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Die Kinder der Kirschblüte – Teil 1&2 Hanna ist einsam. Sie hasst ihr Leben, die Welt, sich selbst. Nur im Internet findet sie Freunde und Verständnis. Als ihre Online Clique plant ein Zeichen zu setzen, sich zu wehren, gegen all die verfickten Arschlöcher und Mobber da draußen, da geraten die Dinge sehr schnell außer Kontrolle. Doch Hanna hat eine ganz besondere Gabe, eine Kraft von der sie bisher nichts wusste. Als diese Gabe durch Zufall in Hanna erwacht, ist nichts mehr wie es einmal war. Gejagt von der Polizei und einem mächtigen, unbekannten Feind, geht es plötzlich um Alles - und es gibt kein Zurück mehr. Die Kinder der Kirschblüte sind erwacht. Rezensionen zu Teil 1 (Auswahl): „ … Tolle, tiefgründige und interessante Charaktere, die man schnell ins Herz schließen kann. … Eine spannende Geschichte, mit vielen Überraschungen und tollem Schreibstil. …“ http://buch-junkie.blogspot.de „… Für Liebhaber von spannenden Jugendbüchern und Urban Fantasy – toller Schreibstil, spannende Entwicklung … “ http://www.bibliofeles.de „ … Ich fand das Zusammenspiel von Gegenwart, Vergangenheit und den fantastischen Elementen richtig toll. …“ http://linejasmin.blogspot.de „…Wenige Werke vermochten es, mich so aufzuwühlen, und keines schaffte es auf so wenigen Seiten. … Besonders gut gefallen hat mir dabei, dass der Autor so eindringlich aufzeigt, was Mobbing bei Kindern anrichten kann und dass die Sozialen Netzwerke dabei Segen und Fluch zugleich sein können. …“ http://ricas-fantastische-buecherwelt.blogspot.de
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Seitenzahl: 373
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Für all die wundervollen Menschen, die ich im Internet kennengelernt habe.
Danke, dass es euch gibt.
Teil 1: Die Kinder erwachen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Teil 2: Bahlheim
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Hanna lag in ihrem Bett, bereit zu sterben.
Einfach nur sterben, aus, alles vorbei. Endlich Ruhe. Sie war so unsagbar müde. Müde von dieser scheißverfickten Welt da draußen, von all dem Gerede, dem Generve, den Gerüchten, den miesen Sprüchen, all den Blicken, all den Arschlöchern um sie herum; und im großen Ganzen: all die Kriege, die Morde, das Leid, all die Ungerechtigkeit überall auf der Welt, wie sollte man damit nur klarkommen?
Und in ihr drin, da sah es nicht viel besser aus. Alles voll von verrotteten Gedanken und Gefühlen, eine unendliche Traurigkeit, die sie lähmte; Hass, Wahnsinn, ein Brennen in ihrem Kopf, ihrer Brust, ihrem Bauch. Sie konnte das alles nicht mehr ertragen, hatte keine Kraft mehr, um zu kämpfen. Mit diesem Körper, der nie so funktionierte, wie sie es gerade brauchte, wie sie es wollte. Sie war das alles so leid, so komplett leid. Sie wollte einfach nur noch Ruhe, sie wollte einfach nur sterben.
Das war an sich nichts Neues für Hanna. So weit sie zurückdenken konnte, war sie immer schon traurig gewesen, müde, allein, überfordert mit allem, außen und innen, kraftlos. Es war eine Mischung aus unglaublicher Einsamkeit, erdrückender, lähmender Traurigkeit, Angst, Abscheu vor der Welt, den Menschen gegenüber und dem brennendem, ohrenbetäubendem Lärm in ihrem Kopf. Momenten, in denen sie im Sekundentakt Explosionen von Emotionen fühlte, wenn sie versuchte, runterzukommen, die Augen schloss, tief ein- und ausatmete – dann rasten manchmal die Bilder des Tages an ihr vorbei, Gespräche, Geräusche, sie fühlte Angst, Scham, Hass, Wut alles gleichzeitig, während sie in Gedanken Menschen sah, reden hörte, immerzu reden, um sie herum, in der Schule, auf der Straße, im Bus. Es rauschte und explodierte in ihrem Kopf in einer Endlosschleife. Die Gefühle erdrückten sie, schnürten ihren Hals zu, bis sie zitternd in der Ecke kauerte und sich durch Schmerzen wieder Luft zum Atmen verschaffen musste, sich erdete, wie sie es nannte. Sie kannte das alles, sie hatte das alles tausendmal erlebt, sie hatte das alles so endlos satt. Nein, es war absolut nichts Neues. Neu war nur, dass in diesem Moment eine Nachricht von Sven auf ihrem Handy aufleuchtete.
Sie musste lächeln. Und das war definitiv auch neu. Es war natürlich kein breites Grinsen, kein Zahnfleischlächeln, nein, aber ihre Mundwinkel zuckten eindeutig nach oben, ganz kurz, ein Mal. Das Handy hatte aufgeleuchtet, und sie dachte, ja, so ist das, du bist das Licht in meiner dunklen Nacht. Und musste wieder lächeln, über sich selbst und diesen grottigen Schmalzdreck, den sie da dachte. Was war hier eigentlich los? Wie konnte eine WhatsApp-Nachricht, eine Person, es schaffen, sie so dermaßen schnell aus ihrem Loch, ihrem Gedankengefängnis zu reißen? Seit sie Sven kannte, schaffte er es immer wieder.
Sie hatte Sven noch nie getroffen, tatsächlich hatte sie ihn auch noch nie gesprochen. Sie kannten sich jetzt seit acht oder neun Monaten über das Internet. Er hatte ihre Website, ihren kleinen Blog, ihr Sammelsurium der Monstrositäten, wie sie es nannte, gefunden und sie kontaktiert, und sofort, von seiner ersten Mail an hatte sie das Gefühl, nicht mehr ganz so allein zu sein. Das Gefühl, dass dort draußen jemand war, der sie verstand. Also, so richtig verstand.
Natürlich hatte sie im Internet bereits viele mehr oder minder gleich gesinnte Freunde gefunden. In einem Forum, BlutigeTraenen.de, war sie seit mehr als zwei Jahren aktiv und hatte enge Freundschaften mit einigen Nutzern geknüpft, die genau wie sie todtraurig und allein waren, gefangen in einer tristen, feindlichen Welt. Die sich ritzten aus den unterschiedlichsten Gründen. Aber mit Sven war es irgendwie anders. Vom ersten Moment an spürte sie, dass da eine andere Ebene der Verbindung, der Freundschaft möglich sein könnte. Es lag irgendwie ein positives Versprechen, ein kleines, zartes Körnchen Hoffnung darin, wann immer sie Chaosprince98 las. Sein Online-Pseudonym.
