Die Kameliendame - Alexandre Dumas - E-Book + Hörbuch

Die Kameliendame E-Book und Hörbuch

Dumas Alexandre

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Beschreibung

Bei der Besitzversteigerung der toten Marguerite Gautier, einer nach ihrer Lieblingsblume »Kameliendame« genannte Kurtisane, trifft der Erzähler auf ihren ehemaligen Geliebten, Armand Duval, der die Geschichte seiner Liebe erzählt. Nachdem sie sich kennen gelernt und ineinander verliebt haben, gibt Marguerite ihr früheres Leben auf, um mit ihm zusammenzuleben. Armands Vater ergreift Maßnahmen, um die Beziehung zu unterbinden, da Marguerite dem Glück und dem Ansehen seines Sohnes sowie der Familie im Wege steht. Marguerite verlässt schließlich aus Liebe zu Armand das Anwesen. Später erfährt Armand, dass sie ihr bisheriges Leben wieder aufgenommen hat. Von den wahren Beweggründen ihres Handelns weiß er nichts. Im Ausland erfährt Armand von Marguerites Krankheit, die ihr ausschweifendes Leben noch intensiviert hat, um auf diese Weise ihren Tod zu beschleunigen. In Toulon erfährt er schließlich von ihrem Tod. Die wahren Gründe ihres Verhaltens erfährt er erst durch einige Briefe Marguerites.

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Seitenzahl: 306

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Zeit:7 Std. 3 min

Sprecher:Senta Vogt
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Alexandre Dumas

Die Kameliendame
Inhaltsverzeichnis
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX
XXI
XXII
XXIII
XXIV
XXV
XXVI
XXVII
Impressum

I

 

