Die kalten Sterne - John Birmingham - E-Book

Die kalten Sterne E-Book

John Birmingham

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Beschreibung

Fünf Helden wider Willen machen sich auf, die Menschheit vor einer Bedrohung aus den Tiefen des Alls zu retten

Vor hundert Jahren herrschte Krieg zwischen den Menschen der Galaxis und den Sturm, einer radikalen Vereinigung, die jede Form von Cyber-Implantaten ablehnt. Die Menschen gewannen und verbannten die Sturm ins Dunkel zwischen den Sternen. Der Feind war zwar besiegt, aber nicht geschlagen. Während die Galaxis immer nachlässiger wurde, bereiteten die Sturm sich auf ihren verheerendsten Angriff vor. Mit einem Schlag zerstörten sie die Verteidigungsanlagen und Raumflotten. Die Menschheit steht am Rande der Vernichtung, als Lucinda Hardy das Kommando über das letzte Schiff der Königlichen Raumflotte von Armadalen übernimmt. Mit einer bunt zusammengewürfelten Truppe aus Soldaten, Gaunern und Adeligen will sie sich den Sturm entgegenstellen. Wenn sie versagt, ist das Schicksal der Galaxis besiegelt …

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Das Buch

Die ferne Zukunft: Die Menschheit ist ins All aufgebrochen und hat unzählige Welten kolonisiert. Dabei haben die Siedler immer wieder auf Genmanipulation und Cyber-Implantate zurückgegriffen, um sich den jeweiligen Gegebenheiten perfekt anpassen zu können. Vor hundert Jahren traten die Sturm in Erscheinung, Terroristen, die diese Veränderungen ablehnen und sich selbst als die »wahren Menschen« bezeichnen. Nach einem blutigen Krieg konnte der Sturm besiegt und ins Dunkel zwischen den Sternen verbannt werden. Doch der Feind war nicht geschlagen. Im Geheimen bereitete er seinen Gegenschlag vor, der die Völker der Galaxis völlig überraschte. Raumflotten und Verteidigungsanlagen werden mit einem Schlag vernichtet. Die Menschheit steht am Rande des Abgrunds, als Lucinda Hardy das Kommando über das letzte Schiff der Königlichen Raumflotte von Armadalen übernimmt. Mit einer bunt zusammengewürfelten Truppe aus Soldaten, Gaunern und Adeligen will sie sich den Sturm entgegenstellen. Wenn sie versagt, ist das Schicksal der Galaxis besiegelt …

Der Autor

John Birmingham wurde 1964 in Liverpool geboren und wuchs in Australien auf. Er arbeitete als Journalist und Berater für das australische Verteidigungsministerium, bevor er sich dem Schreiben von Romanen widmete. Heute ist er einer der populärsten australischen Autoren der Gegenwart.

Mehr über John Birmingham und seine Werke erfahren Sie auf:

JOHN BIRMINGHAM

Aus dem australischen Englisch vonMaike Hallmann

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der OriginalausgabeTHE CRUEL STARSDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 03/2021

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2019 by John Birmingham

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz, München, unter Verwendung eines Motivs von James Paick

Satz: Uhl + Massopust GmbH, AalenISBN 978-3-641-25745-3V001

www.diezukunft.de

Für meinen Vater

1DER FELSBROCKEN DREHTE sich lautlos im Hochvakuum, und die junge Frau mit ihm. Sie drückte die Nase ans Bullauge und wartete darauf, dass die Nacht über diesen Teil der Basis hinwegflutete. Schon bald würde die Dunkelheit kommen, schnell und eisig, und dann würde sie die Sterne des lokalen Volumens sehen, die riesige blaugrüne Perle des Planeten tief unter ihr und die Lichter des nächsten Habs, einer anderen Militärstation auf diesem ausgehöhlten kleinen Mond.

Lucinda wartete auf die Sterne. Wenn sie in der richtigen Stimmung dafür war und einen ihrer seltenen versonnenen Momente hatte, staunte sie manchmal darüber, wie sie sie einzuhüllen schienen, wie nah und zugleich unendlich fern sie ihr vorkamen.

Dämmerung floss über die kleine Gebirgskette im Osten heran, eine Flutwelle aus Schatten und sich streckenden Pfützen aus vollkommener Schwärze. Von ihrem Felsbrocken aus sah sie nicht, wie die Dunkelheit auch nach ihr griff, aber sie stellte sich vor, wie sie den Verteidigungsstützpunkt verschluckte und den klaffenden Schlund der Docks. Der Hafeneingang war immer beleuchtet, aber schon bald würden sich die Lichter gegen vollkommene Finsternis behaupten müssen.

Sie schwebte nicht, aber bei einem Zehntel Gravitation, dem Standardwert hier oben, fühlte sie sich sehr leicht, als würde sie kaum den Boden berühren. Im Panzerglas musterte sie ihr Spiegelbild.

Eine junge Frau erwiderte ernst ihren Blick. Die Uniform saß nicht richtig; zu eng an den Schultern, ein bisschen zu weit in der Taille. Etwas Besseres als diese schwarz-weiße Kluft von der Stange hatte sie sich nicht leisten können. Ihr Blick wurde noch kritischer. Sehr hübsch sei sie, so die Beteuerung mancher Männer, denen sie nicht recht traute. Abweisend und oft unnötig einschüchternd, so das Urteil einiger Freundinnen, denen sie vermutlich eher glauben konnte.

Wie auch immer. Es würde reichen müssen.

»Leutnant Hardy?«

Aus ihren Überlegungen gerissen, zuckte sie zusammen und hielt sich instinktiv an der nächstbesten Wand fest, damit sie nicht den Boden unter den Füßen verlor. Es war ihr peinlich, so ertappt worden zu sein. »Ja«, sagte sie mit fast normal klingender Stimme und wandte sich von dem Ausblick ab.

Der Transitraum war funktionell schlicht, die Leuchtstreifen an den gepanzerten Carbon-Wänden hatten ihre beste Zeit hinter sich und hätten schon vor Monaten ausgetauscht werden müssen. Die in mehreren Reihen angeordneten unbequemen Organiplast-Stühle wirkten selbst im schwachen Licht ausgeblichen und brüchig. Bis eben war sie die einzige Offizierin hier gewesen. Der einzige Mensch seit etwa einer Stunde. Zu diesem Teil der Anlage hatten nur wenige Leute Zutritt, und es kam selten mal jemand vorbei.

»Bitte entschuldigen Sie die Verspätung, Ma’am.« Der junge Mann salutierte. Er war ein Baby-Leutnant, ein Milchgesicht, dem Alter und Eifer nach frisch von der Akademie. Als er die Abzeichen an ihrer unangenehm schweren Jacke entdeckte, machte er große Augen. Er trug eine dunkelblaue Felduniform, und im Oberschenkelholster steckte eine Pistole. Lucinda in ihrer schwarz-weißen Galauniform fühlte sich trotz ihres höheren Rangs und der größeren Erfahrung eigenartig linkisch. Ihre Uniform war nicht maßgeschneidert, das sah man auf den ersten Blick. Im Gegensatz zu manch anderem Offizier hatte sie kein ansehnliches Familienvermögen im Rücken.

Sie salutierte ebenfalls. Ihr war schmerzlich bewusst, wie dabei ihre Uniformjacke hochrutschte, wie eng die Ärmel waren. Bei jeder Beförderung beschlich sie dieses unangenehme Gefühl, als würde sie sich nur als Offizierin verkleiden und könne jederzeit auffliegen. So gut es ging, schluckte sie das Unwohlsein hinunter.

»Und Sie sind Leutnant …?«

Ausdruckslos starrte er sie an, und das Gefühl, nicht am richtigen Platz zu sein und nur so zu tun, als ob, wurde schlimmer. Dann machte er »Ah!« und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Sie sind ja nicht mit Shipnet verbunden. Bannon, Ma’am. Unterleutnant Ian Bannon. Ich bin heute der diensthabende Offizier. Bitte entschuldigen Sie, dass Sie so lange warten mussten, das hätte nicht passieren dürfen.« Jetzt sah der junge Mann fast verzweifelt aus, und ihr wurde noch unbehaglicher zumute.

»Ich verstehe, Leutnant«, sagte sie. »Vor dem Einsatz geht alles drunter und drüber, und alles will zugleich erledigt sein.«

»Trotzdem«, sagte er, »es tut mir leid.«

Sie reichte ihm die Hand. Wieder huschte sein Blick über ihre zahlreichen Orden, aber das nahm sie ihm nicht krumm. Er selbst hatte bis auf den aufgestickten halben Leutnantsstreifen am Uniformkragen keinerlei Auszeichnungen vorzuweisen.

»Tut mir leid«, sagte er erneut, als ihm klar wurde, dass sie ihn beim Starren erwischt hatte, aber er lächelte dabei. Ein jungenhaftes Grinsen, das ihn sicher schon von klein auf aus vielen Schwierigkeiten gerettet hatte. Es wirkte sehr geübt. »Ich habe gehört, Sie haben im Jawanenkrieg gekämpft«, sagte er, dann entdeckte er ihren Seesack unter der ersten Sitzreihe und griff danach, ehe sie es selbst tun konnte. Fast hätte Lucinda ihm gesagt, er solle ihn hergeben. Um ihr Zeug kümmerte sie sich am liebsten selbst. Aber Bannon war rangniedriger als sie, und es wäre ein Affront gegen sie gewesen, wenn er sich nicht erboten hätte, ihr Gepäck zu tragen.

Vorsichtig hob er den Seesack an, prüfte sein Gewicht in der geringen Schwerkraft. Dann nickte er. »Ich hab gehört, Sie sind mitten im Einsatz befördert worden«, sagte er und ging zum Ausgang. »Vom Fähnrich zum Leutnant. Ich selbst hab den ganzen Jawanenkrieg verpasst. Habe mich zwar eingeschrieben, aber als ich endlich mit der Ausbildung fertig gewesen bin, war alles schon wieder vorbei.«

Er achtete nicht darauf, wo er langlief, stieß sich das Knie an einem Stuhl und fluchte, dann entschuldigte er sich fürs Fluchen. Ihr Seesack entschwebte langsam nach oben wie ein eigenwilliger Nachrichtenballon.

