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Sylter Seeluft schnuppern - das ist für Greta Kaiser genau das Richtige. Die Ruhe am Meer wird ihr guttun. Doch statt eines Krabbencocktails am Strand wird ihr in ihrem Hotel eine Leiche serviert. Aber Greta ist keine Frau, die sich von einem solchen Ereignis einschüchtern lässt. Gemeinsam mit ihrer Urlaubsbekanntschaft Joost - einem pensionierten Sylter Polizisten - gräbt sie in einer alten Familiengeschichte und gerät so ins Visier des Mörders.
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Seitenzahl: 286
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Sylvia Bergman
Ein Krabbencocktail für eine Leiche
Kriminalroman
Meer. Möwen. Mord. Ein paar Tage Seeluft schnuppern – das ist für Greta Kaiser gerade genau das Richtige. In ihrer Hamburger Wohnung langweilt sie sich nur. So hat sie sich den Ruhestand nicht vorgestellt! Also bucht sie kurzerhand zwei Wochen Urlaub in Munkmarsch auf Sylt. Womit Greta nicht gerechnet hat: Ihr Hotel war Schauplatz eines Mordes. Auch jetzt liegen düstere Schatten auf dem Haus. Doch Greta ist keine Frau, die sich davon einschüchtern lässt. Sie wittert ein Geheimnis, das viele Jahre zurückreicht und mit einem Künstler zu tun hat, dessen Leiche vor einigen Wochen am Strand von Kampen angespült wurde. Gemeinsam mit Joost – einem pensionierten Sylter Polizisten – gräbt sie in einer alten Familiengeschichte und gerät so ins Visier des Mörders.
Sylvia Bergman schreibt seit Jahren Thriller und Kriminalromane. Sie wurde in der Altmark geboren und studierte in Hamburg Betriebswirtschaftslehre. Mit ihrer ersten Kriminalromanserie weckte sie schnell die Aufmerksamkeit ihrer Leser. Sowohl ihre Krimis als auch ihre packenden Thriller sind geprägt von starken weiblichen Charakteren, die sich immer wieder neuen moralischen, seelischen und physischen Herausforderungen stellen müssen. Ihre Leser schätzen die unverhofften Wendungen in ihren Büchern und das überraschende Ende. Sylvia Bergman lebt mit ihrer Familie in der Lüneburger Heide.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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© 2024 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Jenny Sturm / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-7850-5
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Hamburg
»Glauben Sie, mich damit einschüchtern zu können, junger Mann?«
Am anderen Ende der Leitung wurden wüste Beschimpfungen ausgestoßen.
»Ich habe sehr wohl Besseres zu tun, als den ganzen Tag aus dem Fenster zu schauen!«, blaffte Greta Kaiser empört in den Telefonhörer. Die zierliche, ältere Frau baute sich zur vollen Größe auf. »Doch selbst wenn es nicht so wäre, war ich nicht derjenige, der seine Freundin geschlagen hat, und lassen Sie sich eines gesagt sein: Ich behalte Sie ab sofort im Auge! Ihre Drohungen bestärken mich nur noch in der Annahme, dass Sie hinter Gitter gehören. Es ist mir schleierhaft, wieso Sie immer noch auf freiem Fuß sind.«
Gretas Nachbar erschien im Haus gegenüber im dritten Stock am Fenster, das Handy in der Hand. Er machte eine obszöne Geste in ihre Richtung. Gemessen an ihren 65 Jahren war er ein Welpe. Niemand, von dem sie sich beeindrucken ließ.
»Sie machen mir keine Angst, im Gegenteil. Ich brenne darauf, dass Sie den Fehler begehen, der Sie für immer ins Kittchen bringen wird«, brüllte sie ins Telefon.
Er schrie zurück.
»Ja, das wünsche ich Ihnen auch!« Mit leicht erhöhtem Puls legte sie auf. Am liebsten hätte sie die Vorhänge zugezogen, aber diese Genugtuung wollte sie dem Verbrecher auf der anderen Straßenseite nicht geben. Er hatte mit unterdrückter Nummer angerufen. Darauf war sie hereingefallen.
Vor einigen Tagen war Greta Zeugin geworden, wie er eine junge Frau, sie mochte Anfang 20 sein, in seiner Wohnung mehrfach geschlagen hatte. Die Frau hatte sich am Ende auf dem Küchenfußboden zusammengerollt und versucht, sich mit beiden Armen gegen seine Attacken zu schützen. Greta hatte sofort die Polizei gerufen. Es war purer Zufall gewesen, dass sie gerade zu der Zeit aus dem Fenster gesehen hatte, um nach ihrer Nichte Ausschau zu halten, die einen Parkplatz gesucht hatte. Auf der anderen Straßenseite hatte das Fenster offen gestanden und das Licht gebrannt – ein Umstand, den ihr Nachbar leichtsinnigerweise übersehen hatte –, als das Geschrei losgegangen war.
Leider hatte die junge Frau von einer Anzeige abgesehen, sodass der Schläger mit einem blauen Auge davongekommen war. Seitdem bemühte er sich, Greta zu terrorisieren. Ohne Erfolg. Seine regelmäßigen Anrufe auf ihrem Festnetztelefon, vorzugsweise in der Nacht, sollten sie mürbemachen. Greta hatte sich Ohropax besorgt. Sie schlief friedlich, wohl wissend, dass sie das Richtige getan hatte und dass das Schloss an ihrer Haustür eine vernünftige Qualität besaß. Ohnehin bezweifelte sie, dass der Mann den Mut hätte, bei ihr einzusteigen.
