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An einem Julitag des Jahres 1864 findet die Jungfernfahrt der Jacht "Duncan" von Lord Glenarvan statt. Als die Matrosen einen Hai fangen, findet sich in dessen Magen eine Flaschenpost, ein mehrsprachiges, aber verstümmeltes Schreiben: Kapitän Grant ist mit seinem Schiff gestrandet und erfleht Hilfe. Der Lord entschließt sich, die Suche aufzunehmen, und gemeinsam mit den beiden Kindern des Kapitäns geht er auf eine abenteuerliche Reise, die sie rund um den Globus führen wird. Bis heute faszinieren die Romane Jules Vernes, seine abenteuerlichen Geschichten nicht weniger als die phantastischen. Zu der Bewunderung, daß er "fast alles vorher gewußt hat" und technische Erfindungen späterer Zeiten vorwegnahm, tritt das Vergnügen an seinen spannenden Geschichten und seinen liebenswert-skurrilen Figuren.
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Seitenzahl: 682
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Titel der französischen Originalausgabe:
»Les Enfants du Capitaine Grant«
Übersetzt von Walter Gerull
—
Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist nicht gestattet, dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen oder in Datenbanken aufzunehmen.
Verlag Neues Leben – eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage
ISBN E-Book: 978-3-355-50050-0
1. Auflage dieser Ausgabe 2018
© 2005 Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin
Umschlagentwurf: Buchgut, Berlin,
www.eulenspiegel.com
Erster Teil
I. Kapitel: Eine ungewöhnliche Jagd
Es war am 26. Juli 1864, als bei starkem Nordost eine prächtige Jacht unter Volldampf die Wogen des Nordkanals durchpflügte. Die britische Flagge wehte auf ihrem Besanmast; ein blauer Wimpel auf der höchsten Spitze des Hauptmastes trug unter einer Herzogskrone die goldgestickten Initialen E. G. Es war die Jacht »Duncan«, die Lord Glenarvan gehörte, einem der sechzehn schottischen Pairs des Oberhauses, dem vornehmsten Mitglied des in den Vereinigten Königreichen so berühmten »Royal-Thames-Jacht-Clubs«.
An Bord der »Duncan« befanden sich Lord Edward Glenarvan, seine junge Frau, Lady Helena, und einer seiner Vettern, der Major MacNabbs.
Die neuerbaute Jacht kehrte von ihrer Probefahrt zurück, die sie bis einige Meilen außerhalb des Golfes von Clyde geführt hatte. Sie steuerte Glasgow an, und schon zeichnete sich die Insel Arran am Horizont ab, als der wachthabende Matrose im Kielwasser der Jacht einen riesigen Fisch entdeckte und darüber Meldung machte. Kapitän John Mangles ließ sofort Lord Edward benachrichtigen, der mit MacNabbs das oberste Deck am Heck der Jacht erklomm und den Kapitän fragte, was er von diesem Fisch halte.
»Euer Gnaden, ich halte ihn für einen Haifisch von stattlichem Format«, antwortete der Kapitän.
»Ein Haifisch in diesen Gewässern?« rief Glenarvan.
»Da gibt es keinen Zweifel«, fuhr der Kapitän fort, »wenn Euer Gnaden es gestatten, würden wir bald wissen, was es mit dem Hai für eine Bewandtnis hat.«
»Also los, John«, sagte Lord Glenarvan. Dann ließ er Lady Helena benachrichtigen, die voller Erwartung zum Deck emporkletterte.
Die See war herrlich; mit Leichtigkeit ließen sich an ihrer Oberfläche die schnellen Bewegungen des Haifisches verfolgen, der tauchte und mit überraschender Kraft vorwärts schnellte.
John Mangles gab seine Befehle. Die Matrosen warfen ein starkes Tau mit einem Haifischhaken über die Steuerbordverschanzung, an dem ein dickes Stück Speck als Köder hing. Obwohl der Hai noch fünfzig Yards entfernt war, witterte er die Lockspeise. Schnell näherte er sich der Jacht. Die Zuschauer sahen, wie er mit seinen schwarzen Flossen, deren Spitzen in Grau übergingen, mächtig die Wellen peitschte. Seine großen glänzenden Augen schienen vor Lüsternheit zu glühen, und als er sich umdrehte, wurde in seinem geöffneten Rachen eine vierfache Reihe von Zähnen sichtbar. Sein Kopf war breit und erinnerte an einen Hammer.
Die Passagiere und die Matrosen der »Duncan« beobachteten die Bewegungen des Haifisches mit großer Aufmerksamkeit. Schon war der Raubfisch in der Nähe des Köders. Er drehte sich auf den Rücken, um das Speckstück besser packen zu können, und dann verschwand der mächtige Köder in seinem weiten Rachen. Sogleich hatte er sich selbst »angeschmiedet«, indem er mit gewaltiger Kraft am Tau zerrte. Die Matrosen zogen den ungeheuren Haifisch mittels einer Winde heran.
Als der Hai merkte, daß er aus seinem natürlichen Element gehoben wurde, wehrte er sich heftig. Aber bald war sein Widerstand gebrochen. Einige Augenblicke später war er über das Schanzwerk gehoben und auf das Deck der Jacht geworfen.
Sogleich trat ein Matrose herzu und trennte mit mächtigen Axthieben den gewaltigen Schwanz vom Rumpf des Tieres.
Die Jagd war beendet, das Ungeheuer war nicht mehr zu fürchten; und die Rache der Matrosen war befriedigt, nicht aber ihre Neugier. Tatsächlich ist es an Bord eines jeden Schiffes üblich, den Mageninhalt der Haifische sorgfältig zu prüfen. Die Matrosen, denen die unersättliche Gefräßigkeit der Haifische bekannt ist, erwarten Überraschungen, und sie werden in ihrer Erwartung nicht immer getäuscht. Lady Glenarvan, die dieser scheußlichen »Untersuchung« nicht beiwohnen wollte, zog sich in die Kabine zurück. Der Haifisch keuchte noch. Er war zehn Fuß lang und wog mehr als sechshundert Pfund.
Dann wurde der gewaltige Fisch mit Axthieben aufgebrochen, was ganz unfeierlich vor sich ging. Der Haken war bis in den Magen gedrungen, der völlig leer war. Gewiß hatte das Tier lange Zeit gehungert, und die enttäuschten Matrosen machten sich daran, die Überreste ins Meer zu werfen, als die Aufmerksamkeit eines Matrosen auf einen plumpen Gegenstand gelenkt wurde, der fest in den Eingeweiden steckte.
»He, was ist denn das?« rief er.
»Das«, antwortete einer scherzend, »ist ein Stück Felsen, das wohl von dem Hai verschlungen wurde, weil er Ballast brauchte.«
»Schon gut«, versetzte ein anderer, »es ist nichts weiter als eine Kettenkugel, die das Biest in den Bauch gekriegt hat und die es nicht hat verdauen können.«
»Nun gebt schon Ruhe, Leute«, sagte jetzt Tom Austin, der Erste Offizier der Jacht, »seht ihr denn nicht, daß das Vieh ein Gewohnheitssäufer war und daß es, um nur ja genug zu bekommen, nicht nur den Wein, sondern auch die Flasche verschluckt hat?«
»Was?« rief Lord Glenarvan, »eine Flasche hat der Hai im Bauch?«
»Eine richtige Flasche«, antwortete der Schiffer. »Man sieht aber, daß sie nicht frisch aus dem Keller kommt.«
»Nun also, Tom«, sagte Lord Edward, »nehmt sie vorsichtig heraus; Flaschen, die im Meer gefunden werden, enthalten oft wertvolle Dokumente.«
»Glauben Sie?« fragte Major MacNabbs.
»Das werden wir gleich sehen«, sagte Glenarvan. »Also, Tom?«
»Hier ist die Flasche«, sagte der Erste Offizier und wies auf einen plumpen Gegenstand, den er soeben, nicht ganz ohne Mühe, aus dem Bauch des Haifisches gezogen hatte.
»Gut«, sagte Glenarvan, »lassen Sie das scheußliche Ding reinigen und in die Kajüte bringen.« Tom tat, wie ihm geheißen, und die unter so seltsamen Umständen gefundene Flasche wurde auf den viereckigen Tisch gestellt, um den Lord Glenarvan, Major MacNabbs, Kapitän John Mangles und Lady Helena Platz nahmen.
Auf See wird alles zum Ereignis. Für einen Augenblick herrschte Stille. Alle blickten erwartungsvoll auf den zerbrechlichen Fund. Barg er das Geheimnis einer schweren Schiffskatastrophe, oder enthielt er lediglich eine bedeutungslose Nachricht, die übermütige Seeleute der Willkür der Wogen anvertraut hatten?
Glenarvan begann die harte Masse abzukratzen, die den Flaschenhals schützte, und bald wurde der Korken sichtbar, der aber vom Meerwasser stark zerfressen war.
»Das ist ärgerlich«, sagte Glenarvan; »sollte sich in der Flasche irgendein Schriftstück befinden, so wird es in sehr schlechtem Zustand sein.«
»Das befürchte ich auch«, versetzte der Major.
»Vergessen wir nicht«, fuhr Glenarvan fort, »daß diese schlecht verkorkte Flasche wahrscheinlich bald versunken wäre und daß es ein Glück ist, daß der Hai sie verschlungen hat.«
»Zweifellos«, warf John Mangles ein, »und doch wäre es besser gewesen, wenn wir sie an einer nach Längen- und Breitengrad bestimmbaren Stelle aus dem Meer hätten fischen können; denn in solchem Falle kann man, wenn man die atmosphärischen und die Meeresströmungen in Betracht zieht, den von ihr zurückgelegten Weg ermitteln. Freilich ein Überbringer wie dieser hier, ein Haifisch, der gegen Wind und Strömung schwimmt, verrät nichts, woran man sich halten könnte.«
»Nun, wir werden sehen«, antwortete Lord Glenarvan.
In diesem Moment entfernte er vorsichtig den Korken; ein starker Schlammgeruch verbreitete sich in der Kajüte.