»Oha«, sagte er und wäre bei dem Versuch, Seesack und sich selbst wieder in den Griff zu kriegen, fast umgefallen. »Verdammt.« Er grinste. »Ich hab mich zu sehr an die Schwerkraft auf dem Schiff gewöhnt.«

Mit einem Achselzucken tat er den peinlichen Moment ab – sie an seiner Stelle wäre knallrot geworden. Lucinda konnte nicht anders, als ihn zu mögen. Aber trotzdem konnte sie das, was er zuvor gesagt hatte, nicht so stehen lassen.

»Danke«, sagte sie und deutete mit einem Nicken auf den Seesack. »Aber was den Krieg betrifft – als ich einberufen wurde, war ich noch genauso grün wie Sie. Dass ich als Leutnant wieder zurückgekommen bin, liegt nur daran, dass er so lange gedauert hat, und irgendwann war es dann eben so weit.«

Bannon bedachte ihre Orden mit einem demonstrativ zweifelnden Blick, offenbar wenig überzeugt. Sie ließen den kargen Transitraum hinter sich. »Chief Higo hat mir erzählt, dass Sie in der Schlacht befördert worden sind. Und der Bootsmann irrt sich nie. Das weiß ich auch von ihm.«

Sie rang sich ein unsicheres Lächeln ab. »Ich widerspreche einem Bootsmann wirklich höchst ungern«, sagte sie – das war nicht geschwindelt –, »aber meine erste Beförderung fand nicht in der Schlacht statt. Im Feld, ja, aber wirklich nichts Bemerkenswertes. Nur ein kleiner Einsatz bei der Piraterie-Patrouille.«

»Okay.« Er grinste, als wüsste er genau, dass sie nicht die ganze Wahrheit sagte. »Wenn Sie es sagen.«

Sie gingen einen langen, breiten Gang entlang, der direkt in den Fels getrieben worden war und sich wand wie ein DNA-Strang. An der Neigung des Bodens unter ihren Füßen und der zunehmenden Gravitation durch die Drehung erkannte sie, dass sie immer tiefer ins Innere des Monds vordrangen. Hier unten gab es keine Bullaugen mehr, nur noch Monitore, auf denen die Feeds der G-Daten und Aufnahmen rings um die Basis zu sehen waren. Anfangs trafen sie keinen anderen Menschen, aber dafür waren mal mehr, mal weniger Automas und Bots unterwegs, und einmal schwebte ein Kampf-Intellekt der Flotten-Klasse an ihnen vorbei. Sie salutierten vor dem schwarzen Oval, das die Form eines Rhombus mit abgerundeten Ecken hatte. Zur Antwort pulsierte es und schimmerte kurz rötlich auf, ehe eine weibliche Stimme sagte: »Leutnant Hardy, Leutnant Bannon, Ihnen beiden einen angenehmen Tag.« Dann schwebte der Intellekt gleichmütig weiter.

Sie sahen ihm hinterher, bis er hinter der nächsten Biegung des Gangs verschwunden war. »Diese Typen«, sagte Bannon kopfschüttelnd. »Immer so unaufgeregt.«

Der Gang schraubte sich fünf weitere Minuten lang in die Tiefe. Lucindas Seesack wurde ihrem Kameraden sichtlich eine immer schwerere Last. Sie machte nicht richtig Konversation, sondern parierte nur. Bannon hingegen hatte keine Hemmungen, von sich selbst zu erzählen. Als sie schließlich in einer gut gesicherten Empfangshalle standen, in der dank der Rotation und dem Massegenerator der Basis Gravitation auf Erdstandard herrschte, wusste sie alles über Bannons Familie (wohlhabend, aber nicht adlig), seinen Militärdienst (gerade erst begonnen) und die Offiziere seines Schiffs (ziemlich lockere Truppe, bis auf …)

»Bannon! Wo im Namen des Dunkels haben Sie gesteckt?«

Hardy zuckte zusammen, nicht nur wegen Lautstärke und Schärfe der Stimme, sondern auch wegen des Akzents. Eindeutig die exaltierte Sprachmelodie von jemandem, der auf der Welt Armadale bei Hofe aufgewachsen war. Unverkennbar, zumal sich der Sprecher offenbar extra bemühte, jedes Wort mit einem Überzug aus Blattgold zu versehen.

Es war eine kleine Empfangshalle, kaum größer als der Transitraum, in dem sie stundenlang gewartet hatte. Wände und Decke bestanden, abgesehen von den eingelassenen Leuchtstreifen mit ihrer schimmernden Beschichtung, aus nacktem Fels. Drei der vier Sicherheitskontrollen waren geschlossen, die vierte freundlicherweise für späte Neuankömmlinge geöffnet. Von dem Tarnzerstörer keine Spur. Dafür warteten zwei reglose Wachdroiden vor dem Durchgang, auf deren Glacis-Brustplatten das Wort Defiant eingeprägt war; zwischen ihnen stand ein junger Uniformierter. Er trug die Abzeichen eines Oberleutnants, und Bannon nahm Haltung an. Hardy nicht. Der Mann war nicht ranghöher als sie. Jedenfalls nicht im militärischen Sinne.

»Ich habe Ihnen doch gesagt, ich will, dass die Lieferungen noch mal gründlich überprüft werden«, sagte der Leutnant unnötig laut. »Sie sind diensthabender Offizier, kein verdammter Hotelpage.«

»Sir, ich bitte um Verzeihung, aber Leutnant Hardy hat bereits stundenlang …«

»Leutnant Hardy wird erst um 1800 an Bord erwartet«, sagte der Oberleutnant. »Das hat keine Priorität.«

Zwar blaffte er Bannon an, aber Lucinda war klar, dass das ganze Theater eigentlich ihr galt. Sie bemühte sich um eine ausdruckslose Miene.

Als sie sich nicht verteidigte, nicht mal eine sichtbare Reaktion zeigte, umwölkte sich seine Stirn. »Und Sie sind dann wohl die berühmte Hardy, nehme ich an«, sagte er in einem Ton, als wäre es ausgesprochen lästig, überhaupt ihren Namen aussprechen zu müssen.

»Ich bin Leutnant Hardy, Leutnant …?«

Sie ließ die Frage offen. Fast hätte er ihr eben ein »Ja, Sir!« entlockt, fast hätten sich seine lebenslange Gewohnheit, vermeintliche Privilegien einzufordern, mit ihrem antrainierten Respekt vor der Befehlskette gegen sie verschworen und ihr einen Gehorsam abgerungen, den sie ihm nicht schuldete. Nicht, wenn sie einander im Militärdienst begegneten.

»Sie haben sich Zeit gelassen, Leutnant«, sagte der Offizier. Seinen Namen nannte er ihr nicht. Wahrscheinlich hätte sie ihn eigentlich kennen oder zumindest von ihm gehört haben sollen.

»Ich habe oben im Transitraum gewartet, ganz meiner Order entsprechend … Leutnant«, sagte sie und ärgerte sich darüber, dass er mit ihr sprach wie mit einer Untergebenen. Bannon neben ihr, bemerkte sie, stand noch immer in Habachtstellung.

Lucindas Vermutung nach war ihr Gegenüber irgendein geringeres Mitglied des Königlichen Hauses und leistete gerade seinen dreijährigen Militärdienst, ehe er das Kommando auf einem der Habs oder auf einem Mond oder Planeten übernahm, vielleicht sogar auf dem Planeten unter ihnen. Ganz offensichtlich war er Berufssoldat, so wie sie. So wie sie alle. Unteroffiziere waren fast immer Berufssoldaten. Warum sonst würde jemand dabeibleiben?

Der unbekannte Fürst oder kleine Graf, oder was auch immer er sein mochte, bekam einen glasigen Blick; offenbar zog er seine neurale Datenbank zurate. Ein Leutnant, ermahnte sie sich selbst, er war nur ein Leutnant, genau wie sie, wahrscheinlich sogar mit kürzerer Dienstzeit. Er starrte durch sie und Bannon hindurch. Bannon stand noch immer stramm und schwieg. Es war das erste Mal, seit sie Ian kennengelernt hatte, dass er den Mund hielt. Fast war sie in Versuchung, das Bild des namenlosen Offiziers durch die Personalsuche zu jagen, während er sie warten ließ. Vielleicht könnte sie etwas über ihn finden. Seine offizielle Militärakte. Vielleicht würde sie sogar herausfinden, dass er zu jener Sorte zweit- und drittrangiger Großkotze gehörte, die die Skandalserver und Gerüchte-Bots gut beschäftigt hielten, bis sie irgendwann aus dem Militärdienst flogen.

Aber sie griff nicht auf ihr Neuralnetz zurück, sondern wartete mit ausdrucksloser Miene. Diese Genugtuung gönnte sie ihm nicht.

Nach einer Weile klärte sich sein Blick, und seine Mundwinkel verzogen sich abfällig. »Ein Wohltätigkeitsfall also, was?«

Ihre Wangen schienen plötzlich in Flammen zu stehen. Genau zu wissen, dass sie errötete, machte es nur noch schlimmer. Bannon neben ihr blieb so stumm und reglos wie das Vakuum draußen.

»Oh, tut mir leid«, sagte der Offizier. »Habe ich den Eintrag etwa falsch verstanden?«

Demonstrativ machte er sich daran, es noch mal zu überprüfen, allerdings bezweifelte sie, dass er sich wirklich die Mühe machte. Er erfreute sich nur an der kleinen Grausamkeit, sie noch mal warten zu lassen.

»Laut Eintrag wurden Sie von der Wohlfahrt des Coriolis-Habs für die Offizierslaufbahn vorgeschlagen, weil …« Wieder diese Show, als würde er Informationen abrufen. »Weil, ach du liebe Zeit, Ihr Vater wegen seiner Schulden in eine Strafkolonie versetzt wurde. Oha.«

Die zweibeinigen Kampfdroiden neben ihm blieben vollkommen teilnahmslos. Aber mit einem Mal wurde ihr voller Grauen bewusst, dass sie so kurz vor dem Start womöglich von einem menschlichen Verstand gesteuert wurden, nicht vom Schiff.