Greta gab sich keinen Illusionen hin. Sie lebte in Hamburg. In der Großstadt passierten solche Dinge, die sie nicht beeinflussen konnte. Dennoch – seine Freundin zu schlagen, bedeutete nicht automatisch auch, einer Nachbarin aufzulauern, um sie zu überfallen. Vorsichtshalber dokumentierte sie alle verbalen Übergriffe auf sie genauestens und schickte sie regelmäßig der Polizei, was sie ihren Nachbarn auch wissen ließ. Der wiederum war deswegen am heutigen Morgen verwarnt worden. Greta fühlte sich somit bestens gegen Schlimmeres abgesichert.
Der Gedanke, dass sie dieser Vorfall noch eine Weile beschäftigen würde, störte sie. So hatte sie sich ihren Ruhestand nicht vorgestellt.
Sie schaute aus dem Fenster im dritten Stock ihrer Eigentumswohnung im Stadtteil Eimsbüttel. Ein Altbau mit knorrigen Holzfenstern, von denen die weiße Farbe abplatzte, drei Meter zwanzig hohen, schneeweißen Decken mit altem Stuck und Eichen-Dielenboden, der knarrte, wenn man durch den Raum schritt. Unter ihrem Fenster drehten verzweifelte Anwohner ihre Runden und suchten nach einem freien Parkplatz. Ihr eigener Wagen – ein Mercedes E-Klasse – stand sicher ein paar Meter weiter auf der rechten Seite und war seit Wochen nicht mehr bewegt worden. Für ihre Besorgungen in der Stadt nutzte sie die öffentlichen Verkehrsmittel oder ging zu Fuß. Sie hatte Zeit im Überfluss, sehr zu ihrem Missfallen. Doch heute bedeckte eine dicke graue Wolkenschicht schon seit dem Morgen den Winterhimmel und erstickte jede Motivation in ihr, einen Fuß vor die Haustür zu setzen. Den ganzen Tag hatte sie mit Regen gerechnet. Jetzt, da er sich dem Ende neigte, war sie enttäuscht, ihn mit Nichtstun in der Wohnung verschwendet zu haben.
Schräg unter ihr sah sie Herrn Mauser mit einer Zigarette im Mund und mit seinem Bademantel bekleidet auf dem Balkon sitzen und qualmen. Sollte es einmal so weit kommen, dass sie sich nicht mehr darum scherte, wie ihre Umwelt sie wahrnahm, hoffte sie, die Willensstärke zu besitzen, sich über die Brüstung zu werfen. Missbilligend registrierte sie den Geruch, der ihr in die Nase stieg. Greta runzelte die Stirn, schloss das Fenster und ging ins Schlafzimmer. Seit ihrer Pensionierung vor einigen Wochen hatte sie Zeit gehabt, es nach ihren Wünschen einzurichten. Thomas’ Sachen hatte sie endlich entfernt, auch wenn es wehgetan hatte. Es gab nach wie vor zwei Nachttische, doch auf beiden lagen nun ihre Utensilien, und sie hatte damit aufgehört, Decken und Kissen auf der Seite ihres Mannes regelmäßig zu beziehen und neben ihre eigenen zu legen. Obwohl diese dadurch etwas verloren wirkten auf dem großen Doppelbett.
Sie setzte sich auf die leere Hälfte und zog die Schublade von Thomas’ ehemaligem Nachttisch auf. Statt die Sachen von ihrem Mann zu beherbergen, erfüllte sie jetzt eine andere Aufgabe. Greta nannte sie insgeheim »die Truhe des Verbotenen«. Kleine Gegenstände, die in ihr viele gegensätzliche Gefühle weckten, befanden sich darin. Erinnerungen an Minuten des Nervenkitzels und der Nervosität, aber auch Scham und Reue. Sie bewahrte diejenigen auf, bei denen sie keine Gelegenheit gehabt hatte, sie zurückzugeben, oder diejenigen, die sie unbedingt behalten wollte. Doch das waren wenige.
Greta schluckte. Eine Brille, etliche Kugelschreiber, eine kleine Kristallvase, ein Aschenbecher, ein Porzellanpinguin, ein Kristallbriefbeschwerer, eine Gabel mit dem Logo eines Nobelhotels – was sagten diese Dinge über ihren Charakter aus? War sie ein schlechter Mensch? Brauchte sie Hilfe? Sie hatte sich vorgenommen, selbst Antworten auf diese Fragen zu finden, bevor sie mit jemandem darüber sprach. Was würde Thomas sagen, wenn er von dieser Schublade wüsste? Oder ihre Nichte? Greta schämte sich einen winzigen Augenblick lang. Dann erinnerte sie sich daran, wie sie ihr Leben bisher geführt hatte – immer regelkonform, niemals aneckend, angepasst. Und was hatte es ihr gebracht? Sie saß den lieben langen Tag allein in ihrer Wohnung und grübelte, wie sie ihre restlichen Tage verbringen wollte. Ablenkung musste her. Sie konnte nicht ewig so weitermachen. Thomas war nicht mehr da, damit musste sie sich abfinden. Doch die Art, wie sie ihren Kummer auslebte, war möglicherweise eine Spur selbstzerstörerisch. Was, wenn sie eines Tages jemand dabei erwischte, wie sie etwas mitgehen ließ? Bei dem Gedanken stieg ihr die Schamesröte ins Gesicht. Das musste aufhören. Sie nahm sich fest vor, sich eine Beschäftigung zu suchen. Etwas, das sie ausfüllte.