»Nun?« fragte Lady Helena ungeduldig und trat aufgeregt näher an den Tisch heran.
»Ja«, sagte Glenarvan, »ich habe mich nicht getäuscht, hier sind Papiere!«
»Dokumente!« rief Lady Helena.
»Leider scheinen sie von der Feuchtigkeit zerfressen zu sein«, antwortete Glenarvan, »und es ist unmöglich, sie herauszuziehen, denn sie kleben innen an der Flaschenwand.«
»Wir werden die Flasche zerschlagen«, sagte MacNabbs.
»Ich wäre dafür, sie nicht zu zerschlagen«, erwiderte Glenarvan.
»Ich schließe mich an«, lenkte der Major ein.
»Sehr richtig«, sagte Lady Helena, »aber der Kern ist wertvoller als die Schale, und es ist besser, diese zu opfern als jenen.«
»Wenn Euer Gnaden lediglich den Hals der Flasche entfernen«, sagte John Mangles, »dann wird das Dokument unbeschädigt in unsere Hände gelangen.«
»Vorsicht, mein lieber Edward!« rief Lady Glenarvan.
Es war schwierig, anders zu verfahren, und so entschloß sich Lord Glenarvan, den Hals der kostbaren Flasche zu zerschlagen. Es mußte ein Hammer geholt werden, denn die versteinerte Umhüllung war hart wie Granit. Bald fielen die Scherben auf den Tisch, und mehrere Fetzen Papier, die aneinander klebten, kamen zum Vorschein. Während sich nun Lady Helena, der Major und der Kapitän um Lord Glenarvan drängten, zog dieser die Papiere vorsichtig aus der Flasche, löste sie voneinander und breitete sie auf dem Tisch aus.
II. Kapitel:Die drei Schriftstücke
Diese vom Meerwasser fast zerstörten Papierfetzen ließen nur einige kaum zu entziffernde Worte erkennen, die von den fast völlig verblichenen Zeilen übriggeblieben waren.
Lord Glenarvan prüfte sie einige Minuten lang mit großer Aufmerksamkeit.
»Es handelt sich hier«, sagte er, »um drei verschiedene Schriftstücke und wahrscheinlich um drei verschiedene Niederschriften des gleichen Inhalts, in drei Sprachen übersetzt; das eine ist in englischer, das andere in französischer und das dritte in deutscher Sprache abgefaßt. Die wenigen Worte, die übriggeblieben sind, erlauben keinen Zweifel an dieser Auffassung.«
»Ergeben diese Worte wenigstens einen Sinn?« fragte Lady Glenarvan.
»Das läßt sich schwer sagen, meine liebe Helena, die Sätze auf den Schriftstücken sind sehr lückenhaft.«
»Vielleicht ergänzen sich die Bruchstücke, eines durch das andere«, sagte der Major.
»Das müßte der Fall sein«, antwortete John Mangles, »es ist unwahrscheinlich, daß das Meer die Zeilen an den gleichen Stellen zerstört hat, und wenn wir die Satzfetzen zusammensetzen, werden wir schließlich einen verständlichen Sinn finden.«
»Das wollen wir tun«, sagte Lord Glenarvan, »gehen wir planmäßig vor. Hier ist erst einmal das in Englisch abgefaßte Schriftstück.«
Das Schriftstück zeigte die folgende Anordnung der Zeilen und Wörter:
»Leider nützt uns das nicht viel«, sagte der Major enttäuscht.
»Wie dem auch immer sei«, antwortete der Kapitän, »das Schriftstück enthält Sätze in gutem Englisch.«
»Daran gibt es keinen Zweifel«, sagte Lord Glenarvan, »die Worte sink, aland, that, and, lost sind vollständig erhalten, das Wort skipp heißt natürlich skipper, und dann ist da noch die Rede von einem Herrn Gr... wahrscheinlich dem Kapitän des gestrandeten Schiffes.«
»Dazu kommen noch die Worte monit und ssistance, deren Bedeutung ja feststeht«, sagte John Mangles.
»Na, das ist doch schon etwas«, rief Lady Helena.
»Unglücklicherweise«, versetzte der Major, »fehlen uns vollständige Zeilen; wie sollen wir den Namen des gestrandeten Schiffes und den Ort des Schiffbruchs herausfinden?«
»Wir werden sie herausfinden«, sagte Lord Edward.
»Zweifellos«, bestätigte der Major, der immer der gleichen Meinung war wie alle anderen, »aber auf welche Art?«
»Indem wir ein Schriftstück durch das andere ergänzen.«
»So wollen wir es versuchen«, rief Lady Helena.
Das zweite Stück Papier, das noch stärker beschädigt war als das erste, zeigte nichts als einzelne Silben und Worte, die auf folgende Art verteilt waren:
»Das ist ja Deutsch«, sagte John Mangles, als er einen Blick auf das Papier geworfen hatte.
»Und Sie verstehen Deutsch, John?« fragte Glenarvan.
»Oh, sehr gut, Euer Gnaden.«
»Dann sagen Sie uns, was die paar Worte bedeuten könnten.«
Der Kapitän betrachtete das Schriftstück aufmerksam und erklärte dann folgendes: »Zuerst finden wir das Datum des Ereignisses, den 7. Juni, und wenn wir diese Zahl vor die Zahl 62 in der englischen Fassung stellen, so erhalten wir das vollständige Datum: den 7. Juni 1862.«
»Sehr gut, John«, rief Lady Helena, »fahren Sie fort.«
»In derselben Zeile«, sprach der junge Kapitän weiter, »steht das Wort Glas, das, an die Buchstaben gow im ersten Schriftstück gefügt, Glasgow ergibt. Es handelt sich natürlich um ein Schiff aus Glasgow.«
»Das denke ich auch«, sagte der Major.
»Die zweite Zeile des Schriftstücks fehlt völlig«, fuhr John Mangles fort. »Aber auf der dritten stehen zwei wichtige Worte: zwei und atrosen, was natürlich Matrosen bedeuten soll.«
»Es handelt sich also«, sagte Lady Helena, »um einen Kapitän und zwei Matrosen?«
»Aller Wahrscheinlichkeit nach ja«, antwortete Glenarvan.
»Ich muß Euer Gnaden gestehen«, sagte der Kapitän, »daß mir die folgende Silbe graus Schwierigkeiten bereitet; ich weiß nicht, wie ich sie verstehen soll. Vielleicht wird uns das dritte Schriftstück helfen. Was die beiden letzten Worte betrifft, so bieten sie keine Schwierigkeit. Hier steht: Bringt ihnen, und wenn man sie an das englische Wort auf der siebenten Zeile des ersten Schriftstücks, das heißt an das Wort assistance anfügt, so ist der Sinn: ›Bringt ihnen Hilfe!‹ ganz klar.«
»Ja! Bringt ihnen Hilfe!« sagte Glenarvan, »aber wo befinden sich diese Unglücklichen? Bisher haben wir nicht einen einzigen Anhaltspunkt für den Ort, und der Schauplatz der Katastrophe ist uns noch völlig unbekannt.«
»Hoffen wir, daß das französische Schriftstück ergiebiger sein wird«, sagte Lady Helena.
»Betrachten wir das französische Schriftstück«, antwortete Glenarvan »und da wir alle diese Sprache sprechen, werden unsere Ermittlungen viel einfacher sein.«
»Da stehen Zahlen«, rief Lady Helena, »sehen Sie, meine Herren, sehen Sie!«
»Gehen wir der Reihe nach vor«, sagte Lord Glenarvan, »und beginnen wir mit dem Anfang. Gestatten Sie mir, daß ich eines nach dem anderen dieser verstreuten und unvollständigen Worte zusammensuche. Schon aus den ersten Buchstaben ersehe ich, daß es sich um einen Dreimaster handelt, dessen Name dank des englischen und französischen Schriftstücks vollkommen lesbar ist: die ›Britannia‹. Von den beiden folgenden Wörtern gonie und austral hat nur das zweite eine Bedeutung, die Sie sofort verstehen werden.«
»Da haben wir schon einen wichtigen Hinweis«, sagte John Mangles, »der Schiffbruch hat auf der südlichen Halbkugel stattgefunden.«
»Das ist unklar«, sagte der Major.
»Ich fahre fort«, erwiderte Glenarvan. »Aha! Die zwei Silben abor sind die Wurzel des Verbs aborder, was entern, an Land gehen bedeutet. Die Unglücklichen sind irgendwo an Land gespült worden, aber wo? contin! Also wohl auf ein Festland? cruel! ...«
»Aber das ist ja gleichbedeutend mit dem deutschen Wort graus ... grausam ...«, rief John Mangles gleichzeitig aus.
»Weiter, weiter!« rief Glenarvan, dessen Spannung aufs höchste gestiegen war.
»Indi ... es handelt sich also um Indien, wohin diese Seeleute verschlagen wurden?! Was bedeutet nun aber das Wort ongit? Ah, longitude, also Längengrad. Und nun der Breitengrad? Folglich ist die geographische Breite 37 Grad und 11 Minuten. Endlich haben wir einen genauen Anhaltspunkt.«
»Aber der Längengrad fehlt«, sagte MacNabbs.
»Man kann nicht gleich alles haben, mein lieber Major«, antwortete Glenarvan, »und ein genauer Breitengrad ist schon eine wichtige Sache! Tatsächlich, das französische Schriftstück ist das vollständigste der drei. Es ist völlig klar, daß jedes von ihnen die genaue Übersetzung des anderen darstellt; denn alle enthalten die gleiche Anzahl von Zeilen. Wir müssen diese also jetzt zusammenstellen, sie in eine einzige Sprache übersetzen und den Sinn ermitteln, der am wahrscheinlichsten ist.«
»Wollen wir die Übersetzung ins Französische machen, ins Englische oder ins Deutsche?« fragte der Major.
»Ins Französische«, antwortete Glenarvan, »da die meisten bedeutungsvollen Wörter in dieser Sprache erhalten sind.«
»Euer Gnaden haben recht«, sagte John Mangles, »und außerdem ist diese Sprache uns allen vertraut.«
Glenarvan griff unverzüglich zur Feder, und einige Minuten später zeigte er seinen Freunden ein Blatt Papier, auf dem folgende Zeilen zu lesen waren:
In diesem Augenblick erschien ein Matrose, meldete dem Kapitän, daß die »Duncan« in den Golf von Clyde einlaufe, und fragte nach weiteren Befehlen.
