Die Kinderkrankmacher - Beate Frenkel - E-Book

Die Kinderkrankmacher E-Book

Beate Frenkel

4,8

Beschreibung

Früher wurden Kinder mit dem Rohrstock gedrillt, heute sollen Psychopharmaka helfen, dass auch die Kleinsten funktionieren. Eltern fühlen sich unter Druck gesetzt. Fürchten um die Zukunftsperspektiven ihres Nachwuchses. Das hat die Pharmaindustrie erkannt und macht sich diese Ängste zunutzt. Sie hat ihre neue Zielgruppe, die Kinder und Jugendlichen, fest im Griff. Nach dem Boom der ADHS-Medikamente, werden jetzt unter anderem auch starke Neuroleptika und Antidepressiva verordnet, die für Kinder nicht entwickelt wurden. Die Folgen sollten alarmieren: Fettleibigkeit, Diabetes oder schwere Hormonstörungen. Aus dem Druck zu funktionieren und dem Wunsch sich zu perfektionieren entsteht für Kinder eine gefährliche Mischung: Sie wollen nicht nur ein brilliantes Abitur machen, sondern auch makellos aussehen. Immer öfter äußern sogar schon Kinder den Wunsch nach einer Schönheits-OP. Dem Buch liegen intensive Recherchen und zahlreiche Interviews mit Ärzten, Psychologen, Pharmakologen, Hirnforschern und Lehrern zugrunde, Pharmainsider geben entlarvende Einblicke, Eltern und Kinder berichten von ihren bestürzenden Erlebnissen. Wie können sich Eltern und Kinder schützen?

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Beate Frenkel ● Astrid Randerath

DIE KINDERKRANKMACHER

Zwischen Leistungsdruckund Perfektion –Das Geschäft mit unseren Kindern

In Zusammenarbeit mit Nina Brodbeck

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Katrin Keinburg-Rees

Umschlagmotiv:© MR-Fotolia.com

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-80274-4

ISBN (Buch) 978-3-451-31198-7

Inhalt

Vorwort»Lassen Sie sich durch mich nicht stören«

Kapitel IKinder dürfen nicht mehr Kinder sein

1. Kindheit als Symptom

»Es hilft ihr, sich in der Schule zu konzentrieren« – warum Angelina Medikamente bekommt●Pillen für die Kinderpsyche●Wenn aus verhaltensauffälligen Kindern kranke Kinder werden●»Hallo Opa, ich bin auch noch da!« – Aufmerksamkeit braucht Zeit●Kein Raum für Entwicklung – kein Raum für Anderssein●Wo die wilden Kerle wohnten – Pathologisierung eines Geschlechts●Wir Spielverderber!

2. Eltern unter Druck

Optimierte Kindheit●Kampfplatz Klassenzimmer●»Für den Unterricht gefügig gemacht« – Grundschulkinder in Zeiten von ADHS●Das Leid der Kinder●»Dann landest du bei den Pennern unter der Brücke« – ein Gespräch über die Nöte von Schülern

3. Lehrer unter Druck

Sozialarbeiter, Psychotherapeut, Hausmeister – warum Lehrer überfordert sind●Mit dem Rechtsanwalt in die Schule – Eltern haben und machen Stress●»Das ist Krieg« – Respekt muss man vorleben●Pillen statt Pestalozzi

4. Eine überforderte Gesellschaft schafft überforderte Kinder

Was wir Kindern vorleben● Die Pille, die liebenswert macht● Zum Wohl der Kinder?

Kapitel IIPillen für den Zappelphilipp, Kohle für die Pharmaindustrie – die unglaubliche Karriere einer Verhaltensstörung

1. Ein Pharmainsider packt aus

Liegt es an den Genen?●Wie man die Ärzte gewinnt● Wie man sich mit den Universitäten vernetzt und Einfluss auf die Forschung nimmt●Warum es sich lohnt, in den Nachwuchs zu investieren●Warum Studien gerne gefördert werden● Warum sich Kongresse rechnen● Über langfristige »Kundenbindung«

2. »Geben und Nehmen« – der tiefreichende Einfluss der Pharmaindustrie

»Es wurde sofort medikamentiert« – ein Vater verliert das Vertrauen● Korruption in der Medizin● Ein selbstverständliches Miteinander● Die Pharmaindustrie als Geldgeber●»ADHS, ja oder nein?« – wie Lehrer in den Dienst der Pharmaindustrie geraten

3. Die Rolle der Wissenschaft

Wissenschaft im Zeichen der Pharmaindustrie?● Anwendungsbeobachtungen – Forschung oder Werbung?

4. Legal, illegal … – kann die Pharmaindustrie eigentlich machen, was sie will?

Ich war’s nicht – die Sache mit den Interessenkonflikten●Kontrolle? Fehlanzeige!● Unter den Fittichen der Pharmaindustrie? Die Rolle der Politik

5. Fluch oder Segen? – Pillen für den Zappelphilipp

Dem Mittel sei Dank! – Werbung im Zeichen der Pharmaindustrie● Zu Risiken und Nebenwirkungen …● ADHS bei Erwachsenen● »Das schafft doch kein Mensch einfach so« – warum ein Erwachsener Ritalin nimmt● Schöne Aussichten?