Vor vielen Jahren hatte sie damit angefangen, sich für den Aktienmarkt zu interessieren. Ein geschicktes Händchen und ein guter Riecher hatten ihr und Thomas, der bis zu seiner Rente als Rechtsanwalt gearbeitet hatte, ein üppiges Zusatzeinkommen beschert. Es war am Ende so viel gewesen, dass sie sich ein Ferienhaus in Südfrankreich leisten konnten. Greta vermisste die faulen Sommer, die sie dort viele Jahre gemeinsam verbracht hatten. Der Gedanke, dass diese Zeit abgelaufen war, machte sie traurig.
Eine einsame Träne rollte ihr über die Wange. Sie wischte sie weg, schloss die Schublade und stand auf. Als Erstes würde sie Nele anrufen, ihre Nichte. Möglicherweise hatte sie Lust, mit ihr essen zu gehen. Greta blickte auf den Nachttisch herab. Sollte sie das ganze Zeug loswerden? Sie schüttelte den Kopf und ihre kurzen karamellfarbenen Haare fielen ihr dabei sanft in die Stirn. Sie strich sie zur Seite und hinter die Ohren. Doch da die einzelnen Strähnen dafür nicht lang genug waren, fielen sie immer wieder nach vorn.
»Auf keinen Fall werde ich mich dafür schämen«, sagte sie zu sich und reckte das Kinn nach vorn. Solange es niemandem wirklich schadete, würde sie sich nicht für ihr Verhalten rechtfertigen. Es war etwas, das sie jetzt brauchte, das ihr half, mit dem Schmerz klarzukommen und ihre Gedanken auf Neues zu lenken, auch wenn es für einen Außenstehenden krank klingen musste. Sei es drum. Sie hatte es akzeptiert und das reichte ihr. Kein schlechtes Gewissen anderen Leuten gegenüber sollte sie leiten. Es handelte sich bei den entwendeten Sachen ausnahmslos um Dinge, die niemand vermissen würde.
Im Internet hatte sie über ihr Verhalten recherchiert. Aus reiner Neugierde, um zu sehen, ob es neben ihr weitere Menschen gab, die diesen Weg beschritten. Sie hatte nur lange Abhandlungen über die Folgen einer tiefen Depression gefunden. Nun, das war es nicht. Möglicherweise fühlte sie sich manchmal niedergeschlagen, doch das war nicht der Grund für ihr Verhalten. Wie auch immer. Sie dachte vorerst nicht daran, etwas an ihrer neuen Gewohnheit zu verändern. Und ganz gewiss wollte sie sich von keinem Außenstehenden dazu Rat einholen.
Sie hatte ihr Leben lang ihre eigenen Entscheidungen getroffen, und das würde sie nach den Ereignissen und Rückschlägen des letzten Jahres so beibehalten. Irgendwann würde sie wie der Phönix aus der Asche aus dieser Krise auferstehen.
Es klingelte. Greta legte die wenigen Meter zu ihrer Haustür zurück, sah durch den Spion, schnaufte und öffnete. Vor ihr stand die Nachbarin aus dem ersten Stock. Gertrude. Sie und ihr Mann besaßen den einzigen kleinen Garten nach hinten zum Hof hinaus. Auf der einen Seite beneidete Greta sie für das grüne Fleckchen mitten in der Großstadt, auf der anderen belächelte sie sie für die penible Aufmerksamkeit, die sie jedem ihrer Rhein-Kieselsteine zuteilwerden ließen. Diese Menschen hatten eindeutig aufgegeben, mehr aus ihrem Rentnerdasein zu machen, und das war ein Verhalten, das für Greta nicht infrage kam.
»Hallo, meine Liebe«, begrüßte sie ihre Nachbarin. »Insa und ich …«, sie sprach von der alleinstehenden Frau im zweiten Stock, »wir haben gedacht, dass du jetzt bestimmt ganz froh wärst, wenn wir dich ein wenig mehr in unsere Nachbarschaftsgruppe integrieren würden. Du weißt ja, dass wir immer viel unternehmen. In zwei Wochen gehts an die Nordsee und im Sommer mit dem Bus nach Prag. Es wäre schön, wenn du bei uns mitmachen würdest.«
Greta war abgelenkt durch die grelle geblümte Kittelschürze, die ihre 70-jährige Nachbarin trug.
»Heute Abend gehen wir kegeln. Vielleicht möchtest du mitkommen? Am Wochenende zeigen wir ein paar Fotos von unserem Urlaub mit dem Wohnwagen an der Côte d’Azur. Christian …«, sie redete von ihrem Enkel, »… hat für uns ein Fotoalbum davon gemacht.«
Greta schluckte. Sie schaute auf die bequemen Filzschlappen ihrer Nachbarin und überlegte, dass so eine Schublade nicht das Schlimmste sein konnte, was sie in ihrer Zukunft als Rentnerin erwartete. In ihrem Kopf ging sie allerlei Ausreden durch, die sie Gertrude präsentieren konnte, ohne den Anschein zu erwecken, deren Bemühungen wären ihr egal – was sie in Wirklichkeit waren. Ein Maunzen ließ sie den Blick abwenden.
Gertrude hatte ihre Katze dabei. Wenn Greta eines nicht ausstehen konnte, dann waren es Katzen. Sie haarten, hinterließen Biowaffen ähnliche Duftnoten an der Hauswand und konnten durch ihre Halter nicht kontrolliert werden. »Meine Katze hat Charakter. Sie lässt sich von niemandem etwas vorschreiben«, hörte sie stolze Katzenbesitzer sagen. Was für eine geniale Ausrede für schlechte Erziehung, dachte sie sich insgeheim.
Während Gertrude sich über die Vorzüge ihrer Greisenfahrten ausließ, beobachtete Greta missbilligend Fräulein Pfote, wie diese kleine Vogelmörderin von der arglosen Nachbarin genannt wurde. Begleitet von fordernden Maunzlauten streifte sie um Gertrudes Hosenbeine und hinterließ dabei eine Spur weißer Haare.
