Die Komfort-Krise - Michael Easter - E-Book

Die Komfort-Krise E-Book

Michael Easter

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Beschreibung

Raus aus der Komfortzone! "Die Komfort-Krise" zeigt, wie unser moderner Lebensstil uns schadet. Erfahren Sie, warum Komfort die Gesundheit bedroht! Michael Easter zeigt Ihnen in diesem fesselnden Buch, wie Sie Ihre Gesundheit und Ihr Glück durch das gezielte Erleben von Unbehagen dramatisch verbessern können. Durch eine Fülle von wissenschaftlichen Erkenntnissen, Erfahrungsberichten und Interviews mit führenden Experten aus verschiedenen Bereichen bietet Easter fundierte Einsichten und praktische Wege, um aus der Komfortzone auszubrechen und das Leben in seiner ganzen Vielfalt zu erfahren. Entdecken Sie: - Die negativen Auswirkungen des modernen Lebensstils auf unsere Gesundheit und unser Glück. - Die Bedeutung von Unbehagen und Herausforderungen für unser geistiges und körperliches Wohlbefinden. - Praktische Wege, die Komfortzone zu verlassen und das Leben in seiner ganzen Vielfalt zu erfahren. - Erfahrungsberichte und Erkenntnisse von führenden Experten aus verschiedenen Bereichen. - Inspirierende Geschichten von Menschen, die den Mut hatten, neue Wege zu gehen und Grenzen zu überwinden. Sind Sie bereit, Ihr Leben zu verändern? Dann tauchen Sie ein in "Die Komfort-Krise" und entdecken Sie eine neue Welt voller Möglichkeiten!

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INHALT

TEIL EINS

REGEL 1: MACH ES VERDAMMT HART

.

REGEL 2: STERBE NICHT

.

1. 33 TAGE

2. 35, 55 ODER 75

3. 0,004 PROZENT

4. 800 GESICHTER

5. 20 Meter

6. 50/50

7. 50. 70. ODER 90

8. 150 PERSONEN

9. 101 Meilen

10. <110 MEILEN PRO STUNDE

TEIL ZWEI

ENTDECKE DIE LANGEWEILE NEU

.

AM BESTEN DRAUSSEN

.

FÜR MINUTEN, STUNDEN, TAGE

.

11. 11 STUNDEN, 6 MINUTEN

12. 20 MINUTEN, 5 STUNDEN, 3 TAGE

13. 12 ORTE

TEIL DREI. SPÜRE DEN HUNGER

14. –4.000 KALORIEN

15. 12 BIS 16 STUNDEN

TEIL VIER

DENKE JEDEN TAG AN DEINEN TOD

.

16. 3 GESUNDE BEINE

17. 31.12., 23:59:33 UHR

18. 20 MINUTEN, 11 SEKUNDEN

TEIL FÜNF. TRAGE DIE LAST

.

19. 45+ Kilogramm

20. ≤ 23 Kilogramm

21

.

80 PROZENT

EPILOG. 81,2 JAHRE

DANKSAGUNG

ANMERKUNG DES AUTORS

ÜBER DEN AUTOR

Für Leah, die mich immer zum Lachen bringt und immer direkt ist.

TEIL EINS

REGEL 1: MACH ES VERDAMMT HART.
REGEL 2: STERBE NICHT.

1

33 TAGE

ICH STEHE AUF einem windigen Rollfeld in Kotzebue, Alaska, einem abgelegenen Dorf mit 3.000 Einwohnern, das sich 20 Meilen über dem Polarkreis am Ufer des Tschuktschensees befi ndet. Vor mir befi nden sich zwei Flugzeuge. Eins davon wird mich bald tief in die alaskanische Arktis bringen, einen Ort, der gemeinhin als einer der abgelegensten, einsamsten und feindseligsten auf der Erde betrachtet wird. Ich bin nervös.

