganzen Nachmittag über nach meinem lieben Zimmernachbarn erkundigt?«, ergriff er sogleich das Wort, noch ehe Titus den letzten Bissen von seinem Teller gegessen hatte. »Ich nehme nicht an, dass Sie ihn wieder aufgefunden haben?«
»Nein, leider …«
»Schade.« Loidl nahm sich einen Augenblick Zeit, um eine enttäuschte Miene aufzusetzen, ehe er ungebremst fortfuhr: »Dann werden Sie mir sicher heute Abend noch Gesellschaft bei einer Zigarre leisten. Sie wissen ja, ich reise morgen ab, da will man die letzten Stunden möglichst angenehm verbringen.« Er ließ Titus gar keine Gelegenheit abzulehnen, sondern plauderte munter weiter. »Ich hätte es mir nämlich nicht verzeihen können, wenn meinem lieben Zimmernachbarn etwas zustößt, und man bemerkt nicht einmal, dass er verschwunden ist.«
Titus hätte ihm antworten können, dass dies in einem Kurhaus wie diesem höchst unwahrscheinlich war, doch Loidl erwartete offenbar gar nicht, dass er sich am Gespräch aktiv beteiligte.
»Der Theodor, also Herr Eisenpaß, der war ein Gewohnheitsmensch. Ich hab ihn ja nur die paar Tage gekannt, wo er mein Zimmernachbar war, aber das merkt man sofort. Und wissen Sie, solche Leute, die immer genau planen, was sie wann machen, die verschwinden nicht so einfach. Da stimmen Sie mir zu – oder?«
Titus konnte nur nicken.
»Seit über zehn Jahren kommt er her, das hat er mir erzählt. Seit über zehn Jahren! Und wie ich ihn gefragt hab, ob er denn Bekannte hier habe, da hat er nur gemeint, dass er so manche kenne. Und das bei so einem Gewohnheitsmenschen! Verstehen Sie! Das heißt doch eindeutig, dass er hier eine Geliebte haben muss!«
»Wie kommen Sie denn darauf?« Titus war selbst überrascht, dass Ingenieur Loidl ihm Zeit zu einer Frage gelassen hatte.
»Wieso sollte man denn sonst seit so vielen Jahren immer wieder hierherkommen? An den kalten Güssen kann es wohl nicht liegen.«
»Sie sagten doch selbst, dass er die Gewohnheit –«
»Ja, aber dann verschwindet man nicht so einfach!«
»Nun ja, vielleicht ist er ja gerade bei dieser ominösen Geliebten«, schaffte es Titus einzuwerfen. »Und dann war die ganze Aufregung hier umsonst.«
»Nein, da muss was anderes passiert sein«, widersprach Loidl. »Wenn er da jahrelang herkommt, wieso sollte er dann gerade jetzt mit einer Geliebten durchbrennen? Noch dazu in seinem Alter! Und ohne sein Gepäck! Na ja, ich reise ja morgen ab und kann nur hoffen, dass sich hier alles zum Guten wenden wird.« Er seufzte. »Haben Sie denn heute sonst nichts Hilfreiches herausgefunden?«
Titus zögerte einen Moment, doch diesmal schien sein Gegenüber tatsächlich gewillt zu sein, ihn auch ausreden zu lassen. »In der vergangenen Woche hat Herr Eisenpaß irgendwann ein paar Italienern in der ›Linde‹ ein Essen spendiert und sich nach …« Gerade eben war ihm der Name noch auf der Zunge gelegen. »Er hat sich nach einem Mann erkundigt. Auch ein Arbeiter, wenn ich mich nicht irre.«
»Ein anständiger Herr wie er, was soll der mit den Katzelmachern zu tun haben?«
»Das hat mich auch ein wenig verwundert«, musste Titus zugeben. »Aber mehr habe ich da nicht herausgefunden. Und am Freitag hat er sich mit dem Altwirt in der ›Goldenen Sonne‹ unterhalten, wo er sich auch häufig mit einem Bekannten getroffen habe.«
»Und sonst?«, fragte Loidl.