Greta kitzelte allein der Anblick in der Nase. Sie bemerkte, dass die Katze sie fixierte. Anscheinend war das Tier sich Gretas Antipathien genau bewusst. Greta bezweifelte jedoch, dass Fräulein Pfote das interessierte.
»Es tut mir leid, das ist nichts für mich«, sagte Greta schließlich ohne Umschweife zu Gertrude. Sie hoffte, dieses Treffen schnell zum Ende bringen zu können. Dann blickte sie erschrocken nach unten. Ein Kitzeln an ihren eigenen Beinen signalisierte ihr, dass es dem Feind heute gelungen war, die feindlichen Linien zu übertreten. Dabei hatte sie die Katze nur einen Augenblick aus den Augen gelassen!
»Ach, wie süß!«, rief eine verzückte Gertrude aus. »Sie möchte dein Heim erkunden. Ist das nicht goldig?«
Greta bekam Gänsehaut bei dem Gedanken an die vielen Haare, die das Tier in jeder Sekunde wie eine Markierung seines Territoriums verlieren würde.
»Bitte sei so gut und hol sie raus«, erwiderte Greta eisig und presste die Lippen aufeinander. Sie blieb in der Tür stehen, während Gertrude an ihr vorbei in die Wohnung wieselte und nach ihrer unverschämten Freundin Ausschau hielt. Greta hatte nicht vor, diesem Untier die Genugtuung zu geben, hinter ihm herzujagen.
Einige Minuten später befand sich der weiße Tiger auf dem Arm ihrer Nachbarin und funkelte Greta empört an.
»Sei mir nicht böse, Gerti. Die Einladung ist sehr lieb gemeint, aber ich werde die nächste Zeit nicht dazu kommen. Ich habe einiges zu tun, bevor ich in den Urlaub fahre.«
»Du willst weg?«
»Ja. Entschuldige, ich glaube, mein Telefon hat geklingelt.« Mit diesen Worten schloss sie die Tür vor ihrer Nachbarin. Etwas unhöflich, das war ihr bewusst, doch sie hätte ihr die nächste Frage gar nicht beantworten können. Wo es hingehen sollte. Sie wusste nur, sie musste mal weg – raus.
Sylt, am nächsten Morgen
Feuchte Luft schlug ihm ins Gesicht, als Jasper die schwere Eichentür seiner Ferienwohnung in Kampen öffnete. Fritz schoss an ihm vorbei und hätte ihn beinahe zu Fall gebracht, noch bevor er einen Schritt nach draußen gesetzt hatte.
»Warte, mein Freund. Nicht so eilig. Hierher!«, rief er seinen hechelnden Labrador zurück. Der duckte sich und trottete schwanzwedelnd auf ihn zu, um sich anleinen zu lassen.
»Guter Junge.« Jasper tätschelte ihm den Kopf, zog den Reißverschluss seiner Jacke die letzten 20 Zentimeter hoch und lief los. Hinter der Düne hörte er die Brandung. Ein straffer Wind pfiff ihm um die Wangen und brachte sie zum Glühen. Fritz nutzte jeden Meter der Laufleine aus. Sobald sie am Strand waren, würde Jasper ihn frei laufen lassen.
Es war sehr früh am Morgen. Eine Sturmflut hatte in der letzten Nacht die Insel in Schach gehalten. Jasper war gespannt, welches Bild sich ihm am Strand »Rotes Kliff« bieten würde. Der starke Wind zerrte an seiner Daunenjacke, als er vorbei an braunem Heidekraut den Weg entlang durch die Düne stapfte. Das Restaurant »Sturmhaube« zu seiner Linken würde bald öffnen.
Je dichter er dem Meer kam, umso drängender hörte er die Wellen schlagen, die hellen Schreie der Silbermöwe und das Heulen des Windes. Er blies vom Wasser her und wirbelte den Sand auf, der wie winzige Speerspitzen Jaspers Gesichtshaut traf. Er kniff die Augen zusammen und tastete sich beinahe blind vorwärts.
Nachdem er die »Sturmhaube« lange hinter sich gelassen hatte, wurde Fritz unruhig. Er zerrte an seiner Leine und sah sein Herrchen auffordernd an. Das Meer. Er wusste, dass er gleich freigelassen werden würde.
Jasper stapfte in seinen dicken Stiefeln durch den Sand und blinzelte Richtung Horizont. Drei Meter hohe Wellen rollten unaufhörlich auf den Strand zu. Tosende Fluten schäumend vor Wut.
Die Sonne ging gerade auf, kein Mensch weit und breit. Mit einem Klick befreite er seinen Kameraden und wickelte die Leine auf. Sofort sauste Fritz die Düne hinunter, vorbei an dem hölzernen Panoramaweg entlang des Kliffs und den Strandkörben, die man vor der Flut in Sicherheit gebracht hatte.
Jasper kämpfte sich durch den Sturm den Weg hinunter. Er hielt abwechselnd einen Arm vors Gesicht, musste jedoch regelmäßig nachsehen, wo er sich befand, um nicht die Orientierung zu verlieren. Die Flut hatte drei Viertel des Strandes weggespült. Eineinhalb Meter brach der Sand nach unten weg. Jasper wäre beinahe abgestürzt, so blind, wie er durch die Gegend tapste. Inzwischen lief er neben der Wasserlinie, bemüht, mit Fritz mitzuhalten, der eine Möwe nach der anderen jagte.