Ich bin der Ansicht, daß man Personen nur dann erfinden kann, wenn man die Menschen sehr genau studiert hat, wie man eine fremde Sprache auch nur dann sprechen kann, wenn man sie ernsthaft erlernt hat. Noch bin ich nicht alt genug, um erfinden zu können. Deshalb begnüge ich mich damit, nachzuerzählen. Ich bitte den Leser, von der Wahrhaftigkeit dieser Erzählung überzeugt zu sein. Alle Personen, mit Ausnahme der Heldin, leben noch. Übrigens befinden sich in Paris Augenzeugen, die die meisten der hier zusammengefaßten Begebenheiten miterlebt haben. Sie können, falls man mir nicht glauben sollte, die Wahrhaftigkeit bestätigen. Ein eigenartiger Zufall spielte mir alle Einzelheiten in die Hände, so daß ich allein in der Lage bin, darüber zu schreiben. Ohne dieses Wissen wäre eine fesselnde und vollständige Wiedergabe unmöglich. Am zwölften März 1847 las ich in der Rue Lafitte ein großes, gelbes Plakat, das eine Nachlaßversteigerung von Möbeln und wertvollen Raritäten ankündigte. Der Name der Verstorbenen war nicht angezeigt, wohl aber, daß die Versteigerung am Sechzehnten um fünf Uhr in der Rue d'Antin Nr. 9 stattfinden sollte. Außerdem wurde bekanntgegeben, daß man am Dreizehnten und Vierzehnten die Wohnung und das Mobiliar besichtigen könne. Schon immer bin ich ein Liebhaber von erlesenen Gegenständen gewesen. Deshalb nahm ich mir vor, diese Gelegenheit nicht zu versäumen. Wenn ich auch nicht beabsichtigte, etwas zu kaufen, so wollte ich doch dabeisein. Am nächsten Morgen begab ich mich in die Rue d'Antin Nr. 9. Es war noch früh, und doch waren schon viele Besucher und vor allem Besucherinnen in der Wohnung. Mit Erstaunen, ja mit Bewunderung betrachteten sie den Luxus, der sie umgab, obgleich sie selbst auch Samtroben und Kaschmirschale trugen und ihre eleganten Wagen unten vor dem Portal warteten. Bald jedoch verstand ich ihr Staunen. Ich sah mich genauer um und konnte unschwer feststellen, daß ich mich in der Wohnung einer Kurtisane befand. Nichts interessiert die Damen der Gesellschaft - und es waren auch Damen der Gesellschaft anwesend - mehr als die Gemächer dieser Frauen, deren Wagen jeden Tag die ihren mit Schmutz bespritzen. Sie haben neben ihnen eine Loge in der Oper und im Schauspiel und halten Paris mit ihrer auffallenden Schönheit, ihrem Schmuck und ihren Skandalen in Atem. Die, bei der ich mich hier befand, war gestorben. Die tugendhaftesten Frauen durften nun bis in ihre Gemächer vordringen. Der Tod hatte die zwielichtige Atmosphäre geläutert. Übrigens konnten sie ja auch zu ihrer Entschuldigung, falls es notwendig sein sollte, sagen, daß sie zu einer Versteigerung kamen, ohne zu wissen, wer hier gewohnt hatte. Sie hatten die Plakate gelesen und wollten sich das ansehen, was sie ankündigten, und schon im voraus ihre Wahl treffen: nichts natürlicher als das. Und nichts hinderte sie daran, unter all diesen Kostbarkeiten nach den Geheimnissen des Kurtisanenlebens zu fahnden, von dem man ihnen sicher viel Seltsames erzählt hatte. Unglücklicherweise aber hatte das vergötterte Geschöpf seine Geheimnisse mit ins Grab genommen. Trotz aller Neugier konnten die Damen nur in Augenschein nehmen, was nach dem Tode versteigert werden sollte, und nicht in Erfahrung bringen, um welchen Preis alle diese Dinge erworben wurden. Indes konnte man hier wirklich wertvolle Dinge erstehen, Das Mobiliar war auserlesen. Rokokomöbel aus Rosenholz, Vasen aus Sevres- und Chinaporzellan, Meißener Figuren, Seide, Brokate und Spitzen, es fehlte nichts. Ich schlenderte durch die Wohnung und folgte den vornehmen Neugierigen. Sie betraten einen Raum, dessen Wände mit kostbaren persischen Wandbehängen ausgestattet waren. Ich wollte ihnen folgen, als sie fast im selben Augenblick wieder herauskamen, verlegen lächelnd, als schämten sie sich dieser Sehenswürdigkeit. Nun wünschte ich um so lebhafter, diesen Raum zu sehen. Es war das Boudoir, und unzählige zierliche Toilettengegenstände zeugten von der maßlosen Verschwendungssucht der Verstorbenen. An der Wand stand ein Tisch, sechs Fuß lang und drei Fuß breit, auf dem alle Kostbarkeiten von Aucoc und Odiot glitzerten. Es war eine wundervolle Sammlung, und keiner der vielen Toilettengegenstände, die so notwendig sind für diese Frauen, war nicht aus Gold oder wenigstens aus Silber. Alle diese Dinge mußten nach und nach und nicht durch ein einziges Liebesverhältnis zusammengekommen sein. Mir, der ich durchaus nicht entsetzt war beim Anblick des Boudoirs einer ausgehaltenen Frau, mir machte es Freude, die einzelnen Gegenstände näher zu betrachten. Dabei stellte ich fest, daß sie alle aufs wundervollste mit den verschiedensten Initialen und Kronen graviert waren. Ich bewunderte alle diese Kostbarkeiten, von denen jede einzelne eine Preisgabe des armen Mädchens bedeutete, und ich sagte mir, daß Gott sehr gütig zu ihr gewesen sei, weil er nicht gewollt hatte, daß sie eine der üblichen Folgen ihrer Lebensweise erdulde. Er hatte sie in ihrem Luxus und in ihrer Schönheit sterben lassen, bevor das Alter, dieser erste Tod der Kurtisanen, nahte. Gibt es wohl etwas Trostloseres, besonders