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Greta kehrt zurück auf ihre geliebte Insel Sylt, ihr Urlaubsparadies. Doch neben Watt und Wellen erwartet sie dort auch ein Mord. Ihr Freund Joost braucht ihre Hilfe, denn seine Klöntür hat ihm statt einem Schnack mit seinem Nachbarn dessen Leiche beschert. Greta beschließt, Joosts Unschuld zu beweisen und die Ermittlungen selbst in die Hand zu nehmen. Schnell wird klar, dass es in Joosts Sylter Nachbarschaft mehr als eine Person gibt, die etwas zu verbergen hat.
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Seitenzahl: 323
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Sylvia Bergman
Die Klöntür zum Hof
Sylt-Krimi
Muscheln. Mole. Mord. Greta kehrt zurück auf ihre geliebte Insel Sylt, ihr Urlaubsparadies. Doch neben Watt und Wellen erwartet sie dort auch ein Mord. Ihr Freund Joost braucht ihre Hilfe, denn in seiner Küche liegt eine Leiche. Es ist Joosts Nachbar und Freund. Greta kann nicht anders, als die Ermittlungen selbst in die Hand zu nehmen, um die Unschuld ihres Freundes zu beweisen. Das ist gar nicht so einfach, denn der Freundeskreis um Joost ist eine eingeschworene Gemeinschaft, die Außenstehenden gegenüber misstrauisch ist. Doch Greta ist weder ängstlich noch scheut sie Konfrontationen. Und so kommt sie zwischen Strandspaziergängen und reetgedeckten Häusern einem alten Verbrechen auf die Spur. Ihr wird klar, dass es in Joosts Sylter Nachbarschaft mehr als eine Person gibt, die ein Geheimnis zu verbergen hat. Und während Greta zwischen Deich und Dünen Nachforschungen anstellt, schreckt der Täter vor einem erneuten Anschlag nicht zurück.
Sylvia Bergman schreibt seit Jahren Thriller und Kriminalromane. Sie wurde in der Altmark geboren und studierte in Hamburg Betriebswirtschaftslehre. Mit ihrer ersten Kriminalromanserie weckte sie schnell die Aufmerksamkeit ihrer Leser. Sowohl ihre Krimis als auch ihre packenden Thriller sind geprägt von starken weiblichen Charakteren, die sich immer wieder neuen Herausforderungen stellen müssen. Ihre Leser schätzen die unverhofften Wendungen in ihren Büchern und das überraschende Ende. Sylvia Bergman lebt mit ihrer Familie in der Lüneburger Heide.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Ein Krabbencocktail für eine Leiche (2024)
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Bei Fragen zur Produktsicherheit gemäß der Verordnung über die allgemeine Produktsicherheit (GPSR) wenden Sie sich bitte an den Verlag.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © rallef / Shutterstock.com; Pawel Kazmierczak / Shutterstock.com
ISBN 978-3-7349-3224-3
Es war ein milder Dienstagabend im April, als Joost zum ersten Mal seit einem Jahr wieder neben einer Leiche stand.
»Er liegt in meiner Küche, und jemand hat ihm den Schädel eingeschlagen«, flüsterte er ins Handy.
»Sag das noch mal!« Greta rutschte auf ihrem karierten Sessel ein Stück nach vorn. Das Telefon presste sie dicht ans Ohr.
»Mit der Bratpfanne! Oh Gott, die lag noch in der Spüle! Ich bin heute nicht zum Abwaschen gekommen.«
Mit offen stehendem Mund suchte Greta nach dem Zusammenhang zwischen Joosts Schlamperei und dem Fremden in seiner Küche. Entweder hatte sie seit ihrem Ruhestand geistig abgebaut oder es gab keinen. »Bist du sicher, dass er tot ist?«, fragte sie.
Joost klang abgehetzt. Ein Toter im eigenen Haus brachte selbst einen pensionierten Kriminalhauptkommissar aus Westerland, Sylt, ins Wanken. Sie hörte ein Rascheln in der Leitung. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie Joost sich hinkniete.
»Sei vorsichtig! Nicht dass es eine Falle ist!«, zischte sie. Draußen war es bereits dunkel. »Hast du das Licht angemacht?« Eine Weile nichts als Rascheln. »Joost?«
»Er ist definitiv tot«, sagte Joost. Jetzt klang er ruhig, sprach in normaler Lautstärke und sie konnte den Fachmann heraushören. 45 Dienstjahre hatten ihre Spuren bei ihrem Freund hinterlassen. »Greta, ich muss auflegen und die Kollegen rufen. Wir telefonieren schon viel zu lange.«
»Melde dich, wenn du mit ihnen gesprochen hast«, sagte sie.
»Mach ich.«
»Und überprüfe, ob du allein im Haus bist«, rief sie atemlos ins Telefon, aber da hatte er schon aufgelegt. Perplex starrte sie ins Leere. Durch das gekippte Fenster hörte sie Fahrgeräusche von der nahe gelegenen vierspurigen Gärtnerstraße. Es hatte den ganzen Vormittag geregnet, und das Wasser spritzte aus den Pfützen geräuschvoll auf die Bürgersteige. Schietwetter in Hamburg. Zum Nachmittag hin hatte sich die Sonne durchgesetzt, kurz bevor sie schließlich hinter den Jugendstil-Mehrfamilienhäusern untergegangen war. Die milde Frühlingsluft bewegte Gretas Gardine. Sie widerstand dem Reflex, Joost zurückzurufen und vor einem möglichen Eindringling zu warnen, der sich im Haus aufhalten könnte. Er war ein alter Hase, was Verbrechen anging – seit sechs Jahren im Ruhestand, doch sie vermutete, dass seine Instinkte auf Lebenszeit geschärft worden waren.
Nach einer Weile gewann die Ungeduld die Oberhand. Greta musste etwas tun. Sie stand auf und wanderte durch ihr Wohnzimmer. An der Möblierung hatte sie die letzten 20 Jahre nichts verändert. Ein Thema, das sie angehen sollte, immerhin hatte ihr Leben sich seitdem einmal gedreht. Ihr Mann war weg, dafür gab es jetzt Joost. Auch wenn man das nicht vergleichen konnte.