Die Böen nahmen ihm zeitweise die Luft zum Atmen. Manchmal zog er sich den Schal über die Nase, weil er perfekten Schutz gegen den Sand und die Kälte bot. Darunter atmete er tief ein und ließ die frische Nordseeluft seine Lungen fluten.
Mit dem Schienbein stieß er plötzlich gegen Fritz. Der Kerl war abrupt stehen geblieben, und Jasper hatte es weder gesehen noch gehört. Er verlor das Gleichgewicht und streckte im Fallen die Arme aus, um sich abzufangen. Er landete neben ihm im Sand. Als er den Kopf drehte, starrte er in die aufgerissenen Augen eines Menschen.
Um den abgesperrten Bereich hatte sich trotz des unfreundlichen Wetters in den letzten Minuten eine beachtliche Menschenmenge geschart.
Kriminaloberkommissar Fred Thomsen kniete neben der Leiche des alten Mannes im Sand. Er schätzte ihn auf über 70. Graue Haare, herbes, faltiges Gesicht, buschige Augenbrauen. Er besaß markante Züge, soweit man das angesichts des Zustands der Leiche einschätzen konnte. Der Mann musste sehr lange Zeit im Wasser gelegen haben. Unter Wasser – so war er konserviert worden. Sein Körper war aufgedunsen, das Körperfett zu Leichenlipid umgewandelt worden. Fettwachs – wie es der Volksmund nannte. »Die Kollegen von der Mordkommission sind inzwischen unterwegs?«, fragte er seinen Chef, der neben ihm stand, Kriminalhauptkommissar Volker Mattes.
»Ja«, kam eine rauchige Antwort zurück.
»Was glaubst du, wie lange er im Wasser gelegen hat?«, fragte er. Für Thomsen war klar, dass Fremdeinwirkung beim Tod dieses Mannes nicht ausgeschlossen werden konnte. Unterhalb des Kehlkopfes befand sich ein großer Schnitt. Das bedeutete, dass die Mordkommission Flensburg, das Kommissariat 1 der Bezirkskriminalinspektion, hinzugezogen werden musste, was sie auch getan hatten. Nachdem ein Spaziergänger die Leiche am Morgen gefunden hatte, war die Schutzpolizei informiert worden. Die hatte sofort nach Begutachtung des Toten die Kriminalpolizei ins Bild gesetzt, die nach Kenntnis der Fakten die Mordkommission verständigt hatte, bevor sie zum Strand gefahren war.
Auf die Kollegen der Mordkommission warteten sie seit gut drei Stunden.
»Schwer zu sagen. Ich denke ein paar Wochen, nagel mich aber nicht darauf fest. Warten wir ab, was die in Kiel in der Rechtsmedizin sagen.«
Thomsen nickte.
»Den Spaziergänger könnt ihr nach Hause schicken. Ich sehe gerade, dass er immer noch hier rumhängt«, sagte sein Chef.
»Willst du nicht auf die Kollegen warten?«
»Nein. Guck dir das Wetter an. Der schlottert ziemlich und ist blass.«
»Er wirkt ein bisschen desorientiert. Hat sich ziemlich aufgeregt. Ist auf die Leiche draufgefallen.«
»Wohnt er in der Nähe?«
»Urlauber. Hat ein Ferienhaus in Kampen. Direkt hinter der Düne.«
»Schick ihn dorthin. Er wird sich sonst den Tod holen. Wir brauchen ihn momentan nicht. Das hier ist kein Tatort im herkömmlichen Sinne. Außerdem befürchte ich, dass sein Hund bald durchdrehen wird, wenn er nicht an die Leiche herankommt. Wir wissen ja, wo wir ihn finden können.«
Thomsen griff sich mit der Hand an den Kragen seiner Jacke und schloss ihn gegen den eisigen Wind. Anschließend stapfte er auf den frierenden Touristen zu und überzeugte ihn zu gehen. Normalerweise waren die Leute ganz wild darauf. Der Mann jedoch schien wie paralysiert zu sein. Thomsen steckte ihm die Visitenkarte einer Kollegin zu, bei der er sich melden sollte, wenn er über diese traumatische Erfahrung reden wollte. Dann sah er ihm nach, wie er mit seinem winselnden Labrador zwischen den Dünen entlanglief.
»Eine Idee, wer der Tote sein könnte?«, fragte er seinen Chef, als er zurückgekehrt war.
Der schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Niemand, der von der Insel vermisst wird. Nicht im letzten Jahr.«
»Ob der irgendwo über Bord gegangen ist?«, überlegte Thomsen.
»Eher entsorgt. Aber ja. Das scheint mir wahrscheinlicher.« Der Kriminalhauptkommissar fuhr sich durch sein schütteres Haar. »Schauen wir mal, was die Datenlage zum Thema Vermisste sagt. Bevor wir nicht wissen, wer er ist, können wir nichts weiter unternehmen.«
Thomsen beeilte sich, eine Absperrung zu verteidigen, die gerade von Urlaubern niedergerissen wurde. »Leute, seid bitte vernünftig. Hey! Sie da drüben. Nehmen Sie das Handy runter! Habt ihr überhaupt keinen Sinn für Pietät mehr? Ein Mensch ist gestorben! Das ist nichts, um euer Instagram-Profil zu pimpen!«
Das Pärchen, das seine Handys gezückt hatte, ging ein Stück nach hinten. Weggesteckt wurden die Geräte trotzdem nicht. Thomsen entdeckte, dass zwei Kollegen aus Flensburg eintrafen, und bat die Männer, die vorhin mit dem Streifenwagen als Erstes angekommen waren, die Gaffer in Schach zu halten. Er gesellte sich wieder zu seinem Chef. »Entschuldigt bitte. Jorgensen, Peters, wie steht’s?« Er richtete die Frage an den Kriminalhauptkommissar Friedrich Jorgensen von der Mordkommission und dessen Kollegen Kriminaloberkommissar Piet Peters aus Flensburg.