für diese leichtlebigen Frauen, als das Alter? Ihre Reize schwinden, und sie entwürdigen sich immer mehr. Und die beständige Reue, nicht etwa wegen des schlechten Lebenswandels, sondern wegen der falschen Berechnungen und des unklug angelegten Geldes, ist eines der betrüblichsten Dinge, die es für sie gibt. Ich kannte eine einstmals sehr freigebige Dame, der von ihrer Vergangenheit nichts geblieben war als eine Tochter, die, wie ihre Zeitgenossen sagten, ebenso schön war, wie die Mutter es einst gewesen sei. Zu diesem armen Mädchen sagte die Mutter dann immer nur: »Du bist meine Tochter«, wenn sie von ihr forderte, daß sie im Alter von ihr versorgt werde, wie sie einst das Kind versorgt hatte. Das arme Wesen, es hieß Louise, gehorchte der Mutter und gab sich hin, ohne eigenen Willen, ohne Leidenschaft und ohne Freude, wie sie einen Beruf ausgeübt hätte. Diese beständige und allzu frühe Ausschweifung, geschürt durch eine immerwährende Kränklichkeit des Mädchens, hatten in ihr das Gefühl für Gut und Böse ersterben lassen, das Gott auch ihr sicher mitgegeben hatte und das bei ihr zu suchen niemand auf den Gedanken kam. Immer wieder muß ich an dieses junge Mädchen denken, das fast täglich zur gleichen Stunde auf den Boulevards zu sehen war. Ihre Mutter begleitete sie stets ebenso beharrlich, wie eine wahrhaft liebevolle Mutter ihre Tochter begleiten würde. Ich war damals noch sehr jung und bereit, für mein Teil die lockere Moral meines Jahrhunderts gutzuheißen. Ich erinnere mich indessen, daß derAnblick dieser skandalösen Überwachung mir Verachtung einflößte und mir eine häßliche Erinnerung hinterließ. Ich möchte noch hinzufügen, daß ich niemals auf dem Antlitz eines jungen Mädchens einen ähnlich unschuldigen und zugleich melancholischen Ausdruck gesehen habe. Man hätte sagen können, sie war die Gestalt gewordene Resignation. Eines Tages leuchtete das Antlitz des jungen Mädchens auf. Unter all den Ausschweifungen, die ihr die Mutter zumutete, schien Gott der Sünderin ein Glück bereitzuhalten. Und warum sollte er, der sie zu einer Sünderin werden ließ, warum sollte er sie ohne Trost die leidvolle Last ihres Lebens tragen lassen? Eines Tages also stellte sie fest, daß sie in Hoffnung war, und alles noch Ehrbare in ihr zitterte vor Freude. Die Seele hat seltsame Schlupfwinkel! Louise beeilte sich, die für sie so beglückende Neuigkeit ihrer Mutter mitzuteilen. Was nun geschah, ist so schändlich, daß man wohl besser daran täte, es zu verschweigen, wenn es nicht notwendig wäre, diese bitteren Tatsachen von Zeit zu Zeit vom Martyrium dieser Wesen künden zu lassen; dieser Wesen, die man verdammt, ohne sie zu hören, die man verachtet, ohne ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es ist schändlich, aber die Mutter antwortete dem jungen Mädchen, sie hätten nicht einmal genug für zwei, und für drei würde es niemals reichen. Derartige Kinder seien unnütz, und eine Schwangerschaft bedeute nur verlorene Zeit. Am nächsten Morgen kam zu Louise eine sogenannte Hebamme, besser gesagt eine Freundin der Mutter. Als die Tochter nach einigen Tagen wieder das Bett verließ, war sie noch blasser und hinfälliger als zuvor. Drei Monate später verliebte sich ein Mann in Louise. Er hatte Mitleid mit ihr und wollte sie seelisch und körperlich heilen. Aber die letzte Erschütterung war zu heftig gewesen, und sie starb bald an den Folgen des erzwungenen Kindbettes. Die Mutter lebt noch. Warum? Das weiß Gott allein. Diese Begebenheit kam mir wieder in den Sinn, während ich die silbernen Gegenstände betrachtete. Offenbar war über diesen Gedanken geraume Zeit verstrichen, denn in der Wohnung waren nur noch ich und ein Wärter, der von der Tür aus aufmerksam beobachtete, ob ich nichts mitnahm. Ich näherte mich dem guten Mann, dem ich so verdächtig erschien. »Können Sie mir sagen«, fragte ich ihn, »wer hier gewohnt hat?« »Fräulein Marguerite Gautier.« Ich kannte dieses Mädchen nicht nur dem Namen nach, ich hatte es auch gesehen. »Wie«, rief ich aus, »Marguerite Gautier ist gestorben?« »Ja, mein Herr.« »Und wann?« »Vor drei Wochen etwa.« »Und warum läßt man die Wohnung besichtigen?« »Die Gläubiger sind der Ansicht, es würde den Ertrag der Versteigerung erhöhen. Man kann im voraus die Wirkung der Stoffe und der Möbel sehen und kauft dann eher.« »Hatte sie denn Schulden?« »Oh, mehr als genug!« »Aber die Versteigerung wird sie decken?« »Mehr als das.« »Und wer bekommt den Überschuß?« »Ihre Familie.« »Hat sie denn Familie?« »Es scheint so.« »Ich danke Ihnen.« Der Wärter war beruhigt, denn mein Interesse erklärte mein langes Verweilen. Er grüßte mich, und ich verließ die Wohnung. Armes Mädchen, dachte ich, als ich nach Hause ging. Sie muß unter sehr traurigen Umständen gestorben sein, denn in ihrer Welt hat man nur Freunde, wenn man gesund ist. Ich weiß nicht weshalb, aber ich bedauerte den Tod Marguerite Gautiers. Vielleicht mag ich manchen Menschen lächerlich erscheinen, aber ich habe eine unerschöpfliche Nachsicht mit Kurtisanen. Ich gebe mir nicht einmal die Mühe, die Ursache dieser Nachsicht zu ergründen.

