Die Knuedler-Verschwörung - Claude Dominicy - E-Book

Die Knuedler-Verschwörung E-Book

Claude Dominicy

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Beschreibung

Eine Mordserie erschüttert Luxemburg. Die drei Opfer scheint nur eines zu verbinden: Sie waren in der Politik tätig. Kriminalkommissarin Dany Kerner nimmt die Ermittlungen im politischen Milieu auf und stößt auf Ungereimtheiten. Haben die Opfer ihre Ämter missbraucht, um ihre eigenen Ziele durchzusetzen? Und welche Rolle spielt der Suizid eines Kommunalpolitikers? Als Dany bei der Verfolgung dieser Spur auf eine undurchdringliche Mauer des Schweigens stößt, ahnt sie, dass der Selbstmord viel mehr verbirgt …

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Claude Dominicy

Die Knuedler-Verschwörung

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © sabino.parente / stock.adobe.com

ISBN 978-3-7349-3112-3

Landkarte Luxemburgs

Prolog

Freitag, den 17. Dezember, 15.50 Uhr

Die Mittagssonne hat dunklen Wolken Platz gemacht. Schneeflocken schweben vom Himmel herab. Am Freitagnachmittag kommst du erschöpft aus einem Meeting mit dem Stadtrat der Nordstadt Ettelbrück. Was für eine Erleichterung, es liegt hinter dir. Feuchte Kälte kriecht unter deinen Mantel. Du fröstelst und knöpfst ihn schnell zu. Dir ist bitterkalt. Du ziehst deine ledernen Handschuhe an und schiebst die Mütze tief ins Gesicht. Eine dünne Schneeschicht bedeckt bereits den Bürgersteig. Die Autos hinterlassen ihre Spuren auf der Straße. So kurz vor Weihnachten ist nicht viel los. Die Schulferien haben gerade begonnen und viele Familien fahren in die Berge. Der Wetterdienst hat fürs Wochenende einen Schneesturm angekündigt. Aber trotz der eisigen Kälte merkst du, wie du dich allmählich entspannst. Das Meeting hat unendlich viel Kraft gekostet, doch jetzt musst du nicht mehr stark sein. Es ist Wochenende und du kannst ganz du selbst sein.

Du wirst die Stille, die zu Hause auf dich wartet, kaum ertragen. Zu mächtig ist die lähmende Einsamkeit. Zu heftig sind die Erinnerungen und die Trauer. Außer deiner Katze wird niemand dort sein. Sie wird sich freuen und sich schnurrend auf deinen Bauch legen, wenn du heute Abend auf der Couch liegst und Netflix schaust. Mit einem Glas Rotwein und einem Schinkenbrot. Keine Termine. Keine Rendezvous. Das ganze Wochenende nur du und die Katze. Nur Schweigen.

Du steigst müde in dein Auto und fährst los. Das Leder des Sitzes fühlt sich trotz deines Mantels kalt und steif an. Du stellst die Sitzheizung an. Gleich wird es besser.

Der Weg nach Hause führt über eine einsame Landstraße. Schön ist es hier. Sanft hebt sich die hügelige Landschaft vom Horizont ab. Bald wirst du das Haus des alten Glauber passieren, das abgeschieden in der Natur liegt. Beim Vorbeifahren hast du noch nie eine Menschenseele gesehen, aber du weißt, dass er hier wohnt. Das Schwein! Gänsehaut. Du schauderst. Als du sein Haus erreichst, siehst du ihn, den Glauber. Du erschrickst, bremst ab, beobachtest ihn. Heute ein alter Mann, steigt er in seiner Garageneinfahrt aus seinem Wagen. Dir stockt der Atem. Deine Haare sträuben sich und dein Magen zieht sich zusammen. Da ist er. 17 Jahre lang hat er sich regelmäßig in deine Träume geschlichen. Die Angst, die du glaubtest, endgültig begraben zu haben, steigt wieder auf und schnürt dir die Kehle zu.

Mittlerweile muss der alte Sack über 80 sein. Du bleibst stehen und siehst ihm zu, wie er in der Einfahrt seines Wohnhauses mit gebeugtem Rücken aus seinem Auto steigt und vorsichtig zum Garagentor trippelt. Nur einige Meter von deinem eigenen Wagen entfernt, den du inzwischen neben seiner Einfahrt geparkt hast. Draußen wütet nun ein heftiger Schneesturm. Es ist spiegelglatt.

So auch seine Garageneinfahrt, die stark abfällt. Du bemerkst voller Genugtuung, wie Glauber ausrutscht, als er das Garagentor öffnet. Jetzt liegt er zwischen der Garageneinfahrt und seinem Wagen, dessen Motor noch läuft. Wie ein Käfer liegt er auf dem Rücken, die Arme und Beine in der Luft.

Die Erinnerung an damals kommt mit voller Wucht zurück. Eine unglaubliche Wut, die sich über die Jahre aufgestaut hat, steigt in dir hoch. Der elende Scheißkerl. Wie er sich mehrfach an dir vergangen hat und dich in all diesen Nächten im Traum heimsuchte. Dir deine Beziehungen vermieste. Da liegt er nun im Schnee. Dieses armselige Schwein.

Du kannst dein Glück kaum fassen. Was für ein Zufall. Die Gelegenheit, sich an ihm zu rächen. Erregt schaust du dich um. Die Gegend ist menschenleer. Die weiße Decke auf den Feldern verdichtet sich. Der Horizont verschwindet hinter einem Vorhang aus Schneeflocken. Glaubers Haus ist ein dunkler Fleck in der makellos weißen Landschaft. Du bist allein mit ihm. Nicht zu glauben. Ohne zu zögern, steigst du aus.

Du schreitest auf ihn zu, dein Herz rast. Er liegt am Boden, keucht und schaut zu dir hoch. Von seiner damaligen Kraft scheint nicht viel übrig zu sein.

»Helfen Sie mir! Ich komme nicht hoch.« Er stöhnt. »Ich glaube, ich habe mir die Hüfte gebrochen. Rufen Sie einen Krankenwagen. Machen Sie schon«, fordert er unwirsch, ganz der Glauber, wie du ihn in Erinnerung hast.

Er erkennt dich nicht wieder. Tja, 17 Jahre sind eine lange Zeit.