»Was beabsichtigen Euer Gnaden zu tun?« wandte sich John Mangles an Lord Glenarvan.
»So schnell wie möglich Dumbarton zu erreichen, John; während dann Lady Helena nach Malcolm-Castle zurückkehrt, werde ich mich nach London begeben, um dieses Schriftstück der Admiralität zu unterbreiten.«
John Mangles gab die entsprechenden Befehle, und der Matrose überbrachte sie dem Ersten Offizier.
»Jetzt wollen wir mit unseren Untersuchungen fortfahren«, sagte Glenarvan, »wir sind auf den Spuren einer großen Schiffskatastrophe; das Leben einiger Männer hängt von unserem Scharfsinn ab. Nehmen wir alle unsere Intelligenz zu Hilfe, um den Sinn dieses Rätsels zu entziffern. Zunächst einmal muß man bei der Deutung dieses Dokumentes drei ganz verschiedene Gesichtspunkte beachten: erstens die Dinge, die wir wissen, zweitens die Dinge, die wir mutmaßen können und drittens diejenigen, die wir nicht wissen. Was wissen wir? Wir wissen, daß am 7. Juni 1862 ein Dreimaster, die ›Britannia‹ aus Glasgow gesunken ist, daß zwei Matrosen und der Kapitän dieses Dokument ins Meer geworfen haben, und zwar unter 37° 11’ Breite, und ferner, daß sie Hilfe brauchen.«
»Sehr richtig«, sagte der Major.
»Was können wir mutmaßen?« fuhr Glenarvan fort. »Erstens, daß der Schiffbruch in den südlichen Meeren stattfand, und hier möchte ich gleich die Aufmerksamkeit auf das Wort gonien lenken. Verrät es nicht wie von selber den Namen des Landes?«
»Patagonien!« rief Lady Helena.
»Ohne Zweifel.«
»Ja, aber läuft denn der 37. Breitengrad durch Patagonien?« fragte der Major.
»Das ist leicht festzustellen«, antwortete John Mangles und entfaltete dabei seine Karte von Südamerika.
»Ja, es stimmt. Patagonien wird vom 37. Breitengrad durchzogen; er schneidet Araukanien und zieht sich im Norden der patagonischen Landschaft durch die Pampas.«
»Gut, fahren wir mit unseren Mutmaßungen fort. Die beiden Matrosen und der Kapitän abor... gehen also an Land. Wo? contin... Kontinent, wohlgemerkt auf einen Kontinent und nicht auf eine Insel. Was wird aus ihnen? Hier stehen zwei schicksalsschwere Buchstaben pr..., die uns über ihr Schicksal unterrichten. Diese Unglücklichen sind pris... oder prisonniers, das heißt, sie sind Gefangene. Von wem? Von grausamen Indianern! Ist das nicht einleuchtend? Springen diese Worte nicht von selbst in die Lücken? Fällt es nicht wie Schuppen von unseren Augen?«
Glenarvan sprach überzeugend.
Nach einigen Augenblicken des Nachdenkens fuhr Lord Edward fort: »Alle diese Vermutungen, meine Freunde, sind äußerst einleuchtend; mir erscheint gewiß, daß die Katastrophe sich an den Küsten Patagoniens ereignet hat. Übrigens werde ich in Glasgow anfragen lassen, welches der Bestimmungsort der ›Britannia‹ gewesen ist, und wir werden erfahren, ob sie vielleicht in jene Gewässer verschleppt worden ist.«
»Nun, wir brauchen nicht weiter zu suchen«, antwortete John Mangles, »ich habe hier die Sammelbände der ›Handels- und Schiffszeitung‹, die uns genaue Einzelheiten liefern werden.«
»So laßt uns schnell nachsehen«, sagte Lady Glenarvan.
John Mangles nahm einen Packen Zeitungen des Jahres 1862 zur Hand und begann hastig darin zu blättern.
Nach kurzem Suchen konnte er feststellen: »30. Mai 1862. Peru! Der Hafen Callao! Ladung für Glasgow, ›Britannia‹, Kapitän Grant!«
»Grant!« rief Lord Glenarvan. »Das ist doch der kühne Schotte, der irgendwo im Pazifischen Ozean ein Neu-Schottland gründen wollte!«
»Ja«, erwiderte John Mangles, »es ist der Kapitän, der 1861 in Glasgow mit der ›Britannia‹ in See gestochen ist.«
»Kein Zweifel mehr«, sagte Glenarvan, »natürlich ist er es. Die ›Britannia‹ hatte Callao am 30. Mai verlassen, und am 7. Juni, eine Woche später, ist sie an den Küsten von Patagonien gestrandet. Das ist ihre ganze Geschichte, die sich aus den zuerst scheinbar nicht zu entziffernden Wörtern ergibt. Was nun die Fragen betrifft, die wir nicht beantworten können, so haben sie sich bis auf eine verringert, nämlich bis auf die Frage nach dem Längengrad.«
»Diesen können wir entbehren«, antwortete John Mangles, »und da wir das Land kennen, verpflichte ich mich, den Schauplatz der Katastrophe zu ermitteln.«
»Dann wissen wir also alles?« fragte Lady Glenarvan.
»Alles, meine liebe Helena, und die leeren Stellen, die das Meerwasser uns zwischen den Worten des Schriftstücks hinterlassen hat, werde ich so mühelos ausfüllen, als schriebe ich nach dem Diktat des Kapitäns Grant.«
Sogleich griff Lord Glenarvan zur Feder, um rasch die folgende Notiz zu verfassen: »Am 7. Juni 1862 ist der Dreimaster ›Britannia‹ aus Glasgow auf der südlichen Halbkugel, an der Küste von Patagonien gekentert. Auf dem Wege an Land haben zwei Matrosen und Kapitän Grant versucht, den Kontinent zu erreichen, wo sie Gefangene der grausamen Indianer geworden sind. Sie haben dieses Dokument beim ... Längengrad und dem 37° 11’ Breitengrad ins Meer geworfen. Bringt ihnen Hilfe, oder sie sind verloren.«
»Sehr gut, mein lieber Edward«, sagte Lady Glenarvan, »wenn diese Unglücklichen ihr Heimatland wiedersehen sollten, so verdanken sie dieses Glück dir.«
»Und sie werden es wiedersehen«, antwortete Glenarvan. »Dieses Schriftstück ist zu aufschlußreich, zu klar und zu bestimmt, als daß England zögern könnte, drei seiner Landeskinder, die sich hilflos an einem unwirtlichen Strand befinden, zu retten. Das, was England für Frankreich und viele andere getan hat, wird es jetzt für die Schiffbrüchigen der ›Britannia‹ tun.«
»Aber diese Unglücklichen«, sagte Lady Helena, »haben gewiß Familien, die ihren Verlust beweinen. Vielleicht hat dieser bedauernswerte Kapitän Grant eine Frau, Kinder ...«
»Du hast recht, liebe Helena, ich werde sie davon benachrichtigen, daß noch nicht alle Hoffnung verloren ist. Und nun wollen wir wieder auf das Deck zurückkehren; denn der Hafen kann nicht mehr fern sein.«
III. Kapitel: Malcolm-Castle
Malcolm, das zu den malerischsten Schlössern des schottischen Hochlandes gehört, liegt unweit des Dörfchens Luss. Das klare Wasser des Lomondsees umspült seine granitenen Mauern. Seit unvordenklichen Zeiten gehörte es der Familie Glenarvan.
Lord Glenarvan besaß ein riesiges Vermögen, das er zu einem großen Teil dazu verwandte, viel Gutes zu tun. Seine Güte übertraf noch seine Großmut; denn obwohl die eine unbegrenzt war, hatte die andere selbstverständlich Grenzen. Der Standesherr von Luss und Malcolm-Castle vertrat seine Grafschaft im Oberhaus. Jedoch wegen seiner »Jakobiner-Gesinnung« und weil er wenig darauf bedacht war, dem Monarchen zu gefallen, war er bei den britischen Staatsmännern nicht allzu gut angeschrieben, besonders, weil er sich an die Tradition seiner Vorfahren hielt und sich den politischen Einmischungen der Engländer in schottische Angelegenheiten energisch widersetzte.
Edward Glenarvan war zweiunddreißig Jahre alt, hochgewachsen, streng in seinen Zügen. Sein Blick aber war sanft, sein Wesen ganz von der Poesie des Hochlandes erfüllt. Er war als außerordentlich tapfer bekannt; dazu war er unternehmend und ritterlich, vor allem aber gütig, mehr noch als der Heilige Martin in Person; denn er hätte den armen Leuten im Hochland ohne Zögern seinen ganzen Mantel gegeben.
Lord Glenarvan war kaum drei Monate verheiratet; seine Frau, Miß Helena Tuffnel, war die Tochter des berühmten Reisenden William Tuffnel, eines der zahlreichen Opfer der Naturwissenschaft und Forscherleidenschaft.
Inzwischen war Lord Glenarvan nach London gereist. Da es sich um die Rettung der unglücklichen Schiffbrüchigen handelte, war Lady Helena über diese kurze Abwesenheit eher ungeduldig als betrübt. Am zweiten Tage nach der Abreise Glenarvans kam ein Telegramm, das seine schnelle Rückkehr erhoffen ließ; doch ein Brief, der am gleichen Abend eintraf, sprach von einer Verzögerung seiner Rückreise, weil, wie er schrieb, sein Vorhaben einige Schwierigkeiten mit sich gebracht habe. In einem Schreiben, das am übernächsten Tag eintraf, teilte Lord Glenarvan ganz offen mit, daß die Haltung der Admiralität seinen Unwillen hervorgerufen habe.
Nun begann Lady Helena, sich zu beunruhigen. Als sie sich am Abend allein in ihrem Zimmer befand, kam der Schloßverwalter Halbert zu ihr und fragte, ob sie ein junges Mädchen und einen Knaben empfangen wolle, die Lord Glenarvan zu sprechen wünschten.