II

 

Die Versteigerung war am Sechzehnten. Man hatte zwischen die Besichtigung und die Auktion einen Tag eingeschoben, damit die Tapezierer die Wandbespannungen und die Vorhänge abnehmen konnten. Ich war zu jener Zeit gerade von einer Reise zurückgekehrt. Daß mir meine Freunde Marguerites Tod nicht unverzüglich als eine der großen Neuigkeiten der Metropole der Sensationen erzählt hatten, war natürlich. Zwar war Marguerite sehr schön. Aber soviel Aufsehen auch das Leben dieser Frauen verursacht, sowenig beeindruckt ihr Tod. Sie sind wie die Sterne, die ohne viel Aufhebens untergehen, wie sie aufgegangen sind. Von ihrem Tod, wenn sie jung sterben, erfahren fast alle ihre Liebhaber gleichzeitig. Denn in Paris sind die Freunde dieser Mädchen fast alle gut miteinander befreundet. Einige Erinnerungen werden über sie ausgetauscht, und das Leben aller läuft weiter, ohne daß dieses Ereignis sie auch nur eine Träne kostet. Wenn man fünfundzwanzig Jahre alt ist, dann vergießt man kostbare Tränen nicht bei jeder Gelegenheit. Es will schon viel heißen, wenn man Eltern, denen man das Leben verdankt, beweint. Mich dagegen, obgleich meine Initialen sich auf keinem der Toilettengegenstände von Marguerite befanden, mich ließen meine angeborene Nachsicht und mein Mitleid viel länger an ihren Tod denken, als sie es vielleicht verdient hatte. Ich erinnere mich, daß ich Marguerite oft auf den Champs-Elysées begegnet war. Man sah sie dort bei jedem Wetter in ihrem kleinen, blau ausgeschlagenen Wagen mit den zwei wundervollen Pferden davor. Ich hatte damals eine Zurückhaltung bei ihr festgestellt, durch die sie sich von den anderen ihrer Art unterschied, was ihre außergewöhnliche Wirkung noch erhöhte. Im allgemeinen sind diese Geschöpfe bei ihren Ausfahrten nie ohne Begleitung. Da aber kein Mann es wagt, seine nahen Beziehungen zu ihnen der Öffentlichkeit preiszugeben, und sie wiederum die Einsamkeit fürchten, nehmen sie entweder weniger Glückliche, die keinen eigenen Wagen haben, oder irgendeine verblühte Kurtisane mit, deren Eleganz durch nichts gerechtfertigt ist und an die man sich ungeniert wenden kann, wenn man Näheres über ihre jugendliche Begleiterin erfahren möchte. Marguerite verhielt sich anders, sie fuhr immer alleine und so unauffällig als möglich in ihrem Wagen durch die Champs-Elysées. Im Winter war sie in einen großen Kaschmirschal gehüllt, im Sommer trug sie schlichte Kleider. Auf ihrem Lieblingsweg traf sie natürlich sehr viele Bekannte. Doch wenn sie einem zufällig ihr Lächeln schenkt, so war es nur für ihn zu erkennen, und eine Herzogin hätte nicht verschwiegener auszeichnen können. Sie stieg nicht aus und spazierte nicht um den Rond-Point, wie die anderen es noch heute tun. Ihre beiden Pferde brachten sie auf dem kürzesten Weg in den Bois. Dort erst ging sie eine Stunde spazieren und kehrte dann im Trab nach Hause zurück. An alle diese Einzelheiten, die ich ein paarmal miterlebt hatte, mußte ich denken. Ich bedauerte den Tod dieses Mädchens, wie man die völlige Vernichtung eines schönen Kunstwerkes bedauert. Es war wirklich unmöglich, einer reizenderen Schönheit als Marguerite zu begegnen. Groß und fast allzu schlank, besaß sie die seltene Gabe, dieses Versäumnis der Natur durch die geschickte Anordnung ihrer Kleider zu verbergen. Ihr Kaschmirschal, dessen Spitzen die Erde berührten, ließ zu beiden Seiten die weiten Volants ihres Seidenkleides sehen. Und der große Muff, der ihre schönen Hände verbarg, und den sie gegen ihre Brust drückte, war so geschickt mit Falten umrahmt, daß nichts auszusetzen war, so sehr er auch zu ihrer Zierlichkeit in Kontrast stand. Ihr wundervoller Kopf war eine einzigartige Laune der Natur. Er war winzig klein, und ihre Mutter hatte ihn, wie Musset sagen würde, deshalb so klein werden lassen, damit er im einzelnen vortrefflich sei. Denken Sie sich ein Oval von unbeschreiblicher Anmut, darin zwei schwarze Augen, über denen die Brauen in so reinen Bogen verlaufen, daß sie wie gemalt scheinen. Denken Sie sich weiter lange Wimpern, die beim Senken der Lider Schatten auf die Rosenwangen werfen, eine schlanke Nase, gerade und geistvoll, die ein wenig geschwungenen Nasenflügel verraten Lebenslust und Sinnenfreude. Wenn sie ihren regelmäßigen Mund anmutig öffnet, schimmern ihre milchweißen Zähne. Ihre Haut ist, den Pfirsichen ähnlich, die noch keine Hand berührt hat, wie mit Flaum überzogen und samtweich. Jetzt haben Sie ihren entzückenden Kopf vor sich. Ihre pechschwarzen Haare, die anscheinend natürlich gelockt waren, umrahmten ihr Antlitz und ließen die Ohrläppchen frei, in denen zwei Diamanten blitzten, die jeder vier- bis fünftausend Francs wert waren. Wie ging es zu, daß das leidenschaftliche Leben den charakteristischen Zug in Marguerites Antlitz, den jungfräulichen, fast möchte ich sagen kindlichen