»Alles im Lot«, erwiderte Jorgensen. Sein Kollege nickte.
»Du hast nichts verpasst. Wir sprachen gerade darüber, dass die Leiche sofort nach Kiel gebracht wird. Vielleicht sind die dort in der Lage, Fingerabdrücke zu nehmen. Wir sind uns einig darüber, dass er zu lange im Wasser gelegen hat, um das hier zu bewerkstelligen. Die Waschhaut löst sich bereits.«
»Ja. So frisch ist der Tote nicht. Wir sollten die Datenbank nach Vermissten prüfen.«
»Ich sagte eben zu Fred, dass wir auf Sylt seit einem Jahr keinen Vermissten mehr hatten. Er muss von außerhalb kommen.«
»Wir prüfen das und melden uns bei euch«, sagte Jorgensen. »Möglicherweise benötigen wir eure Hilfe nicht weiter. Wir werden sehen.«
Die vier verabschiedeten sich knapp voneinander, und Thomsen beobachtete, wie Jorgensen und Peters sich zu den Kollegen der Spurensicherung gesellten.
»Hältst du es für möglich, dass der Schnitt am Hals verursacht wurde, während die Leiche im Wasser trieb? Schiffsschraube oder Ähnliches?«, fragte er seinen Chef.
»Halte ich für unwahrscheinlich. Die Verletzung ist sehr sauber. Ich tippe eher darauf, dass sie die Todesursache war. Bevor man ihn ins Wasser warf oder er fiel. Warten wir es ab.«
»Also entweder ein Tourist, den keiner gemeldet hat, oder er ging woanders über Bord und nun haben wir ihn am Hacken«, sagte Thomsen.
»Sieht so aus. Was hast du heute Abend vor? Wollte nicht dein alter Herr zu Besuch kommen?«, fragte der Kriminalhauptkommissar.
»Nach der Arbeit. Die Kleene ist schon ganz aufgeregt. Hat Opa seit ein paar Wochen nicht gesehen.«
»Ist er immer noch so viel auf Achse?«
»Seit meine Mutter vor zwei Jahren gestorben ist, kriegen wir ihn nicht so oft zu Gesicht.« Thomsens Vater hatte in den letzten zwei Jahren einen großen Teil der Welt bereist, mehr als in seinem gesamten Leben zuvor.
»Sei froh. So weißt du, dass er nicht daheimsitzt und Trübsal bläst.«
»Stimmt.« Fred Thomsens Chef war Mitte 50 und kannte seinen Vater. Vor vielen Jahren hatten sie auf der Insel zusammengearbeitet. Joost Thomsen war Kriminalhauptkommissar gewesen und Volker Mattes damals noch Kriminaloberkommissar. Fred war in die Fußstapfen seines Vaters getreten und zur Polizei gegangen. Jetzt war er der Kriminaloberkommissar.
»Ich denke, wir können los.«
»Willst du noch einmal mit dem Spaziergänger sprechen? Da er in der Nähe wohnt, kommt er wahrscheinlich jeden Tag hier lang.«
»Kann nicht schaden. Wird Jorgensen möglicherweise nicht schmecken, aber was soll’s«, erwiderte Mattes leichthin.
Mit den Händen in den Taschen stapften sie über die Düne. Das Kinn auf die Brust gezogen, tief im Mantelkragen verborgen, um dem schmerzenden Sand, den der Wind aufpeitschte, zu entgehen.
Vor dem zweiten Reihenhaus hielten sie an.
»Der Eingang ist es.« Thomsen deutete auf eine robuste Tür.
Mattes betätigte die Klingel. Augenblicklich ertönte aufgeregtes Hundegebell. Pfoten kratzten am Holz und drängende Winsellaute erreichten Thomsens Ohren.
»Wir sind richtig«, sagte Mattes.
Nach einer Minute öffnete eine zierliche Frau Mitte 30 mit langem brünettem Haar die Tür. Angestrengt drückte sie den überdrehten Labrador mit den Beinen beiseite und hinderte ihn so daran, auf die Straße zu laufen. »Guten Morgen. Sie wollen bestimmt meinen Mann sprechen.«
Man erkannte sie auch in Zivil als Polizisten.
»Guten Morgen. Ich bin Kriminalhauptkommissar Mattes, das ist mein Kollege Kriminaloberkommissar Thomsen von der Dienststelle in Westerland. Wenn es möglich sein sollte, würden wir gern mit Ihrem Mann sprechen.«
»Natürlich. Linda Gerber. Kommen Sie rein.« Sie sagte das, mit einer Hand am Halsband ihres Hundes, den sie mit aller Kraft von den Polizisten fernhielt.
»Lassen Sie ihn gern los. Uns stört es nicht.« Thomsen sah seinen Chef an, der nur mit den Schultern zuckte.
Linda Gerber zögerte einen Moment und ließ dann den Halbstarken frei. Der wieselte augenblicklich um die Neuankömmlinge herum und beschnüffelte jeden Zentimeter ihrer Hosenbeine ausgiebig.
»Ich wette, er riecht den Toten«, flüsterte Thomsen, als die Frau ihren Mann holen ging.
»Wollen wir uns in die Stube setzen?«, sagte plötzlich eine zaghafte Stimme. Der Spaziergänger war aufgetaucht. Jasper Gerber. Sie folgten ihm in einen hell eingerichteten Raum, mit Strandbildern an der Wand und Deko-Objekten aus Treibholz. Sylt, wie es die Touristen erleben wollen.