»Sind es Leute aus dieser Gegend?« fragte Lady Helena.
»Nein, gnädige Frau«, antwortete der Verwalter, »ich kenne sie nicht. Sie sind mit dem Zug in Balloch angekommen; von dort nach Luss sind sie zu Fuß gegangen.«
»Bitten Sie sie herauf, Halbert«, sagte Lady Glenarvan.
Der Verwalter ging. Einige Minuten später wurden das junge Mädchen und der Knabe in Lady Helenas Zimmer geführt. Es waren Geschwister, ihre Ähnlichkeit ließ keinen Zweifel darüber aufkommen.
Die junge Frau, fast ein Mädchen noch, war sechzehn Jahre alt. Müdigkeit lag auf ihrem reizenden Gesicht, ihre Augen zeigten Spuren vergossener Tränen, ihre Züge verrieten Gelassenheit, aber auch Mut, ihr Kleid war ärmlich, aber sauber, alles wirkte zu ihren Gunsten. Neben ihr stand ein Knabe von zwölf Jahren, sie hielt ihn an der Hand; sein Gesicht zeigte Entschlossenheit, so als ob er seine Schwester beschützen wollte. Wer immer dem jungen Mädchen ein Unrecht hätte zufügen wollen, würde es mit ihm zu tun bekommen haben.
Als das junge Mädchen jetzt vor Lady Helena stand, war es ein wenig verlegen. Schnell ergriff die Lady das Wort.
»Sie wollen mich sprechen?« fragte sie, und ihre Blicke ermutigten das junge Mädchen zum Reden.
»Nein«, antwortete der Bruder in bestimmtem Tone, »nicht Sie, sondern Lord Glenarvan selbst.«
»Entschuldigen Sie seine Kühnheit, gnädige Frau«, sagte die Schwester und sah ihren Bruder vorwurfsvoll an.
»Lord Glenarvan ist nicht anwesend«, sagte Lady Helena, »aber ich bin seine Frau, und vielleicht kann ich ihn vertreten.«
»Die Frau von Lord Glenarvan auf Malcolm-Castle, der in der ›Times‹ eine Notiz über den Schiffbruch der ›Britannia‹ abdrucken ließ?«
»Ja, ja«, antwortete Lady Helena hastig, »und Sie?«
»Ich heiße Mary Grant, und das ist mein Bruder.«
»Miß Grant, Miß Grant!« rief Lady Helena und zog das junge Mädchen an sich; dann küßte sie den Knaben auf die Stirn.
»Gnädige Frau«, fuhr das junge Mädchen fort, »was wissen Sie vom Schiffbruch des Dreimasters meines Vaters? Ist unser Vater noch am Leben? Werden wir ihn jemals wiedersehen? Sprechen Sie, ich flehe Sie an!«
»Mein liebes Kind«, sagte Lady Helena, »Gott bewahre mich davor, Ihnen in einer solchen Situation eine leichtfertige Antwort zu geben; ich möchte in Ihnen keine trügerischen Hoffnungen wecken ...«
»Sprechen Sie, gnädige Frau! Ich bin stark im Ertragen von Leid und imstande, alles zu hören.«
»Mein liebes Kind«, antwortete Lady Helena, »die Hoffnung auf Errettung Ihres Vaters ist nicht groß, aber es ist möglich, daß Sie ihn eines Tages wiedersehen werden.«
IV. Kapitel: Lady Glenarvan macht einen Vorschlag
In ihrer Unterhaltung hatte Lady Glenarvan mit keinem Wort die Befürchtungen erwähnt, die ihr Gatte bezüglich seiner Aufnahme bei der Admiralität in seinen Briefen geäußert hatte. Ebensowenig hatte sie davon gesprochen, daß Grant wahrscheinlich in die Gefangenschaft südamerikanischer Indianer geraten war. Wozu sollte sie diese armen Kinder betrüben und die Hoffnungen verringern, die sie eben erst geschöpft hatten? Das hätte doch nichts an der Sachlage geändert. Lady Helena hatte also ihre Bedenken verschwiegen, und nachdem sie alle Fragen des jungen Mädchens beantwortet, erkundigte sie sich nach Miß Grants Leben und nach ihren Verhältnissen.
Deren rührender und einfacher Bericht steigerte noch Lady Helenas Sympathie für das junge Mädchen.
Mary und Robert Grant waren die einzigen Kinder des Kapitäns. Harry Grant hatte seine Frau bei Roberts Geburt verloren; während seiner langen Seereisen hatte er die Kinder in der Obhut einer guten alten Base gelassen. Dieser Kapitän Grant war ein kühner Seefahrer, ein Mann, der seinen Beruf vorzüglich beherrschte, ein ebensoguter Seemann wie Kaufmann. Er wohnte in Dundee, einer Stadt in der Grafschaft Perth, war also ein Sohn Schottlands. Sein Vater, ein Prediger an der Katharinenkirche, hatte ihm eine umfassende Ausbildung ermöglicht, denn er war der Meinung gewesen, daß das niemals schaden kann, auch nicht einem künftigen Kapitän mit dem Patent für Große Fahrt. Seine ersten Seereisen hatte er als Zweiter Offizier gemacht, und als er dann Kapitän geworden, war ihm der Erfolg treu geblieben, so daß er sich schon einige Jahre nach der Geburt Roberts im Besitz eines ansehnlichen Vermögens befand.
Damals hatte er den Entschluß gefaßt, der seinen Namen in ganz Schottland bekannt gemacht. Ebenso wie die Familie Glenarvan und einige vornehme Familien des Tieflandes, hatte er sich, wenn auch nicht in der Praxis, so doch in seinem Herzen, von dem landräuberischen England getrennt. In seinen Augen waren die Interessen seines Landes nicht die der Angelsachsen, und um persönlich zur Entwicklung der Dinge beizutragen, hatte er beschlossen, auf einem der Kontinente jenseits des Ozeans eine große schottische Kolonie zu gründen. Vielleicht hatte er, angeregt durch das Beispiel der Vereinigten Staaten, von einer Zukunft der Kolonie in Unabhängigkeit, wie sie Indien und Australien gewiß eines Tages erobern werden, geträumt. Es ist verständlich, daß die Regierung ihn nicht unterstützte bei seinem Vorhaben, eine Kolonie zu gründen, ja, ihm sogar große Schwierigkeiten bereitet hatte, die in jedem anderen Land den Betroffenen zugrunde gerichtet haben würden. Aber Harry Grant hatte sich nicht entmutigen lassen, sondern Zuflucht zum Patriotismus seiner Landsleute genommen und sein Vermögen in den Dienst seiner Sache gestellt. Er hatte ein Seeschiff bauen lassen, und nachdem er seine Kinder in die Obhut der alten Base gegeben, war er, begleitet von einer erstklassigen Mannschaft, abgereist, um die Inseln des Stillen Ozeans zu erforschen. Das war im Jahr 1861 gewesen. Bis zum Mai 1862 waren Nachrichten von ihm gekommen, doch seit seiner Abreise von Callao, im Monat Juni, galt die »Britannia« als überfällig, und die Seefahrer-Zeitung schwieg über den Verbleib des Kapitäns.
So standen die Dinge damals, als Mary Grants alte Base starb und die beiden Kinder allein auf der Welt zurückließ. Mary Grant war vierzehn Jahre alt; ihr tapferes Herz ließ sich durch die Lage, in die sie versetzt war, nicht entmutigen. Sie widmete sich voll und ganz der Pflege ihres Bruders, der noch ein Kind war. Er mußte erzogen werden, mußte lernen. Mit Hilfe einiger Ersparnisse, durch ihre Fürsorge und Klugheit und dadurch, daß sie Tag und Nacht arbeitete, dem Bruder alles gab und sich selbst alles versagte, gelang es ihr, seine Erziehung zu vollenden und weiter tapfer ihre Pflichten zu erfüllen.
So lebten die beiden Kinder in Dundee, in dieser mit Würde getragenen Armut, gegen die sie sich beherzt gewehrt hatten. Mary dachte nur an ihren Bruder und erträumte für ihn eine glückliche Zukunft. Für sie war die »Britannia« unwiederbringlich verloren und der Tod ihres Vaters gewiß gewesen. Wir wollen darauf verzichten, ihre Erregung zu schildern, als die Notiz in der »Times«, die der Zufall ihr in die Hand gespielt hatte, sie plötzlich aus ihrer Hoffnungslosigkeit herausriß.
Hier gab es kein Zögern; ihr Entschluß war sofort gefaßt. Selbst wenn sie erfahren sollte, daß der Leichnam des Kapitäns Grant an einer einsamen Küste wiedergefunden worden war, vielleicht im Rumpf eines leckgewordenen Schiffes, so war das immer noch besser als diese ständigen Zweifel, diese ewige Qual der Ungewißheit.
Sie erzählte ihrem Bruder von dem, was sie gelesen hatte, und noch am gleichen Tage bestiegen die Geschwister in Perth die Eisenbahn und langten am Abend auf Malcolm-Castle an, wo Mary nach so vielen Stunden der Not und Angst neue Hoffnungen schöpfte.
Dies ist die traurige Geschichte, die Mary Grant Lady Glenarvan schlicht und unbefangen erzählte.
Währenddessen war die Nacht hereingebrochen. Lady Helena, die an die Müdigkeit der beiden Kinder dachte, wollte die Unterredung nicht länger ausdehnen. Mary Grant und Robert wurden in ihre Zimmer geführt, wo sie sogleich einschliefen und von einer besseren Zukunft träumten.
Sie standen am nächsten Morgen zeitig auf und ergingen sich in dem großen Hof des Schlosses. Da drang das Geräusch eines herannahenden Wagens an ihre Ohren. Lord Glenarvan war, so schnell seine Pferde laufen konnten, nach Malcolm-Castle zurückgekehrt. Wenige Augenblicke später erschien Lady Helena, begleitet von Major MacNabbs, im Hofe und flog ihrem Mann entgegen. Der Lord schien traurig, enttäuscht und zornig zu sein. Er schloß seine Frau in die Arme, sagte jedoch nichts.