Kapitel IIINur für Erwachsene!? – alte Pillen, neue Kinderkrankheiten

1. Neuroleptika: »Gehirnweichmacher« für Trotzköpfe und Angsthasen

Erst ADHS und nun noch Asperger – Sven kann einfach nicht »normal« sein● »Darf man das?« – Neuroleptika gegen Autismus, Asperger & Co.● »Sie haben ihm seine Kindheit geraubt« – Warum einem Jungen Brüste wuchsen● Bipolare Störungen – oder: Wie Risperdal zum Milliardengeschäft in den USA wurde● »Sagten Sie Gott?« – wie ein Kinderpsychiater eine Krankheit erschuf● MilliardenStrafen● »Hopplahopp eine Fehldiagnose« – der Fall Bastian S.● Der schwierige Kampf für die Rechte junger Patienten

2. Depressionen: Wenn Kinder schwermütig werden

Nebenwirkung – Suizid● »Was soll schon passieren?« – der Fall Candace● Schneller Griff zum Rezeptblock

3. Neue Krankheiten: Traurigkeit, Wut und Prüfungsangst

Die passende Krankheit zur Pille● Bist du noch normal oder spinnst du schon?● Normierung der Gefühle

Kapitel IVSpieglein, Spieglein an der Wand – Schönheitswahn und Perfektion

1. Schönheitsoperationen: Der Kindertraum vom Katalogkörper

Kinderkörper als Problemzonen● Pink, sexy, kaufkräftig – Mädchen in der Schönheitsfalle● Makellos schön – spielend den Körper optimieren● »Man hat ja überall diese Vorbilder« – warum sich Liesa Marie Silikon einsetzen lässt

2. Antibabypillen: Das gefährliche Versprechen von der makellosen Haut

Kauf zwei, zahl eins!● »Von diesen Nebenwirkungen habe ich nichts gewusst«● »Die reden sich raus« – eine junge Frau kämpft gegen einen Pharmariesen● Kritik an Ärzten

3. Hormontherapie: Ist Ihr Kind auch zu klein für sein Alter?

»Nur ein kleiner Pieks« – größer werden, normaler werden?● Zu laut, zu leise, zu dick, zu klein – die große Angst ums Kind

Kapitel VDie Kinderstarkmacher

1. Alle in einem Boot

In Schwedt gibt es eine Tagesgruppe, in der ausschließlich Kinder mit Verhaltensstörungen betreut werden● Hinaus in den Wald – zur Schnitzeljagd● Alle in einem Boot● Warten können● Goldklumpen finden – kleine Schritte, große Erfolge

2. Sein Leben selbst in die Hand nehmen – mit Neurofeedback gegen ADHS

3. »Da war plötzlich Konzentration!«

Interview mit Rechtsanwalt Jürgen Peters. Er macht mit Schülern Improvisationstheater – und hat großen Erfolg damit

4. »Warum französische Kinder kein ADHS haben«

US-Familientherapeutin Marilyn Wedge – Familientherapie statt Psychopharmaka

5. Gemeinsam zum Wohl des Kindes – Eltern und Lehrer ziehen an einem Strang

»Lehrer, die ihn mit Liebe und Herz auf den richtigen Weg bringen« – Bettina V., Tims Mutter, erzählt● »Wir versuchen, eng mit den Eltern zusammenzuarbeiten« – Gudrun Hadrian, Tims Lehrerin, erzählt

6. Bestechung, mangelnde Transparenz und was man dagegen tun kann

Interview mit Dr. Christiane Fischer von der Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte (MEZIS)

7. Verantwortung als Schulfach

An der Evangelischen Schule Berlin Zentrum ist vieles anders. Aber ist es auch besser? Ein Schulbesuch● Aus Erfahrung wird man klug● Sinnvolles tun, Verantwortung übernehmen● Im Gehen lernt sich’s besser● Du kannst statt du musst● »Simply beautiful« – starke Mädchen machen mobil● Junge, zeig, was in dir steckt● Eigeninitiative fördern

Dank

Anmerkungen

VORWORT

»Lassen Sie sich durch mich nicht stören«

Ein Friseursalon in Berlin. Kleiner Laden. Alles etwas altmodisch. Es ist nicht viel los. Der Friseur schneidet einem Jungen die Haare. Neben ihm sitzt ein Mädchen, seine Freundin. »Ich bin bloß Publikum«, erklärt sie dem Friseur. »Lassen Sie sich durch mich nicht stören.« Und dann legt die Kleine los. In einem fort plappernd schmiert sie ihrem Hund Schaum um die Schnauze und tut so, als würde sie ihn rasieren. Dann liest sie die Werbeplakate, die an den Wänden hängen, laut vor, läuft durch den Laden, quatscht einen neuen Kunden an, der gerade hereinkommt, wechselt von einem Bein aufs andere und von einem Thema zum nächsten. Und das ohne Pause.

Wenn Ihnen jemand diese Geschichte erzählen würde, was würden Sie denken? Tauchen vor Ihrem inneren Auge auch sofort vier Buchstaben auf? Und haben Sie auch sofort überlegt, ob das Mädchen das hat? ADHS.

Vier Buchstaben. Ein massives Problem. Denn sie stehen längst nicht mehr nur als Abkürzung für die sogenannte Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, sondern für eine Reihe von brennenden Fragen, die unsere Gesellschaft derzeit umtreiben. Wann ist ein Kind einfach ein normales Kind, und ab wann ist es ein krankes Kind? Wann müssen und sollten wir es Kind sein lassen, und ab wann muss und sollte es behandelt werden? Und wie? Mit Psychopillen? Fragen, an denen wir uns abarbeiten. Fragen, die viele Eltern verunsichern, die quer durch die Familien, quer durch die Schulen, die Arztpraxen und quer durch alle Gesellschaftsschichten gehen. Fragen, auf die wir bislang keine befriedigenden Antworten und für die wir schon gar keine Lösungen gefunden haben. Und das macht die Sache so beängstigend. Dass wir nicht genau wissen, wie wir mit den Kindern umgehen sollen, die als verhaltensauffällig gelten und von denen es immer mehr zu geben scheint.