Hanna wusste nicht, ob sie schizophren war, bipolar, Borderliner, depressiv oder was auch immer. Sie hatte natürlich online alles darüber gelesen, sich immer wieder selbst diagnostiziert, alle möglichen Online-Tests gemacht, aber irgendwie war es ihr am Ende auch scheißegal, was nun genau kaputt war in ihr drin: Sie wusste, es war einfach nicht zu reparieren. Sie wollte es auch gar nicht reparieren, sie wollte einfach nur ihre Ruhe. Bei einem Arzt, einer Therapeutin war sie nie gewesen. Ihre Mutter wusste ja auch gar nicht richtig Bescheid, was los war.
Das war eh sehr komisch, das mit ihrer Mutter – und das mit ihrem Vater sowieso. Ihr Vater war viel älter als ihre Mutter. Er war beruflich immer unterwegs und fast nie zuhause gewesen. Wenn er dann mal da gewesen war, hatte er nie viel mit Hanna geredet, hatte sie nur manchmal ganz fest in den Arm genommen, lange, sehr lange festgehalten, fast erdrückt, und dann hatte sie immer gespürt, dass er sie liebte, irgendwie, auf seine Art. Aber davon konnte sie sich jetzt auch nichts mehr kaufen, denn jetzt war er weg. Außerdem waren sie ständig umgezogen. Fast jedes Jahr, kreuz und quer durch Deutschland, bis vor drei Jahren. Seitdem war ihr Vater nicht mehr nach Hause gekommen, hatte sich nicht mehr gemeldet, hatte sich nicht verabschiedet, und sie waren hier wohnen geblieben, in diesem verpissten kleinen Kaff in der niedersächsischen Provinz.
Ihre Mutter arbeitete in der Stadtverwaltung, und sie versuchte wirklich, Hanna Liebe und Geborgenheit zu geben, im Rahmen ihrer bescheidenen Möglichkeiten, wie Hanna immer dachte. Aber sie scheiterte kläglich, vielleicht weil sie es selbst nie erfahren hatte. Hanna wusste es nicht, sie konnte mit ihrer Mutter nicht reden, über eigentlich gar nichts außer Einkaufslisten oder Fernsehshows. Ihre Mutter schien genau wie Hanna ihren eigenen Kampf zu führen, irgendwo tief drinnen in ihrem Kopf, und sie konnte, wollte nichts sagen über ihre eigene Traurigkeit oder über Hannas Vater oder über irgendwas, was irgendwie relevant gewesen wäre. Ihre Mutter schien immer nur sehr bedacht darauf zu sein, immer darauf hinzuarbeiten, dass alles ruhig war, alle still so taten, als wäre alles in Ordnung. Und so war Hanna komplett allein hier, allein mit sich und dem Wahnsinn in dieser Welt, allein mit sich und dem Wahnsinn in ihrem Kopf.
Aber online war alles besser, da war sie nicht allein, da hatte sie viele Freunde – und jetzt Sven. Er verstand sie, verstand ihren Hass, teilte ihren Zynismus, ihre Sicht auf die Welt und das Leben, ihre Einsamkeit, ihren Schmerz. Auch Sven war allein, hatte Eltern, die hohl, leblos wie Schaufensterpuppen waren, wie er immer sagte, die nur ein Kind wollten, das funktionierte. Er funktionierte aber nicht. Auch er war ein Außenseiter in der Schule, der im besten Fall ungesehen blieb, ignoriert wurde, im schlimmsten Fall das Ziel ätzender Sprüche, gemeinen Mobbings war. Mit ein paar anderen hatten sie im BlutigeTraenen-Forum eine kleine Gruppe gegründet. Eine Clique. Sven aka Chaosprince98, Hanna aka fehlkonstruktion, und noch ein paar andere, mehr oder minder stark aktiv, vor allem aber VioletPain, suki_chan, maerchenlos und BloodAngel. Sie teilten ihre Gedanken, ihren Schmerz, sie gaben sich Verständnis, Halt, Trost.
Manchmal schmiedeten sie auch gemeinsam Pläne, wie sie sich rächen wollten an den Arschlöchern in ihrer Schule, ihrer Stadt, in der Welt. Sie schworen, sich gegenseitig zu beschützen. Sie wollten einmal zusammenleben, später, alle zusammen, abseits versteckt auf einem Bauernhof, autark, ihr eigenes, geheimes Land, ein Zufluchtsort, ein Versteck für alle geschundenen Seelen, wie sie es nannten. Alle, die den Schmerz teilten, die Teil der Gruppe waren, galt es hier zu schützen. All die anderen Menschen, die willentlich und aus Bosheit anderen Schmerzen zufügten, egal ob körperlich oder seelisch, galt es auszuschließen, zu bestrafen. Manche meinten gern aufs Schlimmste, für immer.
Natürlich waren das für Hanna nur Gedankenspiele, die sie beruhigten, die dazu dienten, Frust rauszulassen, ein Gefühl von Geborgenheit, Zugehörigkeit und Schutz simuliert zu bekommen. Hanna war zu schlau, um das nicht zu durchschauen. Das war ja eines ihrer größten Probleme, ihre Intelligenz. Sie war zu schlau, sie verstand zu viel über die Menschen, über die Welt. Und dauernd musste sie sich selbst analysieren, sezieren, bis ins Kleinste ihr Verhalten, ihre Gedanken aufschlüsseln. Es war so furchtbar ungerecht, so unfair, dass sie so scheißverdammt schlau war, es lähmte sie zusätzlich, und es machte sie doppelt zum Außenseiter – und die dummen Vollidioten waren die Helden auf jeder Party. Denn offline waren sie alle unscheinbar, unsichtbar und versuchten, es auch zu bleiben, nicht aufzufallen. Ja nicht das Interesse anderer zu wecken, denn zu oft waren sie gehänselt, gemobbt, geschlagen oder gar missbraucht worden. Hanna hatte es in ihrer neuen Schule auch wieder schwer gehabt. Es gab dort zwei mehr oder minder homogene Cliquen: die Bauern, wie Hanna sie nannte, Dorfjugend, in der Freiwilligen Feuerwehr und im Landjugendverband Mitglied. Dummköpfe, einfältig, banal, für immer hier in diesem verpissten Kaff in ihrer kleinen miesen Existenz gefangen. Und dann die Coolen, meist aus dem Neubaugebiet jenseits der Bahnlinie, spielten Tennis oder Hockey, waren in Bands, hatten einen älteren Freund oder Bruder mit Auto, fuhren im Urlaub in die USA oder nach Thailand. In echt jetzt, kein Scheiß, alles lebende Klischees durch und durch.
Die Bauern ignorierten Hanna, die Coolen machten ihr das Leben zur Hölle. Durch ihre Arroganz, ihre Ignoranz, ihre abwertenden Blicke und durch ihre Sprüche, ihre Hänseleien. Der einzige halbe Grenzfall war Nicole. Sie gehörte zum Dunstkreis der Coolen, ihren Eltern hatten sicher viel Geld, sie wohnte in einem großen Haus am Waldrand, natürlich jenseits der Bahnlinie. Soweit Hanna es mitbekommen konnte, hatte Nicole nie etwas Gemeines zu ihr gesagt oder mitgelacht. Sie hatte natürlich auch nie Partei ergriffen für Hanna, sie geschützt. Nur einmal, als zwei Mädchen Hanna im Flur ein Bein gestellt und, als sie am Boden lag, auch noch blöde Sprüche gemacht hatten, da platzte es aus Nicole heraus, und sie schrie die beiden an: „Alta, was ist kaputt bei euch? Lasst sie doch mal in Ruhe!“ Dann war sie weggerannt.