O Gott, in dem Fall macht es quer durch alle Dienstgrade die Runde, noch bevor diese Schicht zu Ende ist.

Der noch immer namenlose Leutnant sog scharf Luft zwischen seine Zähne. »Der würde ich lieber kein Geld leihen, Bannon«, schnaubte er. »Sie etwa?«

Unterleutnant Bannon antwortete nicht gleich.

»Na?«, hakte der andere sofort nach, offenbar entschlossen, den Spaß bis zur Neige auszukosten. »Würden Sie?«

Bannon, noch immer in Habachtstellung, sah aus, als hätte er ein gewaltiges Gewicht zu stemmen, fast als hätte Lucindas Seesack, den er noch immer trug, soeben seine Masse verzehnfacht.

»Wenn Leutnant Hardy meine Hilfe bräuchte, Leutnant Chase«, sagte er endlich, »dann würde ich ihr mit Freuden helfen. So wie sie, da bin ich ganz sicher, auch mir.« Er klang so gequält, als müsste er sich gerade die eigenen Zehen abschneiden. »Jeder Flottenoffizier würde das tun.«

Lucinda lächelte. Jetzt wusste sie, wer dieser milchgesichtige Leuteschinder war. Oder zumindest, welcher Familie er entstammte. Und das war wirklich ein und dasselbe. Die Chase-Dynastie. »Natürlich würde ich das, Ian«, sagte sie.

Chase lächelte nicht. Er trat viel zu nah an Bannon heran und sagte so sanft, als wäre dies ein Gespräch unter Liebenden: »Sie vergessen, wo Ihr Platz ist.« Er machte eine Pause, ehe er mit schärferer Stimme weitersprach, als würde er seinen aristokratischen Akzent wie eine scharf geschliffene Klinge führen: »Und der Ihrer Familie.«

Lucinda konnte nicht mehr tun, als weiterhin eine gleichmütige Miene zu bewahren. Sie spürte, wie Bannons Widerstand bei der angedeuteten Drohung gegen seine Familie in sich zusammenbrach.

»Und Sie … Leutnant«, fuhr Chase fort und betrachtete sie, als würde er sich über irgendeinen geheimen Witz amüsieren. »Sie haben nicht mal einen Platz. Sie sind keine von uns. Sie werden niemals dazugehören.«

Schwindelgefühl und plötzlich in ihr aufschießende Wut drohten, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, und Chase spürte das genau. Jetzt wurde sein Grinsen wirklich unangenehm.

»Ihnen ist sicher klar, dass Sie mit Betreten des Schiffs einer Durchsuchung Ihrer Person und Ihres Gepäcks zustimmen. Öffnen Sie die Tasche und ziehen Sie sich bis auf die Unterwäsche aus. Ist ohnehin besser für Sie, wenn Sie diese eilig zusammengeschusterte Uniform loswerden. Was für erbärmliche Lumpen. Ich nehme an, auch die hat die Wohlfahrt für Sie bereitgestellt?«

»Wie bitte?«, keuchte Bannon.

Chase schwenkte sein Grinsen zu ihm herum wie den Lauf eines Geschützturms. »Auch Sie haben übrigens das Schiff verlassen, Bannon. So kurz vor dem Start bin ich angehalten, strengste Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen. Also ziehen Sie diesen Overall aus, oder ich gebe den Wachdroiden den Befehl, Ihnen die Kleidung vom Leib zu schneiden.«

»Sie können nicht einfach …«, setzte Bannon zum Protest an.

»Er kann«, unterbrach ihn Lucinda. Ihre Miene war undurchdringlich, die Stimme bar jeden Gefühls. Sie knöpfte bereits die Uniformjacke auf. Die Knöpfe allerdings waren ein bisschen zu groß für die Knöpflöcher, und sie tat sich schwer.

Bei ihren Worten funkelten Chases Augen vor Vergnügen, aber noch mehr schien er sich daran zu erfreuen, wie sie mit ihrer billigen Uniformjacke von der Stange zu kämpfen hatte. Er schien drauf und dran, noch eins draufzusetzen, da nahm er plötzlich so straff Haltung an wie Bannon. Irgendetwas oder irgendjemand hinter ihr hatte der gehässigen Inszenierung des jungen Mannes ein Ende bereitet. Stampfend salutierten die Wachdroiden.

»Ah. Ausgezeichnet«, sagte eine schroffe Männerstimme. Sie klang ein wenig mürrisch, aber freundlich, wie ein Comic-Bär oder ein Montanblancischer Waldrumpler in einer Kindergeschichte.

Leutnant Chase salutierte mustergültig. »Defiant!«, sagte er.

Lucinda und Bannon taten es ihm gleich, und das gespenstisch leuchtende runde Juwel des autonomen Kampf-Intellekts schwebte auf Brusthöhe auf sie zu. »Defiant«, sagten sie im fast perfekten Stereo.

Dieser Intellekt war kleiner als der, dem sie oben begegnet waren. Der erste war länglich und mindestens einen Meter hoch gewesen. Dieser als männlich definierte Intellekt war deutlich kleiner, eher ein Schiffsintellekt als ein Flottenintellekt. Er war etwa so groß und rund wie ein Baseball. Bei seinem Anblick hätte man meinen können, ein waberndes schwarzes Loch hätte ein Bewusstsein entwickelt und würde frei umherschweben.

»Ist das unsere neue Taktische Offizierin?«, erkundigte sich die gespenstische schwarze Kugel, obwohl sie die Antwort bereits kannte. Intellekte wussten alles. »Leutnant Hardy? Willkommen an Bord. Ich habe von der Admiralität nur das Allerbeste über Sie gehört, ebenso wie von dem terranischen Intellekt von der No Place for Good Losers, der im Bectel-System mit Ihnen gemeinsam gegen diese üblen Piraten gekämpft hat. Kommen Sie schon, Chase!«, tadelte der Intellekt. »Wir nehmen gerade eine echte Heldin an Bord. Schließlich können wir nicht jeden Tag eine Gewinnerin des Tapferkeitssterns in unseren Reihen begrüßen. Helfen Sie mir doch mal, Chase, haben Sie ebenfalls einen Tapferkeitsstern? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Ihnen mal einer verliehen wurde, was eigenartig ist, denn wie Sie wissen, ist mein Erinnerungsspeicher praktisch unendlich und außerdem unfehlbar.«

Majestätisch schwebte der Intellekt wieder los und summte dabei eine Melodie aus einem Musical, das Lucinda an einem ihrer wenigen freien Wochenenden auf Armadale gesehen hatte.

»Von der Medaille haben Sie mir ja gar nichts erzählt«, flüsterte Bannon absichtlich laut, als sie dem summenden Intellekt folgten. Leutnant Chase lief vor ihnen, aber hinter dem Intellekt. Das undurchdringlich dunkle Transferfeld verschluckte Defiant und schnitt sein Lied abrupt ab.

»Die Akte zu diesem Vorfall ist eigentlich vertraulich«, sagte sie.

Der Intellekt hätte von der Medaille nichts wissen dürfen, und selbst wenn, hätte er sein Wissen für sich behalten müssen.

Aber so waren Intellekte eben.

Man wusste nie genau, was sie sich so dachten.

Vor ihr trat Leutnant Chase durch das Transferfeld. Er hatte die Schultern hochgezogen wie ein ungezogener Junge, der ins Büro des Direktors zitiert wird. Das dunkel schimmernde Feld verschluckte auch ihn.

Bannon gönnte sich ein kurzes Schnauben und ein Grinsen, ehe er seine Gesichtszüge wieder ordnete und vor der Nanofalte stehen blieb. »Willkommen auf der Defiant«, sagte er und machte eine einladende Handbewegung, um ihr zu bedeuten, sie solle vorausgehen. Lucinda nickte, holte kurz Luft und trat auf den ölig schwarzen Durchgang zu. Wie immer erinnerte der Anblick sie an das Auge eines Hais: obsidianschwarz, bodenlos und … hungrig. Aber auf der anderen Seite wartete ein neues Schiff auf sie. Eine neue Mannschaft. Eine neue Chance, ihrem Leben einen neuen Kurs zu geben und eines Tages irgendwann ihren Vater zu retten.

Sie ging an Bord.

Direkt von einem bestimmten Punkt der Raumzeit zu einem anderen überzugehen, ohne die Distanz dazwischen überwinden zu müssen, war immer eine unheimliche Erfahrung. Ganz gleich, ob der Sprung durch die Falte sie von einem Bereich einer kleinen Orbitalstation in einen anderen brachte oder über einen ganzen Kontinent hinweg, Lucinda fand es immer verstörend. Das ging jedem so. In einem Schiff, das sich quer durch den Raum faltete, befand man sich in einem abgeschlossenen kleinen Universum, das ersparte einem dieses eigenartige Unbehagen. Aber sich ganz unmittelbar der Quantenverschiebung auszusetzen und den eigenen Körper durch eine deformierte Realität zu bewegen … dafür waren der menschliche Körper, die menschliche Psyche, vielleicht sogar die menschliche Seele nicht beschaffen.

Als Lucinda auf der anderen Seite der Nanofalte, die die Station mit der Defiant verband, wieder herauskam, befiel sie sofort das unvermeidliche Déjà-vu. Sie war ganz sicher, dass dies alles schon mal geschehen war … ebenso sicher wusste sie jedoch, dass dieses Gefühl eine Auswirkung der Nanofalte war.

Sie hatte noch Glück. Vielen Leuten wurde beim Durchqueren selbst der allerkleinsten Falte schon entsetzlich übel. Und noch nie hatte jemand den direkten Übergang über eine Distanz überlebt, wie Schiffe sie jeden Tag bewältigten.

Ohne auf das beunruhigende Gefühl einer Vorahnung zu achten, trat sie aufs Deck des Kriegsschiffs. Der Ankunftsraum war eine schlichte, funktionelle Kammer mit weltraumgrauen Carbonwänden. Dahinter lag ein breiter Niedergang, der sich über die gesamte Schiffslänge erstreckte. Defiants Intellekt war bereits davongeschwebt oder hatte sich sogar von dannen gefaltet, und in der Ferne sah sie Leutnant Chase wegstampfen. Unhöflich. Aber Lucinda sagte nichts dazu, sondern wandte sich zackig nach rechts, um vor der Armadalen-Flagge zu salutieren, die an einem zeremoniellen Fahnenmast aus poliertem Jarraholz hing. Dann drehte sie sich wieder um und salutierte vor der jungen Offizierin, die während des Ablegens hier Dienst schob.