Die Fenster seines Hauses liegen im Dunkeln. Seine Frau scheint nicht zu Hause zu sein. Vor Jahren bist du den beiden einmal begegnet, wie sie in der Brasserie Guillaume saßen und Austern aßen. Vornehm und wortgewandt hatte der Heuchler im renommiertesten Fischrestaurant der Hauptstadt Luxemburg getan, als sei er der beste Ehemann überhaupt.

Wäre seine Frau zu Hause, hätte er dich gebeten, an der Tür zu klingeln.

Du antwortest ihm nicht, sondern drehst dich um und gehst zurück zu seinem Wagen.

»He, wo wollen Sie hin?«, schreit Glauber dir hinterher.

Du steigst ein, löst die Handbremse und gibst Gas, beide Hände fest am Steuer. Er kreischt verzweifelt. Aufgeregt beschleunigst du etwas, um das Hindernis zu überwinden. Es ruckelt und fühlt sich brutaler an, als du dachtest. Übelkeit steigt in dir hoch. Trotzdem machst du weiter. Du legst den Rückwärtsgang ein und fährst noch mal zurück. Dann wieder das Gleiche. Bis die Euphorie schwindet und der Mut dich verlässt, bis du nicht mehr kannst.

Du steigst aus, wie du eingestiegen bist, gehst wieder zu deinem Wagen, setzt dich hinein und fängst an zu keuchen. Du keuchst und keuchst und keuchst … bis dein Keuchen in ein Lachen übergeht. Ein hysterisches Lachen, das nicht aufhören will.

Allmählich beruhigst du dich, schaust dich um und bemerkst, dass weiterhin niemand zu sehen ist. Du musst überprüfen, ob er noch lebt. Sein Wagen steht nach wie vor mit laufendem Motor in seiner Garage. Es wird so aussehen, als hätte er die Handbremse nicht richtig gezogen. Ja, und er? Du schaust nach. Er ist tot. Unmissverständlich tot. Es besteht kein Zweifel. Schleppenden Schrittes begibst du dich zu deinem Wagen.

Niemand hat dich bemerkt. Die Straße bleibt menschenleer. Benommen machst du dich auf den Weg nach Hause. Was hast du getan? Unterwegs versuchst du deine Gedanken zu ordnen, aber es gelingt dir nicht.

Hätte Glauber sich damals anständig benommen, wärst du vorhin weitergefahren und hättest den alten Mann in Ruhe gelassen. Aber so …

Als du zu Hause ankommst, bist du erleichtert, dass keiner da ist. Du gehst in die Wäschekammer, ziehst dich aus und schmeißt deine Kleidung in die Waschmaschine. Der Mantel, die ledernen Handschuhe und die Schuhe werden das schlecht vertragen, aber das ist dir egal. Alle Spuren müssen weg.

Im Schlafzimmer legst du dich hin und starrst an die Decke. Erst jetzt erlaubst du dir, an das zurückzudenken, was du getan hast. Du begreifst nicht, wie du so ruhig sein kannst; ruhig und gleichgültig. Wie leicht es dir gefallen ist. Wie gut es getan hat, ihn totzufahren. Förmlich zu spüren, wie du ihm ein Ende bereitet hast, ein qualvolles noch dazu. Genau so, wie du es dir immer erträumt hast. Ein Glucksen steigt in dir auf. Wie lange ist es her, dass du etwas empfunden, sogar Glück gespürt hast? Aber ja, genauso fühlt es sich an. Wie Glück.

Er ist krepiert. Du hast es getan. Du hast dich gerächt. Es ist möglich. Das kannst du auch mit den anderen tun. Dich rächen. So schläfst du ein, mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht. Wie schon lange nicht mehr.

Kapitel 1

Freitag, den 21. Januar, 16.20 Uhr. Einen Monat später.

»Das gibt’s doch nicht!«

Kriminalkommissarin Dany Kerner nimmt die erstbeste Zeitschrift, die sie zu fassen kriegt, und schleudert sie durch ihr Wohnzimmer. Genervt fährt sie sich mit der Hand durch ihr kurzes, dunkles Haar.

»He, die war neu!«, ruft Nathalie aus der Küche.

Es ist ein kalter Tag in Luxemburg-Stadt. Dany sitzt mit ihrem Laptop in ihrer Wohnung am Esstisch und liest ihre Mails.

Erst gestern ist sie mit ihrer Frau Nathalie und den beiden Adoptivsöhnen Felix und Anton aus einem Segelurlaub auf den Seychellen zurückgekommen. Heute hat sie sich extra freigenommen, um behutsam wieder in den Alltag einzusteigen.

Nathalie sieht vom Kochtopf hoch, in dem sie gerade am Herd herumrührt. »Was ist denn los?«

Dany schweigt. Erst mal abwägen, wie viel sie Nathalie erzählen darf. Sie schüttelt den Kopf.

»Während ich weg war, wurde die Anklage gegen einen Geschäftsmann fallen gelassen, den wir erst vor drei Wochen festgenommen haben. Bei einer Razzia in einem Bordell haben wir ihn auf frischer Tat mit Kokain erwischt.«

»Und wieso wurde die Anklage zurückgezogen?«

»Wahrscheinlich kannte der Typ wieder mal ein hohes Tier im Justizapparat. So was zieht mich echt runter. Wieso machen wir uns die Mühe eigentlich noch?«

Ein Gefühl der Ohnmacht überfällt sie. Nathalie hebt die Augenbrauen und blickt Dany mitfühlend an. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst deine Mails nicht vor Ende des Urlaubs lesen. Ich wusste, du regst dich dann nur auf.« Sie dreht sich wieder zum Herd.

Nachdenklich starrt Dany aus dem Fenster. Sie klappt entschlossen ihren Laptop zu und steht auf. »Ich muss gleich ins Büro!«

»Jetzt?« Nathalie wendet sich wieder Dany zu und legt ihren Kopf schief. »Ich habe grad einen Risotto aufgesetzt. Wir wollten es uns doch gemütlich machen und Capitani schauen.«

»Sorry, Nathalie, aber das lässt mir jetzt keine Ruhe. Außerdem habe ich ausreichend Capitani im Büro, und auf den Seychellen hattest du genug Gelegenheit, Zeit mit mir zu verbringen. Aber da wolltest du ja lieber Müll sammeln.«

»Das ist unfair! Warum hast du nichts gesagt?« Nathalies Stimme zittert.