Die Aussicht auf dieses bevorstehende Abenteuer in der Arktis ist herausfordernd genug. Doch hinzu kommt meine generelle Abneigung gegen das Fliegen, insbesondere in Flugzeugen wie diesen: einmotorige, Zwei- und Viersitzer-Buschfl ugzeuge, die man sich wie leere Campbell-Suppenkonserven mit Flügeln vorstellen kann.

Donnie Vincent, ein erfahrener Hinterland-Bogenjäger und Dokumentarfi lmer, der mich auf dieser Expedition begleitet, spürt meine Anspannung. Er kommt an meine Seite, senkt seine Stimme und spricht mir Mut zu.

„Die meisten Piloten hier oben sind Whiskey trinkende Cowboys aus den Bergen, die keine Angst vor einer Schlägerei haben“, teilt er mir über den eisigen Böen mit. „Aber sei versichert, ich habe den bestmöglichen Piloten gebucht. Brian gilt als Spitzenkraft seiner Zunft.“

Dankbar nicke ich.

„Ich möchte nicht ausschließen, dass wir in einen Unfall verwickelt werden könnten“, fährt Donnie fort. „Es besteht ein reales Risiko, ja? Doch dieser Kerl ist gut. Die Chancen, dass wir in einen Flugzeugabsturz geraten, sind...“

Meine Nervosität steigert sich zu existenziellen Ängsten, und ich unterbreche ihn. „In Ordnung“, sage ich. „Ich verstehe.“

Das kommerzielle Fliegen ist äußerst sicher. Die Statistiken besagen, dass die Wahrscheinlichkeit, bei einem Unfall auf dem Weg zum Flughafen zu sterben, erheblich höher ist, als bei einem Flugzeugabsturz zu sterben. Doch das trifft nicht auf Buschfl üge in Alaska zu.

Etwa 100 dieser Flüge enden jedes Jahr in Tragödien, und die Federal Aviation Administration (FAA) hat kürzlich eine „unvorhergesehene Warnung“ an die Piloten von Buschfl ugzeugen in Alaska herausgegeben, nachdem die Anzahl der Unfälle gestiegen war. Dieses Jahr ist besonders kritisch. Extremes Wetter, dichter Nebel und Rauch von Waldbränden beeinträchtigen die Sichtverhältnisse. Donnie erzählt mir von Brians Kollegen namens Mike, der kürzlich nach einer Fehleinschätzung des Wetters abstürzte. Mike hatte das Glück, unverletzt davonzukommen, aber das Flugzeug musste vollständig überholt werden.

Sobald uns Brian im Arktishinterland absetzt, werden wir uns weiteren Gefahren stellen müssen: wütenden Grizzlybären, 680 Kilogramm schweren Elchen, Rudeln fl eischgieriger Wölfe, wild aussehenden Vielfraßen, blutgierigen Dachsen, reißenden Gletscherfl üssen, heftigen Schneestürmen mit eingeschränkter Sicht, extremen Temperaturen, Orkanwinden, steilen Klippen, tödlichen Krankheiten wie Tularämie und Hantavirus, Schwärmen von Mücken, Mäusen und Ratten sowie Krankheiten und Beschwerden wie Durchfall, Erbrechen und Blutungen… Es mag unzählige Wege geben, im Westen sein Leben zu verlieren, doch im Hinterlands Alaskas scheinen die Gefahren noch vielfältiger.

Unser einziger Ausweg? Wir wandern Hunderte von Meilen durch diese raue Landschaft, bis Brian uns in 33 Tagen wieder abholt. Unterwegs werden wir nach einer mythischen Herde von Karibus suchen, einer wandernden Armee von 180 Kilogramm schweren Geistern, die lautlos über die arktische Tundra streifen. Ihre verwickelten, ein Meter langen Geweihe tauchen nur aus dem kristallinen Nebel auf, um wieder zu verschwinden, wenn der Wind sich dreht.