Von außen war Nicole das typische neureiche, blonde Teenie-Püppchen-Klischee, aber was Hanna an Nicole mochte, war, dass sie im Unterricht immer so ruhig war, und wenn sie etwas sagte, war es sehr überlegt, unangreifbar, oft eine zynische Spitze, die genauso gut ihre Freunde oder auch die Lehrer treffen konnte. Außerdem gab es das Gerücht, dass Nicole Kampfsport machte, einen Schwarzgurt in Karate hatte oder so. Das wollte gar nicht zu ihrem äußeren Bild passen, und das gefiel Hanna. Zudem waren sie sich ab und zu begegnet, wenn Hanna wanderte, allein, durch den Wald, über die Halde, im Morgengrauen, wenn alles schlief, da sah sie manchmal Nicole, und sie joggte wortlos an ihr vorbei. Sie sahen sich kurz an, lächelten nicht, nickten nur. Hanna fühlte in diesen Momenten eine gewisse Vertrautheit, ein gewisses Verständnis. Wenn sie nah neben Nicole stand, meinte sie manchmal, eine zweite Einsamkeit, Traurigkeit, versteinerte Verzweiflung zu spüren.
Hanna las viel, natürlich, was sollte sie sonst auch machen außer zocken? Ein ganz besonders wichtiges Buch für sie war Carrie von Stephen King. Sie hatte es schon relativ früh mit elf oder zwölf gelesen. Niemals würde sie ihre Mutter mit der von Carrie vergleichen, nein, Hannas Mutter war eher eine kalte, perfekte Steinstatue, aber Hanna konnte so sehr mitfühlen mit Carrie, diese scheiß Einsamkeit, dieses scheiß Außenseiterdasein.
Es war irgendwie Teil von Hannas Krankheitsbild, dass sie ständig das Gefühl hatte, Stimmen zu hören, die sie nicht richtig fassen, nicht richtig verstehen konnte. Dass Gefühle sie überwältigten, fremde Gefühle, positive wie negative, und dass sie das Gefühl hatte, nur das Gefühl, vielleicht ja auch nur das ungeheure Verlangen, Dinge, Menschen mit der Kraft ihrer Gedanken zu bewegen. Natürlich konnte Hanna keine Telekinese, so wie Carrie, aber sie stellte sich oft vor, es zu können. Rache zu üben. Nicht so extrem, nicht so böse, aber Lektionen erteilen, im Kleinen, sich schützen. Manchmal, früher noch öfters, trainierte sie das sogar. Natürlich immer ohne Erfolg, aber es gab ihr ein gutes Gefühl, vielleicht die Hoffnung, das Außen kontrollieren, beherrschen zu können. Wenn sie es versuchte, sich konzentrierte, fokussierte, dann war für eine ganz kurze Zeit nur Stille in ihr. Deshalb liebte sie Carrie – und Star Wars.
Das mit den Telekineseübungen hatte Hanna nicht so oft im Forum angesprochen, auch Sven gegenüber nur andeutungsweise, eher als Witz. Hauptsächlich weil es ihr peinlich war. Eine ihre schönsten Kindheitserinnerungen betraf einen Urlaub in Nordfrankreich mit ihrem Vater. Er war ein stiller, lieber alter Mann gewesen, und in diesem Urlaub hatte er einmal, vielleicht das einzige Mal richtig Zeit für sie gehabt. Ihm hatte sie dann erzählt, wie sie immer versuchte, Stifte auf ihrem Schreibtisch mit der Kraft ihrer Gedanken zu bewegen, und er hatte sie liebevoll angelächelt, in den Arm genommen und gesagt: „Ach, mein kleines Mädchen, ich glaube ganz fest daran, dass du alles schaffen kannst, was du willst, wenn du nur selbst fest genug daran glaubst!“ Nach diesem Urlaub hatte er ihr etwas geschenkt, einen alten, kleinen Reisekoffer, einen Trostkoffer. „Darin findest du alle Wunder dieser Welt, die du brauchst.“ In dem Koffer waren ein Malblock, diverse Stifte, ein Märchenbuch mit Geschichten über die Prinzessin Hanna, ein paar Hörspiele und ein alter Armreif, der angeblich schon ihrer Ururoma gehört hatte. Der Armreif war aus grobem, sprödem Metall, besaß wenige schlichte, dicke Ornamentlinien als Verzierung und vier Knubbel, Beulen, vielleicht waren da früher einmal Edelsteine gewesen. Das Besondere an dem Armreif war, dass ein Ring fest dazugehörte, mit zwei Metallketten war er befestigt und konnte über den Mittelfinger gezogen werden. Der Armreif war Hanna damals natürlich viel zu groß gewesen, aber mittlerweile passte er, und immer wieder holte sie auch heute noch den Koffer unter ihrem Bett hervor, streifte den Armreif über und las im Buch über Prinzessin Hanna oder hörte eines der Kinderhörspiele.
„Ich brauch dich“, hatte Sven geschrieben. Auch das war neu, dass jemand sie brauchte. Die Traurigkeit floss von ihr, zog sich zurück, und Hanna kämpfte sich mit Neugier und Spannung hoch vom Bett. Es war Abend. Oft kommunizierten sie auch einfach direkt über das Forum, sie teilten viel mit der Clique. Dabei waren einige sehr auf Anonymität bedacht, so wie Sven oder VioletPain und BloodAngel. Hanna war da ambivalent, sie postete nie ihren richtigen Namen oder spezielle Details, aber sie nannte schon mal ab und zu dieses scheiß Kaff beim Namen, oder einige der Wichser, die ihr das Leben zur Hölle machten, zumindest beim Vornamen, das tat ihr gut, das herauszulassen, das so zu benennen, das mehr oder minder öffentlich zu machen.
„Ich hab’s gemacht! Es fühlte sich unglaublich, unglaublich geil an! O man, wie geil! Aber es war zu viel. Verstehst du, es war einfach zu viel. Das Rezept war falsch, ich wollte, dass sie kotzen, würgen, sich auf den Boden krümmen, die Wichser, aber ein paar sind umgekippt, nicht mehr aufgestanden. Ich bin so schnell weg, wie ich konnte. Hanna, ich hab Schiss. Megaschiss. Können wir chatten?“
Hanna wurde kalt, Blut schien aus ihrem Kopf hinunter in den Magen zu stürzen. Sie fühlte Svens Euphorie – und seine Angst. Ihr wurde kotzübel.