ADHS. Dazu hat heutzutage jeder mindestens eine Geschichte auf Lager. Die Freundin erzählt, dass ihr Sohn wirklich klug, aber ständig mit den Gedanken woanders sei. Ohne Tablette würde er nie seine Hausaufgaben schaffen. Sie wolle aber doch, dass er gut in der Schule mitkomme. Schließlich gehe es um seine Zukunft. Oder die Grundschullehrerin, die vor einer großen Klasse mit 28 Kindern steht, von denen fünf stark verhaltensauffällig sind. Da ist sie froh, wenn das eine oder andere davon eine Pille nimmt und den Unterricht nicht sprengt. Und die Nachbarin, deren Tochter beim Arzt unangenehm auffiel, weil sie sich nicht untersuchen lassen wollte. Daraufhin hat der Doktor das Mädchen vorsichtshalber gleich auch mal auf ADHS getestet.

Verhaltensgestörte Kinder – gibt es tatsächlich immer mehr von ihnen? Oder hat sich unser Blick auf die Jüngsten in unserer Gesellschaft verschoben? Die eingangs beschriebene Szene stammt übrigens aus Erich Kästners Kinderbuchklassiker Pünktchen und Anton. Pünktchen? Ist das nicht eine jener liebenswerten Kinderfiguren, über deren Streiche wir so gerne gelacht haben? Ja. Genau. So, wie auch über Huckleberry Finn, Michel aus Lönneberga und Pippi Langstrumpf. Und heute? Bescheinigen wir all diesen Kindern eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung.

Was ist passiert? Zwischen der Zeit, als Kinder offenbar noch Kinder sein konnten, und heute, wo wir genau das nicht mehr ertragen können? Wo Kinder, die sich wie Pünktchen und die anderen verhalten, nicht mehr gesellschaftsfähig sind und deshalb immer öfter mit Psychopharmaka ruhiggestellt werden?

Es ist ja nicht nur ADHS. Wenn Kinder zu verträumt sind, nennt man es ADS. Und immer häufiger werden ihnen auch Autismus und Depression bescheinigt. Unsere Kinder bekommen immer mehr Diagnosen. Haben angeblich Krankheiten, von denen bislang nur Erwachsene betroffen waren oder die es vor zehn Jahren noch nicht gab. Und sie bekommen immer häufiger Medikamente dagegen. Medikamente, die für Erwachsene produziert werden und schwere Nebenwirkungen wie Fettleibigkeit oder Diabetes auslösen können. Im schlimmsten Fall sogar Suizid.

Wie kann das alles sein? Wir haben uns auf die Suche gemacht. Mit Wissenschaftlern gesprochen, die seit Jahren ein »Krankmachen« von Kindern beobachten und davor eindringlich warnen. Mit Eltern, die unter Druck gesetzt werden und keinen anderen Ausweg sehen als die Pillen. Mit Lehrern, die Angst vor dem Unterricht haben, völlig ausgelaugt sind, weil Kinder nicht mehr beschulbar sind. Mit Ärzten, die von der Pharmaindustrie umworben werden, damit sie Psychopillen verschreiben. Mit Pharmainsidern, die ihre Tricks verraten, mit denen sie Medikamente auch an die jüngsten Patienten bringen. Und mit Kindern, die schwerste Nebenwirkungen erlitten haben: Jungen, denen Brüste wuchsen. Junge Erwachsene, die sagen, ihr Leben sei durch die Psychopillen zerstört worden. Mit Eltern, deren Kinder den Tablettenkonsum nicht überlebten. Und mit Eltern, Lehrern und Ärzten, die bei all dem nicht mehr mitmachen wollen und uns zeigen, dass es auch anders geht – ohne Medikamente.

Verhaltensauffällige Kinder sind ein großer Markt. Denn sie sind ja angeblich krank. Und damit sie (wieder) so werden, wie sie sein sollen, müssen sie zuerst gesundgemacht werden. Sagen zumindest die, die daran verdienen. Denn die neuen Krankheiten sind ein Milliardengeschäft. Milliardenbeträge, die in die Taschen der Pharmaindustrie wandern.

Aber es gibt auch noch andere, die an unseren Kindern mitverdienen wollen. Die dafür sorgen, dass sie so werden, wie wir sie haben wollen.

Brummkreisel und Schaukelpferde, die Pünktchen und Anton sicher gut gefunden hätten, stehen längst nicht mehr auf den Wunschlisten. Einfach nur spielen, das geht heute kaum mehr. Statt Laubwerfen oder Schneeballschlachten gibt es heute waldpädagogische Früherziehung. Die sogenannten Helikopter-Eltern überlassen nichts dem Zufall. Kindheit wird akribisch durchgetaktet. Alles zum Wohl des Kindes. Längst ist die Optimierung in den Kinderzimmern angekommen – auch die äußere. Wussten Sie, dass sich immer mehr Kinder eine Schönheitsoperation wünschen? Dass junge Mädchen Hormonpillen schlucken, um bloß keine Pickel zu bekommen?

Ja, es ist eine Menge passiert seit Erich Kästner. Streiche à la Pünktchen und Anton sind out. Was an deren Stelle zu treten droht, taugt kaum für ein Kinderbuch. Sie sollten darüber Bescheid wissen. Denn es ist höchste Zeit zu handeln.