Die nächsten fünf Wochen werden eine Herausforderung sein. Anders als beim Wandern auf dem Pacifi c Crest oder dem Appalachian Trail kann man im tiefen Hinterland Alaskas nicht einfach beschließen, dass es zu kalt oder man hungrig ist und ein paar Meilen abseits des Weges zur nächsten Autobahn wandern, um sich ein Uber zum nächsten Diner zu nehmen für einen heißen Kaffee und ein paar Pfannkuchen. Es gibt nur wenige oder gar keine ausgewiesenen Wege, und es kann sein, dass es Hunderte von Meilen dauert, bis man eine Straße, eine Stadt, einen Funkturm oder ein Krankenhaus erreicht. Selbst der Tod bietet möglicherweise keinen Ausweg. Leider bietet meine Versicherungspolice keine Deckung für die Bergung von Leichen an abgelegenen Orten.

Das beschriebene Szenario steht in starkem Kontrast zu meinem gewohnten sicheren und komfortablen Leben zu Hause — und genau darum geht es. Heutzutage verlassen die meisten Menschen selten die Grenzen ihrer Komfortzone. Unsere Lebensumstände sind zunehmend von Sicherheit, Sterilität, Temperaturkontrolle, Überernährung, Unterforderung und einem Sicherheitsnetz geprägt. Diese Faktoren begrenzen jedoch, wie wir unser „einzigen wilden und kostbaren Lebens” erleben, wie es die Dichterin Mary Oliver ausdrückte.

Doch ein radikales neues Forschungsfeld zeigt, dass Menschen in ihrer Bestform sind — körperlich belastbarer, mental widerstandsfähiger und spirituell stabiler — nachdem sie dieselben Unannehmlichkeiten erfahren haben, denen unsere frühen Vorfahren täglich ausgesetzt waren. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass bestimmte Unannehmlichkeiten uns vor körperlichen und psychischen Problemen wie Fettleibigkeit, Herzkrankheiten, Krebs, Diabetes, Depressionen und Angstzuständen schützen können, sowie vor grundlegenderen Problemen wie dem Gefühl von Sinnlosigkeit und Ziellosigkeit.

Es gibt zahlreiche weniger radikale Wege, die Vorteile von Unannehmlichkeiten zu erfahren und in den Alltag zu integrieren, um Geist, Körper und Seele zu stärken. Dennoch repräsentiert diese Reise das extreme Ende einer Maßnahme, die Forscher verschiedener Fachbereiche als notwendig für unsere Lebensführung erachten. Es handelt sich dabei um eine Kombination aus Rückkehr zur Natur und Neujustierung unserer Lebensweise. Die daraus resultierenden Vorteile sind vielfältig und umfassend.

Brian, Donnie, William Altman, Donnies lebenslanger Kameramann, und ich stehen vor dem Conex-Versandcontainer, der als Operationsbasis von Ram Aviation am örtlichen Flughafen von Kotzebue dient. Wir organisieren unsere Ausrüstung und versuchen, uns vor dem starken Wind zu schützen, der salzigen Nebel vom Meer über das Land und in die dunstigen Berge treibt. „Wir sollten packen und uns auf den Weg machen, bevor der Nebel noch schlimmer wird”, sagt Brian.

Donnie verbrachte früher jeweils sechs Monate im alaskanischen Hinterland als Biologe für den Fisch- und Wildtierservice. Er lebte in einem gelben North Face Zelt, das er als „großes gelbes Bonbon” beschreibt. Seitdem hat er in einigen der extremsten und entlegensten Gegenden der Welt geforscht, gejagt und gefi lmt. Eines Sommers lebte er tatsächlich mit einem Rudel Wölfe, während er Lachse am Tuluksak River im Yukon-Delta studierte.