Es hatte vor etwa einem Monat angefangen, das mit dem großen Racheplan. Es musste irgendwas besonders Fieses vorgefallen sein, bei Sven in der Schule. Was genau, wollte er nicht sagen, war ihm peinlich. Er war sehr verletzt, gedemütigt worden. Irgendein ultragemeiner Streich, eine Bloßstellung, und alle hatten zugesehen, hatten gelacht, nichts gemacht, wohl auch die Lehrer nicht, aber das war ja klar, die Lehrer machten ja meistens nichts, auch wenn sie es mitbekamen. Gut, es gab Ausnahmen, ganz wenige Lehrer, die einschritten, nicht nur große Reden schwangen bei Versammlungen und Elternsprechtagen, sondern die wirklich hinschauten, wirklich wahrnahmen, was passierte, die ein Interesse hatten, an allen Schülern, an der Stimmung in der Klasse, auf den Fluren, auf dem Hof, in der Pause, ein Gespür, und die dann hinschauten und einschritten, aber diese Lehrer waren doch wirklich superselten.
Auf jeden Fall war es ganz schlimm gewesen, und Sven brannte vor Hass und Wut. Er hatte endgültig genug, die Schnauze voll und nein, er wollte sich nicht ritzen, er wollte sich nicht umbringen, durch die Gemeinschaft in der Clique und durch die Chats mit Hanna hatte er in den vergangenen Monaten an Selbstvertrauen und an Mut gewonnen, so sehr, dass er zurückschlagen wollte. Heftig.
Es entbrannte eine lange, teils hitzige Diskussion über mehrere Tage in der Clique. Es war egal, was genau passiert war, sie respektierten, wenn jemand keine Details erzählen wollte, dazu hatten sie alle selbst schon zu viel erlitten, zu viel erlebt. Es ging nur um die Art des Zurückschlagens, um die Art der Rache. Schuldig waren für Sven alle, alle aus seiner Klasse, alle Lehrer, alle Schüler der Schule. Es ging ihm nicht nur um diese eine Sache, er war so im Hass, es ging ihm um alles.
Sven und BloodAngel hatten recherchiert, es gab ihm Darknet verschiedene Dokumente. Sie alle hatten dieses schreckliche Word-Dokument, in dem über fünfzig Arten beschrieben waren, wie man sich selbst umbringen konnte, schmerzhaft, mit großem Aufsehen oder ganz still, sanft entschlummern. Sven und BloodAngel hatten aber auch etwas anderes gefunden. Anleitungen, um Rohrbomben und Sprengfallen zu bauen, Gift zu mischen, Gaskartuschen zur Explosion zu bringen, und sie hatten auch Kontakt zu irgendwelchen Neonazis aus Ungarn und Thüringen, die über das Internet Waffen verkauften, Pistolen, Handgranaten und son Zeug, teilweise uralt, aus dem Zweiten Weltkrieg. Zumindest behaupteten sie das, also Sven und BloodAngel, dass sie die Dokumente und die Kontakte hatten. Die anderen waren entsetzt, Strafe ja, Zeichen setzen klar, aber doch nicht so, was für ein Scheiß, alle hirnkrank, ihr auch, genau wie die Wichser, ist doch genau das Gleiche. VioletPain war sehr aggressiv zuerst, hatte Angst, dass Sven einen auf Littleton oder Erfurt machen wollte. Und überhaupt, Waffen von Neonazis? Hanna hatte vor allem Angst um Sven, Angst um die Clique, sie merkte – dafür war sie ja so scheiße schlau –, sie hatte Angst vor Veränderung. Gerade hatte sie Sven richtig gefunden, gerade war es so ein sicherer Online-Hafen hier im Forum, hier in der Clique, ein Zuhause, das wollte sie nicht verlieren. Suki_chan und maerchenlos gaben Sven und BloodAngel in dem Punkt recht, dass wenn sie es ernst meinten mit der Clique, wenn sie es ernst meinten, sich schützen zu wollen, dann mussten sie sich auch mal wehren.
VioletPain war missbraucht worden, nicht nur einmal und nicht nur von einer Person, ab und zu hatte sie etwas dazu im Forum geschrieben. Manchmal brach sie deswegen komplett zusammen und ertrank im Welt- und Selbsthass, manchmal tat sie aber auch so, als ob das alles nicht so schlimm sei, als ob man nur stark sein müsse, innerlich, dann ginge schon alles, als ob es da draußen nicht so schlimm wäre. Die anderen machten ihr klar, dass sie nur leben konnte, richtig leben, ein eigenes Leben ohne Angst und Schmerzen, wenn sie anfangen würde, sich zu wehren, anfinge zurückzuschlagen, allein schon aus Liebe und Respekt vor sich selbst – und Sven würde für sie alle den Anfang machen. Nur wie und wen treffen?
Sie wurden sich nach einiger Zeit einig: Es sollte nichts sein, wobei jemand sterben oder ernsthaft verletzt werden konnte, also mit bleibenden Schäden, so richtig derb, das nicht. Nicht weil die meisten es den Arschlöchern nicht gönnten, doch sie hatten Angst um Sven, er sollte nicht in den Knast oder selbst verletzt werden oder so. Na ja, und VioletPain, suki_chan und Hanna wollten nicht, dass andere richtig verletzt wurden, vielleicht traf es ja auch Unbeteiligte. Und es musste etwas sein, wo keiner mitbekam, wer der Verursacher war. In geschickten Diskussionen schafften es Hanna und VioletPain dann, die anderen zu überzeugen: Zurückschlagen ja, gezielt, mit Wirkung, aber ohne dass Sven irgendwie damit in Verbindung gebracht wurde. Denn es sollte ein erstes Zeichen sein, ein erster Schlag, es sollten viele folgen, das erste Mal, dass die Clique nach außen in Erscheinung trat, sich wehrte. Nicht nur für sich, für alle geschundenen Seelen. Da waren sie sich dann einig, ja sogar ein wenig euphorisch. Sie fühlten sich verbunden, es fühlte sich irgendwie für alle gut an, endlich einmal zu handeln, anderen die Grenze zu zeigen, zurückzuschlagen.
Es gab noch eine kurze Diskussion darüber, wer wirklich getroffen werden sollte, und eine weitere längere Diskussion darüber, wie genau und womit. Am Ende stand der Plan. Die Kommunikationsnetze wollten sie angreifen, den Nerv des sozialen Lebens der Feinde. So formulierte es BloodAngel. Vorher war die Diskussion ihren Weg von Rohrbomben und Schulmassaker über Rauchbomben und Autoreifen zerstechen, heimlich Fahrradschrauben lösen, Türen unter Elektrizität setzen bis hin zu Todesanzeigen in der Lokalzeitung gegangen.