Bannon hinter ihr vermeldete dem Schiff und der Wachoffizierin ihre Ankunft: »Leutnant Lucinda Hardy, ehemals Besatzungsmitglied der Resolute, meldet sich auf Geheiß Ihrer Majestät zum Dienst auf der Defiant.«

Die wachhabende Unteroffizierin war biotisch noch jung und befand sich, dem diskreten lila Zeichen auf ihrem Uniformkragen zufolge, gerade im Übergang vom männlichen zum weiblichen Geschlecht. Auf ihrem Namensschild stand HAN.

»Die Defiant ist sehr erfreut, Ihrer Majestät einen Dienst erweisen zu können, und heißt den Leutnant an Bord willkommen«, antwortete Han.

Lucinda wusste, was jetzt kam, und hatte noch eine halbe Sekunde Zeit, um sich zu wappnen, ehe sich ihr Neuralnetz mit dem unverwechselbaren mentalen Ruck mit dem Schiff verband.

Defiant sprach zu ihr, unhörbar für die anderen und mit derselben etwas schroffen, aber freundlichen Stimme, die sie bereits von ihrer ersten Begegnung kannte.

»Willkommen an Bord, Leutnant Hardy. Wir schätzen uns sehr glücklich, Sie bei uns zu haben.«

»Defiant«, sagte sie rasch und nahm Haltung an. »Erbitte Erlaubnis, meine Empfehlungen und Unterlagen zu übertragen.«

Sie bereitete sich darauf vor, ihre Echttod-Versicherungsunterlagen, eine Kopie ihrer Flottenbefehle und die beglaubigte Aufzeichnung ihrer Notfallbelebungsdaten zu transferieren.

»Vielen Dank, Leutnant«, antwortete der Schiffsintellekt, »aber Ihre Unterlagen liegen uns bereits vor, sie wurden uns in einem beschleunigten Verfahren zur Verfügung gestellt. Ich weiß, dass Sie erst in zwei Stunden Dienstbeginn haben, aber wenn Sie sich bitte den leitenden Offizieren vorstellen möchten: Kapitän Torvaldt erwartet Sie in der Offiziersmesse.«

Lucindas Puls beschleunigte sich sachte. Der Intellekt bemerkte ihre Überraschung und sprach direkt über ihr Neuralnetz. »Kein Grund zur Beunruhigung, Leutnant, Sie stecken nicht in Schwierigkeiten. Es ist nur ein Briefing.« Zu Leutnant Bannon sagte er: »Wenn ich einen Gefallen von Ihnen erbitten dürfte, Leutnant - der Captain wünscht Miss Hardy zu sehen. Würden Sie den Seesack in ihre Kabine bringen?«

»Natürlich, Defiant«, antwortete Bannon. Er lächelte Hardy an und schüttelte den Kopf. »Ein Tapferkeitsstern«, sagte er im Weggehen, immer noch kopfschüttelnd. »Mann, davon hatte der Chief keine Ahnung.«

Lucinda sah, wie sich Unterleutnant Hans’ Augen weiteten, und sie krümmte sich innerlich. Noch vor acht Glasen würde es auf dem ganzen Schiff die Runde gemacht haben. Verlegen lächelte sie dem Unterleutnant zu.

Auf ihren Netzhautdisplays leuchteten Navigationshilfen auf: eine Reihe schwach glimmender blauer Punkte, die aus dem Ankunftsraum hinaus Richtung Offiziersmesse führten. Lucinda setzte sich in Bewegung, und gleich darauf verschwanden die Punkte wieder, weil sie sich jetzt an den Weg »erinnerte«. Gedächtnis und Bewusstsein füllten sich zusehends mit Informationen über das Schiff und seine Besatzung: Dienstakten von Offizieren und Mannschaft, Ladung und Bewaffnung für die bevorstehende Mission – holla, schweres Geschütz an Bord – und ein kurzes Briefing für selbige, das allerdings wenig verriet. Es fühlte sich nicht an, als hätte sie das alles gerade erst erfahren. Eher so, als wüsste sie es schon ewig und hätte nur soeben zum ersten Mal seit langer Zeit wieder daran gedacht.

Lucinda erschauerte, verbarg es aber sorgsam. Nur vor Defiant nicht, denn vor ihm konnte sie nichts verbergen. Das Schiff schwieg jedoch.

Hardy war nicht mit Neuralnetz aufgewachsen. Das war Leuten wie Chase oder vielleicht auch Bannon vorbehalten, deren Familien sich solche Modifikationen hatten leisten können. Sie hingegen hatte ihr erstes Implantat an dem Tag bekommen, als die Hab-Wohlfahrt sie der Obhut der Militärbasis überantwortet hatte. Eine ganze Woche lang hatte sie danach auf der Krankenstation gelegen und sich die Seele aus dem Leib gekotzt. Sie drängte die Erinnerung beiseite und nahm ihre neue Umgebung in Augenschein.

Wie alle interstellaren Kriegsschiffe der Königlich-Armadalischen Marine war die Defiant innen größer als außen. Nicht übermäßig; der Innenraum war nur viermal größer als die äußeren Dimensionen des Tarnzerstörers, und ein Drittel davon entfiel auf die Hyperspace-Dämpfung unter der Außenhülle – eine dicke Schutzschicht aus exotischer dunkler Materie – und das abgeschlossene kleine Universum aus Mannschaftsquartieren und dazugehörigen Einrichtungen. Dazu kamen Maschinenräume, Kommandobrücke, Kampfdecks und Stauraum.

Während des Jawanenkriegs hatte Hardy auf der HMASResolute gedient, einem älteren Schiff derselben Klasse, und sie freute sich still über die Verbesserungen, die es seither gegeben hatte. Dank der übertragenen Daten wusste sie, dass sie eine Einzelkabine für sich haben würde, was während des Kriegs ein unerhörter Luxus gewesen wäre, selbst auf den Hauptschiffen: gewaltigen Schlacht- und Titankreuzern, die die Speerspitze des armadalischen Angriffs gebildet und sich bis zum Herzen des Jawanischen Imperiums gekämpft hatten.

Während Hardy nach achtern unterwegs war, herrschte ringsum an Bord rege Betriebsamkeit. Die gesamte Crew ging ihren jeweiligen Aufgaben nach, zügig, aber mit jener ruhigen Zielstrebigkeit, wie sie nur unbarmherziges Training und die ebenso unbarmherzige Auslese der Schlacht hervorbrachte. Dies war ein höchst diszipliniertes Schiff. Kriegsbereit. Sie sah es deutlich daran, wie die Mannschaft ihre Aufgaben erledigte, aber zudem wusste Lucinda auch, dass ungewöhnlich viele Mannschaftsmitglieder Kampfveteranen waren – 96 Prozent. Die Defiant hatte ihr diese Information ins Hirn geworfen. Oder vielmehr in ihr Neuralnetz, das semiorganische, synaptische Gewebe aus monomolekularem Carbon, das sich durch ihren Neokortex zog und dann tief ins Hinterhirn abtauchte.

»Wir sind mit voller Besatzung unterwegs, Defiant?«, fragte sie laut, es war auch eine Feststellung. Eine volle Besatzung war in Friedenszeiten recht ungewöhnlich, ganz besonders auf einer einfachen Patrouillenfahrt wie dieser.

Das Schiff antwortete leise, nur für sie hörbar: »Die Königlich-armadalische Marine hält nichts von Nachlässigkeit, junge Lady. Das macht sie zur KAM und unterscheidet sie von der gewöhnlichen Marineinfanterie.«

Lucinda glaubte, leise Belustigung in Defiants Stimme zu hören. Ein Transportbot machte ihr Platz, und eine kleine Gruppe Soldaten trabte an ihr vorbei. Sah nach schwerer Infanterie aus. Ein Sergeant führte sie an, hundertprozentig ganz neu inkarniert. Äußerlich ein militärisch wirkender Kaukasier in den Zwanzigern, vermutlich bis obenhin vollgestopft mit den üblichen Genmodifikationen und Implantaten. Die gebräunte, auffallend unverbrauchte Haut leuchtete und hatte den typischen Frisch-aus-dem-Tank-Schimmer; sie saß ein wenig zu stramm um seine kräftige Gestalt. Aber auch wenn sein Tankalter möglicherweise weniger als eine Woche betrug, seine Singstimme donnerte laut und rau, als wäre seine Kehle jahrzehntelang von hochprozentigem Rum und ungefiltertem Jujakrautrauch verätzt worden. Die dröhnende Antwort seiner Truppe spülte über Lucinda hinweg und hallte durch den langen Niedergang.

»Damals, 2295 …«

Damals, 2295 …

»Gründete man meine Marine-Einheit.«

Gründete man meine Marineeinheit.

Das Zusammenspiel aus Ruf und Antwort folgte ihr noch weit durchs Schiff, selbst als die Soldaten dank der Krümmung der Außenhülle schon längst außer Sicht waren.

»Defiant, wir scheinen eine ganze Menge Marinesoldaten an Bord zu haben«, subvokalisierte sie stumm. »Eine ganze Kompanie, um genau zu sein. Das ist ein bisschen übertrieben, oder nicht? Es sei denn, wir haben vor, ein paar Planeten in Trümmer zu legen.«

In ihrem Kopf lachte das Schiff leise. »Aber es sind nun mal Marinesoldaten, Leutnant. Sie sind nicht spezialisiert genug, um eigene Schiffe zu bekommen, also müssen sie bei uns mitfahren.«

»Und die Sache mit Leutnant Chase?«

»Hmm?«

»Concord war eine Geheimmission«, sagte sie sehr leise. »Unter allerstrengstem Verschluss. Diese Medaille darf ich niemals tragen. In meiner Akte wird Concord nirgendwo erwähnt. Aber Sie haben Chase davon erzählt.«

»Bitte verzeihen Sie mir, Leutnant«, sagte Defiant, »aber anscheinend wurden Sie falsch informiert, oder Sie wurden noch nicht über die neuesten Entwicklungen unterrichtet: Die Admiralität hat die Geheimhaltung dieser Mission aufgehoben.«

Fast stolperte sie über ihre eigenen Füße. »Moment! Wie bitte? Warum?«

»Ich bin nicht ganz sicher. Ein einfacher Schiffsintellekt bekommt häufig keine allzu umfangreichen Erklärungen. Aber wenn Sie Ihre persönliche Akte durchsehen, werden Sie jetzt alle relevanten Informationen darin vermerkt finden. Einschließlich Ihrer Auszeichnung und Ihrer Belobigung.«

»Aber das ist … das ist …«

Sie war völlig durcheinander.