»Was hätte das gebracht? Alles andere ist dir wichtiger als unsere Ehe.«

»Nun werde mal nicht so melodramatisch, ja?«

Wortlos greift Dany nach ihrer schwarzen Lederjacke auf dem Stuhl und macht sich auf den Weg. Kaum zu Hause, geht alles wieder so weiter wie vor dem Urlaub. Nein, nicht wie vor dem Urlaub, noch schlimmer. Als sie die Tür hinter sich zuzieht, lässt sie Nathalie wild fluchend zurück.

Das Kommissariat liegt mitten im Zentrum der Hauptstadt Luxemburgs, mit Blick auf den Wilhelmsplatz, den Knuedler.

Nachdem sie an der Rezeption niemanden angetroffen hat, lehnt Dany sich an den Türrahmen zum Großraumbüro und schaut sich suchend um. Außer ihr scheint niemand im Büro zu sein, es herrscht totale Stille. Sonst sitzt hier ein Dutzend Beamte an den Schreibtischen, entweder laut gestikulierend am Telefon oder auf den Bildschirm starrend.

Natürlich, es ist Freitagnachmittag, aber trotzdem. Sie lauscht. Aus der Küche hört sie entspanntes Gelächter.

Als sie näher kommt, ertappt sie Julia und Leo, ihre engsten Mitarbeiter, bei einem Glas Luxemburger Crémant. Beide blicken sie erstaunt an.

»Was machst du denn hier?«, wendet sich Leo an Dany, während Julia sie mit offenem Mund schuldbewusst anstarrt. »Hast du heute nicht noch frei?«

»Leider konnte ich es nicht lassen, zu Hause schon meine Mails abzurufen. Die Anklage gegen Schroeder wurde zurückgezogen?«

»Oje.« Julia blickt zerknirscht zu Leo. Der sieht Dany resigniert an.

»Tja, der Untersuchungsrichter meinte, die Menge Kokain, die wir bei Schroeder fanden, würde nicht für eine Anklage reichen und wir sollten durch die Finger schauen. Na ja, und du warst nicht da.«

Am liebsten würde Dany laut schreien. Wie ist es möglich, dass die beiden das so ruhig hinnehmen? Sie selbst wäre in deren Alter am Boden zerstört gewesen. Aber diese Einstellung ist goldrichtig. Was man nicht ändern kann, muss man akzeptieren, sonst ist man in diesem Beruf fehl am Platz. So wie sie selbst? Dany stößt leicht mit dem Fuß gegen den Tischpfosten.

Als junge, aufstrebende Polizistin gehört Julia erst seit einem knappen Jahr zu Danys Team. Groß und sportlich, trägt sie ihr langes, blondes Haar stets in einem Zopf. Leo, Technik-Nerd und Meister der Netzrecherche, würde das Büro am liebsten nie verlassen. Dass er selbst in seinem Privatleben viel Zeit am Computer verbringt, sieht man ihm an. Sein schwarzes Haar bildet einen krassen Kon­trast zu seiner blassen Haut. Für seine Muskulatur könnte er ruhig mal etwas tun, denkt Dany. Wenn Leo nicht aufpasst, wird er früh einen Buckel bekommen. Doch was er an der Tastatur und im Kopf zu leisten vermag, ist für ihre Abteilung unverzichtbar.

»Habt ihr vielleicht noch ein Gläschen für mich übrig?«

»Na klar.« Julia steht erleichtert auf.

Dany lässt ihre Lederjacke auf einen Stuhl fallen. »Was feiert ihr denn?«

»Och … nichts Besonderes.«

Leo reicht ihr Chips. Sie nimmt sich gleich eine Handvoll.

»Ihr dachtet sicher, bevor die Chefin aus dem Urlaub zurückkommt, lassen wir’s uns noch mal gut gehen, was?« Dany zwinkert ihnen zu. »War sonst nichts los?«

»Nur das Übliche. Ein paar Betrunkene und Kloppereien am Silvesterabend.«

»Und warum seid ihr noch nicht im Feierabend?«

Julia schenkt Dany ein. »Wir sind beide heute Abend in der Stadt mit Freunden verabredet. Da lohnt es sich nicht, vorher noch nach Hause zu fahren. Lieber vertreiben wir uns die Zeit im Büro bei einem edlen Tropfen.«

Dany versteht das gut, den Verkehrsstau vor dem Wochenende tut sich niemand freiwillig an. Zu den 180.000 Pendlern, die tagtäglich aus den Nachbarländern Frankreich, Deutschland und Belgien nach Luxemburg kommen, addieren sich am Freitag noch die Wochenendpendler dazu.

Als Leo und Julia gegen 20 Uhr aufbrechen, begibt Dany sich an ihren Schreibtisch, um ihre Post durchzusehen. Da Nathalie eh schon sauer auf sie ist, kann sie genauso gut noch eine Weile im Büro bleiben.

Die Ferien auf den Seychellen sollten ein weiterer Versuch sein, ihre Beziehung zu retten. Es läuft schon eine Weile nicht mehr gut zwischen ihnen. Dany spielt in letzter Zeit öfter mit dem Gedanken, sich zu trennen. Nathalie ist selten zu Hause und sehr engagiert bei der Grünen Partei. Dany fährt am liebsten Motorrad. Danys Leder bedeutet für Nathalie Tiermord, ebenso jeder Hauch von Genuss abseits veganer Strenge. Sogar ihr geliebtes Motorboot, mit dem Dany auf der Mosel ein wenig Frieden findet, stellt für Nathalie einen Krieg gegen die Klimaziele dar. Wie soll das gehen? Gemeinsam gestartet, leben sie mittlerweile in zwei verschiedenen Welten.

Tieftraurig wischt Dany sich eine Träne von der Wange und versucht sich erneut auf ihre Post zu konzentrieren, als ihr Handy klingelt. Wenn man vom Teufel spricht, denkt Dany. Schon bald neun, aber unter den digitalen Ziffern steht nicht wie erwartet Nathalies Name, sondern der von Jean Brauer. Der Untersuchungsrichter? Das ist kein gutes Zeichen.