Zum Schluss wurde Folgendes daraus: Es gab ein Dokument, auch aus dem Darknet, darin war detailliert beschrieben, wie man einen Störsender bauen konnte, der je nach Leistung innerhalb von fünfzehn bis fünfzig Meter alle Smartphones funktionsunfähig, im besten Fall sogar kaputt machte. BloodAngel hatte sogar schon einige Teile für das Ding organisiert. Den wollte er bauen und Sven schicken, welcher den Störsender dann heimlich in der Schule aktivieren und schnell wieder verschwinden lassen wollte. Um dem Ganzen den richtigen Drive zu geben, sollte zeitgleich eine anonyme Website online gehen, mit Namen und Fotos von allen Schülern und Lehrern der Schule, ja auch mit Sven, zur Verschleierung, und dem Text: „Heute zerstören wir eure Handys, morgen euch, denn ihr habt keinen Respekt vor dem Leben, ihr liebt und schützt das Leben und eure Mitmenschen nicht, ihr tut nichts, damit das Leben für andere Menschen lebenswert ist. Ändert euch, seht hin, schreitet ein, nehmt Rücksicht, gebt Respekt – für alle Menschen! Wenn ihr euch nicht ändert, werden wir euch bestrafen!“ Es sollte eine Warnung sein, eine Erziehungsmaßnahme. Den Link zur Site wollten sie dann von einer anonymen E-Mail-Adresse aus an die Lokalzeitung und das Radio senden.
Wenn das richtig klappte, wollten das die anderen übernehmen, vielleicht auch selbst bei sich umsetzen. Das wär doch der Hammer, ganz Deutschland würde darüber sprechen, der Beginn einer Bewegung! Man postet ja viel, wenn die Nacht lang ist. Sven wollte mit BloodAngel in die Detailplanung gehen und sich dann wieder in den nächsten Wochen dazu melden. Irgendwie waren am Ende der Diskussion alle begeistert und stolz aufeinander. Bis auf VioletPain und suki_chan, die sich nicht vorstellen konnten, wie so was überhaupt technisch funktionieren sollte. Aber BloodAngel und Sven waren überzeugt, das hinzubekommen.
Doch in der Nachricht von Sven stand jetzt etwas ganz anderes, etwas von Kotzen und Rezept, nichts von Störsender und Smartphones. Was hatte er getan? Zitternd fuhr Hanna ihren Computer hoch und loggte sich ins Forum ein.
Die Welt kannte Sarah als braves, wohlerzogenes, stilles Mädchen, das immer schlichte, schwarze Kleider trug, die im Kontrast ihr langes, blondes Haar noch heller leuchten ließen. Stets war sie versunken in Bücher oder Tagträume. Wenn sie etwas gefragt wurde, sah sie die Menschen sehr lange an, aus großen, blassen Augen, bevor sie langsam, leise antwortete, so als sei sie gerade erst aus einem tiefen Traum erwacht. Aber Sarah hatte zwei Gesichter. Ihre Eltern kannten sie auch als impulsives, explosives Energiebündel, das wegen der kleinsten Anlässe die heftigsten Wut- und Tobsuchtsanfälle bekam, aus denen sie nichts und niemand wieder herausholen konnte. Es half kein gutes Zureden, kein Festhalten, kein Schreien, kein Schlagen – nur wegsperren und abwarten, bis sie sich selbst wieder beruhigt hatte, bis sie von selbst wieder diesen verklärten, verträumten Blick bekam und ihre leise, fast schon flüsternde Stimme zurück war.
Zum Glück hatte Sarah diese Anfälle meist nur zuhause. Sie wusste selbst nicht, woher sie kamen, sie kamen einfach aus dem Nichts, einfach so über sie, wenn sie sich über etwas ärgerte, ihr etwas nicht gelang, sie sich ungerecht behandelt fühlte.
Heute hatte sie keinen Grund für einen derartigen Wutanfall gehabt. Es war der 7. September 1893, ihr dreizehnter Geburtstag. Und als sie abends im Bett lag, dachte sie euphorisch, dass heute der schönste Tag ihres Lebens gewesen war. Ja klar, das war übertrieben, aber sie war einfach nur überglücklich. Im Flur hörte sie ihre Mutter, und sie wartete auf ihren Gutenachtkuss und darauf, dass Mutter die Kerze löschte, wie sie es jeden Abend tat. Sie überlegte kurz, ob sie noch einmal schnell aus dem Bett huschen und ihre Geschenke anschauen sollte, aber das musste sie gar nicht. Auch wenn sie die Bücher liebte, sie sich den blauen Schal, die weiße Spitzenbluse schon lange gewünscht und sich besonders über die feinen, schwarzen Lederhandschuhe gefreut hatte – das Schönste war der Zirkus gewesen.
Eine Kutsche hatte sie von zuhause aus der Haubachstraße in Berlin-Charlottenburg abgeholt, der Kutscher hatte ihr beim Einsteigen geholfen: „Fräulein Goldmann, es wartet ein ganz besonderes Abenteuer auf Sie!“ Und dann waren ihr Vater, ihre Mutter und ihr kleiner Bruder hinterhergestiegen, und gespannt waren sie zu dem großen Festplatz gefahren, wo der Zirkus Balthasar gastierte. Sarahs Klassenkameradinnen hatten schon viel davon geredet, aber noch keine war wirklich drin gewesen, hatte eine Vorstellung gesehen – und nun durfte sie zum allerersten Mal in den Zirkus.
Der Eintritt war teuer, zwei Mark und fünfzig Pfennige pro Person. Aber das war es wert, o ja. Wenn sie jetzt zurückdachte an all die Artisten, Kunststücke, Tiere, Wunder, Zaubereien, dann war alles ein magischer, bunter Sturm der Bilder in ihrem Kopf. Aber ein Bild, ein Artist stach ganz klar heraus: der Feuerspucker.
Der Elefant hatte gerade das große Zirkuszelt verlassen, und das Publikum saß noch ehrfürchtig mit offenen Mündern auf den Bänken, da wurde es plötzlich ganz finster, und im Schein einer einzelnen Fackel betrat ein großer, rundlicher und doch mit starken Muskeln an Armen und Beinen ausgestatteter, glatzköpfiger Mann die Manege. Er hatte einen nackten Oberkörper, trug eine knappe, schwarze Hose und hielt eine große Fackel in der Hand. Aus einem kleinen, bronzenen Fläschchen, welches für Sarah ein wenig wie eine orientalische Zauberflasche aussah, trank er immer wieder kleine Schlucke einer Flüssigkeit. Und dann spuckte er große Feuerfontänen in die Dunkelheit – wie ein Drache im Märchen! Gebannt beobachtete Sarah die großen Feuerwolken, fühlte ihre Hitze, sah die goldene, rote, glühend weiße Pracht, wie sie sich in die Finsternis des Zeltes fraß. Noch nie hatte sie etwas Schöneres gesehen, noch nie hatte sie etwas gesehen, das so verlockend, so begehrlich, so heilig aussah wie dieses Feuer. Sarah verlor jedes Gefühl für Raum und Zeit, wo sie war, wer sie war. Sie sah die Feuerwolken, wie sie sich in Zeitlupe aufbauten, ausbreiteten, fühlte, wie die Hitze an ihr leckte, an ihrem Gesicht, ihrem Hals.