Am Fenster blieb sie stehen und beobachtete eine Weile das nächtliche Treiben. Die Autos unter ihr, die auf die Hauptverkehrsstraße abbogen, bis sie aus ihrem Sichtfeld verschwanden.
Seit drei Wochen hütete Joost das Haus seines Sohnes und dessen Familie in Keitum auf Sylt. Nachdem seine Frau vor drei Jahren gestorben war, hatte er sich auf Reisen begeben und das Haus Fred geschenkt. Nichts war an Joosts Tochter gegangen – eine Geschichte, der Greta irgendwann auf den Grund gehen wollte. Fred und seine Frau Franziska waren mitsamt der Tochter für ein Jahr in die Schweiz gezogen, wo der Dermatologin eine Stelle in einer renommierten Klinik angeboten worden war. Sein Sohn Fred, Kriminaloberkommissar in Westerland, wollte sich in seinem Sabbatjahr ganz der Tochter widmen, damit seine Frau die Chance hatte, sich vollkommen auf ihre Karriere zu konzentrieren. Irgendjemand musste sich in der Zeit um das Haus auf Sylt kümmern. Also war Joost zurückgekehrt. Vorübergehend, wie er sagte.
Die Stille in ihrer Eigentumswohnung wurde drückend. Sie vermisste niemanden, weder ihren treulosen Ehemann, der vor über zwei Jahren ausgezogen war, noch das Geräusch von Pfoten auf dem groben Eichenparkett. Was sie umtrieb, war das Gefühl, tatenlos zusehen zu müssen, während sich ein Freund in Not befand. Der Duft von chinesischem Essen stieg ihr in die Nase, und es dauerte einen Augenblick, bis sie erkannte, dass der Geruch durch das geöffnete Fenster in ihre Wohnung drang und nicht aus der Assiette dampfte, die ihr vom Griechen geliefert worden war. Greta kochte nicht gern. Sie wusch auch ungern ab. Den ganzen Aufwand für eine einzelne Person – reinste Zeit- und Energieverschwendung. Ihre Energie. Glückliche Entwicklungen an der Börse würden ihr zeitlebens den Luxus ermöglichen, andere für sie kochen zu lassen.
Sie verließ das Wohnzimmer und trat in den Flur. Dort war es dunkel. Sie beließ es dabei. Ebenso in der Küche. Sie holte sich ein Glas aus dem oberen Teil des Küchenschrankes und drehte den Wasserhahn auf. Das alte Metallwaschbecken entspannte sich und gab ein ploppendes Geräusch von sich. Greta nahm einen kräftigen Schluck und ließ die Stille auf sich wirken. Ihr erstes Telefonat mit Joost seit vier Wochen. Seit etwas mehr als einem Jahr telefonierten sie regelmäßig miteinander. Heute hatte er sie angerufen und sich beschwert, wie überlaufen die Insel sei, seit man sie so günstig erreichen konnte. Greta überlegte, ob diese Information nebenbei gefallen war und ob es einen wichtigeren Grund für das Gespräch gegeben hatte. Ihr fiel keiner ein. Es war eine harmlose, nette Unterhaltung gewesen, bis Joost plötzlich auf die Leiche in seiner Küche gestoßen war.
Weshalb hatte er sie angerufen?
Die Warterei machte sie wahnsinnig. Doch was sollte sie tun? Die Polizei würde bald bei Joost eintreffen. Sie würden lange mit ihm sprechen. Der Leichenfundort musste abgesperrt und untersucht werden. Greta vermutete, dass man Joost des Hauses verweisen würde. Das würde ihm Gelegenheit bieten, sie zurückzurufen. Er konnte wohl kaum dort stehen bleiben und alles beobachten. Oder doch? Würden die Dienstjahre bei der Truppe als Rechtfertigung genügen? Rein theoretisch nicht. Wie streng hielten sich seine ehemaligen Kollegen an die Vorschriften? Sie erinnerte sich daran, dass Joost mal erzählt hatte, dass der jetzige Kriminalhauptkommissar früher mit ihm zusammengearbeitet hatte. Greta zupfte gedankenverloren an einer kurzen karamellfarbenen Haarsträhne. Vor morgen früh würde sie nichts von ihrem Freund hören. So viel stand fest.
Durch die alte Eingangstür im Flur hörte sie Geräusche auf der Treppe. Ihre Nachbarn kamen nach Hause. Das Getrappel kleiner Füße energiegeladener Grundschüler, begleitet von langsamen, schweren Schritten – Greta sah vor sich, wie Anne Reimann große Einkaufstüten nach oben schleppte –, fegte wie ein Tornado über ihr Stockwerk hinweg ins Obergeschoss. Durch die Ritzen verzogenen Holzes hörte sie das Klimpern von Schlüsseln, eine leise Stimme, die müde klang, und das Gezeter der Heranwachsenden. Dann ergoss sich die Bewegung in den Flur über ihr und sie konnte anhand von dumpfen Stampfern – akustischen Brotkrumen gleich – nachvollziehen, wo Jonte und Tina Reimann sich aufhielten. Sie wusste, dass die Tageszeit auf ihrer Seite war. Die beiden Engel gingen bald ins Bett, und dann würde die Stille zurückkehren. Greta dachte darüber nach, ihre Nichte Nele anzurufen und ihr von Joosts Anruf zu erzählen, doch was sollte das bringen? Reine Ablenkung für sie. Ihre eigene Ungeduld würde es lediglich steigern.
Wieso hatte Joost sie angerufen? Der Gedanke ließ ihr keine Ruhe. War etwas passiert auf Sylt? Gab es eine Vorgeschichte zu dem, was sich heute Abend in seiner Küche ereignet hatte? Sie tigerte zurück ins Wohnzimmer und schloss das Fenster. Der Straßenlärm machte sie nervös. Durch die Iso-Verglasung hörte sie gedämpft das Horn eines Krankenwagens, der ins nahe gelegene Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf fuhr oder von dort kam. Dann sah sie sich im Raum um. Das Zimmer war aufgeräumt. Ihre Lesebrille lag neben einem zugeklappten Thriller von Harlan Coben, gegenüber wartete das Essen vom Griechen, immer noch in der Plastiktüte mit einem Knoten verschnürt, das Besteck … Greta fiel ein, dass sie sich gerade Messer und Gabel geholt hatte, als der Anruf von Joost gekommen war.