Ausdruck nicht zerstörte? Man ist gezwungen, es festzustellen, ohne es begreifen zu können. Marguerite besaß ein wundervolles Porträt von sich, von Vidal gemalt, dem einzigen Menschen, dessen Kunst ihr gerecht werden konnte. Ich habe es nach ihrem Tode einige Tage zur Verfügung gehabt. Es ist von so verblüffender Ähnlichkeit, daß es mir dort eine große Hilfe war, wo ich mich auf mein Gedächtnis nicht ganz verlassen konnte. Einige Einzelheiten dieses Kapitels sind mir erst im Laufe der Zeit bekanntgeworden. Ich schreibe sie aber jetzt schon nieder, damit ich sie nicht später einflechten muß, weil nun die Geschichte dieser Frau beginnen wird. Marguerite wohnte allen gesellschaftlichen Ereignissen bei und besuchte jeden Abend das Theater oder den Ball. Sooft ein neues Stück gegeben wurde, konnte man sicher sein, sie dort zu finden und ebenso drei Dinge, die sie immer bei sich hatte und die vor ihr auf der Brüstung der Parterreloge lagen: ihr Opernglas, eine Bonbonniere und ein Strauß Kamelien. An fünfundzwanzig Tagen im Monat waren die Kamelien weiß und an fünf Tagen rot. Niemand hat den Grund für diesen Farbenwechsel, den ich erwähne, ohne ihn erklären zu können, je erfahren. Die Besucher ihres Lieblingstheaters und alle ihre Freunde haben es aber ebenso wie ich beobachtet. Man hat Marguerite niemals mit anderen Blumen als Kamelien gesehen. Im Laden der Madame Barjon, ihrer Blumenverkäuferin, wurde ihr deshalb der Beiname »die Kameliendame« gegeben, und dieser Beiname war ihr geblieben. Ich und alle anderen eines gewissen Pariser Kreises wußten, daß Marguerite die Geliebte der elegantesten jungen Leute war. Sie selbst erzählte es, auch die jungen Herren rühmten sich dessen - ein Zeichen dafür, daß Liebhaber und Geliebte nichts aneinander auszusetzen hatten. In letzter Zeit hieß es, sie würde seit ihrer Reise nach Bagneres, die drei Jahre zurücklag, nur noch mit einem alten, ausländischen Herzog zusammenleben. Er war unermeßlich reich und hatte so weit als möglich versucht, sie von ihrem früheren Leben zu lösen, was sie offenbar gutwillig geschehen ließ. Folgendes hat man mir darüber berichtet: Im Frühling des Jahres 1842 war Marguerite so zart und angegriffen, daß dieÄrzte ihr Bäder verordneten. Also reiste sie nach Bagneres. Unter den Kranken dort befand sich auch die Tochter des Herzogs. Sie hatten nicht nur die gleiche Krankheit, sondern sahen sich auch so ähnlich, daß man sie für Schwestern halten konnte. Nur war die junge Herzogin bereits im höchsten Grad schwindsüchtig, und wenige Tage nach Marguerites Ankunft verschied sie. Der Herzog war in Bagneres geblieben, weil man gerne dort verweilt, wo ein Teil unseres Herzens begraben liegt. Eines Tages begegnete er an einer Wegbiegung Marguerite. Ihm war es, als sähe er den Schatten seines Kindes. Auf sie zueilend, ergriff er ihre beiden Hände, umarmte sie und erbat von ihr, ohne nach ihrem Namen zu fragen, die Erlaubnis, sie sehen und in ihr das Abbild seines toten Kindes Sehen zu dürfen. Marguerite, die mit ihrer Kammerfrau alleine in Bagneres weilte und im übrigen nicht zu befürchten brauchte, sich zu kompromittieren, gewährte dem Herzog seine Bitte. Es waren jedoch in Bagneres Menschen, die sie kannten und die sich beeilten, den Herzog über Fräulein Gautier aufzuklären. Das war eine bittere Enttäuschung für den alten Mann, denn in diesem Punkte war sie seiner Tochter nicht ähnlich. Aber die Warnungen kamen zu spät, die junge Frau war seinem Herzen schon zu teuer geworden, ja sie war der einzige Vorwand, die einzige Erklärung dafür, daß er noch lebte. Er machte ihr keinen Vorwurf, er hatte nicht das Recht dazu. Aber er bat sie, wenn sie sich dessen fähig fühlte, ihr Leben zu ändern. Für dieses Opfer bot er ihr jede Entschädigung an, die sie sich nur wünschen konnte. Sie versprach ihm, seinen Wunsch zu erfüllen. Es muß gesagt werden, daß Marguerite, an und für sich schwärmerisch und leidenschaftlich veranlagt, damals sehr krank war. Ihr bisher zügelloses Leben erschien ihr als die Ursache ihrer Krankheit. Nun hoffte sie abergläubisch, Gott würde ihr Schönheit und Gesundheit erhalten als Ausgleich für Reue und Umkehr. Tatsächlich hatten die Bäder, die Spaziergänge, natürliche Müdigkeit und gesunder Schlaf sie einigermaßen wiederhergestellt, als der Sommer zur Neige ging. Der Herzog begleitete Marguerite nach Paris, wo er sie wie in Bagneres täglich sah. Die wahre Ursache und den wahren Grund dieser Beziehung hat man niemals erfahren. Sie bedeutete für Paris eine Sensation, denn der Herzog, bekannt wegen seines großen Vermögens, machte jetzt durch seine Verschwendung von sich reden. Man sagte, die Verbindung der beiden beruhe auf der Sucht des Herzogs nach Ausschweifung, wie man sie häufig bei reichen, alten Männern findet. Man vermutete alles, nur nicht die Wahrheit.