Spätabends in ihrem Bett liegend, konnte Sarah immer noch ganz genau die Hitze fühlen, sie brannte überall auf ihrer Haut. Langsam glitt sie in den Schlaf, während sie Wolken und Mauern, Berge und Landschaften aus purem Feuer sah. Es machte ihr keine Angst, nein, überhaupt nicht, es fühlte sich vertraut an, wunderschön. Es war, als ob das Feuer für sie, mit ihr spielte, als sei es ein Teil von ihr. Jetzt schwebte sie im Traum über einem riesigen Meer aus Feuer. Wellen aus Flammen tanzten wild, ungezügelt, in gleißendem Gold hin und her. Sie fiel, tauchte ein, mitten in das Flammenmeer hinein. Aber anstatt qualvoll zu verbrennen, fühlte sie nur Glück, Geborgenheit, Euphorie. Es war ein schönes, reines, erfüllendes Gefühl. Mit einem seligen Lächeln wurde ihr klar, dass sie hier im Feuer zuhause war.
„Ja, ich habe mich entschieden, anders Rache zu üben. War es ein Fehler? Vielleicht. Bereue ich es? Noch nicht! Noch nicht!“, hatte Sven im geschützten Bereich des Forums geschrieben. „Klar, scheiße, ich hab Angst. Es ist brutal schiefgegangen, aber ehrlich Leute, ihr könnt euch nicht vorstellen, wie geil das war, dieses Gefühl, dieses pure Adrenalin. Und die Kraft! Die Kraft, die ich auf einmal fühlte. Die ich noch fühle. Ich habe Kraft. Ich kann mich wehren! Darum geht es, darum ging es! Es war, wie sie alle direkt anzuschreien! Sie alle in Grund und Boden zu brüllen!“
Er hatte sie aber nicht angeschrien. Er hatte bei der 25-Jahr-Feier seiner Schule irgendeinen gepanschten Giftdreck in Getränke und Essen gemischt und gespritzt. Das Rezept hatte er aus einem der Dokumente, die er mit BloodAngel im Darknet gefunden hatte. Es war kein wirkliches Gift, eher ein Gebräu, fast ausschließlich aus Hausmitteln, zwei Bestandteile hatte er in der Drogerie geklaut, eines aus dem Medizinschrank seiner Eltern. Es sollte relativ harmlos sein, Durchfall erzeugen, leichte Übelkeit, Schwindel, in seltenen Fällen leichte Halluzinationen. Sven hatte angeblich die Dosis sogar noch halbiert. Er wollte erst mal nur einen kleinen Testlauf machen, das andere Projekt mit BloodAngel dauerte ihm zu lange, war zu ungewiss. Er wollte nur vorsichtig testen, was so möglich war.
Aber dann war er wohl an dem Abend in einen kleinen Rausch verfallen. Keiner hatte ihn bemerkt, alle hatten ihn wieder ignoriert. So konnte er unbemerkt am Büfett herumhuschen und bei einer Rede mit anschließendem Show-Act, wo das Licht in der ganze Halle aus war, die Brühe in die Bowle, den Kartoffelsalat und in ein paar Gläser und Flaschen spritzen. Es war dann wohl aber doch zu viel gewesen, zu hoch konzentriert oder irgendwas anderes vielleicht falsch an seinem Mix. Auf jeden Fall hatte er zuerst mit Abstand beobachtet, wie sie tranken, grinsten, lachten und redeten, und dann, wie die ersten zuckten, würgten, sich die Bäuche hielten. Jetzt musste er grinsen, breit, fühlte sich sehr stark, mächtig, einfach gut. Ihr Wichser. Das geschieht euch so gottverdammt recht, hatte er gedacht.
Dann sah er aber immer mehr umkippen und schreien, Panik brach aus. Er sah Schüler mit Schaum vor dem Mund. Schnell schnappte er sich seinen Rucksack, sah sich noch dreimal um und glitt dann mit einem Strom von panisch an die Luft rennenden Schülern und Eltern hinaus. Er rannte zu seinem Fahrrad und raste, so schnell er konnte, nach Hause. Unterwegs konnte er sich nicht entscheiden, er wechselte dauernd zwischen Angst und Panik, in der er „Scheiße, Scheiße, Scheiße!“ in die Nacht rief, und Euphorie, Triumphgefühl, in welchem er dachte: Wie geil, Wie geil, Wie geil, war das denn bitte?
Nach und nach kamen alle aus der Clique ins Forum. In Private Messages und im Gruppen-Chat entbrannten wilde Diskussionen über Svens Tat. Erst mal wollten alle wissen, was genau vorgefallen war, was er genau gemacht hatte, aber Sven blieb da auch etwas nebulös, schien nicht alles, besonders über das Rezept und womit er das genau wo reingespritzt hatte, zu sagen. Auch nicht, wer da nun wie betroffen gewesen war. Aber er bekam gar nicht so viel Gegenwind von den anderen, nicht von VioletPain, schon gar nicht von Hanna. Sie schienen zu merken, dass Sven hinter all seine Hochgefühlen und Endorphinen einfach Megaschiss vor den Konsequenzen seiner Tat hatte. Megaschiss, entdeckt zu werden, und ja, er hatte wohl auch Angst, jemanden ernsthaft verletzt zu haben, bei allen Schimpfwörtern und Hasstiraden schien es doch immer wieder durch.
Hanna hatte auch Angst, Angst um Sven, dass ihm etwas passieren würde. Alle waren sie unglaublich aufgeregt, verfolgten die Status Updates und Meldungen auf Twitter und Facebook. Noch war vor Ort keinem klar, was genau passiert war. Einige Schüler und Lehrer mussten wohl ins Krankenhaus zur Beobachtung. Viele Posts gingen von einer Lebensmittelvergiftung aus, von verdorbenem Essen oder Getränken. Das wär’s ja, vielleicht kam Sven superelegant aus der Situation raus und keiner merkte etwas, alle würden denken, es war irgendeine verdorbene Weinschorle, ein alter Kartoffelsalat gewesen. Hammer, wenn das klappte, würden es die anderen auch versuchen – vielleicht.
Ruhe bewahren, das war jetzt das Wichtigste, das Wichtigste für Sven, das Wichtigste für alle. Sie löschten alle Einträge aus dem halb öffentlichen Forum, die auch nur im Entferntesten mit der Tat und der Planung zu tun hatten. Sie löschten alle Chatprotokolle, soweit wie möglich. Und am Ende auch noch alle WhatsApp-Nachrichten, Messages und Mails auf Smartphones und Computern, man wusste ja nie, jetzt aber nicht in Paranoia verfallen.
Das war ja eh so ein Ding mit den Smartphones. Die meisten wichtigen Dinge klärten sie über das Forum und den Chat direkt am PC. Die einen, weil sie da derbe Verschlüsselungstechnik am Start hatten und sich so sicherer fühlten, die anderen, weil sie solche Themen, solche Gedanken von ihrem Smartphone fernhalten wollten, denn das Phone hatten sie immer dabei, überall. Schnell konnte eine Mutter, ein Bruder, ein Mitschüler darauf schielen, es klauen, darin herumstöbern, dafür waren diese Dinge zu privat. Hanna wollte zudem nicht alles aus dem Forum, alle diese Gedanken und Probleme darin, immer mit sich herumtragen, und sie wollte hier zuhause in ihrem Zimmer mit dem Forum ihren sicheren Hafen haben, sie wollte das nicht mit in die Schule, mit an den Esstisch nehmen.