Wo hatte sie es hingelegt?
Sie folgte ihrem Weg zurück durch den Flur ins Schlafzimmer. Aha! Auf ihren Nachttisch! Dorthin, wo sich ihr Handy befunden hatte. Sie sammelte Messer und Gabel ein und brachte sie zum Couchtisch. Doch sie setzte sich nicht. Stattdessen stand sie regungslos da und ließ die Szenerie auf sich wirken. Das Essen war das Einzige, das hier auf sie wartete. Und morgen würde es nicht anders sein. Tatsächlich hatte sie für den Rest der Woche überhaupt keine Pläne. Ihr Laptop lag aufgeklappt auf dem Schreibtisch – ihrem Arbeitsplatz. Doch der Aktienhandel war nur noch eine Beschäftigung, um sie geistig fit zu halten. Finanziell hatte sie das längst nicht mehr nötig. Manchmal hielt sie einen Schnack mit Anne Reimann, wenn die Nachbarin ihrem Irrenhaus für eine Tasse Tee entkommen wollte und Greta den Drang verspürte, aus ihrer enger werdenden Welt zu entfliehen. Das alles fühlte sich wie Ablenkung an. Wie ein Warten auf das Unausweichliche. Sie schüttelte den Kopf. Es musste an dem langen Winter liegen, der erst vor einigen Tagen wirklich geendet hatte, dass sie so melancholisch war. Das triste Wetter hatte sie schon in jungen Jahren an ihre Grenzen gebracht. Sobald es draußen warm genug war, die Jacke auszuziehen und über die Schulter zu hängen, würde sich ihre Stimmung aufhellen. Doch bis es so weit war, war sie dafür verantwortlich, nicht in Selbstmitleid zu versinken.
Greta ignorierte das sich abkühlende Essen auf dem Couchtisch und ging zurück ins Schlafzimmer. Sie knipste das Licht an, warf einen Blick über die Jugendstilmöbel, die sie von ihren Großeltern geerbt hatte, und stapfte dann auf den großen Kleiderschrank zu. In der dicken Lackschicht auf der goldenen Birke spiegelte sich ihre Silhouette. Als sie den zierlichen Schlüssel endlich so weit gedreht hatte, dass die Tür mit einem Knarzen aufging, klingelte ihr Handy im Wohnzimmer.
»Ich hab mir schon gedacht, dass du vor Neugierde die Wände hochgehst.« Joosts Stimme klang belustigt.
»Ich weiß nicht, was du meinst. Ich war gerade dabei, meinen Souvlaki auszupacken.« Sie spielte dieses Spiel nicht mit, auch wenn sie ihre Sorgen kaum noch verbergen konnte.
»Dann lass uns sprechen, wenn du fertig bist. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass du kaltes Abendessen verzehren musst.«
Greta stöhnte. Das brachte sie dann doch an ihre Grenzen. »Das machst du nur, um mich zu quälen!«
»Ich genieße deine Ungeduld.«
Sie schmunzelte. »Was ist passiert?«, fuhr sie ernst fort.
»Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht. Ich bin jetzt auf dem Weg ins Revier. Sie nehmen dort meine Aussage auf. Ich kann vor Ort ohnehin nichts tun. Ein Schwarm Männer in weißen Schutzanzügen mit Masken und Überziehern ist in mein Haus eingedrungen und dreht gerade jeden Zentimeter auf links. Hätte nicht gedacht, dass ich das jemals sagen würde.«
Völlig nebensächlich angesichts der Situation, aber Greta stolperte darüber, dass Joost das Haus immer noch als seines bezeichnete. Sie hatte Verständnis. Es war schon viele Generationen in Familienbesitz. Soweit sie wusste, war Joost darin aufgewachsen. Ein waschechter Keitumer. Wie viele es von denen noch gab?
»Bist du allein?«, wollte sie wissen.
»Ja. Ich sitze in meinem Auto. Wir können reden.«
»Ich höre.«
»Es kommt mir vor wie ein Film. So oft habe ich diesen Satz von anderen Menschen gehört und konnte nicht nachvollziehen, wie sie ihn gemeint haben. Ich dachte, ich wüsste es, aber ich habe mich geirrt.«
»Joost!«
»Jaja. Also ich habe dich angerufen, als ich ums Haus herumgegangen bin. Die Klöntür war offen, das wusste ich.«
Greta vermutete, dass er eine Hintertür meinte, bei der es möglich war, die obere Hälfte des Türflügels zu öffnen, während die untere verschlossen blieb.
»Ich hatte keine Lust, nach meinem Schlüssel für die Vordertür zu kramen«, fuhr Jost fort, »während ich das Handy am Ohr hatte.«
»Du lässt die Hintertür offen?«
»Unverschlossen!«
»Wo ist der Unterschied?«
»Dass sie nicht offen steht, man sieht es also nicht.«
»Aber ein Einbrecher kann die Klinke betätigen«, sagte sie.
»Dort ist außen ein Knauf.«
»Wie bist du dann reingekommen?«
»Der obere Teil war nur angelehnt.«
Greta biss die Zähne aufeinander. Dieses Wortgefecht führte zu nichts. »Und dann?«
»Ich bin in die Küche und da lag er vor mir. Erst wollte ich das Licht anmachen, aber etwas hat mich abgehalten.«
»Deine Intuition.«
»Mag sein. Ich hab dir gesagt, dass ein Toter vor meinen Füßen liegt, und den Rest kennst du.«
Eigentlich kannte Greta nur den Teil, den er eben erzählt hatte, doch sie hielt ihm zugute, dass auch ein Polizist vom Leben überrascht und verwirrt werden konnte. »Was passierte, nachdem du aufgelegt hattest?«, fragte sie.