KAPITEL IKinder dürfen nicht mehr Kinder sein

1. Kindheit als Symptom

»Es hilft ihr, sich in der Schule zu konzentrieren« – warum Angelina Medikamente bekommt

Seit vier Jahren beginnt Angelinas Tag mit einer Pille. »Sie ist positiv auf ADHS getestet worden«, erklärt ihre Mutter Christiane T. »Angelina ist hibbelig, zappelig, unruhig, vorlaut und will keine Grenzen einhalten«, beschreibt sie die Symptome ihrer hyperaktiven Tochter. Besonders schlimm sei es, wenn zu viele Eindrücke auf Angelina einwirken. Deshalb bekommt sie jeden Morgen ein Medikament. »Es hilft ihr, sich in der Schule zu konzentrieren, mehr Lernstoff aufzunehmen und sich nicht so schnell ablenken zu lassen.« Angelina ist ein hübsches Mädchen mit langen, dunklen Haaren, die sie zu kleinen Zöpfen geflochten und zu einem Pferdeschwanz hochgebunden hat. Sie sitzt am Küchentisch vor ihren Frühstückseiern. Christiane T. hat vier Kinder, drei Mädchen und einen Jungen, Angelina ist die Jüngste. »Das Medikament dämpft sie ein bisschen in allem. Gibt Konzentration«, ergänzt Christiane T. und wirft einen ernsten Blick auf ihre Tochter, die nun auf ihrem Stuhl unruhig hin und her wippt. »Eigentlich hat Angelina einen überdurchschnittlich hohen IQ«, sagt sie, trotzdem würde sie ohne das Medikament keine Leistung schaffen. »Es hilft ihr, mehr aufzunehmen, und sie kann dann ihre Hausaufgaben machen, ohne dass sie zehnmal aufsteht.« Angelina beugt sich hinunter und besieht sich den Küchenboden. »Und ihre Handschrift ist wesentlich ruhiger und schöner.« Angelina reißt die Augen auf und zieht eine Schnute.

Angelina bekommt eine Wunderdroge, die Kinder ruhigstellt. Den Arzneistoff Methylphenidat, bekannt unter Medikamentennamen wie Ritalin oder Medikinet. Weil sie nur knapp 25 Kilo wiegt, bekommt die Neunjährige eine kleine Dosis, 20 Milligramm als Retard-Kapseln, bei denen der Wirkstoff nach und nach freigegeben wird. Insgesamt hält die Wirkung acht Stunden an. Damit schafft es Angelina durch den Unterricht. Christiane T. betont, dass ihre Tochter die Tabletten möglichst nur für die Schule und für die Hausaufgaben bekommt. »Nicht im Privaten.« Es sei denn, es stehe am Wochenende etwas sehr Anstrengendes für Angelina an. »Dann bekommt sie eine Zehn-Milligramm-Dosis, beziehungsweise ich frage sie, ob sie das möchte. Zehn Milligramm würden aber im Schulischen nicht ausreichen.«

Angelina sagt, dass sie sich durch das Mittel fröhlicher fühle und besser lernen könne. »Dann rede ich nicht so oft mit den anderen Kinder und krakle nicht so herum«, sagt sie und blickt an die Decke. Einmal, da habe die Lehrerin zu Hause angerufen und gefragt, ob Angelina am Morgen vergessen habe, ihre Tablette zu nehmen, erinnert sich die vierfache Mutter. Sie sei überhaupt nicht sie selbst. Würde laufend den Unterricht stören, dauernd aufstehen und die anderen Kinder ablenken. Dann ist Christiane T. eingefallen, dass sie die Pille tatsächlich in der Hektik am Morgen vergessen hatte. »Ja, dann musste ich in die Schule gehen, und dann hat Angelina nachträglich die Tablette bekommen.«

»Ja«, sagt Angelina.

Ihre Mutter schaut sie an. »Ich glaube, für sie war das auch ganz schlimm.«

»Ja«, sagt Angelina.

Ist ihr die Entscheidung schwergefallen, ihrer Tochter die Tabletten gegen die Hyperaktivität zu geben?

»Jaaa«, sagt Angelina und verdreht dabei theatralisch die Augen.

»Nein, überhaupt nicht«, sagt Christiane T. und blickt sehr ernst. »Aber es war schwer für mich, dass sie jetzt ADHS hat.« Weil bei ihren beiden älteren Töchtern ADS diagnostiziert wurde, also das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ohne Hyperaktivität, sei sie aber »vorgewarnt« gewesen und habe deshalb bereits im Kindergarten immer wieder nachgefragt, ob Angelina irgendwie auffällig sei, wenn es um Konzentrationsübungen gehe. Das war offenbar nicht der Fall.

Macht sie sich Gedanken über Nebenwirkungen? »Bei Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Apotheker«, sagt Angelina.

»Nebenwirkungen«, sagt Christiane T. und zieht die Mundwinkel auseinander. Ihre Augen blicken müde. »Gedanken mache ich mir immer darüber. Wer möchte einem Kind Medikamente geben?«

»Mit Nebenwirkungen«, sagt Angelina.

»Wer möchte selbst jeden Tag Medikamente nehmen? Keiner. Sicher nicht.«

Zumal Angelina schon andere Mittel bekommen hat, die Nebenwirkungen ausgelöst hätten. Bei einem habe das Mädchen nicht einschlafen können, bei einem anderen sei sie ganz stark depressiv geworden. Christiane T. zögert, zieht wieder die Mundwinkel auseinander, atmet aus, dann setzt sie entschlossen an: »Aber …«

»… weil man muss«, vollendet Angelina den Satz ihrer Mutter.

Die sagt: »Mir ist es wichtiger, dass mein Kind einen guten Abschluss hat, einen guten Start ins Leben, als dass ich sage, ich bin strikt gegen Medikamente.«

Es ist Zeit für Angelinas Pille. Christiane T. drückt eine Tablette aus dem Blister und gibt sie ihrer Tochter in die Hand. Dann reicht sie ihr einen pinkfarbenen Plastikbecher. Angelina steckt die Tablette in den Mund, trinkt einen Schluck und stellt den Becher zurück auf den Tisch. »Trinkst du bitte noch ein bisschen«, fragt ihre Mutter und streicht ihr übers Haar. »Mh«, sagt Angelina und nimmt noch einen Schluck.