»Nun, Edward?« rief Lady Helena.
»Ja, meine liebe Helena, diese Leute dort in London haben kein Herz«, antwortete Lord Glenarvan.
»Haben sie dich abgewiesen?«
»Ja, sie haben sich geweigert, mir ein Schiff zu geben, man könne doch nicht ganz Patagonien absuchen, um drei Männer – drei Schotten – wiederzufinden; die Suche sei vergeblich und gefährlich und werde mehr Opfer kosten, als es zu retten gälte. Kurz, sie hatten viele Ausreden bei der Hand, wie Leute, die etwas ablehnen wollen. Sie erinnerten sich der Absichten des Kapitäns, eine schottische Kolonie in Übersee zu gründen, und so scheint nun der unglückliche Grant für immer verloren zu sein.«
»Mein Vater, mein armer Vater!« rief Mary Grant und sah Lord Glenarvan verzweifelt an.
»Ihr Vater, Miß?« sagte der Lord überrascht zu dem jungen Mädchen gewandt.
»Ja, Edward, Miß Mary und ihr Bruder«, antwortete Lady Helena »sind die Kinder des Kapitäns Grant, die von der Admiralität dazu verdammt sind, Waisen zu bleiben.«
»Ach, Miß Grant«, erwiderte Lord Glenarvan, »hätte ich gewußt, daß Sie hier sind ...«
Er sprach nicht weiter.
Nach einigen Minuten ergriff der Major das Wort; zu Lord Glenarvan gewandt, sagte er: »So haben Sie keine Hoffnung mehr?«
»Gar keine!«
»Nun gut«, rief Robert, »ich werde diese Leute aufsuchen und ... wir werden sehen!«
Robert vollendete seine Drohung nicht, denn seine Schwester unterbrach ihn. Seine geballte Faust verriet jedoch seine wenig friedfertigen Absichten.
»Nein, Robert, nein!« sagte Mary Grant. »Wir wollen den guten Herrschaften für alles danken, was sie für uns getan haben, und uns stets daran erinnern. Laß uns gehen.«
»Mary«, rief Lady Helena.
»Wohin wollen Sie gehen, Miß Grant?« fragte Lord Glenarvan.
»Der Königin will ich mich zu Füßen werfen«, antwortete das junge Mädchen, »und wir werden sehen, ob sie für das Flehen zweier Kinder taub ist, die um das Leben ihres Vaters bitten.«
Lord Glenarvan schüttelte den Kopf. Zwar zweifelte er nicht an der Güte der gnädigen Majestät, doch er wußte, daß Mary Grant gar nicht bis zu ihr würde gelangen können. Hilfesuchende kamen sehr selten bis an die Stufen des Thrones, und wie es schien, stand an den Toren der königlichen Paläste die gleiche Inschrift, die sich auf den Steuerrädern der englischen Schiffe befindet:
»Die Passagiere werden gebeten, nicht mit dem Mann am Steuerrad zu sprechen!«
Lady Helena hatte die Gedanken ihres Mannes erraten; sie wußte, daß das junge Mädchen einen unnützen Schritt unternehmen würde und daß den beiden Kindern eine trostlose Zukunft beschieden war.
»Mary Grant«, rief sie, »warten Sie, mein Kind, und hören Sie, was ich zu sagen habe.«
Mary hatte die Hand ihres Bruders erfaßt und war im Begriff gewesen, aufzubrechen. Jetzt, bei den Worten der Lady, hielt sie in ihren Bewegungen inne. Mit Tränen in den Augen und mit geröteten Wangen war Lady Helena auf ihren Gemahl zugetreten und sagte mit fester Stimme: »Edward! Als Kapitän Grant diese Zeilen schrieb und sie ins Meer warf, hat er sie der Vorsehung anvertraut; Gott hat seine Botschaft in unsere Hände gelangen lassen, zweifellos hat so Gott uns mit der Sorge um diesen Unglücklichen betrauen wollen.«
»Was willst du damit sagen, Helena?« fragte Lord Glenarvan.
»Ich will damit sagen«, fuhr Lady Helena fort, »daß man sich glücklich schätzen sollte, seinen Ehestand mit einem Werk der Menschlichkeit beginnen zu dürfen. Nun also, um mir eine Freude zu bereiten, hattest du, mein lieber Edward, eine Vergnügungsreise geplant. Gibt es aber ein Vergnügen, das echter und sinnvoller wäre als die Errettung Unglücklicher, die das Vaterland im Stich ließ?«
V. Kapitel: Die Ausfahrt der »Duncan«
Mit Recht war Lord Glenarvan stolz auf diese hochherzige Frau, die ihn zu verstehen und ihm zu folgen vermochte. Schon als er in London erlebte, daß sein Vorschlag abgelehnt wurde, hatte sich seiner der Gedanke bemächtigt, dem Kapitän Grant Hilfe zu bringen; lediglich der Gedanke an die Trennung von seiner Frau hatte ihn daran gehindert, ihr mit einem Vorschlag zuvorzukommen. Jetzt, da Lady Helena selbst darum bat, an der Reise teilnehmen zu dürfen, gab es für ihn kein Zögern mehr.
Nachdem die Reise beschlossen war, galt es, keine Zeit zu verlieren. Noch am selben Tag sandte Lord Glenarvan Kapitän John Mangles den Befehl, die »Duncan« nach Glasgow zu steuern und dort für eine Reise in die südlichen Ozeane, die vielleicht eine Weltreise werden konnte, alle Vorbereitungen zu treffen.
Übrigens hatte Lady Helena, als sie diese Reise vorschlug, die Seetüchtigkeit der »Duncan« nicht zu hoch eingeschätzt. Das Schiff war in bezug auf Widerstandsfähigkeit und Schnelligkeit nach den modernsten Gesichtspunkten gebaut, und man konnte ohne Bedenken eine weite Seereise mit der Jacht unternehmen.
John Mangles, das muß gesagt werden, verstand seine Sache. Zwar war er nur der Kommandant einer Vergnügungsjacht, doch zählte er zu den besten Kapitänen von Glasgow. Er war dreißig Jahre alt, und seine ein wenig strengen Gesichtszüge verrieten Mut, aber auch Güte. Er war auf dem Schlosse Malcolm aufgewachsen, und die Familie Glenarvan hatte ihn zu einem tüchtigen Seemann ausbilden lassen. Auf mehreren großen Seereisen hatte John häufig Beweise seiner Geschicklichkeit, seiner Energie und seiner Kaltblütigkeit erbracht. Als ihm Lord Glenarvan das Kommando der »Duncan« übertragen, hatte er es erfreut angenommen; denn er liebte den Schloßherrn von Malcolm-Castle wie einen Bruder und suchte, ohne bisher Gelegenheit dazu gefunden zu haben, ihm seine dankbare Ergebenheit zu beweisen.
Der Erste Offizier, Tom Austin, war ein alter vertrauenerweckender Seemann. Fünfundzwanzig Mann, der Kapitän und Tom Austin mit eingerechnet, bildeten die Mannschaft der »Duncan«. Sie stammten alle aus der Grafschaft Dumbarton, alle waren sie erprobte Seeleute, Söhne von Pächtern der Familie Glenarvan, und bildeten an Bord eine wirkliche Gemeinschaft von tapferen Männern, denen nicht einmal die heimatliche Dudelsackpfeife fehlte.
Lord Glenarvan verfügte so über eine Mannschaft von braven Burschen, die ihren Beruf liebten, die Mut und Geschicklichkeit im Waffengebrauch sowohl wie im Schiffsdienst zeigten und die fähig waren, ihm auf die verwegensten Expeditionen zu folgen.
Bei aller Sorge um die Ausrüstung und Verproviantierung vergaß John Mangles nicht, die Kabinen herrichten zu lassen, die Lord und Lady Glenarvan auf der großen Seereise bewohnen sollten. Er mußte ebenfalls die Kabinen für die Kinder des Kapitäns Grant vorbereiten, denn Lady Helena hatte Miß Marys Bitte, ihr an Bord der »Duncan« folgen zu dürfen, nicht abschlagen wollen.
Was Robert betraf, so würde er sich lieber im Kielraum der Jacht verkrochen haben, als daß er nicht mitgefahren wäre. Hätte er, wie Nelson und Franklin, sich als Schiffsjunge verdingen müssen, so würde er sich ohne zu zögern auf der »Duncan« eingeschifft haben. Wie sollte man einem solchen braven kleinen Kerl widerstehen? Man versuchte es gar nicht erst, ja, man entschloß sich sogar sofort, »ihn als Passagier abzulehnen«, denn er wollte als Schiffsjunge, Leicht- oder Vollmatrose dienen. John Mangles bekam die Weisung, einen Seemann aus ihm zu machen.
Um die Passagierliste zu vervollständigen, genügt es, Major MacNabbs zu nennen. Er war ein Mann von fünfzig Jahren, mit ruhigen gleichmäßigen Zügen, mit glänzenden und vorzüglichen Anlagen, bescheiden, schweigsam, friedlich und sanft, der gern tat, was man ihn hieß. Stets war er, ganz gleich über was und ganz gleich mit wem, der gleichen Meinung; er stritt sich nicht, er zankte sich nicht, er ging mit der gleichen Gelassenheit die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinauf, wie er den Abhang einer zerschossenen Bastion erstiegen haben würde. Nichts auf der Welt konnte ihn in Erregung bringen, nicht einmal eine Kanonenkugel, und zweifellos würde er eines Tages sterben, ohne Gelegenheit zu einer zornigen Erregung gefunden zu haben. Dieser Mann besaß nicht nur in hohem Maße den gewöhnlichen Kampfesmut, der lediglich von der Körperkraft abhängt, sondern mehr noch den moralischen Mut, die Festigkeit der Seele. Wenn er einen Fehler hatte, so war es der, daß er ganz und gar Schotte war, vom Scheitel bis zur Sohle, ein Vollblutkaledonier, ein Mann, der an den alten Volksbräuchen eisern festhielt. So hätte er auch niemals England dienen wollen. Seinen Majorsrang hatte er in der schwarzen Garde, im 42. Regiment der Highland-Black-Watch erlangt, dessen Kompanien nur aus schottischen Edelleuten bestanden. Als Vetter der Glenarvans wohnte MacNabbs auf Malcolm-Castle, und da er Offizier war, fand man es selbstverständlich, daß er sich auf der »Duncan« mit einschiffte.