III

 

Am Sechzehnten, um ein Uhr, begab ich mich in die Rue d'Antin. Schon am Eingangsportal hörte man die lauten Stimmen der Taxatoren. Die Wohnung war voll Neugieriger. Alle stadtbekannten Erscheinungen der Lebewelt waren anwesend. Sie wurden verstohlen von einigen vornehmen Damen gemustert. Noch einmal hatten sie die Auktion zum Vorwand genommen, um, ohne sich etwas zu vergeben, die seltene Gelegenheit wahrzunehmen, jene Frauen, die sie vielleicht insgeheim um ihre leichtfertigen Freuden beneideten, aus der Nähe zu sehen. Die Herzogin von F... berührte mit ihrem Ellenbogen fast Fräulein A..., eine der betrüblichsten Erscheinungen unter den derzeitigen Kurtisanen; die Marquise von T... zögerte, ein Möbelstück zu erwerben, als Frau D..., die zur Zeit eleganteste und bekannteste Ehebrecherin, mehr dafür bot; der Herzog von Y..., der in Madrid lebte, um sich in Paris zu ruinieren und umgekehrt, der sogar sein Geld für die Rückreise verschleuderte, plauderte mit Frau M... Als eine unserer geistvollsten Erzählerinnen schrieb sie von Zeit zu Zeit gern das nieder, was sie gesagt hatte, und sah ihren Namen gerne unter dem von ihr Geschriebenen. Gleichzeitig wechselte der Graf aber auch vertrauliche Blicke mit Frau N..., der elegantesten Müßiggängerin auf den Champs-Elysées. Ihre Kleider hatten fast immer die Farben Blau oder Rosa. Zwei kräftige, schwarze Pferde, die Toni ihr für zehntausend Francs verkauft hatte und die sie auch bezahlt hatte, zogen ihren Wagen. Endlich war noch Fräulein von R... anwesend, die sich mit ihren Verführungskünsten das Doppelte von dem verdient hatte, was eine reiche Frau allgemein als Mitgift erhält, und das Dreifache von dem, was ihre Gefährtinnen sich erwarben. Trotz der Kälte war sie gekommen, um einiges zu ersteigern, und wurde nicht wenig beachtet. Viele der Anwesenden, die sich gegenseitig mit erstaunten Blicken maßen, konnten wir noch mit Namen nennen, müßten wir nicht befürchten, den Leser damit zu ermüden. Wir wollen nur noch die merkwürdig anmutende Heiterkeit aller Anwesenden erwähnen, und daß viele von ihnen die Verstorbene gekannt hatten, sich ihrer jetztaber nicht mehr zu erinnern schienen. Überall wurde laut gelacht. Die Taxatoren schrien aus vollem Halse. Die Händler hatten die Bänke vor den Verkaufstischen überflutet und bemühten sich vergebens um Ruhe, um ihre Geschäfte ungestört abwickeln zu können. Eine buntere und lärmendere Gesellschaft ließ sich nicht denken. Bescheiden schob ich mich in den für mein Gefühl unangemessenen Tumult hinein und mußte daran denken, daß gleich nebenan in dem Gemach das arme Wesen, dessen Mobiliar hier zur Deckung seiner Schulden versteigert wurde, sein Leben ausgehaucht hatte. Da ich nicht gekommen war, um zu kaufen, sondern um zu beobachten, betrachtete ich die Gesichter der Lieferanten, die versteigern ließen. Jedesmal, wenn ein Gegenstand einen höheren Preis erzielte, als sie gedacht hatten, hellten sich ihre Züge auf. So also sahen Vertreter des ehrbaren Handelsstandes aus, die mit der Käuflichkeit dieser Frau spekuliert hatten. Cent um Cent hatten sie an ihr verdient, sie bis in die letzte Stunde ihres Lebens mit Wechseln verfolgt und waren nun nach ihrem Tode gekommen, um die Früchte ihrer Spekulationen und die Wucherzinsen für ihre Anleihen einzutreiben. Mit Recht hatte man in der Antike für die Händler und für die Diebe ein und denselben Gott. Die Kleider, die Schale und der Schmuck waren rasch verkauft. Ich wartete noch, denn von diesen Dingen hatte mich nichts interessiert. Plötzlich hörte ich rufen: »Ein Buch, wundervoll gebunden, mit Goldschnitt, Titel: Manon Lescaut. Es ist etwas hineingeschrieben, auf die erste Seite: Zehn Francs!« »Zwölf«, sagte eine Stimme nach kurzer Pause. »Fünfzehn«, ich. Warum? Ich wußte es selbst nicht. Vielleicht deshalb, weil etwas hineingeschrieben war. »Fünfzehn«, wiederholte der Taxator. »Dreißig!« rief der erste Interessent, in einem Ton, der zum Mehrbieten herausforderte. Es wurde ein Kampf. »Fünfunddreißig!« rief ich im gleichen Ton. »Vierzig.« »Fünfzig.« »Sechzig.« »Hundert.« Ich muß gestehen, daß es mir mit diesem letzen Gebot gelungen war, alle zu beeindrucken. Es folgte eine Stille, und man musterte den Mann, der sich um jeden Preis in den Besitz des Buches setzen wollte. Es schien so, als ob der Ton, in dem ich das letzte Wort gesagt hatte, meinen Gegner weit mehr besiegte als die Höhe der Summe: er gab den Kampf auf, der für mich damit endete, daß ich das Buch zu dem zehnfachen Preis seines Wertes erwarb. Mein Gegner verbeugte sich und sagte sehr höflich, wenn auch ein wenig spät: »Ich verzichte, mein Herr.« Niemand überbot mich, und das Buch wurde mir zugesprochen. Da ich einen erneuten Kampf fürchtete, der, dessen war ich gewiß, wieder zu meinen Gunsten entschieden würde, dem aber mein Geldbeutel nicht gewachsen war, so ließ ich meinen Namen einschreiben, das Buch zurücklegen und ging fort. Ich hätte viel darum gegeben, wenn ich die Gedanken der Menschen hätte lesen können, die der Szene beigewohnt hatten. Sicher fragten sie sich, weshalb ich für ein Buch hundert Francs zahlte, das ich für zehn, höchstens fünfzehn Francs in jedem Laden kaufen konnte. Eine Stunde später ließ ich mein ersteigertes Buch abholen. Auf der ersten Seite stand mit Tinte in eleganter Handschrift eine Widmung, zweifellos von dem, der ihr das Buch geschenkt hatte. Sie bestand nur aus diesen Worten:

Manon für Marguerite In Demut Unterschrieben war: Armand Duval. Was sollte das Wort »Demut« bedeuten? War Marguerite nach Ansicht des Herrn Armand Duval Manon an Verworfenheit oder an Empfindsamkeit überlegen? Die zweite Deutung war die wahrscheinlichere. Die erste wäre eine Ungezogenheit gewesen, die Marguerite sich niemals hätte gefallen lassen, trotz der Meinung, die sie von sich selber hatte. Ich ging noch einmal aus und beschäftigte mich mit dem Buch erst wieder am Abend vor dem Einschlafen. Oh, gewiß, »Manon Lescaut« ist eine rührende Geschichte. Jede Einzelheit ist mir vertraut. Aber da ich das Buch nun einmal in der Hand hielt und es mich immer wieder anzieht, öffnete ich es und erlebte zum hundertsten Male die Ereignisse im Dasein der Heldin des Abbe Prevost mit. Diese Manon ist so lebendig, daß mir oft so ist, als habe ich sie gekannt. Unter diesen veränderten Umständen, der Möglichkeit eines Vergleiches zwischen ihr und Marguerite, hatte diese Lektüre für mich eine neue, unerwartete Anziehungskraft. In meine Nachsicht mischte sich Mitleid, fast muß ich sagen: Liebe für dieses arme Kind, aus dessen Nachlaß der Band stammte. Manon war in der Wüste gestorben, ja, aber in den Armen des Mannes, der sie mit allen Fasern seines Herzens geliebt hatte, der der Toten mit seinen Händen ein Grab aushöhlte, es mit seinen Tränen netzte und sein eigenes Herz mit in die Erde legte. Marguerite indessen, Sünderin wie Manon und vielleicht wie diese reuig bekehrt, war, wenn ich dem glaubte, was ich gesehen hatte, umgeben von Glanz und Pracht gestorben, auf dem Lager einer bewegten Vergangenheit, aber dennoch auch in einer Wüste, in der Wüste des Herzens nämlich, die noch viel rauher, viel verlassener, viel mitleidsloser ist als die, in der man Manon begraben hatte. Tatsächlich hatte Marguerite auf ihrem Lager in den zwei Monaten ihres langsamen und schmerzvollen Dahinsiechens keinen wirklichen Trost erfahren, wie ich von Freunden gehört hatte, die über die letzte Zeit etwas wußten. Von Manon und Marguerite wanderten meine Gedanken weiter zu allen denen, die ich kannte und die ich heiteren Gemütes einem Tod entgegengehen sah, der fast immer der gleiche ist. Arme Wesen! Wenn es ein Irrtum ist, sie zu lieben, so muß man sie doch wenigstens bedauern. Bedauert man doch den Blinden, der nie das Tageslicht sah, den Tauben, der niemals die Laute der Natur vernahm, den Stummen, der niemals seine Seele in Worte fassen konnte. Und aus falscher Scham will man nicht diese Blindheit des Herzens, diese Stummheit der Seele, dies Schweigen des Gewissens bedauern, die diese armen Unglücklichen verwirren, die sie, gegen ihren eigenen Willen, unfähig machen, das Gute zu sehen, den Erlöser zu hören und die Sprache der reinen Liebe und des reinen Glaubens zu sprechen. Victor Hugo hat eine Marion Delorme geschaffen, Musset eine Bernerette, Alexander Dumas eine Fernande, die Dichter und Denker aller Zeiten haben der Kurtisane das Opfer ihrer Barmherzigkeit gebracht. Manchmal hat ein vornehmer Mann sie rehabilitiert und ihnen seine Liebe, ja sogar seinen Namen gegeben. Wenn ich diesen Punkt so wichtig nehme, dann deshalb, weil viele, die mein Buch zu lesen begonnen haben, im Begriff sind, es schon wieder zur Seite zu legen, da sie fürchten, nur eine Verteidigungsrede des Lasters und der käuflichen Liebe zu finden. Das Alter des Autors ist zweifellos dazu geeignet, diese Befürchtung zu bekräftigen. Ich wünschte, wer so denkt, möge seinen Irrtum einsehen und in der Lektüre fortfahren, falls diese Furcht allein ihn daran hindern sollte. Ich bin ganz einfach davon überzeugt, daß Gott für die Frau, die nicht zum Guten erzogen wurde, fast immer zwei Wege, die wieder zu ihm führen, bereithält: das Leid und die Liebe. Beide sind mühselig, und die auf ihnen wandeln, stoßen sich die Füße wund und blutig, zerreißen sich die Hände, aber sie lassen gleichzeitig an den Dornen am Wege das Laster zurück und stehen endlich rein und ohne erröten zu müssen vor dem Herrn. Alle, die diese tapferen Wanderinnen treffen, müssen sie ermutigen und allen Menschen von ihrer Begegnung erzählen, denn wenn sie es laut aussprechen, weisen sie damit auf den Weg hin. Es kann sich nicht darum handeln, an den Anfang des Lebens zwei Tafeln zu stellen, auf denen der Hinweis »Der Weg zum Guten« und die Warnung »Der Weg zum Bösen« stehen und nun jedem Vorübergehenden zu sagen: Wähle! Man muß wie Christus denen, die auf Abwege gerieten, die Pfade vom zweiten zurück zum ersten zeigen, und es wäre gut, wenn diese Pfade zu Beginn nicht allzu beschwerlich wären oder allzu unbegehbar erschienen. Das Christentum predigt uns mit seinem wundervollen Gleichnis vom verlorenen Sohn Nachsicht und Verzeihen. Jesus war voller Liebe für die von menschlichen Leidenschaften verwundeten Seelen. Er linderte den Schmerz oft dadurch, daß er den Balsam zur Heilung den Wunden selbst entnahm. So sagte er zu Magdalena: »Es wird dir viel vergeben werden, weil du viel geliebt hast«, eine erhabene Verzeihung, die einen erhabenen Glauben erwecken muß. Warum wollen wir unversöhnlicher sein als Christus? Warum wollen wir hartnäckig die Haltung dieser Welt einnehmen, die sich unbarmherzig zeigt, um stark zu scheinen? Warum die blutenden Seelen zurückstoßen, aus deren Wunden, dem schlechten Blut eines Kranken vergleichbar, eine böse Vergangenheit ausströmt und die nur auf eine lindernde und heilende Freundeshand warten?