Nachdem sie die Tablette genommen hat, ist sie wie ausgewechselt. Kein Hibbeln mehr, kein Augenverdrehen. Ruhig sitzt das schmale Mädchen am Tisch, um noch eine Schreibaufgabe zu erledigen. Das Frühstücksgeschirr ist abgeräumt, jetzt liegt ein offenes Mäppchen mit Pferdemotiven vor ihr. Und ein großes Schulheft. »April, April«, hat Angelina fein säuberlich in runder Kinderschrift hineingeschrieben. Nun arbeitet sie sich konzentriert Buchstabe für Buchstabe weiter durch den Text, den sie von einem Blatt abschreiben soll. Langsam wandert ihr Füller über die Seite. Er ist weiß und pinkfarben und wirkt groß in ihrer Kinderhand. »Sascha saß ruhig neben Tim«, schreibt Angelina, und das T von Tim macht einen kleinen Bogen, während sich das kleine m hinter das kleine i zu ducken scheint. »Plötzlich sagte er: ›Tim da fährt eine Kuh …‹« schreibt Angelina.

»Hinter Tim kommt ein Komma«, sagt Christiane T., die neben ihrer Tochter sitzt und genau beobachtet, wie Angelina bedächtig die Buchstaben formt. »Ohne Medikamente wären Hausaufgaben wie jetzt in Schönschrift nicht möglich«, fügt sie hinzu. Angelina setzt artig das Komma hinter Tim. »Tim, da fährt eine Kuh … F a h r r a d«, vollendet sie dann den Satz. Dabei hüpft das große F ein wenig in die Höhe, und die drei Buchstaben, die das r a d bilden, quetschen sich am Ende aneinander. Ganz so, als würden sie abgebremst. Und das sind sie auch. Denn Angelina hat ein großes, kugelrundes Ausrufezeichen hinter sie gesetzt.

Die Mutter weiß noch nicht, wie lange sie ihrer Tochter die Medikamente noch geben wird. Manche Kinder hätten ja die Möglichkeit herauszuwachsen, sagt sie, manche müssten sie ihr Leben lang nehmen. Aber wenn man Diabetes oder Bluthochdruck habe, müsse man ja auch ein Leben lang Medikamente nehmen. »Ich sehe da keinen Unterschied«, sagt die gelernte Polizistin entschieden. Und dann, mit Blick auf ihr jüngstes Kind, das nun eine gelbe Blume auf ein Blatt Papier malt, ergänzt sie: »Angelina wird ja irgendwann alt genug sein, um selbst zu entscheiden, was sie möchte.«

Pillen für die Kinderpsyche

Immer mehr Kinder leiden offenbar unter Konzentrationsmangel und Hyperaktivität, unter Schwermut oder Aggressionsschüben. Sie träumen sich weg, wo sie aufmerksam sein sollen, sie stören, wo konzentriertes Arbeiten gewünscht ist. Sie sind still und in sich gekehrt. Oder sie fallen auf, weil sie laut herumschreien und wild auf ihren Stühlen herumkippeln. Eine Langzeitstudie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, die KiGGS-Studie des Robert-Koch-Instituts Berlin, kommt zu einem alarmierenden Ergebnis: Bei jedem fünften Kind zwischen drei und 17 Jahren konnten Hinweise auf psychische Störungen festgestellt werden.1

Depression, ADS, ADHS: So lauten die Diagnosen, die heute bereits Grundschulkinder gestellt bekommen. Immer häufiger ist auch zu hören, dass Kinder an einer sogenannten Autismus-Spektrum-Störung leiden, ein Tourette- oder Asperger-Syndrom festgestellt wurde – alles Bezeichnungen für schwere Entwicklungsstörungen, die früher kaum einer kannte. Gegen diese Störungen sollen Psychopharmaka helfen.

Gegen ADHS und ADS werden zum Beispiel Medikamente mit dem Wirkstoff Methylphenidat verschrieben. Wurden 1995 noch 40 Kilogramm Methylphenidat an Kinder und Jugendliche verordnet, waren es 2012 1.750 Kilogramm, also 1,75 Tonnen! Das ist eine Steigerung um das 43-Fache!2

Laut Arztreport 2013 der Barmer GEK haben 2011 schätzungsweise 757.000 Menschen in Deutschland im Rahmen der ambulanten Versorgung und/oder bei Behandlungen in Akutkrankenhäusern die Erkrankungsdiagnose »Hyperkinetische Störungen« erhalten. Unter dieser Bezeichnung werden Symptome und Störungen im Sinne des ADHS erfasst. Die meisten, nämlich 82,7 Prozent, gehören in die Gruppe der 0- bis 19-Jährigen.3

Das heißt, es gibt in Deutschland insgesamt mehr als 620.000 Kinder und Jugendliche, bei denen die Impulskontrolle und die Fähigkeit zur Selbststeuerung vermindert sind? Die Reize nicht richtig filtern und verarbeiten können, sodass diese ungehindert auf sie einstürmen und sie so weder aufmerksam zuhören noch einen Gedanken zu Ende denken und oft auch keinem geregelten Tagesablauf folgen können? So nämlich beschreiben Ärzte und Psychologen die typischen Symptome von ADHS.4

Auch bei bestimmten Antidepressiva ist ein regelrechter Verordnungsboom zu beobachten. Das zeigt eine Analyse der größten gesetzlichen Krankenkasse Barmer GEK. Waren es 2008 noch 4.928 verordnete Packungen, die 6bis 18-Jährigen verschrieben wurden, stieg ihre Zahl 2012 auf 8.038 – das ist ein Anstieg von rund 63 Prozent.5

Immer mehr Kinder mit psychischen Störungen, die immer mehr Medikamente verschrieben bekommen. Das ist der Trend in Deutschland. Das Beunruhigende dabei: Psychopharmaka sind keine Vitaminpillen. Sie greifen in den Gehirnstoffwechsel ein und können gravierende Nebenwirkungen haben. Bei Methylphenidat handelt es sich zum Beispiel um einen Verwandten der synthetisch hergestellten Substanz Amphetamin, deswegen fällt er auch unter das Betäubungsmittelgesetz. Zu den Nebenwirkungen des Wirkstoffes gehören Angstzustände und Schlaflosigkeit, Agitiertheit, also krankhafte Unruhe, und Aggression. So wird das ADHS-Mittel auch salopp als »Kinderkoks« bezeichnet. Genauso effektiv, genauso stark, genauso gefährlich. Trotzdem schwören immer mehr Eltern und Ärzte darauf.