»Guten Abend, Herr Brauer.«

»Ah, Frau Kerner, schön, dass Sie drangehen. Wie war Ihr Urlaub? Hatten Sie einen guten Start?«

»Gut, danke, offiziell fange ich am Montag wieder an.«

»Ja, also, hören Sie, das tut mir leid, aber Ihren Urlaub müssen Sie leider abbrechen. Eben habe ich von der Notfallzentrale einen Anruf erhalten. In der GDE auf Cloche d’Or fand heute Abend der alljährliche Umtrunk statt, wo der Wirtschaftsminister mit den IT-Lobbyisten aufs neue Jahr anstößt.«

»GDE?«

»Na, Sie wissen schon, die Gesellschaft für Digitale Entwicklung. Ist doch heutzutage in aller Munde, das Thema!«

»Okay. Und …?« Dany schwant Böses.

»Während der Feierlichkeiten sind zwei männliche Mitarbeiter zeitgleich zusammengebrochen und verstorben. Die Notärzte haben uns ihren Verdacht auf Vergiftung mitgeteilt. Ich war eben schon vor Ort, habe die Gerichtsmedizin informiert und die Spurensicherung angefordert sowie alle verfügbaren Polizeibeamten, um Ihnen bei den Ermittlungen zu helfen.«

Dany verdreht die Augen und legt ihre Stirn auf den Schreibtisch, während sie auf Brauers Anweisungen wartet.

»Bitte trommeln Sie Ihr Team zusammen und kümmern Sie sich um den Fall. Da Sie die meiste Erfahrung mit solchen Fällen haben, möchte ich, dass Sie die Leitung übernehmen. Aber seien Sie diskret. Machen Sie nicht zu viel Wirbel. Ich will nicht, dass morgen über uns in der Zeitung berichtet wird. Sie haben sicher schon gehört, dass ich erst letzte Woche Ihre Kollegen zusammenstauchen musste, weil Sie einen wichtigen Geschäftsmann fälschlicherweise festgenommen hatten.«

Fälschlicherweise? Alarmiert hebt Dany den Kopf. »Ja, davon habe ich gehört, aber das war nicht …«

»Kein Aber, Frau Kerner, es eilt. Machen Sie sich an die Arbeit.«

Aufgelegt. Erregt blickt Dany zur Decke. Er weiß genau, dass sie über seine Aktion letzte Woche wütend ist. Doch es ist sinnlos, sich an oberster Stelle zu beschweren. Das haben andere schon vor ihr versucht und dafür ihre Karriere einbüßen müssen. Dany seufzt. Das Wochenende kann sie sich abschminken. Nathalie wird begeistert sein.

Kapitel 2

Freitag, den 21. Januar, 21 Uhr

Als Dany eine knappe halbe Stunde später beim Umtrunk der Gesellschaft für Digitale Entwicklung ankommt, warten Julia und Leo bereits vorm Eingang auf sie.

»Was guckt ihr so genervt? Seid ihr nicht froh, dass endlich mal was los ist?«

Beide schauen zu Boden und trippeln weiter von einem Bein aufs andere. Die Nacht ist feucht, kalt und nebelverhangen. Dany selbst ist auch nicht begeistert über die Situation, aber was soll’s?

Sie schiebt ihre Hände in die Taschen ihrer viel zu dünnen Lederjacke. So kurz nach dem Segelurlaub auf den Seychellen hat Dany komplett vergessen, wie sich die klammen Temperaturen Luxemburgs im Januar anfühlen.

Dr. Luc Alberti vom SERVICE D’AIDE MEDICALE URGENTE, kurz SAMU, Luxemburg verlässt das Gebäude. Dany eilt auf ihn zu.

»Hey, Luc, warst du wieder der Erste am Tatort?«

»Und du, solltest du nicht noch im Urlaub sein? Glaub mir, hättest du gewusst, was für ein Schlamassel hier auf dich wartet, wärst du dortgeblieben.«

»So schlimm?«

Luc grinst schadenfroh. »Da drinnen warten vierhundert Gäste auf euch, die alle darauf brennen, nach Hause zu dürfen. Das Who’s who der IT-Welt. Die haben keine Ahnung, was heut Nacht noch auf sie zukommt. Viel Spaß kann ich da nur wünschen!«

Dany schaut zuerst Leo und dann Julia beunruhigt an. »Tja, so was haben wir auch noch nie erlebt.«

Tatsächlich handelt es sich bei den meisten Morden, in denen die Mordkommission in Luxemburg ermittelt, um Familiendramen oder sie spielen sich im Drogen- und Prostituiertenmilieu ab. Dort gibt es nie viele Zeugen. Im Gegenteil, wenn die Polizei am Tatort erscheint, sind die meisten wie vom Erdboden verschluckt.

»Na dann mal los.« Dany schubst die Kollegen ungeduldig vor sich her.

Im Eingang bleibt Julia staunend stehen und sieht nach oben. Fast wäre Dany in sie hineingestolpert. Sie folgt Julias Blick und hält überrascht inne. Sie erinnert sich vage daran, wie damals die Medien darüber berichteten, dass ein Pariser Stararchitekt in dem Quartier Cloche d’Or der Stadt Luxemburg eine kleine architektonische Sensation planen würde. Es wurden exorbitante Summen genannt. So soll der Bau des Gebäudes über 50 Millionen Euro gekostet haben. Aber tatsächlich hier gewesen war Dany noch nie.

Sie dreht sich um ihre eigene Achse. Ein prachtvolles Gebäude, überall Glas, dunkles Glas, die Fundamente aus dunkelgrauem Stahl und die Böden mit dunkelgrauen Schieferplatten bedeckt. Architektur gewordene Machtfantasien. Es würde nicht einfach werden, das Gebäude abzuriegeln. Von der Eingangshalle aus sieht Dany durch das Glas hindurch bis in den achten Stock, wo uniformierte Beamte bereits die Arbeit aufgenommen haben. Alles ist transparent, sogar die Versammlungsräume.

Wo kämen wir da hin, wenn die Mitarbeiter Privatsphäre hätten?

Julia berührt Dany sanft an der Schulter und deutet mit dem Zeigefinger in den ersten Stock, wo sich eine große Menschenmenge versammelt hat. Dany wusste gar nicht, dass die IT-Föderation so viele Leute beschäftigt. Wofür wohl?

»Was meinst du, soll uns das jetzt einschüchtern?« Dany zwinkert Julia zu.

»Tut es nicht«, sagt Julia und lächelt.