IV

 

Zwei Tage später war die Auktion abgeschlossen. Hundertfünfzigtausend Francs hatte sie eingebracht. Die Gläubiger teilten sich in zwei Drittel, die Familie, eine Schwester und ein kleiner Neffe erbten den Rest. Die Schwester traute ihren Augen nicht, als der Notar ihr schrieb, sie habe fünfzigtausend Francs geerbt. Die Geschwister hatten sich sechs oder sieben Jahre lang nicht gesehen. Marguerite war eines Tages spurlos verschwunden, und auch von anderen hatte man nicht das geringste über sie erfahren. Die Erbin war eilends nach Paris gekommen, und alle, die Marguerite gekannt hatte, sahen als Schwester der Verstorbenen mit Erstaunen ein kräftiges, schönes Landmädchen, das bisher noch nie sein Dorf verlassen hatte. Das Vermögen fiel ihr in den Schoß, und sie ahnte nicht, aus welchen Quellen es ihr unverhofft zugeflossen kam. Man erzählte mir, sie sei tief betrübt über den Tod ihrer Schwester in ihr Dorf zurückgekehrt, doch linderte das geerbte Geld den Schmerz bald. Alle diese Ereignisse beschäftigten Paris, die Metropole der Sensationen, einige Zeit, gerieten dann aber in Vergessenheit, und auch ich selbst interessierte mich kaum noch dafür. Da ereignete sich plötzlich etwas, was mich von dem ganzen Leben Marguerites in Kenntnis setzte. Die Einzelheiten sind so erschütternd, daß ich dem Bedürfnis, alles niederzuschreiben, nicht widerstehen kann - und so schreibe ich denn. Seit drei oder vier Tagen war Marguerites leere Wohnung zu vermieten. Da läutete es eines Morgens an meiner Tür. Mein Diener, oder besser, mein Hausmeister, der auch mein Diener war, öffnete und brachte mir eine Visitenkarte. Die Person, die sie ihm gegeben habe, sagte er, wolle mich gerne sprechen. Ich blickte auf die Karte und las die beiden Worte: Armand Duval. Ich überlegte, wo ich diesen Namen schon einmal gelesen hatte, und erinnerte mich: es war auf der ersten Seite von »Manon Lescaut«. Was konnte der Mensch, der Marguerite dieses Buch geschenkt hatte, von mir wollen? Ich befahl, ihn sofort hereinzuführen. Vor mir stand ein junger Mann: blond, groß, blaß, in einem Reiseanzug, den er offenbar seit einigen Tagen nicht gewechselt und nicht einmal abgebürstet hatte, denn er war voller Staub. Herr Duval war sehr bewegt und bemühte sich keineswegs, das zu verbergen. Er hatte Tränen in den Augen, und seine Stimme zitterte, als er mir sagte:

»Ich bitte Sie, zu entschuldigen, daß ich Sie aufsuche und noch dazu in diesem Aufzug. Aber junge Menschen genieren sich voreinander nicht sehr. Ich wünschte so sehnlich, Sie zu sehen, daß ich mir nicht die Zelt nahm, vorher das Hotel aufzusuchen, in das ich meine Koffer geschickt habe. Ich bin sofort zu Ihnen geeilt, denn trotz der frühen Stunde fürchtete ich, Sie nicht zu Hause anzutreffen.« Ich bat Herrn Duval, am Kamin Platz zu nehmen. Er tat es, während er aus seiner Tasche ein Tuch zog und für Augenblicke sein Gesicht darin verbarg. »Sie werden sich nicht denken können«, fuhr er mit einem traurigen Lächeln fort, »was dieser unbekannte Besucher, in diesem Aufzug und weinend, wie Sie mich sehen, zu dieser Stunde bei Ihnen sucht? Ich komme ganz einfach mit einer großen Bitte zu Ihnen.« »Bitte, sprechen Sie nur, ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.« »Sie waren auch auf der Versteigerung bei Marguerite Gautier?« Bei diesen Worten geriet der junge Mann, der sich einen Augenblick gefaßt hatte, erneut in eine so heftige Gemütsbewegung, daß er seine Augen mit den Händen bedecken mußte. »Ich muß Ihnen sehr lächerlich erscheinen«, fügte er rasch hinzu, »entschuldigen Sie, bitte, und glauben Sie mir, ich werde niemals vergessen, mit wieviel Geduld Sie mich anhören.« »Wenn der Dienst, den ich Ihnen offenbar erweisen kann«, erwiderte ich, »dazu beiträgt, Ihren Kummer auch nur ein wenig zu mildern, so sagen Sie mir rasch, wie dies geschehen kann, und ich werde mich glücklich schätzen, Ihnen behilflich zu sein.«