Nervös und paranoid waren sie aber alle irgendwie, immer mal wieder, jetzt gerade besonders. Gegen drei Uhr morgens sprachen immer noch alle von einer Lebensmittelvergiftung. Es waren über zwanzig Schüler und drei Lehrer ins Krankenhaus gebracht worden. Jetzt wurde es ruhiger. Hanna war noch sauer auf Sven. Es war hauptsächlich die Angst, weil er sich selbst in Gefahr gebracht hatte. Die Diskussion war abgeebbt, sie surften alle durchs Netz, suchten nach Updates oder anderen Dingen. Sven war schon länger still gewesen, da postete er auf einmal einen längeren Text:
„Ich will Licht, ich will Luft, ich will Spaß, ich will Leben. Ein richtiges, echtes Leben. Ich will nicht mehr nur Dunkelheit und Schmerz erfahren, ich will mich wehren! Wenn es sein muss, werde ich Schmerz austeilen! Ihr müsst nicht mitmachen, ihr müsst nicht dabei sein, aber gebt es zu, sagt, dass es richtig ist, dass es gut ist!
Ich will nicht für immer in Angst leben, nicht immer in Enttäuschung und Ablehnung, als Versager, vor mir selbst. Ich will mich nicht immer verstecken müssen. Ich will, dass sie mir egal sind, die anderen, diese Welt da draußen ist mir egal. Es geht doch eh alles den Bach runter. Ist doch alles scheiße da draußen. Alle um uns herum, Mitschüler, Eltern, Lehrer, Erwachsene, alle führen nur verrottete, leere, verlogene Leben! Es kotzt mich an, sie kotzen mich so sehr an. Das ist nicht meine scheißverfickte Welt, nicht mein Leben! Lassen wir uns nicht mehr tyrannisieren, nicht mehr erniedrigen, erpressen, in vorgefertigte Muster pressen! Ich will meine eigene Welt, mein eigenes Leben. Dafür muss ich mich und andere schützen, ich habe das Recht dazu, mich und uns zu schützen, egal wie! Ich will Licht und Leben und Luft zum Atmen und Spaß und Lachen – für uns alle! Und um das zu bekommen, muss ich mich zuerst wehren, das ist mir klar geworden. Ich muss mich freikämpfen, innerlich und äußerlich. Ein Zeichen setzen für mich selbst und für andere. Und das habe ich getan, und das will ich wieder tun.
Wir zusammen müssen uns helfen, wir müssen uns respektieren, unterstützen, schützen. Wir müssen gemeinsam unsere kleine neue Welt bauen, nach unseren Regeln, aber nicht nur als Träume online hier im Forum, sondern auch real! Und die anderen Menschen, die ganze kaputte, verlogene Scheiße da draußen, die schließen wir aus, die lassen wir bei uns nicht mehr mitspielen, die können uns alle mal, aber so was von!
Wir wollen sie gar nicht zerstören, wir wollen nur von ihnen in Ruhe gelassen werden. Wir wollen nicht, dass die Welt da draußen, dass die Arschlöcher uns zerstören! Damit sie uns in Ruhe lassen, physisch aber auch psychisch, damit sie mit ihrem Giftstachel aus unseren Herzen und Köpfen verschwinden, müssen wir uns zuerst wehren, lernen, aufrecht zu gehen, stolz zu sein. Ich bin stolz auf heute, ich bin stolz auf mich, stolz auf euch. Ich bin euch dankbar für Gespräche, Rückhalt, Aufmerksamkeit, Liebe, Respekt. Ich liebe und brauche euch – und sonst nichts!
Und ich werde mich und euch schützen. So ist das, und deshalb habe ich es getan, und es war ein erster Schritt, ein erster Schlag, ich hoffe, dass noch viele folgen werden, nicht um anderen wehzutun, nicht um andere zu bestrafen, am Ende nur: um uns zu schützen, um den Raum und Platz in unseren Herzen und Köpfen zu schaffen, uns die Kraft zu geben, unsere eigene kleine neue Welt zu bauen, für uns, Stück für Stück. Für alle geschundenen Seelen.
Wisst ihr, wofür die Kirschblüte, die Sakura, im Japanischen steht? Für Schönheit, Aufbruch und Vergänglichkeit, und genau das ist es, was wir wollen, brauchen, wissen, genau das ist es, wofür wir stehen, was wir fühlen, was wir seit Monaten besprechen. Ich habe da schon länger drüber nachgedacht: Wir wollen die Schönheit des Lebens, unseres Lebens, endlich fühlen und für uns erobern, wir müssen dazu aufbrechen und Veränderung schaffen, in uns und außen in der Welt, und gleichzeitig wissen wir, dass alles vergänglich ist, die Schönheit, der Schmerz, die Leiden, das Leben. Aber so ist auch unserer Schmerz vergänglich, unsere Peiniger und Feinde werden vergehen. Wir werden all das sein und bringen: Wir stehen für Schönheit, Aufbruch und Vergänglichkeit.
Es ist doch so: Jahrhunderte, Jahrtausende lang haben Arschlöcher, Mobber, gierige, verlogene Wichser die Welt regiert, die Menschheit, besonders immer wieder Menschen wie uns, beherrscht, unterdrückt, erniedrigt, gedemütigt und gequält. Es ist höchste Zeit, dass sich das ändert, es ist Zeit, dass die Unterdrückten, die Opfer sich wehren. Es ist an der Zeit, dass die Kinder der Kirschblüte erwachen …
Ich liebe euch, ihr seid alles.
Zusammen sind wir die Kinder der Kirschblüte.“
Und sie lasen es alle, und Hanna lief eine Träne über die Wange, ihr Hals schnürte sich zu. Wie gern hätte sie jetzt Svens Hand gedrückt, ihn in den Arm genommen, ihn gehalten und gefühlt, wie er sie hielte und schützte. Während einzelne salzige Tränen auf ihr Keyboard tropften, tippte sie als Comment: „Ich liebe euch, ihr seid alles. Wir sind die Kinder der Kirschblüte.“ Drei Minuten später postete BloodAngel: „Wir sind die Kinder der Kirschblüte – du hast es für uns getan.“ Und später dann noch VioletPain: „Wir sind die Kinder der Kirschblüte.“
Sie fühlten sich andächtig, feierlich. Sie gaben Sven noch Tipps: Verhalt dich normal, wie immer, unauffällig, demütig, zeig jetzt keinen Stolz, zeig Erstaunen, Trauer, Interesse, aber nicht zu viel. VioletPain gab Tipps, wie er geschickt das Thema wechseln konnte, falls er direkt angesprochen wurde, was er sagen sollte, wenn ihn jemand direkt nach dem Abend fragte.
