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Wir schreiben das Jahr 1977. In einem verschlafenen Nest irgendwo in der Provinz geht das Leben seinen gewohnten, langweiligen Gang. Das ändert sich, als das erste Album der Ramones den Weg ins Kinderzimmer unseres neunjährigen Helden findet. Von nun an ist nichts mehr so, wie es war. Die neue Musik aus New York wirkt wie ein Weckruf, ein Signal zum Aufbruch aus der Provinz. Zusammen mit seinem besten Freund Ralphie und dem Schulschwänzer Krusti gründet er seine eigene Band, und die drei Jungs treten an, um der Welt zu zeigen, dass auch Viertklässler Punkrock spielen können. Aber die Hürden, die sie nehmen müssen, sind hoch: Woher bekommen sie Instrumente? Wie schreibt man griffige Punktexte? Wo findet sich ein geeigneter Proberaum? Und vor allem: Wie verhindert man, dass Eltern und Lehrer sich einmischen und alles kaputtmachen? Im Jahr 2016 feiert Punk seinen vierzigsten Geburtstag. Diese Geschichte führt uns zurück in die Zeit, als er noch in den Kinderschuhen steckte, und das im wahrsten Sinn des Wortes. Man stelle sich Tom Sawyer und Huckleberry Finn als Dorfpunks vor. »Die Klasse von 77« ist eine schillernde Pop-Satire, ein Coming-of-Age-Roman der etwas anderen Art, urkomisch, laut und schnell. Wie Punkrock eben. Auf seinem Weg zum Punk-Olymp bekommt das eigensinnige Trio es unter anderem mit einem merkwürdigen Krautrock-Kaplan zu tun, einem geschäftstüchtigen Hausmeister und den neugierigen Mädchen vom Enid-Blyton-Club. Am Ende treffen sie sogar auf eine vergessene Hippie-Kommune. Und immer steht die Frage im Raum: Wird irgendwann eine Plattenfirma aus London anklopfen und die Band unter Vertrag nehmen? Wird sich der Traum von der internationalen Karriere erfüllen?
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Seitenzahl: 357
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Ein Punkrock-Roman von Francis Kirps
Verlag Andreas Reiffer
Edition The Punchliner
Umschlaggestaltung: Karsten Weyershausen
Lektorat: Lektorat-Lupenrein.de und Anselm Neft
1. Auflage, 2016, Originalausgabe, identisch mit der Printversion
(c) Verlag Andreas Reiffer, 2016
ISBN 978-3-945715-49-9
Verlag Andreas Reiffer, Haupstr. 16 b, 38527 Meine
www.verlag-reiffer.de
www.facebook.com/verlagreiffer
They did not know it was impossible, so they did it.
Mark Twain
Tack. Tock. Tack.
Das war kein Traum. Irgendjemand klopfte an mein Zimmerfenster. Der Nikolaus?
Langsam wurde ich wach. Nein, der Nikolaus konnte es nicht sein, an den glaubte ich ja nicht mehr. Ich setzte mich im Bett auf. Hatte mein Vater wieder die Fenster verwechselt? Oder war er vom Dach gerutscht und baumelte jetzt an der Regenrinne, dabei mit den Stiefeln gegen meine Fensterscheibe stoßend? Dass er in seinem Alter noch den Nikolaus spielte, fand ich mehr als albern. Er war jetzt über dreißig, da begann der Muskelabbau und die Reflexe waren auch nicht mehr die eines jungen Hüpfers. Wegen mir hätte er es nicht machen müssen. Auf welchem Weg die Geschenke mich erreichten, war mir herzlich egal. Hauptsache sie kamen an. Hoffentlich war dem Playmobilpiratenschiff nichts passiert. Aber die Dinger waren echt robust. Hochseetüchtig, wenn man dem Hersteller Glauben schenken wollte. Ich knipste die Nachttischlampe an. Normalerweise schlich mein Vater sich auf den Dachboden, wo die Geschenke versteckt waren, stieg dann zur Dachluke raus und seilte sich in Nikolauskluft samt Geschenkesack zum Wohnzimmerfenster im ersten Stock ab. Ich sah auf meinen Radiowecker: 23:32. Das war zu früh. Vor vier Uhr morgens wurde er nie aktiv, da war das Risiko zu groß, dass ich noch wach war und ihm auflauerte, um ihn zu enttarnen. Er kannte meine Abläufe fast so gut, wie ich die seinen.
Wieder Klopfen ans Fenster, dringlicher diesmal. Ich stand auf und ging nachsehen. Unten in unserem Garten stand eine hagere Gestalt im strömenden Regen und bewarf mein Fenster mit Steinchen. Wie in einem schlechten Kinderbuch. Gähn.