William begleitete Donnie bei nahezu jeder Jagd, er ist eine seltene Art von Zwanzigjährigem, der lebt, als wäre es 1899. Den Großteil des letzten Jahrzehnts verbrachte er in einer 2,5×2,5 Meter großen Hütte im Hinterland von Maine ohne Internet und fließendes Wasser. Er ernährt sich hauptsächlich von selbst gejagter, gezüchteter und angebauter Nahrung.

Die Anwesenheit dieser Männer mildert meine Befürchtungen. Doch nur ein bisschen. Denn die Natur ist unberechenbar und unerbittlich. Sie nimmt keine Rücksicht auf deine Erfahrungen und auf das, was bei deinem letzten Besuch passiert ist. Die Natur kann immer noch härtere Herausforderungen stellen, sei es durch aggressivere Tiere, steilere Klippen, niedrigere Temperaturen, breitere Flüsse oder stärkere Schneefälle, Regen, Wind und Graupel.

Donnie und William wurden oft mit dieser erschreckenden Realität konfrontiert. Einmal gingen ihnen die Lebensmittel aus, und sie drohten zu verhungern und zu erfrieren, als heftige Schneestürme dazu führten, dass ihr Rückfl ugzeug vier Tage zu spät eintraf. Ein anderes Mal mussten sie auf einen lokomotivgroßen Bären schießen, der auf sie zustürmte und sie ernsthaft verletzt hätte. Durch Glück prallte der Schuss jedoch vom Schädel des Bären ab und betäubte ihn.

Ich nehme meinen knapp 36 Kilogramm schweren Rucksack, der die meisten Dinge enthält, die ich für die nächsten vier Wochen zum Überleben brauche. Mehrere Lagen Kleidung, Nahrung, Erste-Hilfe-Ausrüstung usw. Brian hält mich auf, als ich den Rucksack zu seinem Flugzeug schleppe.

„Du und William fliegen mit diesem hier”, sagt er und zeigt auf eine frisch lackierte grün- und goldfarbene Viersitzer-Cessna. Wir verladen unsere Rucksäcke in den Rumpf des Flugzeugs, und ich steige durch die Passagiertür und quetsche mich in den Rücksitz. Meine Knie drücken gegen meinen Hals.

Donnie und Brian steigen in das andere Flugzeug. Es umrundet die Startbahn und hebt in Richtung des Nebels ab, während William und ich in der Cessna sitzen und warten. Und hier kommt unser Pilot. Er ist jung, mit einer Baseballkappe über einem streng geschnittenen Haarschnitt. Fliegerbrille. Er kommt auf uns zu und nimmt Platz im Pilotensitz. Er streckt eine behandschuhte Hand aus, um zu grüßen.

„Hallo”, sagt er. „Ich bin euer Pilot, Mike.”

William sieht mich mit einem schiefen Grinsen an. Warte mal, denke ich, ist das derselbe Mike, der sein Flugzeug abgestürzt ist? Der Propeller beginnt zu drehen und übertönt mein inneres Aufschreien.

2

35, 55 ODER 75

ICH ENTSTAMME EINER langen Linie von Männern, die von Alkohol, Unvernunft und egozentrischem Chaos geleitet werden. Mein Vater, der verschwunden ist, als ich noch im Mutterleib war, hatte einmal am St. Patrick’s Day zu tief ins Glas geschaut, sein Pferd grün angemalt und war dann mit einer Frau, die nicht meine Mutter war, in eine Kneipe geritten. Ein Onkel verbrachte eine Nacht in einer Ausnüchterungszelle und brüllte aus Gründen, die für ihn und alle anderen Insassen an diesem Dienstagabend unklar blieben, „Deine. Mom. Fickt. Volkswagen!“ Ein Cousin stellte einmal in einer Zelle im Bezirksgefängnis fest, dass er sich in ein spontanes Familientreffen getrunken hatte — die Polizei hatte ihn gemeinsam mit einem meiner Onkel in eine Zelle geworfen. Wieder ein anderer Onkel ist ein regelmäßiger Gast im Staatsgefängnis von Idaho. Und mein Großvater galt als der charmanteste und attraktivste Lügner, Schwindler und Trunkenbold in Ada County.