Der Augenblick der Abreise näherte sich. John Mangles hatte sich als geschickt und rührig erwiesen. Einen Monat nach den im Golf von Clyde unternommenen Probefahrten konnte die »Duncan« gut vorbereitet, verproviantiert und ausgerüstet in See gehen.
Die Abreise wurde auf den 25. August festgelegt, so daß die Gesellschaft gleichzeitig mit dem Beginn des Frühlings die südlichen Breiten erreichen würde.
Seit sein Vorhaben bekannt geworden war, hatte Lord Glenarvan allerlei Bemerkungen über die Anstrengungen und Gefahren der Reise über sich ergehen lassen müssen, hatte aber nichts darauf gegeben und sich zur Abreise von Malcolm-Castle bereit gemacht. Übrigens bewunderten ihn viele von denen, die auf die Gefahren hingewiesen hatten, aufrichtig. Außerdem nahm die öffentliche Meinung uneingeschränkt für den schottischen Lord Stellung, und alle Zeitungen, mit Ausnahme der Regierungsblätter, tadelten einstimmig die Haltung der Vertreter der Admiralität in dieser Angelegenheit. Lord Glenarvan war für Lob und Tadel gleich unempfindlich. Er tat seine Pflicht, und damit war er zufrieden.
Am 24. August verließen Glenarvan, Lady Helena, Major MacNabbs, Mary und Robert Grant, Mister Olbinett, der Steward der Jacht, mit seiner Frau, die als Lady Glenarvans Zofe mitreiste, Malcolm-Castle. Einige Stunden später befanden sie sich an Bord.
Die »Duncan« sollte in der Nacht vom 24. zum 25. August um drei Uhr früh, bei Eintritt der Ebbe, auslaufen. John Mangles und seine Mannschaft trafen die letzten Vorbereitungen. Um Mitternacht wurden die Feuer entfacht, der Kapitän ließ tüchtig heizen, und bald vermischten sich Wolken von schwarzem Rauch mit den Nebeln der Nacht.
Die Segel der »Duncan« waren sorgfältig in ihren Umhüllungen verstaut, die sie gegen Rauch und Kohlenruß schützten; der Wind wehte aus Südwest und konnte so die Fahrt der Jacht nicht beschleunigen.
Um zwei Uhr zeigte das Manometer der »Duncan« einen Druck von vier Atmosphären, der Dampf pfiff durch die Ventile, und das Schiff begann zu erbeben. Die Ebbe hatte noch nicht eingesetzt, das Tageslicht genügte bereits, um zwischen den Bojen und den Biggings, die den Clydekanal markierten, die Hafenausfahrt zu erkennen. Die Blinkfeuer verblaßten langsam im dämmernden Morgen. Es war Zeit, den Anker zu lichten.
John Mangles ließ Lord Glenarvan benachrichtigen, der sogleich auf der Kommandobrücke erschien. Bald machte sich die Ebbe bemerkbar. Die »Duncan« stieß gellende Pfeifsignale aus, die in den Lüften widerhallten. Sie lichtete die Anker und löste sich aus der Gruppe der sie umgebenden Schiffe.
VI. Kapitel: Der Passagier der Kabine sechs
Während des ersten Reisetages war die See recht bewegt, und gegen Abend frischte der Wind auf. Die »Duncan« wurde arg hin und her geworfen, so daß die Damen ihre Kabinen aufsuchen mußten.
Am nächsten Morgen hatte sich der Wind ein wenig gedreht, Kapitän John Mangles setzte das Fock-, das Brigg- und das Vormarssegel, und so schlingerte die »Duncan«, die jetzt leichter über die Wogen glitt, weniger als vorher.
MacNabbs stand auf Deck und führte, seiner Gewohnheit entsprechend, Selbstgespräche, ohne sich jedoch jemals zu widersprechen. Er hüllte sich in noch dichtere Rauchwolken, saß regungslos da und blickte auf das Kielwasser der Jacht. Nachdem er einige Minuten lang nachgedacht hatte, wandte er sich um und sah sich einer unbekannten Person gegenüber. Wenn ihn etwas hätte überraschen können, wäre der Major über diese Begegnung erstaunt gewesen; denn der ihm entgegentretende Passagier war ihm völlig fremd.
Der Unbekannte war ein großer, dürrer Mann von etwa vierzig Jahren. Er erinnerte an einen Nagel mit großem Kopf. Seine Stirn war hoch, seine Nase länglich, er hatte einen großen Mund und ein kräftig entwickeltes Kinn. Seine Augen suchten sich hinter großen runden Brillengläsern zu verbergen. Sein Gesichtsausdruck war der eines gescheiten und fröhlichen Menschen, er hatte nicht diese mürrische Art an sich, die ernste Leute oft auszeichnet, die grundsätzlich nie lachen und deren Nichtigkeit sich hinter einer Maske von Bedeutsamkeit verbirgt. Im Gegenteil. Die Ungezwungenheit, die liebenswürdige Natürlichkeit dieses Unbekannten zeigten klar und deutlich, daß er die Menschen und Dinge von ihrer guten Seite zu nehmen verstand. Aber ehe er noch ein Wort gesagt hatte, bekam man den Eindruck, daß er gerne redete, und zwar auf zerstreute Weise, wie Menschen, die nicht sehen, was sie anblicken, und nicht hören, was in ihre Ohren dringt. Er trug eine Reisemütze, kräftige Schuhe, Ledergamaschen, einen Anzug aus braunem Samt, dessen Jackett unzählige Taschen hatte, die vollgestopft waren mit Notizbüchern, Kalendern, Heften, Brieftaschen und tausend anderen überflüssigen Dingen. Dazu kam ein Fernrohr, das er an einem Riemen quer über seiner Schulter trug.
Die Lebhaftigkeit des Unbekannten stand in einem seltsamen Gegensatz zu der Gelassenheit des Majors. Er betrachtete MacNabbs forschend von allen Seiten; doch der Major war keineswegs beunruhigt; weder wollte er wissen, woher der Fremde kam, noch wohin er ging, oder weshalb er sich an Bord der »Duncan« befand.
Der geheimnisvolle Mann ergriff sein Fernrohr, das in ganzer Länge vier Fuß maß, und richtete es auf die Linie, wo Himmel und Wasser sich berührten; dabei stand er unbeweglich mit gespreizten Beinen da, wie ein Wegweiser an einer Landstraße. Nachdem er fünf Minuten durch das Fernrohr geblickt hatte, senkte er es; er stützte sich nun darauf wie auf einen Spazierstock, doch sofort schoben sich die einzelnen Teile ineinander, und es hätte wenig gefehlt und der unbekannte Passagier, dem plötzlich die Stütze fehlte, wäre am Fuße des Großmastes lang hingeschlagen.
Jeder andere als MacNabbs hätte wenigstens gelächelt. Der Major jedoch verzog keine Miene. Der Unbekannte faßte nun einen Entschluß. »Steward!« rief er mit fremdländischem Akzent. Er wartete, niemand kam. »Steward!« rief er nochmals, diesmal lauter.
In diesem Augenblick kam Mister Olbinett vorüber. Er war sehr erstaunt, von diesem langen Menschen, den er nicht kannte, auf solche Weise angerufen zu werden. Woher kommt der Kerl? fragte er sich. – Ein Freund von Lord Glenarvan? Unmöglich! Dennoch trat er auf den Fremden zu.
»Sie sind der Steward dieses Schiffes?« fragte ihn der Unbekannte.
»Ja, mein Herr«, antwortete Olbinett, »aber ich habe nicht die Ehre ...«
»Ich bin der Passagier der Kabine Nummer sechs.«
»Nummer sechs?« antwortete der Steward.
»Gewiß. Und wie heißen Sie?«
»Olbinett.«
»Nun, lieber Freund Olbinett«, fuhr der Fremde aus der Kabine Nummer sechs fort, »wir müssen ans Frühstück denken, und zwar schnellstens. Seit sechsunddreißig Stunden habe ich nichts gegessen, oder besser seit sechsunddreißig Stunden habe ich nicht geschlafen, was verzeihlich ist, da ich in einer Tour von Paris nach Glasgow gereist bin. Wann wird gespeist, bitte sehr?«
»Um neun Uhr«, antwortete Olbinett automatisch.
Der Fremde wollte auf die Uhr blicken; aber das dauerte geraume Zeit, denn er fand sie erst, als er seine neunte Tasche durchwühlt hatte.
»Gut«, sagte er, »es ist noch nicht acht Uhr! Nun, Olbinett, inzwischen etwas Gebäck und ein Glas Sherry; ich sterbe vor Hunger!«
Olbinett hörte den Fremden an, ohne dessen Verhalten zu begreifen. Übrigens sprach der Unbekannte immer noch, er wechselte das Thema mit äußerster Gewandtheit.
»Nun gut«, sagte er, »und was macht der Kapitän? Der ist wohl noch nicht aufgestanden? Und der Erste Offizier? Schläft der auch noch? Zum Glück ist das Wetter schön, günstiger Wind weht, und das Schiff findet allein seinen Weg ...«
In diesem Augenblick erschien der Kapitän auf der Treppe.
»Hier ist der Kapitän«, sagte Olbinett.
»Hocherfreut«, rief der Unbekannte, »hocherfreut, Kapitän Burton, Ihre Bekanntschaft zu machen!«
Wenn jetzt jemand erstaunt war, so war es gewiß John Mangles, und zwar nicht weniger darüber, sich als Kapitän Burton angeredet zu hören, als darüber, diesen geheimnisvollen Fremden an Bord seines Schiffes zu sehen.