»Ich habe mich vergewissert, dass er tot ist. Es war ein wenig Blut an der Pfanne. Die lag neben ihm und sein Kopf sah deformiert aus. Im Grunde hatte ich keinen Zweifel. Dennoch habe ich versucht, seinen Puls zu fühlen, und einen Krankenwagen gerufen. Danach erst die Jungs von der Dienststelle. Ich habe sofort Mattes kontaktiert.« Das war sein ehemaliger Kollege. Die beiden trennten um die 20 Lebensjahre. »Er hat mich gebeten, das Haus zu verlassen und draußen auf der Straße auf sie zu warten. Als wenn ich das nicht selbst wüsste.«
Greta hob die Augenbrauen. »Hast du das getan?«
Einen Moment herrschte Stille, dann ein schweres Atmen. »Es bestand ja wohl kaum die Gefahr, dass ich meine Fingerabdrücke in meinem eigenen Haus hinterlasse.«
Greta runzelte die Stirn. Sie hatte Joost für besonnener gehalten. Offenbar hatte er sich noch umgesehen.
»Ich weiß, wie ich mich an einem Leichenfundort bewegen muss, ohne Spuren zu verwischen. Es wäre doch möglich gewesen, dass der Täter noch im Haus ist.«
»Ein Grund mehr, auf die Kollegen zu hören.«
»Ich bin ja nur drei Schritte weiter in den Flur gegangen und habe gelauscht.«
»Und?«
»Nichts. Keine Geräusche aus dem Obergeschoss und der Blick ins Wohnzimmer hat bestätigt, dass sich dort niemand versteckt. Nach oben kann man nicht fliehen. Da sitzt man fest. Hätte das jemand getan, hätten sie ihn später gefunden. Also bin ich nach draußen und habe durchs Küchenfenster gesehen, um die Haustür nach vorn im Blick zu behalten. Niemand ist während der Zeit getürmt, bis der erste Streifenwagen aufgetaucht ist. Beim Eintreffen der Kollegen habe ich mich auf den Weg zur Straße gemacht und ihnen erzählt, was geschehen ist.«
»Und was hat sich deiner Meinung nach zugetragen?« Greta hatte sich auf ihrem Bett niedergelassen und fixierte den handgeknüpften Läufer davor.
»Es ist verrückt! Ich habe dir das noch gar nicht erzählt. Bei dem Toten handelt sich um einen alten Freund von mir.«
Greta hielt die Luft an. »Was? Und das erwähnst du erst jetzt?« Sie erinnerte sich daran, wie ausgelassen er das Gespräch begonnen hatte. Joost stand unter Schock. Daran hegte sie keinen Zweifel.
Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille. Joosts Beschreibung der Ereignisse klang rückblickend betrachtet zu sachlich, als dass er involviert sein könnte. Doch er war involviert. Nicht nur wegen des Leichenfunds in seiner Küche – Freds Küche. Bei dem Toten handelte sich um einen Freund. Wie hatte er diesen Fakt so lange unterschlagen können?
»Ich habe ihn nicht umgedreht, aber ich bin sicher, er ist es. Die grauen Haare, Größe, Statur.«
Und wieder hörte sie nur den Beamten reden. War das normal? »Oh Gott, Joost! Das tut mir sehr leid!«
»Ja. Außerdem war er der hiesige Handwerker.«
Ein weiterer Beweis für seine temporäre Unzurechnungsfähigkeit. Sie beschloss, ihn nicht darauf anzusprechen. Offensichtlich benötigte Joost diese Routine, die Fakten zu beleuchten, um sich zu schützen. »Äh …«
»Weiß der Teufel, wieso ich das gerade gesagt habe. Wahrscheinlich, weil er seinen Werkzeuggürtel trug.«
»War denn etwas kaputt?«
»Was meinst du?«
Greta stöhnte. »Wieso hast du ihn gerufen? Wieso war er da?«
»Ich habe ihn nicht gerufen. Till übernimmt hin und wieder kleinere Reparaturen in der Nachbarschaft. Till Detmold heißt er. Er ist nicht auf ein bestimmtes Gewerk festgelegt, eher ein Mann fürs Grobe. Ein Handwerker eben, der alles anbietet.«
»Schwarz.«
»Er ist ein Nachbar.«
»Also schwarz.«
»Wenn dir das wichtig ist: ja! Ich bekomme von ihm keine Rechnung.«
»Entschuldige. Ich bin so aufgeregt. Erzähl weiter.«
»Mehr gibt es nicht. Ich verstehe nicht, warum er überhaupt da war. Weiß der Henker, wie er ins Haus gekommen ist.«
Greta hatte da so eine Idee, doch sie vermutete, dass der ehemalige Kriminalhauptkommissar selbst darauf kommen würde, sobald sich sein Puls beruhigt hatte und das Adrenalin, das derzeit durch seine Adern schoss, verebbt war. »Also hat er sich in dein Haus geschlichen, als du nicht da warst.«
»So sieht’s aus.«
»Hast du eine Idee, wieso?«
»Nein. Ich bin ratlos. Ich wollte schon seine Frau Ines anrufen, doch dann wurde mir klar, dass ich es der Polizei überlassen muss, zuerst mit ihr zu reden.«
»Die Arme. Du sagst, sie sind Nachbarn?«
»Ja. Und Freunde.« Er machte eine Pause. Greta legte die Hand auf ihre Brust, während sie darauf wartete, dass er weitersprach. »Sie wohnen am Ende der Straße. Beide etwas jünger als ich. Er ist noch nicht im Ruhestand. Kürzergetreten, ja, aber für die Nachbarschaft erledigt er kleine Arbeiten. Manchmal auch für andere auf der Insel. Du weißt, wie das ist. Ich verleihe auch meinen Rasenmäher, wenn jemand einen braucht. Na ja, früher zumindest. Inzwischen ist es Freds Rasenmäher. Wie all meine Werkzeuge jetzt ihm gehören. Na, du weißt schon.«
Greta hatte abgeschaltet, als er das erste Mal vom Rasenmäher gesprochen hatte. »Dein alter Freund bricht bei dir ein und dann kommt ein zweiter Mann und schlägt ihn nieder?«
»Eine Person. Ja.«
»Hast recht. Um eine Bratpfanne zu schwingen, muss man nicht sehr stark sein. Glaubst du, Till wollte zu dir?«
»Möglich. Vielleicht hat er gedacht, ich wäre daheim.«
»Ist es denn üblich, dass die Leute einfach durch deine Hintertür kommen?«
»Manchmal. Aber nur bei Tageslicht. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich schon einmal jemandem überraschend in der Küche gegenübergestanden hätte.«
»Vielleicht gibt es eine Vereinbarung zwischen ihm und Fred.«
»Ich wüsste nicht, was das sein sollte, aber ich werde meinen Sohn fragen. Ich bin heilfroh, dass die drei nicht hier sind. Wenn Sanni das erlebt hätte.«
Als Greta die Zuneigung in seiner Stimme hörte, während er über seine kleine Enkelin sprach, wurde ihr warm ums Herz. »Ich steh vorm Revier, Greta. Lass uns morgen telefonieren. Ich muss rein und hören, wie es weitergeht.«
»Warte!«
»Ja?«
Greta musste einen Kloß hinunterschlucken. Ihr beschleunigter Puls verärgerte sie, da es überhaupt keinen Grund für dieses Unbehagen gab. »Ich komme zu dir.«
»Wie meinst du das?«
Sie zwang sich, langsam zu reden. »Das bedeutet, dass ich jetzt einen Koffer packen und morgen den Autozug nach Sylt nehmen werde. Es hat überhaupt keinen Zweck, mir dieses Vorhaben ausreden zu wollen. Ich bin fest entschlossen. Du kannst eine Freundin gebrauchen, und ich brauche ein wenig Seeluft um meine Nase.«
»Und vielleicht einen kleinen Krabbencocktail?« Sein Lachen erleichterte sie.