Titus zuckte die Schultern. »Ich bin ja kein Polizeiagent. Immerhin wissen wir jetzt, dass er bis Freitag noch da war. Und diesen … na, mir wird der Name schon noch einfallen, den Italiener, den kann man ja auch noch fragen, wenn er nicht von allein wiederauftaucht.«
»Vielleicht sollte man sich auch am Bahnhof erkundigen. Womöglich wollte er kurz in die Stadt fahren … Und diese Italiener, wo kommen die her?«
»Das sind Ziegelarbeiter, soweit ich verstanden habe.«
»Ah, die Grube bei der Weingartensiedlung. Wie lang es die wohl noch geben wird …« Loidl streckte sich ungeniert. »Nun, heute werden wir den Eisenpaß ohnehin nicht mehr finden. Darf ich Sie also auf eine Zigarre einladen?«
Titus hätte ihm gern erwidert, dass von einem Wir hier durchaus nicht die Rede sein konnte, doch stattdessen nickte er nur. Mit dem Neinsagen hatte er schon immer seine Probleme gehabt. Außerdem konnte nach diesem vollkommen sinnlos verbrachten Nachmittag ein wenig Unterhaltung auch nicht schaden.
Dienstag, 20.7.1897
EIN UNERWARTETER GAST TAUCHT AUF
Am bedenklichsten für den Ausgang eines Falles steht die Sache aber dann, wenn der »Plan« dahin gegangen ist, in einer bestimmten Person den Täter zu vermuten.
Dr. Hans Gross
Am nächsten Morgen schwirrte Titus’ Kopf noch von dem nicht enden wollenden Gespräch mit Ingenieur Loidl und den daraus folgenden wirren Träumen, in denen er einen endlosen Hauptplatz auf und ab gerannt war auf der Suche nach etwas, von dem er nicht wusste, was es eigentlich war. Außerdem war er das Zigarrenrauchen nicht gewohnt. Es fühlte sich an, als hätte sich sowohl hinter seiner Stirn als auch irgendwo zwischen seinen Rippen noch eine beachtliche Rauchwolke gehalten. Fast war er versucht, in den Tiefen seiner Arzttasche, die bisher vollkommen nutzlos in einer Ecke gestanden hatte, nach einem revitalisierenden Mittel zu suchen.
»Wofür habe ich den Schmarren denn sonst mitgeschleppt?«, murmelte er und begann, zwischen Verbandsmaterial und allerlei Medizin nach einem leichten Tonikum zu suchen.
Plötzlich fuhr er auf. Zilli Schorsch! Das war der Name gewesen, den ihm der Wirt im »Straßburg« genannt hatte. Titus ließ sich stöhnend wieder neben seiner Tasche auf die Knie sinken.
Er hatte nichts Brauchbares gegen seinen Zigarren-Kater gefunden. Doch bevor er irgendwelche weiteren Erkundigungen einholen konnte, wartete ohnehin erst ein kalter Guss auf ihn. Wahrscheinlich würde dieser ihn auch von seinen inwendigen Nebelschwaden befreien. Hoch lebe die Kaltwasserheilanstalt von Frohnleiten.
Während Titus sich beim Frühstück von seiner Kuranwendung erholte, froh, dass ihn der Ingenieur Loidl nicht weiter mit seinen Vermutungen behelligen konnte, und dabei die Blicke der hustenden Briefeschreiberin zu ignorieren suchte, trat der Direktor der Kuranstalt zu ihm.
Mit einem Morgengruß und einer angedeuteten Verbeugung setzte er sich zu ihm. »Lieber Herr Doktor«, begann er, »lieber Herr Kollege, will ich sagen, ich hoffe, es geht Ihnen so weit gut?«
Titus vermutete bereits, dass dieser Gesprächsbeginn kein Teil der hydropathischen Heilmethoden war, die hier üblicherweise zum Einsatz kamen. »Durchaus«, lächelte er ein wenig gequält.
»Ich wollte mich noch einmal bedanken, dass Sie sich dieses unangenehmen Zwischenfalls angenommen haben. Sie verstehen, der Ruf des Hauses – und außerdem will man die übrigen Gäste ja nicht inkommodieren. Allerdings gehe ich recht in der Annahme, dass Sie bisher ebenfalls keinen Hinweis auf den Verbleib des gnädigen Herrn Eisenpaß gefunden haben?«
»Leider nicht. Vielleicht wäre es nun wirklich an der Zeit, die Gendarmerie –«