»So ist die Admiralität«, sagte Defiant. »Macht immer das, was ihr gerade in den Kram passt. Ich bin sicher, dass es gute Gründe für die Aufhebung der Geheimhaltung gab, genau wie für die vorige Geheimhaltung. Die Erklärung dafür lautet womöglich ganz schlicht, dass die Akte noch einmal neu geprüft wurde.«

Verwirrt schüttelte sie den Kopf, aber sie fragte nicht weiter nach. Ein weiterer Transportbot rollte summend an ihr vorüber, und zwei Techniker salutierten ihr unsicher. Lucinda setzte sich wieder Richtung Offiziersmesse in Bewegung. Defiant hatte offenbar nicht vor, sie in irgendetwas einzuweihen. Vielleicht sah sie ja auch nur Gespenster, und es war überhaupt nichts Außergewöhnliches im Gange. Es wäre nicht das erste Mal. Lucinda griff auf ihre Akte zu, stellte sich das Gesuchte vor, und da war es. Schwebte direkt vor ihr.

Ihre Belobigung.

Leutnant Lucinda Jane Hardy wird für ihren herausragenden Kampfesmut gewürdigt. Ihre höchste Tapferkeit im Kampf unter allergrößter Gefahr während einer Spezialmission im Jawanischen Imperium …

Rasch schloss sie die Akte wieder, auch wenn niemand außer ihr und Defiant die Anzeige sehen konnte. Dieses Geheimnis zu wahren war ihr inzwischen unauslöschlich zur Gewohnheit geworden, und außerdem hatte sie soeben ihr Ziel erreicht: die Offiziersmesse.

Man erwartete sie bereits.

Es war eine überschaubare Offiziersgruppe. Sie hatte noch nie zuvor einen von ihnen persönlich getroffen, aber dennoch kannte sie die anderen, und die anderen kannten sie. Als die Flotte vor einer Woche ihre Versetzung genehmigt hatte, war Lucindas Akte in ihre Neuralnetze kopiert worden. Sie selbst hatte die Akten der anderen erhalten, sobald sie sich mit dem Schiff verbunden hatte. Sie erkannte Kapitän Torvaldt und seine Stellvertreterin, Kommandantin Claire Connelly, die sich beide entspannt in ihren Stühlen zurückgelehnt hatten und sich leise miteinander unterhielten. Infanteriekommandant Captain Hayes fiel durch seine Statur sofort ins Auge: Er war einen guten Kopf größer als alle anderen, und seine Schultern sahen aus wie Granitfelsen, an denen man mühelos andere, weniger harte Steinbrocken zerschmettern konnte. Der Oberingenieur der Defiant, Leutnant Kommandant Baryon Timuz, lächelte Lucinda zu, seine Augen waren zugleich freundlich und ein wenig traurig. Neben ihm stand Leutnant Thanh Koh, der Leiter der Nachrichtenabteilung; er nickte ihr zu, als wäre ihre Ankunft die Lösung eines schwierigen mathematischen Problems, an dem er bis zu diesem Moment gearbeitet hatte. Und natürlich war auch Defiant selbst anwesend. Der Schiffsintellekt schwebte über einem lang gestreckten, polierten Holztisch, auf dem Wasserkrüge und Gläser standen, zwei Kaffeekannen und ein kleiner Teller mit warmen Brötchen aus der Bordküche. Torvaldt, Connelly und Timuz saßen bereits, Thanh Koh rückte sich gerade einen Stuhl zurecht.

Sobald sie sie bemerkt hatten, nahmen alle Haltung an und salutierten. Fast wäre Lucinda zurückgeprallt, aber da empfing sie Defiants nur für sie hörbares Flüstern in ihrem Kopf: »Der Stern, Leutnant. Sie salutieren dem Stern.«

Wie betäubt salutierte sie ebenfalls, sah verwirrt an sich hinunter und entdeckte zu ihrer Verblüffung zwischen den anderen Orden eine neue Auszeichnung an ihrer Brust. In Mitternachtsblau und Weißgold prangte dort die höchste Auszeichnung, die der Weltenbund für Tapferkeit verlieh. Sie hatte diesen Orden noch nie zuvor getragen. Sie hatte es nicht gedurft, und eine volle Sekunde lang zweifelte sie an ihrem Verstand, als sie ihn dort erblickte, direkt über ihrem Herzen.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Defiant über ihren privaten Kanal. »Ich habe mir erlaubt, den Orden hinzuzufügen, sobald Sie an Bord gekommen sind.«

»Willkommen an Bord, Leutnant Hardy, bitte kommen Sie doch herein«, sagte Kapitän Torvaldt und lächelte übers ganze Gesicht. »Die restlichen Formalitäten sparen wir uns mal. Heute Morgen ist einiges zu tun.«

Sobald sie eingetreten war, ein bisschen unsicher auf den plötzlich taub gewordenen Füßen, schloss sich ein Störfeld um die Offiziersmesse, das sie vom Rest des Schiffs abschirmte. Infanteriekommandant Captain Hayes zwinkerte ihr zu und beugte sich vor, um ihr die Hand zu schütteln. »Gute Arbeit auf Concord«, sagte er. Seine Hände waren riesig und voller Schwielen, aber sanft.

Alles kam ihr ganz leicht surreal vor. Auch weil sie um eine ganze Lebensspanne die Jüngste hier war – selbst Koh war ein Zweitinkarnierter, und Timuz, bei Gott, befand sich in seinem vierten Lebenszyklus. Lucinda in ihrer schlecht sitzenden Uniform war zumute wie einem Kind, das Verkleiden spielt. Wieder einmal kämpfte sie gegen die ach so vertraute Furcht an, dass die Erwachsenen sie jede Sekunde erwischen und aus dem Zimmer werfen würden.

Sie setzte sich neben Hayes, der den Teller mit den warmen Brötchen heranzog und eines davon mit seinen gewaltigen Pranken entzweiriss. »Die sind ganz wunderbar«, sagte er.

Sie war peinlich berührt. Kapitän Torvaldt hatte sich noch nicht mal einen Kaffee eingeschenkt. Aber der Kapitän der Defiant schien sich nicht am Betragen seines Infanteriekommandanten zu stören, er lächelte ihm sogar zu. »Die sind wirklich gut, oder? Cooky vollbringt wahre Wunder an der Rührschüssel. Macht alles von Hand. Also … sind wir dann jetzt so weit? Defiant?«

Der Intellekt, der gleichmütig am anderen Ende des Tischs schwebte, wippte einmal kurz in der Luft. Seine Art zu nicken. »Danke, Kapitän.«

Über dem Tisch erschien ein Hologramm, eine Projektion des lokalen Volumens. Im Zentrum befand sich Station Deschaneaux, die im Orbit der blaugrünen Kugel namens A3-T-3019 kreiste, der erdähnlichen Welt, die der Anlass für den Krieg zwischen Armadale und dem Jawanischen Imperium gewesen war. In dreieinhalb Lichtjahren Entfernung – oder eine Armeslänge entfernt nach den Maßstäben des Holodecks – schwebte der äußerste Außenposten dieses Imperiums über den warmen Brötchen, ein Felsbrocken-Planet namens J4-S-2989. J4, bekannter unter dem Namen Batavia, war jene Strafkolonie-Welt, auf die die Yulin-Irrawaddy ihren Vater geschickt hatte, damit er »seine Schulden abarbeitete«.

Niemand arbeitete jemals in seinem Leben diese Schulden ab. Keine Chance.

Sie zwang sich, den Blick abzuwenden, und betrachtete den Rest des Quadranten. Die Heimatwelt der Königlichen Montanblanc-Korporation bildete den dritten Punkt eines fast gleichseitigen Dreiecks, gemeinsam mit den Welten Jawan und Armadale. Die drei Planeten wurden von ihren Monden umkreist und von mehr als einem Dutzend Habs unterschiedlicher Bauart, alle an unterschiedlichen Lagrange-Punkten. Und über allem türmte sich unheilvoll … das Dunkel: ein ausgedehnter Streifen aus vollkommener Leere, der sich hinter den äußersten Randsiedlungen der menschlichen Zivilisation erstreckte. Was dahinter lag … wer wusste das schon?

Irgendwo dort draußen waren die Sturm, vorausgesetzt, es gab noch welche. Aber wenn der Große Krieg die Menschheit eines gelehrt hatte, dann, dass die Sturm zwar primitiv waren und barbarisch, dass sie moderne Technologie und die damit verbundenen Vorteile ablehnten … aber trotzdem alles andere als einfach zu töten waren. Ganz sicher waren sie noch irgendwo dort draußen im Dunkel, wo die Albträume lebten.

»Die Admiralität hat uns mit einer längeren Patrouille als üblich beauftragt«, sagte Defiant. »Normalerweise ist die KAM zuständig für einen Bogen von etwa vierzig Grad zwischen Station Deschaneaux und der entmilitarisierten Zone, die an die Hoheitsgebiete von Jawan, SanYong und das Unabhängige Unternehmen Zaitsev im System Heugens 77U grenzt. Unser Patrouillenbereich endet am Saum des Dunkels, eine Grenze, die sowohl durch die Leistungsfähigkeit unseres FTL-Antriebs als auch durch politische Vereinbarungen definiert wird.« Defiant machte eine Kunstpause, ganz wie ein menschlicher Redner, der einen dramatischen Effekt erzielen will.