Ralphie, mein bester Freund, konnte es nicht sein, der hatte einen Zweitschlüssel. Und selbst wenn er den Schlüssel verloren hätte: Auf so etwas Abgeschmacktes, wie Kieselsteinchen gegen mein Fenster schmeißen, wäre er nie verfallen. Er hätte einfach geklingelt. Ralphie war einer, der nicht lang fackelte.
Ich stellte Heinz-Rudolf III., meine Venusfliegenfalle, vom Fenstersims auf den Boden und öffnete das Fenster. Die Gestalt fuchtelte mit den Armen, sie schien einen Buckel zu haben, aber ich konnte alles nur verschwommen erkennen. Vielleicht sollte ich besser meine Brille aufsetzen. Ich ging zurück zum Nachttisch und nahm auch gleich die Stabtaschenlampe aus der Schublade. Wenn schon Kinderbuchklischees, dann richtig.
Im Lichtkegel der Taschenlampe erkannte ich, wer es war: Da zappelte mein Cousin Iggy und machte mir Zeichen, die ich nicht deuten konnte. Der Buckel entpuppte sich als Seesack, den er um die Schulter hängen hatte.
»Hallo, alter Knabe«, sagte ich, »so spät noch unterwegs?«
Cousin Iggy legte einen Finger auf den Mund und zeigte auf einen Punkt genau unter meinem Fenster. Ah, die Eingangstür. Dann wollte er wohl reinkommen. Um diese Uhrzeit. Wie ungewöhnlich.
Ich lief nach unten und öffnete lautlos die Tür. Iggy schlüpfte herein. Er war tropfnass und noch dünner, als ich ihn in Erinnerung hatte. Cousin Iggy war schon vierzehn und der einzige meiner Cousins, zu dem ich einen Draht hatte. Ein blitzgescheiter Kopf.
»Wenn du dich vorher angemeldet hättest, dann hätte ich mich gerichtet und meiner Mutter aufgetragen, dir etwas zu kochen«, begrüßte ich ihn vorwurfsvoll.
»Schon in Ordnung, Kleiner«, flüsterte Cousin Iggy und wuschelte mir durchs Haar.
»Begib dich schon mal in meine Gemächer. Ich komme dann gleich nach«, sagte ich und deutete auf die Treppe ins erste Stockwerk. Cousin Iggy huschte treppauf. Ich ging in die Küche, nahm eine Flasche Limo und eine Tafel Schokolade aus dem Kühlschrank und eilte auf Zehenspitzen in mein Kinderzimmer. Gäste musste man fürstlich bewirten, egal zu welcher Stunde sie hereinschneiten.
Cousin Iggy saß im Schneidersitz auf dem Boden und rubbelte sich das nasse blonde Haar mit einem T-Shirt trocken. Regenbahnen liefen über seine schwarze Lederjacke und bildeten kleine Pfützen auf dem Boden. Seine Jeans hatten Löcher an den Knien. Im Lichtstrahl der Stabtaschenlampe wirkte sein Gesicht sehr blass.
»Mach das Ding aus«, sagte er und schirmte seine Augen mit der Hand ab. Ich legte meine Taschenlampe in die Nachttischschublade, dann schloss ich das Fenster und stellte Heinz-Rudolf III. wieder zurück an seinen Platz. Ich drehte die Heizung unter dem Fenstersims ein wenig auf. Heinz-Rudolf III. verkühlte sich immer so leicht. Und Cousin Iggy sah auch aus, als könnte er ein bisschen Wärme vertragen.
Ich ließ mich auf das Bett fallen, dass die Federn krachten: »Was liegt an, werter Gevatter, dass du mich zu dieser unchristlichen Uhrzeit überfällst?«, fragte ich Cousin Iggy. Der grinste: »Hast du immer noch nicht gelernt, normal zu reden? Aber im Ernst: Ich stecke in Schwierigkeiten.«
In Schwierigkeiten, wie aufregend. Charles Dickens ick hör dir trapsen. Ich beugte mich nach vorn und blickte Cousin Iggy in die Augen: »Ich bin dein Mann. Schwierige Fälle sind mein Spezialgebiet.«
»Kann ich heute Nacht hier bleiben? Ich bin aus dem Internat weggelaufen. Hab’s nicht mehr ausgehalten, bei den Pfaffen.«
Aus. Dem. Internat. Weggelaufen. Wie konnte er nur? Ich hatte mein ganzen Leben lang davon geträumt, in einem Internat zu sein, wild und frei, auf Du und Du mit Burggespenstern, rätselhafte Fälle lösend.