»Herr Gerber«, ergriff Mattes das Wort, »wir wollen Sie nicht lange belästigen. Ich bin mir sicher, Sie werden noch Besuch von den Kollegen der Mordkommission aus Flensburg erhalten.«
»Gehören Sie nicht dazu?«, wollte Gerber wissen.
»Nein, wir sind von der Dienststelle in Westerland. Kriminalpolizei. In einem Fall wie diesem wird die Mordkommission hinzugezogen. Die ist ab sofort verantwortlich und arbeitet mit uns, sofern nötig, im Team zusammen.«
»Okay.«
»Sie haben die Leiche heute früh beim Spaziergang mit Ihrem Hund entdeckt«, sagte Mattes.
»Ja. Ganz genau.« Er nickte heftig.
»Gehen Sie immer mit Ihrem Hund spazieren, oder wechseln Sie sich mit Ihrer Frau ab?«
»Wir wechseln, aber in den frühen Morgenstunden bin meistens ich es.« Er schaute mit einem Schmunzeln auf den Lippen zu seiner Frau auf, die in diesem Augenblick mit einer Kanne Tee und Tassen auf einem Tablett den Raum betrat.
»Täglich diesen Weg?«
»Oft.«
»Wann das letzte Mal?«
»Gestern Abend gegen acht sind wir zu zweit noch einmal los. Wir sind zum Strand runter, es hat aber schon ganz schön geweht, weshalb wir am nächsten Aufgang Richtung Leuchtturm wieder hoch sind.«
»Da war es dunkel«, bemerkte Mattes.
»Das habe ich meinem Mann auch gesagt«, erwiderte Linda Gerber und griff nach dem Arm ihres Gatten.
»Ich habe eine Stirnlampe. Die ist sehr hell. Ist nur nichts für Angsthasen wie meine Frau. Man fühlt sich damit wie auf dem Präsentierteller. Sieht nur das, was vor einem ist. Nichts aus den Augenwinkeln.«
»Glauben Sie, die Leiche wäre Ihnen gestern Abend aufgefallen, wenn sie schon dort gelegen hätte?«
»Da war nichts. Die muss in der Nacht angespült worden sein, da bin ich mir sicher. Gestern Abend war der Strandabschnitt auch deutlich länger. Die Sturmflut hat heute Nacht mehr als die Hälfte weggerissen.«
Sylt, zwei Wochen später
»Herzlich willkommen im ›Fährhaus‹. Hatten Sie eine gute Anreise?«
Greta Kaiser fühlte sich wie nach Hause zurückgekehrt. Seit über fünf Jahren hatte sie keinen Fuß auf die Nordseeinsel gesetzt. Davor waren Thomas und sie fast jedes Jahr dort gewesen. Meistens im Herbst. Wenn es langsam stürmisch wurde. Sie konnte es kaum erwarten, ihren heiß geliebten Krabbencocktail zu essen. Ein Ritual, das sie sich immer für den Urlaub auf der Insel aufgespart hatte. Etwas Besonderes. Niemals bestellte sie einen außerhalb von Sylt. Doch nachdem Thomas nun für immer fort war, schmerzten sie die Erinnerungen an diese gemeinsamen Urlaube. Ihre Nichte Nele hatte sie schließlich überredet, der Insel noch eine Chance zu geben. »Du hast es so geliebt, Tante Greta. Warum willst du nicht hinfahren? Du warst so glücklich dort.« Und sie hatte recht. Die Gezeiten. Das raue Wetter. Greta hielt gern die Nase in den Wind. Zwei Wochen später war sie hier. Sie hatte sich aber vorgenommen, dem eigenen Schmerz ins Auge zu sehen, indem sie an alte Rituale und Verhaltensweisen anknüpfte. Sie wollte nicht mehr fliehen, sondern den Stachel der Trauer ziehen, der ihr schmerzend im Fleisch steckte. Jetzt stand sie nach knapp fünf Jahren wieder an der Rezeption des Hotels, in dem sie mit ihrem Mann traumhafte Urlaube verbracht hatte, und man erinnerte sich an sie. Das Zimmer, das sie gebucht hatte, war nicht dasselbe. Nur ein kleines Doppelzimmer, nicht wie einst die Suite. So viel Platz brauchte sie nicht für sich allein.
Sie betrachtete ein Ölgemälde an der Wand neben dem Tresen der Rezeption, während die Empfangsdame ihre Unterlagen aus einem Register suchte. Es fesselte sie. Kräftige, temperamentvolle Pinselstriche – die Gewalt der Natur in einer einzigen Welle, die sich gegen einen stürmischen Himmel emporhob. Beeindruckend. Das war neu. Sie kannte es nicht.
Ein paar Minuten später hatte man sie in ihr Zimmer gebracht. Erdgeschoss, mit Blick auf den Garten. Die schneeweißen Federkissen versprachen entspannte Nächte. Greta hörte den Wind vor den Scheiben heulen. Hier drinnen fühlte sie sich behaglich aufgehoben. Auf einer Anrichte fand sie einen Wasserkocher. Mehr brauchte sie nicht.