Der andere fuhr munter fort: »Gestatten Sie mir, Ihnen die Hand zu schütteln. Wenn ich es vorgestern abend nicht getan habe, so deshalb, weil man im Augenblick einer Abreise niemanden stören darf. Heute jedoch, Kapitän, heute bin ich wirklich glücklich, Ihre Bekanntschaft machen zu können.«
John Mangles riß die Augen auf. Er sah bald Olbinett, bald den Unbekannten an.
»Jetzt also«, nahm dieser wieder das Wort, »mein lieber Kapitän, haben wir uns bekannt gemacht und sind alte Freunde! Lassen Sie uns also plaudern. Sagen Sie, sind Sie zufrieden mit der ›Scotia‹?«
»Was meinen Sie mit ›Scotia‹?« fragte schließlich John Mangles.
»Ich meine die ›Scotia‹, die uns trägt; ein tüchtiges Schiff, dessen Vorzüge man mir ebenso gerühmt hat wie die Qualitäten ihres Kommandanten, des braven Kapitäns Burton. Sind Sie vielleicht ein Verwandter des berühmten Afrikareisenden gleichen Namens? Das ist ein Mann, alle Hochachtung!«
»Mein Herr«, erwiderte John Mangles, »ich bin nicht nur kein Verwandter des Afrikareisenden Burton, sondern ich bin nicht einmal Kapitän Burton.«
»Ach, dann spreche ich wohl mit dem Ersten Offizier der ›Scotia‹, mit Mister Burdness?«
»Mister Burdness?« antwortete John Mangles, der langsam den Sachverhalt erriet. Eine Frage blieb allerdings offen: Hatte er es mit einem Wahnsinnigen oder mit einem Wirrkopf zu tun? Während ihn diese Frage noch beschäftigte und er sich eingehend mit ihr auseinandersetzen wollte, erschienen Lord Glenarvan, seine Frau und Miß Grant auf der Kommandobrücke. Der Fremde bemerkte sie und rief: »Ach, die Passagiere! Und die Damen! Großartig. Ich hoffe, Mister Burdness, Sie werden mich vorstellen ...«
Völlig unbefangen, und ohne daß Mangles sich einmischen konnte, redete er Miß Grant mit Madame an und sagte Miß zu Lady Helena. »Mein Herr«, richtete er dann an Lord Glenarvan das Wort.
»Lord Glenarvan«, sagte John Mangles.
»Mylord«, verbesserte sich der Unbekannte, »ich bitte um Vergebung, daß ich mir die Freiheit nahm, mich selbst vorzustellen; auf See muß man sich ein wenig von der Etikette befreien. Ich hoffe, daß wir schnellstens Bekanntschaft miteinander machen werden und daß uns in Gesellschaft dieser Damen die Fahrt auf der ›Scotia‹ ebenso kurzweilig wie angenehm sein wird.«
Lady Helena und Miß Grant fanden kein einziges Wort der Erwiderung, sie begriffen nicht, was der Eindringling auf dem Kajütendeck der »Duncan« zu suchen hatte.
»Mein Herr«, fragte nun Lord Glenarvan, »mit wem habe ich die Ehre?«
»Mit Jacques Eliacim François-Marie Paganel, Sekretär der Geographischen Gesellschaft von Paris, Korrespondierendem Mitglied der Gesellschaften von Berlin, Bombay, Darmstadt, Leipzig, London, Petersburg, Wien und New York, Ehrenmitglied des königlichen Geographischen und Ethnographischen Instituts von Ostindien. Ich habe zwanzig Jahre damit verbracht, mich mit theoretischer Geographie zu beschäftigen, und begebe mich jetzt nach Indien, um als Forscher die bis jetzt vorliegenden Reiseberichte über Indien zusammenzufassen.«
VII. Kapitel: Woher Jacques Paganel kommt und wohin er will
Der Sekretär der Geographischen Gesellschaft schien ein liebenswürdiger Mensch zu sein; denn alles, was er sagte, brachte er mit viel Anmut vor. Übrigens wußte Lord Glenarvan sehr genau, mit wem er es zu tun hatte. Jacques Paganels Name und Verdienste waren ihm bestens bekannt, seine geographischen Arbeiten, seine Berichte über die neuesten Entdeckungen in den Veröffentlichungen der Gesellschaft, schließlich sein Briefwechsel mit den Geographen der ganzen Welt hatten ihm den Ruf eingetragen, einer der bedeutendsten Gelehrten Frankreichs zu sein. So reichte nun Lord Glenarvan seinem unerwarteten Gast die Hand.
»Darf ich jetzt, da wir uns kennengelernt haben, Monsieur Paganel, eine Frage an Sie richten?«
»Zwanzig Fragen, Mylord«, antwortete Monsieur Paganel; »es wird immer ein besonderes Vergnügen für mich sein, mich mit Ihnen zu unterhalten.«
»Sie sind vorgestern abend zu uns an Bord gekommen?«
»Ja, Mylord, vorgestern abend um acht Uhr. Von der Kaledoniabahn sprang ich in eine Droschke und von der Droschke in die ›Scotia‹, auf der ich von Paris aus bereits Kabine sechs belegt hatte. Es war eine dunkle Nacht. An Bord war niemand zu sehen. Da ich eine Reise von dreißig Stunden hinter mir hatte, war ich sehr müde, und ich wußte, daß es eine gute Vorsichtsmaßnahme gegen Seekrankheit ist, sich sofort hinzulegen und die ersten Reisetage liegen zu bleiben; daher habe ich mich unverzüglich niedergelegt und habe gewissenhaft sechsunddreißig Stunden geschlafen.«
»So haben Sie also Kalkutta als Ausgangspunkt für Ihre Forschungsreisen gewählt, Monsieur Paganel?« fragte Lord Glenarvan.
»Ja, Mylord, Indien zu sehen ist seit meiner Kindheit eine meiner Lieblingsideen. Es ist mein schönster Traum, der sich schließlich im Lande der Elefanten und Thags verwirklichen wird.«
»Nun, Monsieur Paganel, dann wird es Ihnen wohl nicht gleichgültig sein, statt des schönen und geheimnisvollen Indien ein anderes Land zu besichtigen.«
»Nein, Mylord, das wäre mir sogar sehr unangenehm; denn ich habe Empfehlungen für Lord Sommerset, den Generalgouverneur von Indien, und einen Auftrag von der Geographischen Gesellschaft, den ich erfüllen muß.«
»Monsieur Jacques Paganel«, sagte Lord Glenarvan nach einem Augenblick der Stille, »das ist sicherlich eine schöne Reise, für die Ihnen die Wissenschaft sehr danken wird. Doch ich will Sie nicht noch länger in Ihrem Irrtum belassen; denn, für den Moment zumindest, werden Sie auf das Vergnügen einer Indienreise verzichten müssen.«
»Verzichten? Warum?«
»Weil Sie der Indischen Halbinsel den Rücken kehren.«
»Wie, der Kapitän Burton ...«
»Ich bin nicht Kapitän Burton«, warf John Mangles ein.
»Aber die ›Scotia‹!«
Das Erstaunen Jacques Paganels war unbeschreiblich. Ganz verstört blickte er in die Runde, erst sah er Lord Glenarvan, dann Lady Helena und Mary Grant an, deren Gesichter mitfühlend und bekümmert aussahen, sodann John Mangles, der lächelte, und den Major, der keine Miene verzog. Dann zuckte er die Achseln, rückte seine Brille von der Stirn vor seine Augen und rief: »Sie scherzen! Sie scherzen!«
Doch in diesem Augenblick fielen seine Blicke auf das Steuerrad, das die beiden Namen trug: »Duncan«, Glasgow.
»Die ›Duncan‹, die ›Duncan‹«, rief er und stieß einen Schrei der Verzweiflung aus. Dann stolperte er die Treppe zum Kajütendeck hinunter und lief in seine Kabine.
Als der unglückliche Gelehrte verschwunden war, konnte niemand an Bord, mit Ausnahme des Majors, ernst bleiben. Das Lachen pflanzte sich bis zu den Matrosen fort. In den falschen Zug einsteigen – gut; statt des Zuges nach Dumbarton den Zug nach Edinburgh besteigen, mag noch hingehen. Sich aber im Schiff irren, nach Chile reisen, wenn man nach Indien will, das ist der Gipfel der Zerstreutheit.
Nachdem er sich von dem Vorhandensein seines Gepäcks an Bord der Jacht überzeugt hatte, erschien der zerknirschte und beschämte Paganel wieder auf dem Kajütendeck; er wiederholte unaufhörlich die Worte: »Die ›Duncan‹, die ›Duncan‹, die ›Duncan‹«, ein anderes Wort schien in seinem Wortschatz nicht vorhanden zu sein. Er ging hin und her, musterte die Bemastung der Jacht und blickte ratlos nach dem Horizont des offenen Meeres. Schließlich kam er zu Lord Glenarvan zurück.
»Und die ›Duncan‹, welches Ziel hat sie?« fragte er.
»Amerika, Monsieur Paganel.«
»Und genauer?«
»Concepción.«
»Nach Chile! Nach Chile!« rief der unselige Gelehrte. »Und mein Forschungsauftrag in Indien!«
»Nun, nun, Monsieur Paganel«, antwortete Glenarvan, »verzweifeln Sie nur nicht! Alles kann in Ordnung kommen und mit einem verhältnismäßig geringen Zeitverlust abgetan werden. Der Tsangpo in den Bergen Tibets wartet geduldig auf Sie. Wir werden bald in Madeira anlegen. Dort werden Sie ein Schiff finden, das Sie nach Europa zurückbringt.«
»Ich danke Ihnen, Mylord, ich muß mich nun wohl darein schicken. Aber ich muß sagen, es ist ein ungewöhnliches Abenteuer, so etwas kann nur mir passieren! Und meine Kabine auf der ›Scotia‹ ...!«
»Auf die ›Scotia‹ werden Sie vorläufig verzichten müssen.«
»Aber«, sagte Paganel, nachdem er sich noch einmal umgeschaut hatte, »die ›Duncan‹ ist eine Vergnügungsjacht?«
»Ja, mein Herr«, antwortete John Mangles, »sie gehört Seiner Gnaden, Lord Glenarvan.«
»Der Sie bittet, von seiner Gastfreundschaft ungeniert Gebrauch zu machen«, sagte Glenarvan.