Sie waren sich einig, dass Sven einen genialen ersten Schlag geliefert hatte, dass die Kinder der Kirschblüte erwacht waren und dass Sven und den Opfern sicher nichts Schlimmes passieren würde. Die Nacht war rum, einige krochen ins Bett, andere mussten direkt zur Schule, aber das waren sie gewohnt, die Nacht am Rechner durchzumachen.
Sarah liebte Jane Austen, sie verschlang ihre Bücher: Stolz und Vorurteil, Emma, Northanger Abbey. Ja und heimlich, ganz heimlich, las sie auch Oscar Wilde. Das war eigentlich streng verboten, keine Literatur für eine junge Dame wie sie. Also las sie heimlich tief in der Nacht bei Kerzenschein in ihrem Bett und sehnte sich auf ein englisches Landgut, weit weg aus diesem schmutzigen Berlin. Im Sommer war sie auf das höhere Mädchengymnasium gewechselt, und nun bestand ihr Leben nur noch aus preußischem Drill, dem Lernen unsinniger mathematischer Regeln, sticken, kochen, Hauswirtschaft. Und zuhause musste sie sich um ihren kleinen Bruder kümmern. Ihre Mutter war krank geworden, irgendetwas mit der Lunge, sie hustete oft schwer, manchmal, wenn es ganz schlimm war, sogar Blut. Sarah hatte Angst um sie.
Wie gern würde sie zusammen mit ihrer Mutter zur Kur fahren, irgendwo an die englische Küste. Ihr Blick war von dem Buch geschweift, sie sah ein altes englisches Landhaus vor sich, einen großen Garten mit weichem, grünem Gras, alten Bäumen, ein paar weißen Stühlen, einem Tischchen mit Tee und Gebäck. Die Luft war schwer von dem Duft von tausend Rosen und Orchideen.
Die Kerze ging zur Neige, die Flamme wurde klein, gleich würde Sarah schlafen müssen. O bitte, bitte nicht! Nicht schlafen und sofort wieder erwachen am Morgen und lernen und kochen und putzen und waschen und sticken und nähen. Ich will noch lesen, dachte sie, und wie in so vielen Nächten seit dem Zirkus erinnerte sie sich an den Feuerspucker, an ihren Feuertraum, dachte sie an die Wärme, die Hitze, das Licht. Sarah sah zur Kerze. Bitte stirb nicht, kleine Kerze, geh nicht aus. Brenne, brenne für mich, dachte sie.
Es war merkwürdig, es schien Sarah fast, als könnte sie die Wärme der kleinen Flamme spüren. Nicht auf ihrer Haut, sondern in sich, in ihrer Brust, in ihrem Kopf. Wie schön es doch wäre, wenn sie brennen könnte, heiß, lichterloh, wie eine Flammenfontäne des Feuerspuckers. Sarah konzentrierte sich voll auf die kleine Flamme der Kerze, versuchte, irgendwo in sich Kraft zu finden, Kraft, die sie der Kerze leihen konnte. Brenne, bitte brenne für mich, kleine Kerze. Zuerst dachte Sarah, ihre Augen spielten ihr einen Streich, aber sie konnte es nicht leugnen: Die Flamme wuchs, sie wurde größer. Nicht viel, aber ein bisschen, ein klitzekleines Bisschen. Doch sobald Sarahs Konzentration, ihre Hingabe nachließ, sackte die Flamme wieder zusammen auf ein spärliches Flackern. Sarah schwitzte. Adrenalin brannte durch ihre Adern. Sie versuchte es noch einmal. Wieder bäumte sich das Flämmchen auf, wurde größer, daumenhoch. Flackerte munter vor sich hin. Ein kleiner, spitzer Glücksschrei brach aus Sarah hervor.
In dieser Nacht fand sie keinen Schlaf mehr. Sie übte mit der Flamme die ganze Nacht, Stunde um Stunde, holte mehr Kerzen, und in den darauffolgenden Nächten tat sie das Gleiche. Nach zwei Wochen konnte sie mit der Kraft ihrer Gedanken die Flammen schon faustgroß werden lassen. Ein paar weitere Wochen, und sie schaffte es, sie zu formen, zu Ringen, Bällen, pulsierenden Sternen. Und dann, auf einmal, stand Sarahs Mutter im Zimmer.
Sarah hatte gerade über drei Kerzen glühende Feuerbälle groß wie Christbaumkugeln zum Leuchten gebracht. Sofort sackten sie in sich zusammen, erloschen sogar komplett, aber die Kerze in der Hand ihrer Mutter warf noch ein schwaches Licht auf Sarahs erschrockenes Gesicht. Sie hatte niemandem davon erzählt. Es war ihr Geheimnis, weil sie Angst hatte, Angst, für verrückt erklärt zu werden, für gefährlich vielleicht. Auch ihrer Mutter konnte sie nichts sagen, die war gerade so krank. Sarah hatte Angst, wie sie reagieren würde, was passieren würde, wenn sie sich aufregte. Aber ihre Mutter war ganz ruhig. Sie ging langsam zu Sarahs Bett, setze sich hin, hustete und musste mit einem Tuch etwas Blut von ihren Lippen wischen. Sie strich Sarah sanft über die Wange, nahm ihre Hand und streichelte sie, wobei sie Sarah mit einem Blick voll unendlicher Güte, unendlicher Liebe ansah, und vielleicht, Sarah wusste es nicht genau, vielleicht lag auch etwas Stolz darin.
„Mein liebes, liebes Kind“, sagte ihre Mutter und schien dann lange die richtigen Worte zu suchen. Sie war nicht überrascht, und das überraschte Sarah umso mehr, machte sie sprachlos, ließ sie gebannt auf ihre Mutter starren, gerade so als ob ihre Mutter eben das Wunder hier vollbracht hatte.
„Ich habe es gewusst, weißt du, ich habe es sofort gewusst, bei deiner Geburt, als ich das erste Mal in deine Augen sah, da habe ich es gesehen, in dir. Da habe ich es sofort gewusst.“
Sarah schluckte. „Was ist das, Mutter? Kannst du das etwa auch? Warum hast du nie etwas gesagt?“
„Es war stark bei deiner Großmutter, manchmal überspringt es ein, zwei Generationen, bei mir war fast nichts. Deshalb habe ich nie etwas gesagt, ich wollte warten, sehen, ob und wie sich die Gabe bei dir zeigt. Vielleicht hatte sie dich ja auch übersprungen. Und wie soll man über so was reden.“ Die Stimme ihrer Mutter wurde traurig, düster. „Aber wie gesagt, eigentlich hatte ich es sofort gewusst, gefühlt, dass es stark ist bei dir. Und wie ich sehe, ist es schon sehr stark, mein Herz.“ Ihre Mutter seufzte, bei aller Güte und Liebe schien sie bedrückt zu sein.
„Was ist los, Mutter? Ist das nicht gut? Ist es nicht wundervoll? Es fühlt sich so großartig an, ich liebe das Feuer, damit zu spielen, es gibt nichts Großartigeres, warte nur, bis du siehst, was ich alles kann!“