»Genau.«

Das kleine Team folgt Luc über eine Rolltreppe in den ersten Stock, wo in einer großen, hellen Lobby die vierhundert Geschäftsleute bereits ungeduldig zu ihnen hi­nunterblicken. Vierhundert adrette Maßanzüge mit Krawatte in einem hohen, an den Wänden mit hellem Leder verzierten Raum. Hier und da haben sich kleine Gruppen betroffen dreinschauender Gäste gebildet. In einer Ecke bemerkt Dany eine schluchzende Dame im schicken Kleid, die sich von einer Kollegin trösten lässt. Aufgeregtes Gemurmel geht durch die Menge.

Die Spannung ist überall spürbar. Obschon sie ihren Mitarbeitern gegenüber die Starke spielt, flößt der Anblick der hochrangigen Gesellschaft Dany durchaus Respekt ein. Sie hebt den Kopf, reibt ihre Hände und betrachtet die Feiergesellschaft nachdenklich.

Ein Polizeibeamter in Uniform kommt zu ihr und flüstert ihr ins Ohr. »Hallo, Frau Kerner, gut, dass Sie da sind. Es gibt hier keine Videokameras, da die angeblich gegen das Gesetz zum Schutz persönlicher Daten verstoßen. Wir müssen uns also auf die Indizien und die Aussagen der Zeugen verlassen. Wie sollen wir am besten vorgehen?«

»Lieber Kollege, Sie brauchen nicht zu flüstern. Nehmen Sie erst mal alle Personalien auf und fragen Sie, ob jemand etwas Verdächtiges gesehen hat. Außerdem sollen alle Gäste auf Giftspuren getestet werden. Halten Sie nach kleinen Döschen, Fläschchen et cetera Ausschau. Die Spurensicherung hat ihren Spürhund mitgebracht, der auf giftige Substanzen spezialisiert ist. Lassen Sie den durch die Menge gehen und das Gebäude sowie alle Autos durchsuchen.«

Der Beamte nickt unsicher.

Dany schaut sich um. »Wo sind die Leichen?«

Der Polizist zeigt nach rechts. »Gleich hier, neben der Rolltreppe.«

Zwei Männer mittleren Alters liegen in ihren Anzügen mit geöffneten Hemden und nacktem Brustkorb auf dem Boden, von den Wiederbelebungsversuchen sichtlich gezeichnet. Ihre Haut ist voll blauer Flecken und Druckstellen. Die kriminaltechnische Abteilung hat sich ihrer schon angenommen.

Neben den Leichen befinden sich ein umgefallener Stehtisch und zwei zerbrochene Biergläser, deren Inhalt sich auf dem Boden ausgebreitet hat. Die Spurensicherung hat den Tatort abgesperrt und mit mobilen Whiteboards vom Publikum abgeschottet.

Dany blickt in einen kleinen, dunklen angrenzenden Gang.

»Wohin führt der?«, fragt sie einen der Kollegen.

»Die rechte Tür zu den Toiletten, weiter hinten links geht’s zu einem Versammlungsraum und dem Aufzug, der ins Parkhaus und auf die weiteren Etagen fährt.«

»Habt ihr schon das ganze Gebäude abgesperrt und durchsucht?«

»Wir sind noch dabei. Es ist riesengroß. Wir können nur hoffen, dass uns da nicht jemand durch die Lappen gegangen ist. Auf jeden Fall haben wir so schnell wie möglich sämtliche Ausgänge gesperrt, aber auch das hat eine Weile gedauert. Alle Anwesenden sind nun hier in der Lobby versammelt. In den Etagen war außer der Putzkolonne niemand mehr. Einige wenige Besucher haben wir im Parkhaus auf dem Weg nach Hause abgefangen.«

»Gibt’s schon Anhaltspunkte?« Dany geht in die Hocke und beugt sich über eine der Leichen.

»Nicht viele. Die Beamten, die zuerst an Ort und Stelle waren, haben anhand der gefundenen Papiere die Opfer als Philip Sinner und Mike Foerster identifiziert. Beide langjährige Mitarbeiter der GDE. Sinner ist außerdem Mitglied des Direktionskomitees. Momentan haben wir nur die detaillierte Aussage eines gewissen Herrn Kluge, ein Geschäftsmann, der zuletzt mit den Männern sprach, als ihnen plötzlich schlecht wurde. Ihm ist nichts Verdächtiges aufgefallen und er selbst trug auch nichts Verdächtiges bei sich.«

Dany richtet sich wieder auf und sucht mit den Augen den Raum ab. Leo, der mit der Spurensicherung redete, kommt auf sie zu.

»Leo, ich möchte, dass du Kluge übernimmst. Das technische Team soll ihn und seinen Wagen gründlich untersuchen. Sprich mit ihm und suche alles zusammen, was du über ihn finden kannst.«

»Wird gemacht, aber dafür brauche ich etwas Zeit.«

»Höchste Priorität hat doch sicherlich die Sicherung des Gebäudes und der Zeugen?«, ergänzt Julia, die neben Dany stehen geblieben ist.

»Natürlich.«

Zum Polizeibeamten gewandt fügt Dany hinzu: »Seht zu, dass ihr die Liste der geladenen Gäste bekommt. Ach ja, und wenn ihr mit dem Gröbsten fertig seid, fahren wir beide, Julia, zu den Familien der Angehörigen. Sie sollen es nicht von Außenstehenden erfahren. Das heißt, wenn es inzwischen nicht schon zu spät ist.«

Dany widmet sich Dr. Luc Alberti, der zusammen mit seinen Kollegen des SAMU Esch geduldig auf sie gewartet hat.

»So, Luc, erzähl mir bitte noch mal alles von vorn.« Dany wischt sich den Schweiß von der Stirn. Hier drinnen ist es viel zu heiß. So langsam dämmert ihr, was für eine Baustelle sich hier auftut.