»Tausend Dank, Mylord«, antwortete Paganel, »ich weiß Ihre Liebenswürdigkeit sehr hoch zu schätzen, aber gestatten Sie mir eine ganz einfache Anregung: Indien ist ein sehr schönes Land, es bietet den Reisenden herrliche Überraschungen ... Die Damen kennen es gewiß noch nicht. Also, der Mann am Steuerrad brauchte dieses nur ein wenig zu drehen, und die ›Duncan‹ würde ebenso elegant wie jetzt nach Concepción nach Kalkutta segeln. Schließlich macht die ›Duncan‹ ja eine Vergnügungsreise ...«
Da die Vorschläge Paganels allgemeines Kopfschütteln auslösten, versagte er es sich, auf ihnen zu bestehen.
»Monsieur Paganel«, sagte Lady Helena, »wenn es sich nur um eine Vergnügungsreise handelte, so wäre meine Antwort: Wir werden alle nach Indien reisen, und Lord Glenarvan würde diesen Vorschlag nicht mißbilligen. Doch die ›Duncan‹ ist im Begriff, Schiffbrüchige, die an die Küste von Patagonien verschlagen worden sind, in ihre Heimat zurückzuholen. Dieses Ziel kann sie nicht aufgeben ...«
Einige Minuten genügten, und der französische Reisende war über die Situation aufgeklärt.
»Gnädige Frau«, sagte er, »gestatten Sie mir, daß ich Ihr Verhalten in dieser Angelegenheit rückhaltlos bewundere. Ihre Jacht soll ihren Weg fortsetzen, ich würde mir Vorwürfe machen, wenn ich den Verlust auch nur eines einzigen Tages verschuldete.«
»Wollen Sie sich also an unserem Unternehmen beteiligen?« fragte Lady Helena.
»Das ist unmöglich, gnädige Frau; ich muß meinen Auftrag ausführen. Im nächsten Hafen, den Sie anlaufen, werde ich an Land gehen ...«
»In Madeira also«, sagte John Mangles.
»In Madeira, gewiß. Dort bin ich nur hundertachtzig Meilen von Lissabon entfernt, wo ich eine Möglichkeit zur Weiterreise abwarten werde.«
VIII. Kapitel: Ein braver Mann mehr an Bord der »Duncan«
Unterdessen segelte die Jacht, von den Strömungen im Norden Afrikas begünstigt, schnell dem Äquator entgegen. Am 30. August kam die Inselgruppe um Madeira in Sicht.
Lord Glenarvan erinnerte sich seines Versprechens und schlug vor, den Hafen anzulaufen, um seinen neuen Gast an Land zu setzen.
»Mein verehrter Lord«, antwortete Paganel, »darf ich Sie ohne alle Umschweife fragen, ob Sie vor meiner Ankunft an Bord die Absicht hatten, in Madeira vor Anker zu gehen?«
»Nein«, sagte Glenarvan.
»Nun, so gestatten Sie mir, die Folgen meiner unseligen Zerstreutheit in Kauf zu nehmen. Aber vielleicht macht es Ihnen nichts aus, an den Kanarischen Inseln vor Anker zu gehen?«
»Gut, dann gehen wir an den Kanarischen Inseln vor Anker«, sagte Lord Glenarvan, der ein Lächeln nicht unterdrücken konnte
Am 31. August um zwei Uhr nachmittags spazierten John Mangles und Monsieur Paganel über das Kajütendeck. Der Franzose bestürmte den Kapitän mit Fragen über Chile; plötzlich unterbrach ihn dieser und zeigte auf einen Punkt am südlichen Horizont.
»Monsieur Paganel«, sagte er.
»Mein lieber Kapitän?«
»Wollen Sie bitte Ihre Blicke dorthin richten. Sehen Sie nichts ...?«
»Nichts.«
»Sie sehen nicht nach der richtigen Stelle; nicht den Horizont sollen Sie betrachten, sondern die Wolken darüber.«
»Die Wolken? Da kann ich lange hinsehen ...«
»Sehen Sie jetzt, über der Spitze des Bugspriets ...?«
»Ich sehe nichts.«
»Dann wollen Sie nichts sehen! Obwohl wir noch vierzig Meilen vom Pic von Teneriffa entfernt sind, ist er ausgezeichnet über dem Horizont sichtbar.«
Ob Paganel nun sehen wollte oder nicht, um nicht als blind zu gelten, mußte er sich einige Stunden später davon überzeugen, daß der Kapitän recht gehabt hatte.
»Sehen Sie ihn endlich?« fragte ihn John Mangles.
»Ja, ja, ausgezeichnet«, antwortete Paganel, »dort ist er«, fügte er geringschätzig hinzu. »Das da ist es also, was man den Pic von Teneriffa nennt?«
»Sie haben recht«, antwortete John Mangles, »es gibt da für die Wissenschaft nichts mehr zu holen; das ist aber ärgerlich; denn Sie werden sich im Hafen von Teneriffa sehr langweilen, ehe Ihr Schiff kommt. Auf viel Zerstreuung können Sie da nicht hoffen.«
»Mit Ausnahme solcher, wie ich sie mir leiste«, sagte Paganel lachend. »Aber, mein lieber Kapitän, bieten nicht die Kapverdischen Inseln Landungsmöglichkeiten von Interesse?«
»Ja, gewiß; es ist nichts einfacher, als sich in Villa-Praja einzuschiffen.«
»Ohne einen Vorteil zu erwähnen, der nicht zu unterschätzen ist«, versetzte Paganel. »Die Kapverdischen Inseln sind nicht allzuweit entfernt vom Senegal, wo ich Landsleute treffen würde. Ich weiß wohl, daß diese Inselgruppe nur als mittelmäßig interessant gilt, daß man ihr Wildheit und ein ungesundes Klima nachsagt. Aber dem Auge des Geographen ist alles interessant. Sehen ist eine Wissenschaft. Es gibt Leute, die nicht zu sehen verstehen und die mit der Intelligenz einer Auster reisen. Sie dürfen mir glauben, daß ich nicht zu diesen Leuten gehöre.«
»Wie Sie wünschen, Monsieur Paganel«, antwortete John Mangles.
»Ich bin sicher, daß Ihr Aufenthalt auf den Kapverdischen Inseln die geographische Wissenschaft bereichern wird. Wir müssen dort anlegen, um Kohlen einzunehmen, wenn Sie dort an Land gehen, haben wir also keinen Zeitverlust.«
Am 3. September begann Paganel, sein Gepäck für die bevorstehende Landung vorzubereiten. Die »Duncan« segelte zwischen den Kapverdischen Inseln hindurch, passierte die Salzinsel, eine unfruchtbare und trostlose Sandöde, und ging bald darauf bei acht Faden Tiefe im Hafen der Stadt vor Anker. Das Wetter war abscheulich und der Wellengang äußerst heftig, obwohl die Bucht gegen Stürme, die von der offenen See her kommen, geschützt liegt. Der Regen war sehr heftig und hing wie ein dichter Nebelschleier vor der Stadt, die in Terrassenform aus der Ebene emporwächst und sich an hohe vulkanische Felsen, die Bastionen gleichen, anlehnt. Der Anblick der Insel hinter dem dichten Regenvorhang war trostlos.
Die Passagiere der »Duncan« sahen sich also unter das Kajütendeck verbannt, während Meer und Himmel ihre Wasser in unbeschreiblichem Wirbel miteinander vermischten. Das Wetter bildete natürlich das Tagesgespräch an Bord. Jeder gab seine Meinung zum besten, bis auf den Major, der auch einer allgemeinen Sintflut mit vollkommener Gleichgültigkeit beigewohnt hätte. Paganel ging kopfschüttelnd auf und ab.
»Das richtet sich besonders gegen mich«, sagte er.
»Sicherlich haben sich die Elemente gegen Sie verschworen«, meinte Glenarvan.
»Ich werde aber doch mit ihnen fertig werden.«
»Sie können einem solchen Regen nicht trotzen«, sagte Lady Helena.
»Ich selbst kann es ausgezeichnet, gnädige Frau, ich fürchte ihn nur meines Gepäcks und meiner Instrumente wegen; er wird alles ruinieren.«
»Aber das Ausbooten wird schwierig sein«, versetzte Glenarvan. »Sind Sie erst in Villa-Praja, dann werden Sie nicht zu übel untergebracht sein, vielleicht nicht sehr sauber, in Gesellschaft von Affen und Schweinen, die ja im Umgang nicht immer erfreulich sind. Aber ein Forschungsreisender nimmt das nicht so genau! Außerdem dürfen Sie hoffen, sich in sieben oder acht Monaten nach Europa einschiffen zu können.«
»In sieben oder acht Monaten!« rief Paganel.
»Frühestens! Die Kapverdischen Inseln werden während der Regenzeit selten von Schiffen angelaufen.«
»Mein lieber Glenarvan«, sagte Paganel, »wo gedenken Sie das nächste Mal anzulegen?«
»Oh, in Concepción.«
»Verflucht! Das entfernt mich aber nicht wenig von Indien!«
»Nicht doch. Wenn Sie erst Kap Hoorn passiert haben, nähern Sie sich Indien!«
»Das habe ich mir wohl gedacht.«
»Übrigens«, fuhr Glenarvan ernst fort, »wenn man nach Indien reist, ist es doch ganz unwichtig, ob nach Ost oder Westindien.«
»Das ist ein Einwand, auf den ich nicht gekommen wäre!« rief Paganel. »Wenn Sie erlauben, dann bleibe ich.«
IX. Kapitel: Die Magalhãesstraße und der 37. Breitengrad
Als Paganels Entschluß an Bord bekannt wurde, herrschte allgemeine Freude. Robert sprang ihm mit solcher Heftigkeit an den Hals, daß der würdige Gelehrte beinahe auf den Rücken gefallen wäre. »Ein leidenschaftlicher Junge«, sagte er, »ich werde ihn in Geographie unterweisen.«