Wenn aus verhaltensauffälligen Kindern kranke Kinder werden

Kann das angehen, fragen wir uns. Wo liegen die Ursachen dafür, dass immer mehr Mädchen und Jungen psychische Störungen entwickeln? Sind die Kinder heute tatsächlich kränker als früher? Ist ihr Verhalten wirklich so viel auffälliger? So auffällig, dass selbst die Jüngsten mit Medikamenten behandelt werden müssen?

Ist nicht bereits anno 1845 im Kinderbuchklassiker Der Struwwelpeter ähnliches Verhalten beschrieben worden? »Er gaukelt. Und schaukelt. Er trappelt. Und zappelt. Auf dem Stuhle hin und her«, heißt es da über Philipp, der am Essenstisch nicht stillsitzen will und schließlich bei seiner Schaukelei das Tischtuch mitsamt dem Geschirr vom Tisch reißt. Der Zappelphilipp, der erste literarisch dokumentierte ADHS-Fall oder einfach ein lebhafter Junge?

Oder Hans Guck-in-die-Luft? Um seine Aufmerksamkeit ist es auch nicht gerade gut bestellt. »Wenn der Hans zur Schule ging, stets sein Blick am Himmel hing«, dichtet Struwwelpeter-Autor Heinrich Hoffmann über ihn. »Nach den Dächern, Wolken, Schwalben, schaut er aufwärts allenthalben: Vor die eignen Füße dicht, ja, da sah der Bursche nicht.«6 Der Träumer Hans … bekäme er heute Methylphenidat verschrieben?

Helga Kraft7 ist seit 40 Jahren Lehrerin. Sie will nicht glauben, dass Kinder heute auffälliger sind. Oder gar kränker, wie die vermehrte Gabe von Medikamenten es nahelegt. »Diese lebhaften oder besonders ruhigen Kinder gab es schon immer«, ist sie überzeugt. Was aber heute dazukäme, sei, dass von den Kindern immer mehr verlangt werde. »Im Kindergarten geht das schon los. Dass die Eltern die Kinder total verplanen. Und dass sie sie mit Medikamenten ruhigstellen.« Die erfahrene Pädagogin findet, dass heute immer mehr schiefläuft im Umgang mit Kindern. Immer wieder müssten sie und ihre Kollegen mitansehen, dass Kinder, die in ihren Augen völlig »normal« wären, plötzlich Medikamente verschrieben bekämen. »Zum Beispiel hatten wir mal ein unheimlich liebes, nettes Mädchen an unserer Schule«, erzählt Kraft. Ja, ein klein bisschen ruhig sei sie gewesen, ein klein bisschen verträumt. Es wären nun mal nicht alle Kinder lebhaft. »Aber das Mädchen ist im Unterricht mitgekommen und steuerte auf eine Realschulempfehlung hin. Mit einem Mal hat dieses Mädchen Ritalin gekriegt! Wir Lehrer haben das nicht verstanden. Warum kriegt so ein Kind Ritalin?« Das Gleiche bei einem Jungen. Auch der war eher ein ruhiger Typ. Auch der bekam plötzlich Medikamente, die ihn offenbar komplett sedierten: »Vor einigen Tagen hab ich in der Pause zu einer Kollegin gesagt: ›Guck dir bloß mal den Jungen an. Der steht doch völlig neben sich, kommt mir vor wie ein Zombie.‹«

Vor drei Jahren hat das Kollegium beschlossen, die Klassenfahrt auszusetzen. Helga Kraft und ihre Kollegen weigerten sich, während der Reise – sozusagen in Vertretung der Eltern – Psychopharmaka an die Schüler zu verteilen. »Wir mussten uns damals mit den Eltern auseinandersetzen«, erinnert sich die Lehrerin. »Sie behaupteten, wir wollten ihre Kinder ausgrenzen. Da jedoch Klassenreisen mit Übernachtung nicht verpflichtend sind und Lehrkräfte in unserem Bundesland bei Missbrauch oder Schaden durch falsche Medikamentengabe privat haften müssen, setzten wir für zwei Jahre die Klassenfahrten aus.«

»Es liegt nicht an den Kindern, die waren immer so, wie sie sind«, betont auch der Schweizer Kinderarzt und Entwicklungsforscher Remo Largo. Er kommt zu dem Schluss: Nicht die Kinder haben sich verändert. Es sind die Erwachsenen. »Die Eltern sind unter Druck, die Lehrer sind unter Druck. Aus verschiedenen Gründen.« Im Gesamtpaket führe das dazu, dass immer mehr Kinder als auffällig ausgegrenzt werden und Pillen erhalten. Largo ist überzeugt: »Es hat etwas mit den Leistungsanforderungen zu tun, die an die Kinder gestellt werden. Und die Kinder, die dem nicht genügen, bekommen dann die Diagnose.«