Fast ein Jahrzehnt später saß ich auf demselben Familienpferd. Es gab Momente, in denen ich nicht mehr wusste, wo mein Auto steht, ein paar gebrochene Knochen und kaputte Beziehungen, und ich wurde einmal verhaftet, als ich im Rausch versuchte, den Geschwindigkeitsrekord auf einem Klapproller zu brechen.

Außerdem war ich ein professioneller Heuchler. Meine Karriere als Gesundheitsjournalist bei einem renommierten Magazin, in dem ich Ratschläge für ein besseres Leben gab, war beneidenswert. Ich habe den Job gut gemacht. Doch die Weisheiten, die ich predigte, lebte ich nicht. Meine mentale Energie verbrauchte ich größtenteils damit, entweder betrunken zu sein oder an den nächsten Drink zu denken.

Mein Leben drehte sich fast ausschließlich um Alkohol. Wenn ich nicht trank, wartete ich sehnsüchtig auf das Wochenende, wenn ich wieder trinken konnte. Dieses Muster verwandelte mein Leben in einen schnell vorbeiziehenden Nebel, und ich verlor Jahre im Zyklus von Wochenend-Saufgelagen. Von Montag bis Freitag ging ich durch die Phasen des Katers, der Abstinenz und der Erholung, nur um mich selbst davon zu überzeugen, dass es dieses Mal anders sein würde, bis ich wieder betrunken war.

Alkohol war mein Trost. Er linderte den Stress meines Jobs, beendete schnell die Langeweile und betäubte mich gegen Traurigkeit, Unruhe und Angst. Er war ein Schutzschild gegen all das Unangenehme: Unsicherheiten, unangenehme Situationen, Gedanken und Gefühle, die als Mensch nun mal dazugehören.

Dann, mit 28 Jahren, wachte ich eines Morgens auf, durchtränkt von Elend und nach Whiskey riechender Kotze. Es war der zweite Morgen in Folge dieser Art, und ich hatte schon viele davon erlebt. Doch dieses Mal erlebte ich einen dieser Momente, die ich damals nicht verstand, ich wusste nur, dass etwas Großes passiert.

Ich fühlte eine Klarheit, die mir damals so fremd war wie Teilchenphysik. Ich sah mein Leben so, wie es wirklich war, nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich war ein verantwortungsloser Idiot, ein Säufer und Karrierelügner, und alles um mich herum war ein verdammtes Chaos, das mit jedem kommenden Wochenende nur schlimmer wurde.

Ich konnte mir vorstellen, dass ich bald auffl iegen und meinen Job verlieren würde. Dann wären meine Beziehungen an der Reihe, denn es war zunächst unterhaltsam, mit mir zusammen zu sein, wenn ich trank, bis es nicht mehr unterhaltsam war, was meist nach dem fünften Drink der Fall war. Dann würde mein Besitz verschwinden. Auto, Haus, usw. Letztendlich würde ich mein Leben verlieren. Ob ich mit 35, 55 oder 75 sterben würde, wusste ich nicht. Aber ich wusste, dass meine Trinkgewohnheiten mich frühzeitig dahinraffen würden. Leute, die sowas sagen wie: „Lass uns das Bier austrinken und dann mit dem Geländewagen fahren“, sind keine Paradebeispiele für Langlebigkeit. Die Bequemlichkeit des Alkohols betäubte mich nicht nur für das Leben, das ich leben wollte, sie raubte mir auch das Leben.

Ich stand vor einer Wahl. Option eins: Nichts tun. Mich an die Selbsttäuschung und den betäubenden Lebensstil klammern, der letztendlich in die Katastrophe führen würde, aber mir erlaubte, weiter zu trinken. Bis dahin deutete alles darauf hin, dass nichts ein Problem so lösen würde, wie der erste Drink.