Sie nahm die Mütze vom Kopf, hängte ihren Mantel in den Schrank, schob den Koffer neben das Bett und schaute befriedigt nach draußen. Zwei Wildkaninchen hoppelten über die Wiese der kleinen Parkanlage hinter dem Hotel, die sich bis zu einem Wäldchen erstreckte. Um die Ecke erahnte sie das Wattenmeer. Von ihrem Zimmer aus konnte sie es jedoch nicht sehen. Erleichtert musste sie lächeln. Ihr wurde bewusst, dass ihre Angst davor, zurückzukehren, unbegründet gewesen war. Die Erinnerungen, die sie an ihren Mann und diesen Ort hatte, waren schön. Sie brachten ihn ein Stück zurück zu ihr. Kein Schmerz, nur Nostalgie. Vor einem großen Spiegel an ihrem Schrank machte sie halt. Energisch wuschelte sie ihren Bubikopf zurecht, entfernte mit dem kleinen Finger eine Spur Mascara aus dem Augenwinkel und betrachtete das Ergebnis. Sie hatte schon einmal besser ausgesehen, fand sie. Ihre Haut wirkte grau, die Augen müde. Die Falten drum herum kamen ihr heute besonders tief vor. Ihr Mann hatte sie einst für ihre Augen geliebt. Groß und strahlend – heute sah man an ihnen deutlich ihr Alter. Ein bisschen Rouge konnte nicht schaden, bevor sie wieder unter Leute ging.
Greta entschied sich gegen einen Tee und nahm sich ein Mineralwasser aus der Minibar. In einer halben Stunde gab es Kaffee und Kuchen im Restaurant. So lange konnte sie warten.
Nachdem sie ein Glas getrunken hatte, widmete sie sich ihrer Garderobe. Der Schrank war schnell eingeräumt und der Koffer neben dem alten Schreibtisch verstaut – ein schönes antikes Stück, das sie an die Möbel ihrer Großmutter erinnerte. Sie machte sich frisch, legte dezentes Make-up auf, korrigierte erneut den Sitz ihrer Haare und verließ das Zimmer.
Auf dem Gang zum Restaurant begegnete ihr niemand. Das war nicht weiter verwunderlich im späten Januar. Momentan war keine Saison. Nur die echten Sylt-Liebhaber kamen auf die Insel. Die, die es liebten bei ordentlich Wind, dick eingepackt am Wasser entlangzulaufen. Die die tosende Brandung brauchten, um sich zu entspannen, die sich von Menschenmassen fernhielten. Greta war eine von ihnen.
Sie nickte der Dame am Empfang freundlich zu und freute sich auf ein großes Stück Streuselkuchen, an das sie seltsamerweise seit der Fahrt mit dem Autozug denken musste. Mit einem ordentlichen Klecks Schlagsahne.
Im Restaurant waren einige wenige Tische besetzt. Greta strebte zum Fenster. Sie schaute raus auf den Hafen, in dem keinerlei Schiffe waren, und ließ sich Tee aus einem heimischen Teekontor schmecken. Genießerisch atmete sie seinen Duft ein, nahm die Geräusche der Natur hinter der Scheibe wie Entspannungsmusik wahr, beglückwünschte sich zu der Entscheidung, diesen Urlaub angetreten zu haben, und steckte unauffällig die kleine Sanduhr ein, die ihr das Hotel für den Tee zur Verfügung gestellt hatte. Im Anschluss an den Restaurantbesuch würde sie einen Spaziergang unternehmen. Ganz gleich, ob es dann schon dunkel wäre oder nicht.
Zehn Minuten später langweilte sie sich wie nie zuvor in ihrem Leben. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?
Obwohl sie es bei anderen Restaurantgästen verabscheute, nahm sie nun selbst ihr Mobiltelefon in die Hand und surfte durch die News des heutigen Tages. Die App wusste, wo sie sich aufhielt, deshalb bekam sie jede Menge Lokalnachrichten. Normalerweise lehnte sie diese Begrenzung durch künstliche Intelligenz ab, doch heute kam es ihr gerade recht.
Wollen wir doch mal sehen, was auf dieser Insel so passiert.
Sturmschäden, Schließung einer Apotheke in Westerland, Glasfaserausbau für 50 Haushalte auf der Insel, Identität der Wasserleiche vom Strand »Rotes Kliff« endlich geklärt …
Greta zog die dünnen Augenbrauen nach oben. Das klang vielversprechend. Sie überflog den Artikel. Vor zwei Wochen war ein Mann in der Nacht der Sturmflut am Strand hinter der »Sturmhaube« angespült worden. Ein Urlauber hatte die Leiche bei einem Morgenspaziergang entdeckt. Lange Zeit hatte man gegrübelt, um wen es sich handelte. Inzwischen war die Identität geklärt worden. Wer der Tote war, stand nicht in dem Artikel. Man wüsste jedoch aus zuverlässiger Quelle, dass es sich nicht um einen Einheimischen handelte.
Hmm. Wie mochte es wohl sein, beim Spazierengehen über eine Leiche zu stolpern? Eine Urlaubserinnerung, die man sicher nicht vergisst. Wäre sie zwei Wochen früher gekommen, hätte ihr diese Erfahrung zuteilwerden können. Nicht auszudenken! Das war sicherlich um einiges aufregender als das Stehlen unnützer Dinge. Der Gedanke reizte sie, und schon schämte sie sich dafür.
Die Mordkommission Flensburg ermittelte. Also war der Tote niemand, der mit seinem Boot rausgefahren und über Bord gegangen war. Sie suchte im Netz nach weiteren Artikeln und fand einen im Hamburger Abendblatt. Selber Text, keine neuen Infos.
In diesem Moment kam ein Kellner an ihr vorbei, der das Geschirr anderer Kaffeegäste abräumte. »Entschuldigen Sie bitte? Sagen Sie … Es gab eine Sturmflut vor zwei Wochen«, begann sie langsam.
»Völlig richtig. Wir mussten die Wagen vor dem Hotel alle auf höher gelegenes Gelände fahren. Das Wasser wurde aus dem Hafenbecken bis an die Treppe herangedrückt.«
»Das passiert wahrscheinlich jedes Jahr.«