»Auch das.«
»Die Leiche hat natürlich nichts damit zu tun.« Es war eine Feststellung von ihm. Eine, die vor Sarkasmus triefte. Er brauchte dringend eine Freundin. Bald würde ihn der Schock der Erkenntnis treffen.
»Ich sorge mich um dich«, sagte sie und strich die akkurate Bügelfalte ihrer Stoffhose glatt. »Trotz deiner Unterstellungen.«
Sie wartete inzwischen vier Stunden vor der Autoverladung. Ein Stau, den sie nicht umgehen konnte. Das gebuchte Ticket war abgelaufen, und sie konnte nur hoffen, einen Platz auf dem nächsten Zug zu ergattern. Alle Welt wollte nach Sylt. Wen wunderte es? Mittwochnachmittag, die Sonne lachte sie durch das offene Fenster ihrer E-Klasse an und das Versprechen eines milden Wochenendes lag in der Luft. Auf dem Weg hierher war das Land immer flacher und das Licht greller geworden. Sie liebte dieses Meeresfunkeln, wie sie es nannte. Sie kam gern in den kühleren Jahreszeiten auf die Insel, wenn die Strände nicht überlaufen waren von Touristen, die mit hochgekrempelten Hosenbeinen am Strand saßen, eine Bierflasche in der Hand. Greta liebte die steife Brise, genoss das Karge, bevor alles zu blühen anfing, und schätzte die Einsamkeit. Dann war sie eins mit der Natur, konnte der Stimme der Nordsee lauschen und sich dem Gefühl hingeben, das winzige Spritzer schäumender Wellen auf ihren Wangen verursachten, wenn sie neben ihr am Strand anrollten.
Das Automeer um sie herum machte deutlich, dass es dieses Mal nicht so werden würde. Touristen, wohin das Auge blickte. Pärchen in Nobelkarossen mit Handtaschenhunden, Familien mit Kindern in Designerklamotten und viele Motorräder sowie deren Fahrer in schwarzem Leder.
So langsam wurde Greta nervös, weil sie kein Hotel gebucht hatte. Auf ihre alten Tage wurde sie vergesslich. Womöglich war es Naivität gewesen. Sie wäre nicht auf den Gedanken gekommen, dass die Hotels vor Ostern ausgebucht sein könnten, trotz Joosts Beschwerde, dass die Insel überlaufen sei.
Ihr Handy vibrierte und sie nahm das Gespräch über die Freisprecheinrichtung an. Es war Joost.
»Hey. Ich wollte mich kurz melden und fragen, wie weit du bist. Ich komme gerade aus dem Gespräch mit den Flensburger Kollegen und brauche erst einmal frische Luft. Also gehe ich hier in List ein bisschen am Wasser flanieren. Das Schlagen der Fallen am Mast bei den Segelbooten beruhigt mich.«
»Du bist von Westerland bis nach List gefahren?«
»Ja.« Er klang brummig.
»Was ist passiert?«
Joost benötigte einen Moment, um zu antworten. »Sie haben die gleichen Fragen gestellt wie du. Wie meine Verbindung zu Till war. Ich habe gesagt, dass er ein Nachbar war, jemand, den ich schon mein ganzes Leben kenne. Ich konnte schlecht verheimlichen, dass er in der Gegend kleinere Reparaturen durchführt.«
»Das sollte für den Fall kein größeres Problem darstellen, oder?«
»Das nicht, aber mir ist klar geworden, dass sie mich verdächtigen. Ich meine, versteh mich nicht falsch, ich kenne das Prozedere. Natürlich muss ich auf der Liste stehen. Doch ich bin nicht irgendein Zeuge. Ich hab jahrelang als Hauptkommissar bei der Kriminalpolizei gearbeitet. Man sollte meinen, dass diese Kerle mir eine gewisse Wertschätzung entgegenbringen. Stattdessen behandelt mich dieser Jorgensen so, als wüsste ich nicht, worauf seine Fragen abzielen.«
Sie fragte sich, ob er ihnen gegenüber auch so abgeklärt aufgetreten war. »Ich erinnere mich an Jorgensen aus dem letzten Jahr.« Er hatte Greta damals befragt, als sie den Toten in der Hotelgarage vom Hotel Fährhaus gefunden hatte.