Wie er kritisieren immer mehr Experten aus Wissenschaft, Medizin und Forschung, dass gerade die Diagnosen ADS und ADHS von den Ärzten zu schnell gestellt würden und die therapeutische Begleitung bisweilen zu kurz komme. Dabei schreiben die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (DGKJP) und der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) der Ärzte und Krankenkassen eine gründliche Diagnose und ein therapeutisches Gesamtkonzept vor.8

»Es ist immer leichter, ein Rezept über den Tisch zu schieben, als sich erst mal zurückzulehnen und zu fragen: ›Was meinen Sie damit, wenn die Schule sagt, Ihr Kind hat ADHS, worum geht es jetzt eigentlich?‹«, erklärt der Kinderarzt und Therapeut Dr. Stephan Heinrich Nolte, der einem pharmakritischen Netzwerk angehört. Denn dann müsse sich der Arzt den gesamten biografischen Hintergrund anhören, die gesamte Lebenssituation des Kindes erfragen. »Das ist eine Aufgabe, wenn man die ernst nimmt, braucht man Stunden dafür. Für ein Rezept brauche ich nicht lange.« Auch Entwicklungsforscher Remo Largo ist skeptisch, was die schnelle Gabe von Medikamenten wie Ritalin angeht. Er selbst hat in seiner Praxis durchaus auch Ritalin verschrieben, und es gebe Kinder, die unglaublich gut darauf ansprechen. Aber das seien seiner Meinung nach unter einem Prozent. »Die anderen Kinder bekommen das Medikament aus Gründen, die ich nicht für gerechtfertigt halte.«

»Hallo Opa, ich bin auch noch da!« – Aufmerksamkeit braucht Zeit

Kinder müssen heute vor allem eines: funktionieren. In unserer Gesellschaft, in der ständiger Wettbewerb und ein konstantes Höher-Weiter-Schneller herrschen, in der Machbarkeit über alles geht und gleichzeitig die Angst vor dem sozialen Abstieg umgeht, wird Kindlichkeit zum unliebsamen Symptom, das regelrecht bekämpft werden muss. Ungestüm sein zu dürfen, war einst ein Privileg der Jugend. Wir sind gerade dabei, den Kindern dieses Privileg zu entziehen. Denn das noch Unfertige und Spielerische, das ungebändigt Stürmische, das Verträumte, Trödelige, das immer wieder Überraschende, das Über-die-Strenge-Schlagende, sprich das, was zum Kind-Sein dazugehört, passt uns offenbar nicht ins (Lebens-)Konzept. Warum? Weil wir im Grunde wissen, dass eben nicht alles genau so machbar ist, wie wir uns das vorstellen. Und das macht Angst. Angst um unsere Kinder, die fit und leistungsstark werden sollen für ihre Zukunft.

Kindsein kann für Erwachsene mitunter unbequem sein. Vor allem, wenn man gerade selbst überfordert ist. In einer Trennungssituation lebt, um den Arbeitsplatz fürchtet oder einfach keine Ahnung hat, wie man die vielen Anforderungen unter einen Hut bringen soll. Uns fehlt oft die Zeit, auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen. Und so suchen wir nach »Abkürzungen« und greifen zu den Pillen. Das birgt eine große Gefahr, denn kindliches Verhalten wird so regelrecht pathologisiert, also für krankhaft erklärt. Entwicklungsforscher Remo Largo kritisiert: »Wir sind nicht mehr bereit, Kinder so zu nehmen, wie sie sind, und glauben, sie mit Medikamenten so machen zu können, wie wir sie haben wollen.«

Die Bedürfnisse der Kinder bleiben dabei immer häufiger auf der Strecke. Vor allem der permanente Zeitmangel, der heute herrsche, führt nach Meinung von Klaus Wenzel dazu, dass Eltern und Lehrer mitunter nicht mehr adäquat auf ein Kind ein- und mit seinem Verhalten umgehen können. Der Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV) befürchtet, dass so aus zeitweiligen Zappelphilippen, wie es sie schon immer gegeben habe, tatsächlich verhaltensgestörte Kinder werden. »Wenn unser Enkelkind Paul zappelig ist, sich also so verhält, wie man es eigentlich nicht haben will, dann liegt es meistens daran, dass er sich in dem Moment zu wenig wahrgenommen fühlt«, erklärt uns der Vater von drei erwachsenen Söhnen im Interview. »Er sendet mit dem Zappeln ein Signal, das heißt, ›Hallo Opa, ich bin auch noch da.‹ Dann gehe ich auf ihn ein, sage, ›wollen wir was lesen, wollen wir Fußball spielen?‹ Das tun wir dann, und nach fünf Minuten ist der kein Zappelphilipp mehr, sondern ein freudiger, freundlicher, interessierter junger Bub. Nur wenn ich ihm die Zeit nicht gegeben hätte, dann wäre er immer wilder geworden, und die Situation wäre irgendwann eskaliert.«

Wenzel beobachtet mit großer Sorge, dass die Zeit, auf Kinder und ihr Bedürfnis nach Aufmerksamkeit einzugehen, in den Familien und Schulen immer häufiger fehle und sich hilflose Eltern oft keinen Rat mehr wüssten, als zu Pillen zu greifen, damit das Kind nur ja ruhig ist. So gesehen leiden Kinder heute tatsächlich unter einem Aufmerksamkeitsdefizit: nämlich unter dem ihres Umfeldes!

Der BLLV-Präsident warnt vor einem Teufelskreis, der sich daraus entwickeln kann. »Das Schlimme für den Entwicklungsprozess des Kindes ist, dass es ihm tatsächlich nach der Einnahme der Pillen besser geht«, sagt er. Und dass es das als störend empfundene Verhalten in der Regel einstelle. »Und deshalb weiß das Kind jetzt, immer wenn ich eine Tablette bekomme, bin ich wieder erträglich und kann mit den Leuten umgehen, und die Leute können mit mir umgehen.« Die Kinder bekommen ein positives Feedback; das fühlt sich gut an, das macht sie stolz.