»Also, heute Abend wurden wir gegen 19.25 Uhr von der Interventionsstelle Luxemburg in die GDE gerufen. Zwei Personen müssten reanimiert werden. Als wir mit unserem SAMU ankamen, war die Lobby voll mit Gästen der GDE, darunter der Zeuge Romain Kluge. Er hat uns am Eingang erwartet, zusammen mit dem Direktor Pit Muller und dem Präsidenten Paul Zwirbel. Herr Kluge berichtete uns, dass die beiden Mitarbeiter der GDE, Philip Sinner und Mike Foerster, sich gerade mit ihm unterhielten, als sie kurz hintereinander keine Luft mehr bekamen, zusammenbrachen und ohnmächtig wurden. Das geschah so gegen 19.15 Uhr. Sechs Minuten später ging Kluges Notruf in der Zentrale ein. Kluge erzählte uns, dass Keiner der Betroffenen sich vorher auffällig verhalten habe oder gar betrunken gewesen sei. Direktor Muller fügte hinzu, dass beide seines Wissens auch keine Drogen konsumieren würden. Nachdem wir versucht hatten, die Opfer zu reanimieren, haben wir eine Stunde später die Polizei und den Untersuchungsrichter angerufen und ihm unseren Verdacht auf Vergiftung mitgeteilt. Da beide Opfer hellrote Schleimhautblutungen aufwiesen, vermuteten wir eine Vergiftung mit Zyankali. Daher wurde gleich eine Blutprobe sowie eine Probe des Mageninhalts entnommen, um sie im Labor untersuchen zu lassen. Dany, ich habe gehört, dass ihr die Beschlagnahmung des Caterings angeordnet habt?«

»Ja, natürlich«, entgegnet Julia an Danys Stelle, »wir werden auch die persönlichen Gegenstände der Toten sowie die Biergläser und deren Inhalt untersuchen lassen. Eben hat Metty, unser Gerichtsmediziner, mir berichtet, dass Dr. Anton Steil vom öffentlichen Gesundheitslabor telefonisch eine toxikologische Analyse der Lebensmittel, des Blutes und des Mageninhalts angeordnet und auch noch eine Urinprobe der Opfer angefordert hat.«

Dany nickt zufrieden. »Julia, sieh zu, dass Metty die Proben entnimmt und dem Labor zukommen lässt.«

»Mach ich.«

Luc, der ungeduldig zappelnd neben ihnen steht, fügt hinzu: »Falls ihr uns nicht mehr braucht, machen wir uns wieder auf die Socken. Heute ist viel los. Freitagabend halt.«

»Klar. Danke für eure Hilfe.«

»Keine Ursache. Du weißt ja, wo du uns findest, falls noch was ist.«

Der Polizeibeamte kehrt zu Dany zurück, in seiner Hand die Liste der Gäste. Sie wirft einen Blick darauf.

»Wer hat hier in der GDE das Sagen?«, fragt sie.

»Der Direktor Pit Muller und der Präsident der GDE, Paul Zwirbel. Sie stehen dort drüben.« Er zeigt zum Podium.

Dany räuspert sich und geht auf die beiden zu. Als der Präsident sie sieht, kommt er ihr händeringend entgegen und redet unmittelbar auf sie ein.

»Sie sind sicher Frau Kerner. Herr Brauer hat mir mitgeteilt, dass Sie die Ermittlungen leiten werden. Wir sitzen hier schon seit Stunden fest. Wann lassen Sie uns endlich gehen? Die Gäste werden ungeduldig.«

Dany atmet schwer. Sie spürt den Druck, der auf ihr lastet. »Es wird Ihnen nicht gefallen, was ich zu sagen habe, Herr Zwirbel. Sie sind doch Herr Zwirbel?«

Der Präsident nickt ungeduldig.

»Leider müssen wir zuerst alle Anwesenden einzeln vernehmen und Personen- und Fahrzeuguntersuchungen durchführen. Es ist wichtig, sofort alle etwaigen Spuren zu sichern.«

Zwirbels Gesicht verfärbt sich dunkelrot. Die Augen stehen ihm weit aus den Höhlen, er gestikuliert noch wilder, die Stimme überschlägt sich. »Das wird ja Stunden dauern. Bei allem Respekt gegenüber unseren verstorbenen Mitarbeitern, Frau Kerner, aber so geht das nicht. Sie können uns nicht alle so lange festhalten. Wissen Sie, mit wem Sie es hier zu tun haben? Wir sind die oberen Vierhundert Luxemburgs. Ich bin der Präsident des größten digitalen Entwicklers der Welt. Dort hinten steht der Präsident der größten Metallindustrie. Seine Firma hat das World Trade Center in New York gebaut und unterhält in der ganzen Welt Niederlassungen. Hier links, der Vize-Präsident der GDE, Präsident der luxemburgischen Handwerkerföderation.«

Wie soll Dany bloß darauf reagieren? Sie muss Zeit gewinnen und lässt ihn reden. Am besten, er wird seinen Frust erst mal los.

»Dann dort hinten«, Zwirbel zeigt mit der Hand zur Theke, »die Präsidenten der Versicherungsföderation, der Konstruktionsföderation, der Föderation der Fondsgesellschaften, der Handelsföderation.« Er atmet tief ein und mustert Dany herablassend.

Ihr läuft es nass den Rücken herunter. Hoffentlich merkt das keiner.

»Mit uns springt man nicht so um! Für wen halten Sie sich? Ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten beschweren. Sie denken doch nicht ernsthaft, dass einer von uns etwas mit den Morden zu tun hat?«

Der Mann glaubt, was er sagt. Geht auf in seiner eigenen Empörung, dass der Rechtsstaat und seine Maßnahmen auch für Menschen wie ihn und seine vierhundert VIPs gelten. Dany fällt auf, dass er überhaupt nicht trauert. Hat der Mann denn gar kein Mitgefühl?

»Tut mir leid, aber die Vorgehensweise ist im Einvernehmen mit dem Untersuchungsrichter so entschieden worden«, antwortet Dany ruhig. »Sie können gerne Herrn Brauer anrufen. Sie kennen sich sicher, aber ich sage Ihnen, ich befolge nur strikt seine Anweisungen.«

Dany dreht sich um und lässt Zwirbel sprachlos stehen.

Sie kennt das, wenn auch nicht in dem Ausmaß. In einem kleinen Land wie Luxemburg ist so ein Gehabe der oberen Schicht gang und gäbe. Dany seufzt. Da ihre Heimat als eines der reichsten Länder der Welt gilt, zieht es leider eine außergewöhnlich hohe Anzahl rücksichtsloser Narzissten an, die es nur aufs schnelle Geld abgesehen haben.

Dany wendet sich an den Direktor Pit Muller, der ihr Gespräch mit Zwirbel im Hintergrund verfolgt hat. »Wo können wir beide uns in Ruhe unterhalten?«

Muller, ein kleiner, schlanker Mann um die 50, führt sie an den Toten vorbei den schmalen Gang entlang in eine weitere Lobby, diesmal nicht ganz so luxuriös wie die erste.