»Auf dieser Mission legen wir eine doppelt so weite Strecke zurück.«

»Wow!«, entfuhr es Lucinda, und dann errötete sie ein wenig, weil sie die Einzige war, die ihrer Überraschung hörbar Ausdruck verlieh.

Connelly sah mit hochgezogener Augenbraue Torvaldt an, der wenig überrascht und ganz gelassen wirkte. Leutnant Koh nickte, als hätte er eine Wette mit sich selbst gewonnen.

»Ihr Staunen ist ein bisschen verfrüht, Leutnant Hardy.« Defiant klang amüsiert. »Denn wir werden nicht nur sechzig Lichtjahre weit ins Dunkel vordringen, sondern wir decken zudem einen Bogen im Winkel von sechzig Grad zu Station Deschaneaux ab.«

»Boah!«, murmelte Hayes, den Mund voll mit warmem, gebuttertem süßen Brötchen.

»Ja«, sagte Defiant. »Tief hinein in die Hoheitsgebiete aller drei Parteien im Heugens-System.«

Lucinda kam es plötzlich vor, als würden in ihrem Körper sämtliche Nervenenden summen und kribbeln. Sie standen im Begriff, eine Kriegshandlung zu begehen.

»Machen Sie sich keine Sorgen, wir ziehen nicht in den Krieg«, sagte Defiant, als hätte er ihre Gedanken gehört. »Diese erweiterte Patrouille findet auf direktes Ersuchen der Erde statt, und es wurden entsprechende Vereinbarungen mit allen drei Parteien des Heugens-Systems getroffen. Man duldet diese Patrouille und wird uns nicht in die Quere kommen.«

Neben Lucinda schnaubte Hayes, immer noch mit vollem Mund. »Ha. Mussten sie dafür jemanden umlegen?«

»Nein«, sagte Defiant. »Aber die Erde hat angekündigt, dass es Tote geben wird, falls es auch nur den leisesten Hinweis darauf gibt, dass jemand die Vereinbarung bricht. Bitte gestatten Sie mir, dass ich Ihnen ein Datenpaket übertrage. Kapitän Torvaldt weiß bereits Bescheid, aber alle anderen bereiten sich bitte auf die Datenübertragung vor, ich beginne in wenigen Augenblicken.«

Lucinda und die anderen nickten, und im nächsten Moment spürte sie, wie Daten in ihr Bewusstsein sickerten. Sie nahm sich kurz Zeit, um die neuen Informationen durchzusehen, sich damit vertraut zu machen und, ebenso wichtig, sich ihre Bedeutung klarzumachen.

Ihr Puls beschleunigte sich, und sie hörte den einen oder anderen unterdrückt aufkeuchen, als allen bewusst wurde, welche Tragweite die neuen Informationen hatten.

Defiant musste es ihnen nicht erklären, sie wussten alle Bescheid. Fast ein halbes Jahrtausend lang hatte weit draußen im All, wohin sich die Sturm nach dem Großen Krieg zurückgezogen hatten, vollkommene Stille geherrscht. Aber jetzt war etwas geschehen. Kein Signal, aber ein Warnzeichen: Drei Ultralangstreckensonden waren plötzlich verstummt. 342 Jahre lang hatten diese Sonden alle Sterne abgesucht, von denen man annahm, sie könnten den Sturm als neue Heimat dienen, und hatten ihre Ergebnisse über eine Wurmloch-Verbindung in Echtzeit ans Großvolumen übermittelt. Sie hatten nie etwas gefunden, aber vor zwei Standardmonaten war bei allen dreien im Abstand von wenigen Stunden die Datenübertragung ausgefallen.

»Das ist wahrscheinlich kein Zufall«, dachte die Stellvertretende Kommandantin laut.

»Sehr unwahrscheinlich«, sagte Timuz. »Sie müssen wissen, ich habe mit diesen Sonden bereits selbst gearbeitet. Sie hätten ohne jedes Problem noch tausend Jahre lang funktionieren müssen.«

»Das stimmt«, sagte Koh, der Nachrichtendienstoffizier. »Wenn es nur eine wäre – nun, das könnte auch dem Zusammenstoß mit einem Asteroiden oder einem Gamma-Puls oder meinetwegen sogar schlicht einem Systemfehler geschuldet sein. Aber alle drei, und das innerhalb genau dieser Koordinaten? Nein. Irgendetwas hat sie gezielt ausgeschaltet.«

»Und wir werden herausfinden, was genau das war«, verkündete Kapitän Torvaldt.

2»SIE WERDEN ALT. Schon wieder.«

»Halt die Klappe, Hero.«

Professor Frazer McLennan stemmte sich ächzend vom Boden hoch. Es missfiel ihm, sich vor Hero anmerken zu lassen, wie viel Mühe ihm das bereitete, aber seine Knie waren steif geworden, ein Bein schlief ihm gerade ein. Er hatte auf einem Gelkissen gesessen, das seinen alternden Hintern vor dem harten Boden schützte, aber der Intellekt hatte recht: Er wurde wieder alt, und das ließ sich nicht verbergen. Sie hatten das schon zu oft miteinander durch.

McLennan blinzelte in das grelle Licht, das auf die ausgedörrte Wüste im Süden von Van Maartensland herunterbrannte. Der gewaltige äquatoriale Superkontinent umschloss zwei Drittel von Batavia. Die hiesige Sonne, ein mittelalter Stern der Spektralklasse B, stand fast genau über seinem Kopf und legte sich so richtig ins Zeug. Selbst im Schatten des hoch aufragenden uralten Generationsschiffs war McLennan zumute wie einem Käfer auf einem Hitzeschild. Es würde noch volle drei Stunden dauern, bis die heißeste Phase des 27-Stunden-Tags anbrach, und schon jetzt hatte er Schwierigkeiten, in dem gleißenden Licht überhaupt die Augen zu öffnen.

Wenn sich das Sonnenlicht auf den Solarpaneelen spiegelte, die auf den Zelten ihres Lagers angebracht waren, gab es so helle Lichtblitze, dass sie sogar durch den blendend hellen weißen Nebel stachen, als den er die Welt sah. Aber auch schon das Tageslicht allein war derart mörderisch, dass er sich nicht traute, länger als einen kurzen Augenblick hinzusehen.

»Ein paar nette kleine reaktive Kontaktlinsen würden dieses Problem sofort beheben, das wissen Sie schon, oder?«, stellte Hero fest. »Und ich rede wirklich nicht von Bio-Mods oder Gentech-Operationen. Sehen Sie? Ich halte praktisch den Mund. Verkneife es mir, Sie auf das Offensichtliche hinzuweisen. Mal wieder.«

»Du hast überhaupt keinen Mund, du verfickter, klappernder alter Schrotthaufen«, brummte McLennan. »Das muss wohl das Offensichtliche sein, was du gerade nicht erwähnst, und das sollte sogar einem schrottreifen kleinen Roboter wie dir klar sein. Oder wirst du jetzt allmählich doch von Demenz befallen, Herodotus?«

Der vorsintflutliche Intellekt flammte in ärgerlichem Rot auf, ehe er wieder sein undurchdringliches Obsidianschwarz annahm. »So sind Sie immer, wenn Sie fünfzig werden«, antwortete Hero mit lustloser Abfälligkeit. »Erst wird Ihr Körper wartungsbedürftig, dann Ihre Manieren. Habe ich jemals erwähnt, was für eine unerfreuliche Gesellschaft Sie in Ihren jeweils zwanzig letzten Lebensjahren sind?«

»Ununterbrochen«, knurrte McLennan, streckte die Knie durch und versuchte, die Durchblutung des tauben Beins wieder in Gang zu kriegen. Bei der Untersuchung des Artefakts, eines Chirurgie-Bots in der zweiten Krankenstation vorn im Schiff, hatte er ungünstig darauf gehockt.

Die Bruchlandung hatte die Außenhülle der Voortrekker im Bereich der Krankenstation aufgerissen, und im Lauf der Jahrhunderte hatte sich alles mit dem groben weißen Sand und Kies der Großen Eisenwüste gefüllt. Die Grabungsdrohnen hatten zwei Tage gebraucht, um alles behutsam auszubuddeln. Natürlich hätten sie es auch in wenigen Stunden erledigen können, aber dabei wären womöglich die Fundstücke beschädigt worden, einschließlich der drei ausgezeichnet erhaltenen Toten.

McLennan lehnte sich gegen das verbogene Schott, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die Taubheit in seinem Bein wich einem Kribbeln aus lauter kleinen Nadelstichen.

»Schon wieder falsch«, sagte Hero. »Ich habe es phasenweise im Lauf von zusammengerechnet hundertsiebenunddreißig Jahren gelegentlich erwähnt, und zwar im Laufe der jeweils letzten Jahrzehnte von insgesamt sieben Inkarnationen. Ich könnte es Ihnen als Datenpaket schicken. Also jedenfalls könnte ich das, wenn Sie wenigstens das allereinfachste Neuralnetz hätten, um es zu empfangen, was nur deshalb nicht der Fall ist, weil Sie eine einfach lächerliche Person sind.«

Während Herodotus noch sprach, spürte McLennan, wie der Intellekt das von ihm erzeugte kleine Kraftfeld anpasste, um in diesem Teil des Wracks die Luft herunterzukühlen und das grelle, heiße Sonnenlicht abzublocken, das durch den Riss in der Hülle hereinflutete. Gleich darauf konnte McLennan wieder nach draußen sehen und erblickte das Lager, das sich ein paar Hundert Meter weiter südlich in ein ausgetrocknetes Flussbett schmiegte. Mit einem Mal war die Sicht so klar, dass er Hero im Verdacht hatte, das Kraftfeld an seine Sehfähigkeit anzupassen, die sich seit etwa einem Jahrzehnt langsam, aber stetig verschlechterte. So wie immer.

Durch das unsichtbare Spiegelglas von Heros elektromagnetischen Linsen und Filtern sah er die Lagerdroiden umherschwirren. Sie errichteten Unterkünfte und andere Räumlichkeiten für das Grabungsteam, das nachher eintreffen würde. Sechzehn Studenten frisch von der Universität, gemeinsam mit ihrem Mentor Professor Trumbull. Das war der wahre Grund für seine miese Laune. McLennan gefiel es gar nicht, dass hier bald ein Haufen rotznasiger Flachpfeifen über seine Grabung wuseln würde, erst recht nicht, wenn ausgerechnet der idiotische, wichtigtuerische Trumbull sie hier herumscheuchte wie Ihro Majestät Exkremento, König des Ausscheidungsimperiums persönlich.