Als sie die Verärgerung in der Stimme ihres Freundes hörte, stand für Greta fest, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Er brauchte jemanden, der mit einem frischen Auge auf die Geschehnisse schaute und ihn davor bewahrte, sich durch seinen Unmut ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Polizei zu rücken. Sie konnte vor sich sehen, wie er Streit mit dem jüngeren Kollegen vom Zaun brach, weil er sich auf den Schlips getreten fühlte. Auch wenn Joost es nicht zugeben wollte: Zum alten Eisen zu gehören und bei wichtigen Entscheidungen nicht mehr gefragt zu sein, das wurmte ihn. Bisher hatte sie diese Eigenschaft von ihm kennengelernt, wenn er über das Haus seines Sohnes redete. Ein Geschenk, das er sich offensichtlich nicht gut überlegt hatte. Dass die Pensionierung genauso ein Thema sein könnte, hatte sie bisher nur vermutet. Joost brauchte ein Erfolgserlebnis. Wie konnte man das besser erreichen, als wenn sie mit ihm den Mörder enttarnte, bevor die Polizei es tat?
»Ich denke, ich komme mit dem nächsten Zug rüber. Rechne mal in eineinhalb bis zwei Stunden mit mir. Wo bist du dann?«
»Wir können uns am Haus treffen. Sie haben mir gesagt, dass sie am späten Nachmittag fertig sein wollen, und dann kann ich wieder rein.«
»Großartig!«
Greta stand zweieinhalb Stunden später in der kleinen Parkbucht vor Joosts reetgedecktem Haus. Sein schwarzer SUV parkte neben ihr, von der Polizei keine Spur. Sie stieg aus, ließ einen Friesenwall mit penibel gestutzten samtigen Kiefern hinter sich und folgte dem schmalen gepflasterten Weg bis zu der blau lackierten Eingangstür mit dem halbmondförmigen Oberlicht. Zwei gusseiserne Amphoren rechts und links der Tür auf je einem steinernen Podest wirkten klassisch und elitär. Sie bestaunte einen Löwenkopf, der als Türklopfer diente, entschied sich dann jedoch für den Klingelknopf.
Joost wirkte ein wenig derangiert, als er die Tür öffnete.
»Moin, Greta. Ist das schön, dass du da bist! Komm rein! Komm rein!« Er sprang einen Schritt zurück und ließ sie eintreten.
Greta zog ihren Koffer hinter sich her und sah sich um, bevor sie ihn abstellte und die Arme um Joost schlang. »Du hast es wirklich schön hier. Sieht aus wie in einer dieser Wohnzeitschriften. Bis hin zum Blumenarrangement. Zauberhaft. Habt ihr jemanden, der sich um diese Details kümmert?«
Er zog die Nase kraus. »Erwischt. Ich habe kein Händchen dafür. Meine Frau hat sich für so etwas interessiert. Die Kinder haben mit ihren Jobs keine Zeit. Also kommt eine Haushaltshilfe, die nicht nur putzt, sondern auch regelmäßig die Vasen mit frischen Blumen versorgt, die Deko arrangiert, du weißt schon. Nicht erst, seit ich hier wohne. Sie gehört sozusagen zur Familie.« Er nahm ihr Handtasche und Mantel ab und hängte beides an die Garderobe.
»Verstehe. Neben diesem Haus sieht meine Wohnung aus wie ein Altersheim. Ich muss dringend etwas ändern, wenn ich wieder in Hamburg bin. Ist das Moos?« Sie stocherte in einer tönernen Schale auf dem Sideboard herum.
»Ich denke schon. Lass uns ins Wohnzimmer gehen. Ich mach uns Kaffee.«
»Warte. Ich denke, es wäre gut, wenn ich erst versuche, ein Zimmer zu ergattern. Das Severin’s ist nebenan – ein großes Hotel – und ich habe die Hoffnung, dass sie noch etwas für mich haben trotz des Ansturms, den es gerade auf die Insel gibt.«
Joost rieb sich über den weißen Bartschatten. »Da wirst du kein Glück haben, fürchte ich. Eine Charityveranstaltung findet dieses Wochenende dort statt. Jede Menge Promis werden auf der Insel erwartet. Die Demonstranten sind auch schon da, wie ich gehört habe.«
Greta hob die Brauen. »Wer ist es dieses Mal?«
»Eine gut gemischte Crew, wenn man den Gerüchten glauben mag. Die Veranstaltung zieht jede Menge bunter Vögel an. Ein Freund von mir sagte, dass die Punker wieder in Tinnum campen, auch wenn es vorletztes Jahr so viel Ärger mit der Gemeinde in puncto Müllbeseitigung gab. Doch sie müssen sich geeinigt haben. Schätze, denen geht es wieder um die Spaltung der Gesellschaft. Und wir erwarten einige Klimaaktivisten, weil hochrangige Gäste des Events aus der Braun- und Steinkohleindustrie kommen.«
»Was ist das Thema?«
»Kinder in Not.«
»Aha.«
»Ich fürchte, es werden sich wie immer ein paar Rechte unter die Protestler mischen, sodass die Straße vor meinem Haus in den nächsten Tagen ein heißes Pflaster werden könnte.«
»Dann muss ich zusehen, dass ich in einem anderen Hotel, notfalls in einer Ferienwohnung unterkomme. Ich darf keine Zeit verlieren.« Sie griff nach ihrem Koffer und wandte sich zur Tür.
»Sei nicht albern, Greta. Du bleibst selbstverständlich hier. Im Haus gibt es ein Gästezimmer. Es ist für dich hergerichtet.«
»Du bist davon ausgegangen, dass ich bei dir übernachte?« Sie hätte nie mit diesem Angebot gerechnet. Immerhin war ihre Beziehung nicht romantischer Natur.
»Ich habe gehofft, dich überzeugen zu können, und vor einer halben Stunde das Bett frisch bezogen.«
Greta war begeistert. »Sehr, sehr gern. Danke für das liebe Angebot.«
»Wunderbar! Ich zeige dir gleich dein Zimmer. Es liegt im Obergeschoss neben dem Bad.« Joost schnappte sich ihren Rollkoffer und bugsierte ihn vor sich die schmale Eichentreppe nach oben, deren fünfte Stufe knarzte und Greta das Gefühl gab, als würde sie durch ein Haus zu Zeiten von Goethe wandeln. »Ich habe mit Fred telefoniert. Der Junge hat angeboten, sofort heimzukommen. Das ist natürlich ausgeschlossen.« Greta hörte Joost vor sich schnaufen. »Er fand es ungewöhnlich, dass Till einfach im Haus aufgetaucht ist. Das ist nicht üblich. Tatsächlich hält Franziska nicht viel von der Angewohnheit mancher Nachbarn, das Grundstück von hinten zu betreten, ohne sich vorher anzumelden.«
Greta konnte sich den grimmigen Gesichtsausdruck vorstellen, den Joost bei diesen Worten aufsetzte. Er pflegte ein eher angestrengtes Verhältnis zu seiner Schwiegertochter.