»Der Versammlungsraum der GDE.«

Dany nimmt auf einem Stuhl Platz und bittet Muller, es ihr gleichzutun. Dieser setzt sich zögerlich hin und wischt sich trotz der Klimaanlage den Schweiß von der Stirn. Dany ist beruhigt, dass sie nicht die Einzige ist, der diese Situation zusetzt.

»Frau Kerner, ich weiß nicht, was ich zu alledem sagen soll. Ich kann es nicht fassen, dass beide tot sein sollen. Wir sind alle am Boden zerstört.«

»Herr Muller, ich kann Sie sehr gut verstehen und habe schon dafür gesorgt, dass die Anwesenden psychologisch betreut werden. Bitte erzählen Sie mir doch, um was für einen Umtrunk es sich heute Abend gehandelt hat? Wer war alles eingeladen?«

Pit Muller berichtet, dass jedes Jahr im Januar vierhundert Gäste eingeladen werden, um zusammen auf das neue Jahr anzustoßen.

»Minister, Parlamentarier, Kommunalpolitiker, hohe Beamte der Ministerien, Mitglieder der verschiedenen Business-Föderationen Luxemburgs. Alle kommen hierher, um sich die Rede des Wirtschaftsministers anzuhören und im Anschluss gemeinsam ein paar Häppchen zu essen und etwas zu trinken. Es ist das Event des Jahres und immer eine nette Gelegenheit, ungezwungen aktuelle Wirtschaftsthemen zu besprechen.«

»Das glaub ich gern. Ist der Wirtschaftsminister noch hier?«

»Nein, er und seine Begleitung verließen das Gebäude kurz nach 19 Uhr. Sie gingen noch auf eine zweite Veranstaltung.«

Dany ärgert sich. Sie darf nicht vergessen, die Personalien des Begleitpersonals herauszufinden. »Was können Sie mir über die Opfer erzählen?«

»Ich weiß nur, dass sie hier hinten in der Nähe der Rolltreppe standen und ihr Bier getrunken haben, während der Minister vorne auf dem Podium seine Rede hielt. Beide stehen immer dort, wenn sie an einer Konferenz der GDE teilnehmen. Es ist ihr Stammplatz. Dort müssen alle vorbei, wenn sie zur Toilette oder nach Hause gehen. Somit konnten beide bequem und ganz beiläufig Gäste ansprechen.«

»Wie oft finden die Konferenzen der GDE statt?«

»In etwa ein- bis zweimal im Monat. Philip Sinner ist … war Mitglied des Direktionskomitees. Es gehörte zu seinen Aufgaben, an diesen Konferenzen teilzunehmen.« Muller sieht Dany an. »Wissen Sie, Frau Kerner, Mitglied der Direktion zu sein, bedeutet viel Repräsentationsarbeit.«

Dany nickt und blickt Pit Muller verstohlen in die nun eiskalt wirkenden blauen Augen.

»Ich weiß, was Sie denken, Frau Kerner.«

»Ach ja? Was denke ich denn?«

»Sie denken, wir Businessleute würden es uns nur gut gehen lassen, währenddessen wir unser Personal ausbeuten, aber ich versichere Ihnen, jeden Abend auf solchen Veranstaltungen zu verbringen, ist kein Spaß. Das ist harte Arbeit!«

»Sicher doch!« Dany hat keine Lust auf das pathetische Gejammer auf hohem Niveau.

»Hatten Sinner und Foerster Feinde? Haben Sie eine Ahnung, wer ihnen so was hätte antun wollen?«

»Sie stellen Fragen! Natürlich waren die beiden nicht bei allen beliebt. In unserem Milieu ist das unmöglich. Man muss sehen, wo man bleibt. Aber jemanden umbringen? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.«

Dany atmet tief aus. Wie oft hat sie das schon gehört?

Als Dany später mit feuchten Händen die Anwesenden übers Mikro über den weiteren Verlauf des Abends informiert und die erregten Gesichter ihr entgegenblicken, wird sie sich erst recht der Tragweite ihrer Aufgabe bewusst. Gerade wischt sie sich die Hände mit einem Taschentuch trocken, als Metty Reuter zu ihr stößt, Gerichtsmediziner und Chef der Kriminaltechnischen Abteilung. Er trägt seinen Tyvek-Anzug und Kautschuk-Handschuhe.

»Na, Metty, wie weit bist du?«

»Wir haben uns einen ersten Überblick verschafft und ich kann dir schon mal versichern, dass wir einen versehentlichen Verzehr von giftigen oder abgelaufenen Lebensmitteln ausschließen können. In dem Fall hätten die Opfer ganz anders reagiert. Die Symptome und der Tod wären bei beiden zum Beispiel nicht zeitgleich eingetreten. Das Gleiche gilt für eine allergische Reaktion auf irgendein Lebensmittel. Ich erspare dir die Details. Wir wissen ja alle, wie es ist, wenn man ein Lebensmittel ausscheidet, das man nicht verträgt. Wir hätten zumindest Gallen- oder Darmreste an ihren Körpern gefunden. Nach Rücksprache mit der Notrufstation ist klar, dass sich auch sonst niemand mit den gleichen Symptomen wie die Opfer gemeldet hat. Die beiden sind also die einzigen Betroffenen. Falls ein Gift die Todesursache war, dann muss ihnen diese Substanz unmittelbar vor dem Tod verabreicht worden sein, also kurz vor dem Auftreten der Übelkeit. Klar ist auch, dass sie in hoher Konzentration erfolgt sein muss. Weiteres kann ich dir erst nach der Obduktion sagen.«

»Was bedeutet ›kurz vor dem Auftreten der Übelkeit‹?«

»Na, ich schätze, nicht länger als eine halbe Stunde zuvor.«

»Und in welcher Form wurden Sinner und Foerster vergiftet?«

»Das wissen wir noch nicht. Wir vermuten, dass das Gift in einer Flüssigkeit aufgelöst und verabreicht wurde. Genaueres kann ich dir erst nach näheren Untersuchungen berichten.«

»Okay, danke, Metty. Dann bis später.«

Zurück bei ihrem Team, verkündet Dany: »Julia und ich fahren gleich zu den Familien der Opfer. Tut mir leid für alle, aber wir müssen das Wochenende zur Vernehmung der geladenen Gäste nutzen.«

Kapitel 3

Dienstag, den 25. Januar, 9 Uhr

Anstrengende Ermittlungstage liegen hinter dem Team, als sich an diesem Morgen alle im Versammlungsraum vor den Whiteboards einfinden. Der Raum wurde erst vor Kurzem frisch gestrichen und riecht noch nach Farbe. Das grelle Weiß sollte eigentlich für neuen Antrieb sorgen, aber die Kollegen wirken erschöpft und missmutig. Dany kann sie gut verstehen. Auch sie war eben nur kurz zu Hause, um zu duschen. Das ganze Wochenende verbrachten sie mit den Vernehmungen der Gäste des GDE-Umtrunks.