Pillen als Erziehungshilfe. Doch werden so nicht kindliche Verhaltensweisen pathologisiert?

Kein Raum für Entwicklung – kein Raum für Anderssein

Rennen. Träumen. Bei Mädchen und Jungen sind das ganz typische Impulse. Impulse, die aus den tiefsten Bereichen des Gehirns immer wieder nach oben kommen, erklärt der Göttinger Hirnforscher Gerald Hüther. Diese Impulse kontrollieren und steuern zu lernen ist ein wichtiger Teil des kindlichen Entwicklungsprozesses. Doch statt Kindern mehr Raum und Zeit zu geben, um diese Entwicklungsschritte vollziehen zu können, würden sie mit Pillen ruhiggestellt. Hüther warnt deshalb vor der Gabe von Psychopharmaka. Mit seinen Ansichten hat er sich nicht nur Freunde geschaffen. Wissenschaftler und Psychologen, die die vielen ADHS-Diagnosen für gerechtfertigt und die Behandlung mit Psychopharmaka für notwendig halten, argumentieren, Hüther sei »nur« ein Hirnforscher, also nicht wirklich kompetent auf dem Gebiet. Die Argumente, die Hüther seinen Kritikern entgegenhält, klingen stichhaltig: Tatsache sei nun mal, dass sich das Gehirn eines Kindes nutzungsabhängig entwickle. Das heißt, die Erfahrungen, die es mit Eltern, in der Schule, mit Freunden macht, verfestigen oder verankern sich in Form von Netzwerken. So lerne ein Kind zum Beispiel, das Mensch-Ärger-Dich-Nicht-Spielbrett nicht umzuwerfen, wenn es wütend ist. Und es lerne, nicht bei jedem Frust gleich wegzulaufen, sondern Aufgaben zu Ende zu führen. Ganz so, wie es das mit Familie und Freunden erfahre. »Wenn man jetzt ein Medikament gibt, dann ändert dieses Medikament natürlich auch die Arbeitsweise des Gehirns«, sagt der Forscher. Das Gehirn passe sich an das Medikament an. In der Folge lernt es nicht, Impulse wie Wut oder Weglaufen selbst zu kontrollieren. Das übernimmt das Medikament.

Im schlimmsten Fall bis ins Erwachsenenalter.

Wo die wilden Kerle wohnten – Pathologisierung eines Geschlechts

»Aber unser Georg hat sich geärgert über Franz. ›Wer ist ein Hanswurst?‹, hat er gefragt und das war schon falsch, denn der Franz, der ist sehr stark und er gibt jedem eins mit der Faust auf die Nase und jetzt bei Georg natürlich auch: peng! Wie Dschoscho den Schlag gesehen hat, hat er aufgehört ›Kuatsch-koup‹ und ›Henswoast‹ zu rufen. Er hat Franz angeguckt und hat gesagt: ›Boxing? Sähr gout!‹«9 So steht es im Kinderbuchklassiker Der kleine Nick.

Bezeichnenderweise ist uns heutzutage vor allem quirliges, dominantes, aggressives Verhalten ein Dorn im Auge. Verhalten, wie es vor allem Jungen an den Tag legen? Der kleine Nick und seine Freunde prügeln sich jedenfalls regelmäßig, wie die oben zitierte Szene zeigt, mit großer Freude und Hingabe. Gehört Prügeln für Heranwachsende dazu? Der höhere Testosteronspiegel mache Jungen tatsächlich lebhafter, bewegungsfreudiger, aktiver, bestätigt Matthias Stiehler, Mitherausgeber des Männergesundheitsberichts 2013 der Stiftung Männergesundheit.10 »Risikobereitschaft ist für Jungen gerade in der Pubertät ein Instrument der Abgrenzung«, sagen auch die Wissenschaftlerinnen Sabine Walper und Anna Buschmeyer vom Deutschen Jugendinstitut München. So gewinnen sie ihre Identität, erlangen ihre Männlichkeit, können sich selbst erfahren und erproben. Befragt man Jungen dieses Alters, wollen sie alle meist eins: »Bloß kein Mädchen sein.« Wichtig sei für die Jungen, »sich als ›männlich‹ zu spüren, Geschlechtlichkeit auszudrücken, Maskulinität vor anderen darzustellen«, sagen die beiden Forscherinnen. Entsprechend fallen die typischen Vorbilder der Jungen aus: Rennfahrer, Fußballstars, Schauspieler, Helden der Computerspiele und Popsänger. Die sind stark, cool, respekteinflößend, experimentier- und risikofreudig, rivalisierend und zeigen Imponierverhalten.

Wenn gerade das Kräftemessen für die Entwicklung von Jungen »normal« und sogar unerlässlich ist, wir es aber immer mehr als unbequem empfinden, erklären wir damit die Jungen für krank? Immer mehr Forschungen legen das nahe. »Die Mehrzahl der Grundschulkinder mit der psychiatrischen Diagnose ADHS, die mit Methylphenidat behandelt werden, sind Jungen«, heißt es beispielsweise im Männergesundheitsbericht 2013. »Nach den KIGGS-Daten liegt eine ärztlich oder psychologisch diagnostizierte ADHS-Störung bei fast acht Prozent der Jungen und damit deutlich häufiger vor als bei Mädchen mit 1,8 Prozent. Im Geschlechtervergleich sind Jungen damit 4,4-mal häufiger betroffen.«11 Und das besonders oft zu Unrecht, wie eine Studie der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Basel belegt.12 Für die Männergesundheitsbericht-