»Und die Nachbarn wissen das inzwischen. Eigentlich schade. Wir waren hier über Jahrzehnte eine eingeschworene Gemeinschaft, in der man sich immer unterstützt hat. Wenn es darauf ankam, hielten wir zusammen, hauptsächlich gegen die Leute vom Festland. Na, du weißt, was ich meine. In den Nachbarhäusern leben größtenteils noch Leute, die auf der Insel geboren wurden. Wir kennen uns ein Leben lang. Diese Gemeinschaft zerbrechen zu sehen, schmerzt. Aber was soll man machen? Jede Generation hat ihre Zeit.« Er stoppte vor einer Eichentür.
»Du bist weggegangen.«
Joost drückte die Klinke nach unten und stieß sie auf. »Ich weiß. So, das ist es. Daneben das Badezimmer. Handtücher habe ich dir aufs Bett gelegt. Es gibt keine Praline auf dem Kopfkissen, aber ich denke, alles andere ist da. Was sagst du?«
Greta verliebte sich auf der Stelle in die Atmosphäre, die sie an das Haus ihrer Eltern erinnerte. Die Tagesdecke besaß Rüschen. Es roch nach frisch gewaschener Wäsche und die massiven Holzmöbel wirkten, als hätten sie eine Vergangenheit.
»Franziska liebt es eher kitschig«, sagte Joost.
»Es ist perfekt!«
»Fein. Dann komm erst mal an und ich mach uns einen Kaffee.«
»Joost?«
»Ja?«
»Haben sie einen Hinweis darauf gefunden, wer der zweite Eindringling in deinem Haus war?«
Er steckte die Hände in die Hosentaschen und lehnte sich mit der Schulter gegen den weißen Türrahmen. »Es gab jede Menge Fingerabdrücke, die man bislang nicht zuordnen konnte. Die Info habe ich von Mattes. Er sollte mir so etwas nicht sagen, aber das kümmert ihn einen feuchten Kehricht. Er weiß ja, auf welcher Seite ich stehe. Man hat die Abdrücke aller meiner Freunde und Bekannten genommen und die der Putzfrau natürlich, doch es gab vier Sets, die fremd waren.«
»Vier?«
»Fred, Sanni und Franziska könnten dazugehören. Das müssen sie sogar. Sie holen ihre Abdrücke gerade ein. Fragt sich, von wem die vierten stammen.«
»Und die deiner Nachbarn hat man auch gefunden?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ein Fremder im Haus war.«
Greta nickte. »In der Küche wahrscheinlich.«
»Das ist das Kuriose. Dort hat er nur den Lichtschalter angefasst, die Pfanne hingegen ist abgewischt worden.«
»Soll heißen?«
»Tatsächlich haben sie die meisten Abdrücke hier oben gefunden.«
»Hier oben?«
»Ja. In diesem Zimmer. Das war ein weiterer Grund, weshalb Doris und ich hier drin vorhin klar Schiff gemacht haben.«
»Doris?«
»Unsere Haushaltshilfe. Ich kann verstehen, wenn du lieber in ein Hotelzimmer ziehen möchtest.«
»Ach Quatsch! Du kennst mich. Ich bin gern mittendrin.«
Zur Kaffeezeit erhielten die beiden Besuch.
Er stellte sich als Heiko Anders vor – ein drahtiger Mann, neben dem seine Frau wirkte, als würde sie mit ihrem großen Bruder zum Schulball gehen. Seine kurzen dunklen Haare wurden an den Schläfen weiß. Das und eine von Altersflecken gezeichnete Hand, die er Greta zum Gruß entgegenstreckte, gaben ihr Aufschluss auf sein hohes Alter. Seine flinken Bewegungen und das Feuer in seinen Augen sprachen eine andere Sprache. Die Frau an seiner Seite verfügte bei Weitem nicht über so ein offenkundiges Selbstbewusstsein. Sie wirkte verloren, als hätte sie sich ein Leben lang hinter seinem eindrucksvollen Profil versteckt gehalten. Greta machte eine nette Bemerkung über ihre Halskette, die aus einem in Silber eingefassten Amethysten bestand, kam aber schnell an ihre Grenzen, die Frau aus der Reserve zu locken.
»Es tut mir leid, dass wir euch so überfallen. Joost, mir war nicht klar, dass du Besuch hast«, sagte Heiko, von dem Greta inzwischen wusste, dass er und seine Frau direkt gegenüber wohnten.
Er musste Gretas Wagen in der Auffahrt gesehen, womöglich auch ihre Ankunft bemerkt haben, doch sie wollte nicht kleinlich sein und darauf hinweisen. Das Unglück anderer Menschen zog Schaulustige an. Dass diese beiden Nachbarn als Erste am Ort des Verbrechens erschienen waren, sagte einiges über deren Charakter aus. Oder zumindest über seinen. Wie hoch der Anteil von Erika, seiner Frau, bei dieser Idee gewesen war, ließ sich nur erahnen.
»Wir haben das von Till natürlich gehört. Die Polizei war gestern noch bei Ines und hat es ihr gesagt«, fuhr Heiko fort.
»Ich weiß.« Joost gab den Weg ins Wohnzimmer frei und lud die beiden ein, ihm und Greta beim Kaffee Gesellschaft zu leisten. Heiko schritt vor seiner Frau in den Raum und setzte sich. Sie platzierte sich lautlos und unauffällig daneben. Greta vermutete, dass Heiko häufig so viel Aufmerksamkeit auf sich zog, dass seine Frau neben ihm in Vergessenheit geriet. Währenddessen holte Joost zwei weitere Gedecke.