An den Whiteboards hängen die Fotos der Opfer, die ihrer Familienmitglieder, der Mitglieder des Direktionskomitees und des Verwaltungsrats der GDE sowie das Foto des Zeugen Kluge.

»Na, wer möchte ein Kaffiskichelchen? Ich hab Schnecken, Croissants und Pasteis de Nata mitgebracht.« Dany hat Frühstücksgebäck besorgt, sie weiß, wie sehr ihre Kollegen das mögen.

Begeistert strecken alle ihre Hände aus. Beim Verteilen der Stücke beginnt Julia mit der Beschreibung der Opfer Philip Sinner und Mike Foerster. Wer sie waren, was sie beruflich taten und wie ihre Familiensituation aussah.

»Mir fehlen noch die Namen der Begleiter des Wirtschaftsministers am Abend des Umtrunks«, fügt Dany hinzu, »wurden die schon erfasst?«

Sie betrachtet ihr Team. Neben Julia und Leo besteht es aus jeweils einem Ermittler der Landesregionen Norden, Süden und Osten, die kurzfristig vom Untersuchungsrichter aus dem ganzen Land zusammengerufen wurden. Na, wenigstens ein bisschen Unterstützung. Alle kennen einander schon von früheren Ermittlungen: Marc Hoffmann, wegen seines Aussehens der Schmusebär genannt, Emil Berg, nebenbei noch Winzer, sowie Manuel Gabler, der in Esch/Alzette als unbequemer Kerl bekannt ist.

Metty Reuter betritt den Raum und nimmt Platz.

Marc Hoffmann, der Kollege aus dem Norden, reagiert als Erster auf Danys Frage.

»Der Wirtschaftsminister Roger Schmidt war in Begleitung seiner Regierungsräte Olli Welter und Caro von Stetten. Sein Chauffeur hat sie um 18 Uhr abgesetzt und Punkt 19 Uhr wieder abgeholt. Er hat ausgesagt, dass er sich während der Rede des Ministers ein Brötchen im Supermarkt Auchan im Quartier Cloche d’Or holte. Das bestätigte uns der Bäcker im Auchan. Der Chauffeur hielt sich eine Weile dort auf, bevor er den Minister pünktlich wieder abholte. Zeitlich haben wir seine Hin- und Rückfahrt von der GDE zum Supermarkt und seinen Aufenthalt dort bereits rekonstruiert. Das kommt genau hin. Der Wirtschaftsminister fuhr wie gesagt gegen 19 Uhr mitsamt seiner Begleitung zu einem weiteren Termin mit der Winzergenossenschaft nach Grevenmacher.«

Hoffmann gibt sich betont lässig. Er möchte tough wirken mit seinem breiten Lederband am Handgelenk und der Lederweste, die er über seinem groß karierten Hemd trägt. Mit seiner gedrungenen, kräftigen Statur und seinem langen braunen Haar, das er zu einem Zopf gebunden trägt, würde er gut in einen Biker-Klub passen. Aber Dany weiß, dass er einen weichen Kern hat.

Emil Berg greift nach einem Puddingtörtchen. Er kommt aus dem Osten, lebt im verschlafenen Winzerdorf Niederdonven an der Mosel und hat das Team am Wochenende oft mit seiner guten Laune und seiner Liebe zum luxemburgischen Moselwein aufgemuntert. Tatsächlich hatte er ihnen am Sonntagabend vorm Nachhausegehen sogar seinen eigenen Wein präsentiert.

»Wir haben bei der Winzergenossenschaft nachgefragt«, sagt er. »Sie kamen gemeinsam gegen 19.30 Uhr in Grevenmacher an.«

»Gute Arbeit, Leute. Was sagen die Zeugen in der GDE über den Minister und seine Regierungsräte? Wie hießen die noch mal?«

»Olli Welter und Caro von Stetten.«

»Hat sie jemand in der Nähe der Opfer gesehen? Sind sie zwischendurch auf die Toilette gegangen?«

»Na, klar haben wir die Zeugen auf sie angesprochen. Was denkst du denn, Dany?«

Den Escher Kollegen Manuel Gabler kann Dany nicht ausstehen. Viel zu emotional, meckert ständig herum und sieht nur das Schlechte in seinen Mitmenschen.

»Alle können sich daran erinnern, dass der Minister mit seinen beiden Beamten in der ersten Reihe saß, bis zu dem Zeitpunkt natürlich, als er auf dem Podium seine Rede hielt.« Manuel zieht eine Augenbraue hoch.

Manuels Großeltern mütterlicherseits sind in den Siebzigern des letzten Jahrhunderts aus Portugal nach Luxemburg gezogen, um in der Stahlindustrie zu arbeiten. Damals gab es nicht genug Arbeiter und das Land warb um Kräfte aus Portugal. Tausende kamen nach Luxemburg und sind bis heute geblieben.

»Gut, Metty, könntest du uns etwas zu den toxikologischen Befunden sagen? Es würde mich interessieren, wie das Gift wirkt und in welchem Zeitraum es verabreicht wurde.«

Der zwei Meter große Schwarzhaarige wendet sich an die Kollegen und beginnt mit seinem Bericht. »Also, wir haben in beiden Biergläsern der Leichen Spuren von Zyankali gefunden. Alle Lebensmittel und sonstigen Getränkeflaschen, die wir vor Ort mitgenommen haben, enthielten jedoch keins. Auch bei der Obduktion der Opfer konnte Zyankali nachgewiesen werden und wir gehen davon aus, dass die Verabreichung nicht länger als eine halbe Stunde vor Einnahme erfolgt ist. Gemäß Dr. Alberti zeigten die beiden Betroffenen bei seiner Ankunft keine Herzaktivität und dies hatte sich auch während der Reanimation nicht geändert.«

Metty tippt zwei Fotos auf dem Whiteboard an, die die Leichen zeigen.