Aber er nahm nicht an, dass Hero das kapieren würde. Der Intellekt würde nicht …

»Und glauben Sie ja nicht, mir wäre nicht schmerzlich bewusst, dass Sie sich gerade in einen ausgewachsenen Trotzanfall reinsteigern, nur weil wir Besuch erwarten«, sagte Hero abfällig, als hätte er gerade das Neuralnetz gescannt, das McLennan bekanntlich gar nicht besaß. »Ist ja nicht so, als müsste ich immer Ihren fünfzigsten Geburtstag abwarten, bis ich endlich in den Genuss Ihres ermüdend schlechten Benehmens komme. Jedes Mal, wenn uns die Universität Hilfe schickt, legen Sie diese haarsträubenden Manieren an den Tag, oder was bei einem aus dem Tritt geratenen und immer seniler werdenden schottischen Lumpen eben so als Manieren durchgeht.«

»Ich brauche keine Hilfe«, sagte McLennan und tat so, als hätte Hero seine Gemütslage nicht unerfreulich gut erfasst. »Ich hab ja dich.«

»Tja, aber ich brauche Hilfe«, konterte der Intellekt. »Weil ich Sie habe und sonst nichts.«

Die geisterhafte eiförmige Gestalt – die in besseren Tagen ein Armada-Intellekt gewesen war – schimmerte wieder rötlich. Mit finsterer Miene musterte McLennan die schwebende Träne aus enorm verdichteter X-Materie und Wurmloch-Schaltkreisen auf Nanoebene und dachte darüber nach, irgendwas nach dem Intellekt zu werfen. Eine Feldflasche mit heißem Tee stand in der Nähe und bot sich an. Aber in Heros Außenschale sah er sich selbst – den Spiegeleffekt musste Hero absichtlich aktiviert haben –, und bei dem Anblick musste er zugeben: Ja, er sah wirklich lächerlich aus.

Ein mürrischer alter Sack mit hängenden Schultern, der in einem zusehends den Dienst versagenden Fleischklumpen herumlief, den jeder normale Mensch schon vor Jahren gegen einen jüngeren, genetisch modifizierten Körper eingetauscht hätte.

Ein preisgekrönter Astro-Archäologe, der durch seine Weigerung, sich mit einem anständigen Neuralnetz ausstatten zu lassen, längst nicht mehr als exzentrisch galt, sondern für die Universität, die seine Forschungen finanzierte, zu einer kostspieligen Unannehmlichkeit geworden war.

Ein Historiker, der ständig alles Mögliche vergaß, zum Henker noch mal.

Er war wirklich eine lächerliche Gestalt, und trotz seiner schlechten Laune brach er in Gelächter aus, das ganz haarscharf an der Grenze zum Selbstmitleid vorbeischrammte. »Tut mir leid, Hero«, sagte er. »Du hast recht. Ich benehme mich wie ein Arsch.«

»Also inkarnieren Sie? Mit allen dazugehörigen Mods und einem vernünftigen Neuralnetz?«

»Oh, auf gar keinen Fall.«

»Ha. Das dachte ich mir.«

»Aber ich reiße mich zusammen und höre auf, dir so auf den Sack zu gehen.«

»Sie vergessen, dass ich gar keinen Sack habe. Sie vergessen einfach alles, Mac.« Der Intellekt schimmerte inzwischen in einem kühlen Mitternachtsblau, und in seiner Stimme lag kein Zorn mehr, nur noch Resignation. Auch diesen Wortwechsel hatten sie im Lauf von McLennans vielen Leben schon oft durchexerziert.

»Zu vergessen ist genau der Plan«, sagte McLennan. Ehe Hero antworten konnte, unterbreitete er ein Friedensangebot: »Hör zu, ich denke über einige genetische Sanierungen und Makrotherapie nach, wenn wir wieder am Campus sind, ja?«

»In drei Jahren? Dann sind Sie siebenundfünfzig. Sie wollen diesen Körper doch hoffentlich nicht so lange mit sich herumschleppen wie den letzten, oder? An jenem erbärmlichen Kadaver haben Sie sich festgeklammert, bis er siebenundachtzig war. Bei Gottes verschrumpelten Eiern, Mac, das war so grotesk, dass Miyazaki die Kosten Ihrer Reinkarnation wieder hätte reinholen können, indem man Sie in ein Zelt steckt und Eintrittskarten für eine Kuriositätenschau verkauft.«

»Und das sagt ausgerechnet ein aufziehbarer Analplug wie du«, antwortete Mac, aber es war kein wütender Schlagabtausch. Nur eine weitere alte Szene, die sich wiederholte. Das kurze Schweigen danach war eher kameradschaftlich als feindselig. Der Intellekt beendete es, indem er sagte: »Sie wissen, dass Sie sich nicht für immer hier verstecken können.«

McLennan schnaubte, öffnete seine Thermoskanne, ebenfalls ein Artefakt der alten Republik, und kippte schwarzen, ungesüßten Tee in den Deckel, der zugleich als Becher diente. »Ist mir klar«, sagte er. »Dauert nicht mehr lange, bis sie hier sind.«

Das hatte Hero nicht gemeint, und das wussten sie beide, aber sie kannten einander gut genug, um nichts weiter dazu zu sagen. Ein Marmeladensandwich, seit heute Morgen mithilfe eines Stasisfelds frischgehalten, schwebte auf einem Trägerkraftfeld vom Intellekt zu dem Archäologen hinüber. Mac sah, wie die Schwerkraftverzerrung den in der Luft schwebenden Staub verwirbelte. »Danke«, sagte er und nahm sein Mittagessen entgegen.

Hero ließ die Welle zusammenklappen, und der Staub nahm seinen trägen Tanz wieder auf. Schweigend aß McLennan, und der Intellekt ließ ihn in Ruhe, spielte nur leise Musik ab: Brahms’ Akademische Festouvertüre, eins der Lieblingsstücke des Schotten. McLennan spürte, wie seine Zeit verrann. Trumbull und die Studenten würden in wenigen Stunden eintreffen und sein selbstgewähltes Exil beenden. Es war unerträglich, aber er würde es ertragen müssen. Es gehörte nun mal zu den unvermeidlichen Pflichten eines emeritierten Professors der Miyazaki-Universität. Der Preis, den er für die Nachsicht seines Arbeitgebers zahlte. Und Nachsicht war oft vonnöten, das wollte er gar nicht leugnen.

Seufzend betrachtete er die Stasis-Schlafkapseln, die er jetzt nicht mehr in seinem eigenen Tempo und zu seiner persönlichen Zufriedenheit würde untersuchen können. Natürlich, ihre Energieversorgung war schon seit Jahrhunderten zusammengebrochen. Nur wenige Bereiche des Schiffs saugten noch Energie aus dem einzigen verbliebenen Fusionsspeicher. Die Sturm hatten den Antimaterie-Antrieb vor ihrer Bruchlandung ausgeschaltet. Hätten sie das nicht getan, wäre von dem Planeten nicht viel übrig geblieben. Die Kapseln waren beim Absturz beschädigt worden, und das hatte die Toten darin vor dem Zerfall bewahrt: Die trockene Hitze und der Sand hatten sie mumifiziert.

»Wir arbeiten mal besser weiter«, sagte McLennan, eher zu sich selbst, aber trotzdem regelte Herodotus die Lautstärke von Brahms herunter und schwebte ein paar Zentimeter höher. Das tiefe Schwarz hellte sich zu Mitternachtsblau auf, ein Zeichen dafür, dass sich der Intellekt von der geheimnisvollen Denkaufgabe abgewandt hatte, der er sich während McLennans Mahlzeit hingebungsvoll gewidmet hatte. Oder, präziser gesagt: Hero reservierte einen unermesslich kleinen Nanobruchteil seines erschreckenden Verstands wieder für die Kommunikation mit seinem lästigen menschlichen Gefährten. Mit Sicherheit würde der Intellekt die unzähligen Prozesse, die den wachen Teil seines Verstands beschäftigten, einfach weiterlaufen lassen, und dennoch waren seine Armada-Klasse-Kapazitäten zu weniger als zwei Prozent ausgelastet.

Um es in menschlichen Begriffen auszudrücken: Die meiste Zeit über schlief Hero.

Und das seit über fünfhundert Jahren.

McLennan wischte sich die Brotkrümel von den Händen, und Hero beförderte sie umgehend mit einer raschen Abfolge von Planck-Längen-Rupturen in der lokalen Raum-Zeit direkt ins Herz der Sonne. Die Grabungsstelle vor Kontaminierung zu schützen war einer jener unzähligen Prozesse, die der Intellekt im Hintergrund laufen ließ. Immer. Er lief automatisch, er musste daran keinen bewussten Gedanken verschwenden.

»Was für ein Kindergarten kommt denn auf uns zu?«, fragte Mac. »Keine Erstinkarnationen, hoffe ich. Ich habe extra darum gebeten …«

»Zwei Erstinkarnationen«, fiel ihm Hero ins Wort.

»Ach du Scheiße.«

»Der jüngste Prinzling des Yulin-Irrawaddy-Kombinats in seinem Überbrückungsjahr, ehe er auf die Madrasa auf Damanhur-3 geht und höchstwahrscheinlich in die Montanblanc-ul-Haq-Allianz der Korporationswelten einheiratet«, sagte Hero. »Eine sehr günstige Verbindung, da werden Sie mir sicher zustimmen.«

McLennan hörte deutlich ein Lächeln in seiner Stimme. Der Intellekt schien das Unbehagen des alten Mannes regelrecht zu genießen. Mac stützte den Kopf schwer in beide Hände. Sie rochen nach Erdbeermarmelade.