»Sie hat Lucy die ganze Nacht ihr Herz ausgeschüttet und die hat es heute Morgen Erika erzählt.«
»Lucy wohnt mit ihrem Mann schräg gegenüber. Ihr gehört ein Salon im Ort. Sie und Ines stehen sich sehr nahe«, erklärte Joost und setzte sich, nachdem er Tassen und Untertassen aus Meissener Porzellan aus dem Büfett genommen und sie vor den Besuchern abgestellt hatte.
Greta nickte. »Ein Friseursalon?«, fragte sie.
»Hunde.« Das kam von Erika.
»Wir halten hier alle zusammen.« Heiko ließ keinen Zweifel daran, dass es nur ein Lager gab. »Wir sind seit Jahrzehnten miteinander befreundet.«
Joost schenkte den Kaffee ein und Greta sog einen Moment die Luft ein, um das Röstaroma zu genießen.
»Das finde ich reizend.« Sie nahm einen großen Schluck von ihrem Kaffee und beobachtete Erika, die die Hände rang.
»Ich komme direkt zum Punkt. Wir haben darüber nachgedacht, etwas zu organisieren. Eine Geste für Ines, um ihr zu zeigen, dass sie nicht allein ist.«
»Woran hast du gedacht?«
»An eine Art Leichenschmaus. Wir könnten ihn in einem Restaurant in Kampen veranstalten, bei Manne Pahl zum Beispiel, oder wir fahren nach List in die Austernstube. Einfach die alte Gang – jetzt, wo du wieder hier bist …«
Greta fand diesen Kommentar nicht so passend. Immerhin war einer aus dieser Gruppe in Joosts Küche gestorben. Außerdem organisierte den Leichenschmaus normalerweise die Familie des Verstorbenen, sofern es noch eine gab. Soweit Greta wusste, gab es zumindest die Witwe.
»Das ist eine sehr nette Idee, Heiko. Finde ich wirklich, aber ich befürchte, dass Ines mich nicht dabeihaben will.«
»Wie kommst du darauf? Sie glaubt doch etwa nicht …?«, fragte Heiko und richtete sich auf. Greta hätte nicht gedacht, dass der Mann noch größer werden konnte.
»Ich weiß es nicht.« Joost ihm gegenüber sackte ein Stück in sich zusammen. »Ich habe sie gestern Abend angerufen. Nachdem die Polizei mit ihr gesprochen hatte. Dann heute Morgen wieder. Erneut am Mittag. Sie ist nicht rangegangen. Offensichtlich will sie nicht mit mir sprechen.«
»Sie trauert.« Zwei Wörter nur, doch Greta hatte nicht damit gerechnet, dass Erika sich am Gespräch beteiligen würde. Sie sah sie interessiert an. Die reckte das Kinn nach oben und sagte an Greta gewandt: »Sie müssen wissen, dass die beiden keine einfache Ehe geführt haben. Ines wird voller gegensätzlicher Gefühle sein, wie ich sie kenne. Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit ihr zu reden, aber sie wird mir ein Zeichen geben, wenn sie so weit ist.« Greta vermutete, vor sich eine Frau zu haben, die zu Hause die Dinge in die Hand nahm – ohne viel Federlesens. Sie schaute zu Joost, dann sah sie Heiko an und bemerkte einen Blickwechsel zwischen den beiden. Sie würde Joost später fragen, was es mit dieser Bemerkung auf sich hatte. Was sollte das bedeuten: voller gegensätzlicher Gefühle?
Wer führte schon eine einfache Ehe? Und das in ihrem Alter nach vermutlich vielen gemeinsamen Jahrzehnten. War die lange Zeit ein Grund für etwas anderes als Trauer, wenn einer der Ehepartner starb? Sie dachte an ihren Ex-Mann Thomas und wie sie ihm die Pest an den Hals gewünscht hatte, als er sie vor einigen Jahren betrog. Wie würde sie sich fühlen, wenn jemand ihr die Nachricht seines unerwarteten Todes überbringen würde? Als Erstes würden ihr die schönen Erinnerungen einfallen. Wie sie als junge Leute Händchen gehalten hatten. Wie sie den Vertrag für die Wohnung unterschrieben und im Anschluss mit Sekt aus Plastikbechern in ihrem Opel darauf angestoßen hatten. Der Kauf gemeinsamer Möbel, Pläne für eine Familie, Verluste von Eltern und Geschwistern, bei denen sie sich gegenseitig so viel Kraft gegeben hatten, dass die eigene Verzweiflung nicht siegte. Das Feiern erster Jobangebote, Gretas erste Ausflüge an die Börse, Verluste, Gewinne. Das waren die Erinnerungen, die die Nachricht von Thomas’ Tod wecken würde, und es waren die Eindrücke, mit denen sie schlafen gehen wollte – wenn er starb, davon abgesehen konnte er ihr den Buckel runterrutschen!
Sie stellte die Frage, was in der Ehe Detmold vorgefallen war, für den Moment zurück. Der richtige Augenblick dafür würde kommen.
»Ich werde morgen mal bei Ines klingeln und ihr mein Beileid aussprechen.« Joost war anzusehen, dass er sich dieses Mal nicht abwimmeln lassen würde. Greta vermutete, dass es ihm ein Anliegen war, jeden Zweifel an seiner Unschuld auszuräumen.
»Sie wird sicher viele Fragen an dich haben.« Greta legte ihre Hand auf seinen Arm und erhielt ein Lächeln.
Stille war eingekehrt. Das Geräusch von Porzellan auf Porzellan, ein Schlürfen, ein Kratzen auf der Tischplatte. Niemand sagte etwas, alle warteten darauf, dass Joost das Wort ergriff. Er spürte es, das konnte sie sehen.
»Ich war es nicht«, sagte er.
»Das würde nie jemand …«
»Selbstverständlich …«
Die beiden entspannten sich wie Ballons, aus denen die Luft entwich, und stießen Beteuerungen aus.
»Ich weiß, dass ihr hinter mir steht.« Joost berührte mit der rechten Hand die Herzseite seiner Brust.
Heiko schloss bejahend die Augen einen Moment.
»Ich war nicht im Haus, als es passiert ist. Als ich zurückgekommen bin, habe ich mit Greta telefoniert, sie war sozusagen live dabei, als ich Till gefunden habe.
»Und dann?«, fragte Heiko.