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"Die kleine Meerjungfrau" (dänisch Den lille Havfrue) ist ein Kunstmärchen des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen von 1837. Es basiert auf der Sage der Undine. Die kleine Meerjungfrau ist die jüngste und anmutigste der sechs Töchter des Meerkönigs. Sie hat, wie alle Meermenschen, keine Füße, sondern einen Fischschwanz. Sie besitzt als einzige die Marmorstatue eines Jünglings, welche im Meer versunken ist.
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Seitenzahl: 38
Weit draußen im Meere ist das Wasser so blau wie die Blätter der schönsten Kornblume und so klar wie das reinste Glas. Aber es ist sehr tief, tiefer, als irgendein Ankertau reicht, viele Kirchtürme müßten aufeinander gestellt werden, um vom Boden bis über das Wasser zu reichen. Dort unten wohnt das Meervolk.
Nun muß man aber nicht glauben, daß da nur der nackte, weiße Sandboden sei, nein, da wachsen die sonderbarsten Bäume und Pflanzen, die so geschmeidig im Stiele und in den Blättern sind, daß sie sich bei der geringsten Bewegung des Wassers rühren, als ob sie lebten. Alle kleinen und großen Fische schlüpfen zwischen den Zweigen hindurch wie hier oben die Vögel durch die Bäume. An der tiefsten Stelle liegt des Meerkönigs Schloß; die Mauern sind von Korallen und die langen Spitzbogenfenster vom klarsten Bernstein, aber das Dach bilden Muschelschalen, die sich öffnen und schließen, je nachdem das Wasser strömt. Es sieht herrlich aus, denn in jeder liegen strahlende Perlen, eine einzige davon würde großen Wert in der Krone einer Königin haben.
Der Meerkönig dort unten war seit vielen Jahren Witwer, während seine alte Mutter bei ihm wirtschaftete. Sie war eine kluge Frau, aber stolz auf ihren Adel, deshalb trug sie zwölf Austern auf dem Schwanze, die andern Vornehmen aber durften nur sechs tragen. — Sonst verdiente sie großes Lob, besonders weil sie viel auf die kleinen Meerprinzessinnen, ihre Enkelinnen, hielt. Es waren sechs schöne Kinder, aber die jüngste war die schönste von allen, ihre Haut so klar und so fein wie ein Rosenblatt, ihre Augen so blau wie die tiefste See, aber ebenso wie die andern hatte sie keine Füße, der Körper endete in einen Fischschwanz.
Den ganzen Tag konnten sie unten im Schlosse spielen, in den großen Sälen, wo lebendige Blumen aus den Wänden hervorwuchsen. Die großen Bernsteinfenster wurden aufgemacht, und dann schwammen die Fische zu ihnen herein, wie bei uns die Schwalben hereinfliegen, wenn wir die Fenster aufmachen; doch die Fische schwammen zu den Prinzessinnen hin, fraßen aus ihren Händen und ließen sich streicheln.
Draußen vor dem Schlosse war ein großer Garten mit feuerroten und dunkelbraunen Blumen, die Früchte strahlten wie Gold und die Blumen wie brennendes Feuer, indem sie fortwährend Stengel und Blätter bewegten. Die Erde selbst war der feinste Sand, aber blau, wie die Schwefelflamme. Über dem Ganzen lag ein eigentümlich blauer Schein; man hätte eher glauben mögen, daß man hoch in der Luft stehe und nur Himmel über und unter sich habe, als daß man auf dem Grunde des Meeres sei. Während der Windstille konnte man die Sonne erblicken, sie erschien wie eine Purpurblume, aus deren Kelche alles Licht strömte.
Eine jede der kleinen Prinzessinnen hatte ihren kleinen Platz im Garten, wo sie graben und pflanzen konnte, wie es ihr gefiel. Die eine gab ihrem Blumenfleck die Gestalt eines Walfisches, einer andern gefiel es besser, daß der ihrige einem kleinen Meerweibe gleiche, aber die jüngste machte den ihrigen rund, der Sonne gleich, und hatte Blumen, die rot wie diese schienen. Sie war ein sonderbares Kind, still und nachdenkend, und wenn die andern Schwestern mit den merkwürdigsten Sachen, welche sie von gestrandeten Schiffen erhalten hatten, prunkten, wollte sie außer den rosenroten Blumen, die der Sonne dort oben glichen, nur eine hübsche Marmorstatue haben. Dies war ein herrlicher Knabe, aus weißem, klarem Steine gehauen, der beim Stranden auf den Meeresgrund gekommen war. Sie pflanzte bei der Statue eine rosenrote Trauerweide, die wuchs herrlich und hing mit ihren frischen Zweigen über derselben, gegen den blauen Sandboden herunter, wo der Schatten sich violett zeigte und gleich den Zweigen in Bewegung war; es sah aus, als ob die Spitze und die Wurzeln miteinander spielten, als wollten sie sich küssen.
Es gab keine größere Freude für sie, als von der Menschenwelt zu hören; die Großmutter mußte alles, was sie von Schiffen und Städten, Menschen und Tieren wußte, erzählen, hauptsächlich erschien ihr besonders schön, daß oben auf der Erde die Blumen dufteten, denn das taten sie auf dem Grunde des Meeres nicht, und daß die Wälder grün wären, und daß die Fische, die man dort zwischen den Bäumen erblickte, laut und herrlich singen könnten, daß es eine Lust sei. Es waren die kleinen Vögel, welche die Großmutter Fische nannte, denn sonst konnten sie sich nicht verstehen, da sie noch keinen Vogel gesehen hatten.