»Und eine Miss Albianiac von den Mars-Albianiacs.«

»Von den irren Mars-Albtraumgestalten, meinst du wohl eher«, sagte McLennan. Er stand auf und tigerte in der Krankenstation umher, und mit seiner immer übleren Laune verstärkte sich auch sein Akzent. »Warum hast du mir nichts davon gesagt, Hero? Du weißt, dass ich am Campus Bescheid gegeben habe, mir keine Erstinkarnationen mehr zu schicken. Wissen die überhaupt, dass hier keine Wurmloch-Übertragung möglich ist? Sie müssen alles über Remote-Speicher schicken. Wie Tiere.«

Der Intellekt wippte auf und ab, seine Version eines Achselzuckens. »Ich bin sicher, dass sich ihre Familien die bestmöglichen Remote-Speicher-Lifeübertragungen leisten können. Für sie ist das alles ein wundervolles Abenteuer. Verschollen am Rande der menschlichen Zivilisation. Kein Life-Back-up. Ein Geisterschiff der Humanistischen Republik, in dem sie herumkriechen, das sie auseinandernehmen und zu Klump schlagen können, während ein schrecklicher alter Dummkopf hinter ihnen herrennt und sie anbrüllt wie ein Golem in Erwachsenenwindel. Kein Wunder, dass ihre Familien dafür so großzügig an die Universität gespendet haben.«

McLennan stampfte zu seinem Gelkissen hinüber und ließ sich vorsichtig darauf sinken, um sich dem Speicher des Chirurgie-Bots zu widmen. Damals hatten die Sturm Informationen noch immer über DNA verschlüsselt und eingelagert – das hatte er schon immer sehr ironisch gefunden. Er hatte nicht erwartet, dass der Speicher noch perfekt erhalten war, aber DNA war ein bemerkenswert widerstandsfähiges Speichermedium mit großer Kapazität, und die bisher gesammelten Proben hatten bis zu 80 Prozent ihrer Informationen bewahren können. Mit einem Spezialwerkzeug, das sie ebenfalls aus dem Wrack geborgen hatten, arbeitete er weiter an dem sechseckigen Stab, der aus im Tank gezüchtetem Speicherknochen bestand.

»Und der Rest von der Truppe?«, fragte er über die Schulter. »Auf was muss ich mich da so einstellen?«

»Ach, das Übliche«, sagte Hero. »Dritte und vierte Lebensspanne. Die meisten sind Korporationsadel auf Auszeit. Einer von ihnen bereist sämtliche wichtigen Schauplätze des Bürgerkriegs. Die anderen …«

»Vergiss, dass ich gefragt hab«, unterbrach ihn McLennan. »Touristen also. Sieh bloß zu, dass du sie von den wichtigen Arealen fernhältst. Sperr meinetwegen einen Teil des Schiffs mit Kraftfeldern ab. Und von mir auch. Von mir halt sie auch fern.«

»Ich befürchte, Sie gehören zum Gesamtpaket der Tour, Mac. Sie sind der Grund, weshalb diese Leute so viel dafür zahlen, herkommen zu dürfen.«

Er hörte auf, an dem Datenspeicher herumzufummeln, und ließ sich rücklings auf das Gelkissen plumpsen. Hero generierte ein schwaches Kraftfeld genau über den Bodenplatten, um zu verhindern, dass er sich schmerzhaft den Schädel stieß, falls er vorhatte, den Kopf auf den Boden zu hämmern. Hatte er aber nicht. Das unsichtbare Kraftfeld schmiegte sich wie ein Kissen an seinen alten, ergrauenden Quadratschädel.

»Warum?«, fragte er. »Warum können mich die Leute nicht einfach in Ruhe lassen?«

Hero pulsierte in einem hellen Himmelblau. Ein Lächeln. »Weil Sie die Menschheit gerettet haben«, sagte der Intellekt. »Und das werden sie Ihnen niemals verzeihen.«

3ES BLIEB KEINE ZEIT für einen Lebendscan, also hatten sie dem Yakuza-Unterboss den Kopf abgeschnitten, ihn schockgefrostet und in einen Eiskübel geworfen. Aber inzwischen schmolz das Eis zusehends, die wütenden Gangster rückten ihnen auf die Pelle, und Sephina L’trel stellte die Entscheidungen infrage, die sie an diesen Punkt ihres Lebens gebracht hatten. Die Herrin und Kommandantin der Je Ne Regrette Rien kauerte hinter dem Bartresen und wechselte gerade das Magazin, da pulverisierte ein Plasmasturm aus automatischen Waffen Hunderte Spirituosenflaschen in den Regalen über ihrem Kopf und entzündete den überhitzten Alkohol. Es gab eine gewaltige Explosion. Geschmolzenes Glas regnete auf sie und ihre Leute herab, und gezackte Scherben bohrten sich in die Nanopanzerung ihrer langen Mäntel.

Ihnen gingen die Autodrohnen aus, die Munition, das Glück. Aber woran es ihnen nicht fehlte, waren Scheißkerle, die sie umbringen wollten. Von denen waren noch eine Menge übrig, und Nachschub war schon unterwegs.

Ach, und natürlich der Kampftrupp der Hab-Sicherheit.

Sie würden jeden Augenblick hier sein, mit dem Befehl, jeden umzunieten, der sich noch bewegte. Oder sich reglos hinter seine Deckung kauerte. Im Augenblick tat sie genau das; sie duckte sich und versuchte, sich nicht in die Luft sprengen oder durchsieben zu lassen. Und hoffte, dass der abgetrennte Kopf nicht zu warm wurde. Vier Grad oder mehr über die Dauer einer halben Stunde, und das Einzige, was sie noch aus dem Schädel extrahieren würden, war graue Suppe.

Eine der Drohnen schoss eine auf sie zufliegende Granate ab, ehe sie hinter der Bar landen und sie alle in menschliches Geschnetzeltes verwandeln konnte, und eine gewaltige Explosion erschütterte den Raum. Rasch schob Ariane die Mündung ihrer Skorpyon über den Tresen und gab auf gut Glück ein paar ungezielte Schüsse ab. Eine Mischung aus Wuchtgeschossen, Leuchtspurmuni und einer Handvoll Hex-Patronen, um die Hab-Bewohner in Angst und Schrecken zu versetzen. Grelle Mündungsblitze und Explosionen flackerten und zuckten wild durch die Bar.

Direkt neben Ariane duckte sich mühsam der riesige Jaddi Coto hinter den Tresen und steuerte museumsreif via Headset und Controller die verbliebenen Drohnen. Überall an seiner hünenhaften Gestalt baumelten Waffen, mit Karabinerhaken in die Knochenschlaufen gehakt, die in seinen eigenen Körper eingelassen oder darin gewachsen waren – in der dicken, genetisch gezüchteten schwarzen Rhinodermis, die ihn vor kleinkalibrigen Schüssen und Explosionen ebenso zuverlässig schützte wie die Mäntel, die Sephina und Ariane trugen. Trotzdem trug er zusätzlich noch einen der besagten Mäntel. So wie alle Mannschaftsmitglieder der Regret. Es kennzeichnete sie als Clan. Als Familie.

Ich sollte den Scheiß mal besser nicht so romantisieren, dachte Sephina, und im nächsten Augenblick erhaschte sie in einem der zersplitterten Spiegel hinter der Bar eine geisterhafte Bewegung: Einer von Tantos Männer versuchte, ihnen von links in die Seite zu fallen. Auch der Yamaguchi-gumi-Soldat, der sich geschmeidig zwischen Trümmern und Leichen hindurchwand, hatte seinen Clan, und dieser Clan hatte vor, den ihren auszulöschen.

Das Sperrfeuer der anderen Gumis legte noch einen Zacken zu, vermutlich, um sie von dem Killer abzulenken, der sich zu ihnen vorarbeitete wie eine menschliche Schlange. Sephina fragte sich, ob dieser Bursche wohl ein Spezialist war, ob man ihn gezielt für diesen Zweck designt und in einem Tank herangezüchtet hatte, oder ob die YG erst nachträglich sein Erbgut bearbeitet und die körperliche Entscheidung angepasst hatten.

Egal.

»Coto! Auf drei Uhr, ganz unten!«, rief sie.

»Nee«, ächzte der Drohnenpilot. »Kann nicht.«

Er war vollauf damit beschäftigt, sie gegen das Bombardement abzuschirmen. Was, wie sie annahm, Sinn und Zweck eines derartigen Bombardements war.

»Scheiße.«

»Ich kümmere mich drum, Süße«, zischte Ariane, rammte ein neues Magazin Chamäleon-Munition in ihre Pistole und versuchte, über Sephina hinweg zum anderen Ende des Tresens zu krabbeln und von Angesicht zu Angesicht auf den herankriechenden Killer zu schießen. Sie war regelrecht mit Alkohol getränkt, nass und klebrig. Aus einem tiefen Schnitt lief Blut über ihr wunderschönes Gesicht, in dem ein freches Lächeln erblühte, als sie die Gelegenheit nutzte, sich rasch im Vorbeikriechen an Sephina zu reiben.

»Wag es nicht, Mädchen!«, schrie Seph gegen Kugelhagel und die Schreie der Sterbenden an. Sie packte Ariane an der Schulter und riss sie zurück. Die junge Frau protestierte, leistete aber keinen Widerstand.

»Zielübungen«, rief Sephina und zog eine Flasche mit durchsichtiger Flüssigkeit unter der Bar heraus. Das Etikett pries den Inhalt als 90-prozentigen echten Balkan-Wodka an, aber Taros Bar führte so extravagante Spezialitäten nicht. Sie war sicher, dass es einfach nur irgendeine billige Ghetto-Plörre war, hier im Hab gebrannt. »Leuchtspurgeschosse. Weit streuen.«

Ariane begriff, was sie vorhatte, und lächelte. Es war kein freundliches Lächeln. Sie schnippte den Schalter ihrer Skorpyon auf die richtige Position und hielt sich bereit. In einem hohen Bogen warf Sephina die Flasche über die Bar, ungefähr dorthin, wo sie den Killer vermutete. Ariane traf ihr Ziel bereits mit dem ersten Schuss, und beide zuckten zurück und schlossen fest die Augen, um sie vor der gleißenden Helligkeit und der Hitze zu schützen, die glühend über sie hinwegstrich.

Sie sahen nicht, ob sie den Typen erwischt hatten, aber sie konnten seine Schreie hören