Oder Option zwei: Ich mache es mir ungemütlich. Mein fl üssiges Trostpfl aster wegwerfen. Ich hatte keine Ahnung, wohin mich dieser zweite Weg führen würde oder ob ich ihn überhaupt durchziehen könnte. Und ich hatte schreckliche Angst. Doch das Witzige daran, mit dem eigenen Mageninhalt bedeckt aufzuwachen, ist, dass es die Entscheidung leichter macht, genau das Gegenteil von dem zu tun, was dich dazu gebracht hat. Niemand wird an einem Freitagabend nüchtern. Es ist eine Entscheidung, die man am Sonntagmorgen treffen muss, wenn man wieder zu sich kommt.

Ich habe die weiße Fahne gehisst. Dann begannen die Unannehmlichkeiten.

Die akute körperliche Hölle des Austrocknens dauerte tagelang an. Dazu gehörten Kopfschmerzen, Übelkeit, Erschöpfung, Zittern, Schweißausbrüche und andere innere Höllen. Meine Lungen fingen an, eine Art Krebscocktail auszuscheiden, denn ich hatte die Angewohnheit, Drinks mit Marlboros zu begleiten.

Die körperlichen Probleme verblassten schließlich unter der Wahrnehmungsgrenze. Doch dann folgte die noch größere Herausforderung der Enthaltsamkeit — meine hektischen Gedanken zu bewältigen, während sich mein alkoholgeschädigtes Gehirn neu konfi gurierte. Mein Verstand war wie ein harter Gummiball, der aus einer Kanone in einen betonierten Raum geschossen wurde. Es befand sich in einem hochgradig manischen Zustand und schwankte zwischen Freude darüber, dass ich am Leben war, und Depression darüber, dass ich überhaupt hier war, bis hin zu einer beängstigenden Frage nach der anderen über meine neue Art zu leben. Wie schaffe ich es, nicht zu trinken? Was mache ich an den Wochenenden? Was soll ich sagen, wenn ich bei einer Veranstaltung bin und jemand mich fragt, ob ich etwas trinken möchte? Wie werde ich auf Klassentreffen und Hochzeiten wieder mit meinen alten Freunden in Kontakt kommen?

Es stellt sich heraus, dass die Antworten auf diese Fragen lauten: „Nicht trinken“, „Alles, nur nicht trinken“, „Nein, danke“ und „Warum beschäftigst du dich nicht damit, wenn es soweit ist, Kumpel?“ Jetzt verstehe ich, wie einfach das ist. Damals waren diese Fragen jedoch so tiefgründig und verwirrend, als würde man ein Kleinkind bitten, x zu bestimmen. Es überrascht mich nicht, dass die Hälfte der Menschen, die in psychiatrische Einrichtungen eingewiesen werden, an Suchtproblemen leiden. Ich musste neu lernen, was das Leben ist und wie man es lebt. In den Adern der Easter-Familie tobten über Generationen hinweg Whiskey-abhängige, höllenfahrende Chromosomen, die diesem neuen Weg trotzen. Diese Art von Genen ist so codiert, dass sie dich glauben lassen, dass die Lösung eine verrauchte Kneipe mit einer Jukebox ist, aus der Musik von George Jones ertönt, und dass die Dinge dieses Mal gut laufen werden, obwohl hunderte Beispiele das Gegenteil beweisen.

Aber ich ließ mich jeden Tag aufs Neue auf das Unbehagen ein, das die harte Veränderung mit sich brachte, und bald öffnete sich die Welt. Mir wurde bewusst, wie schön es ist, am Leben zu sein, und ich verstand meine Rolle besser. Bevor ich nüchtern wurde, schienen zum Beispiel alle Zeichen darauf hinzuweisen, dass ich das absolute Zentrum des Universums bin. Doch als ich trocken wurde, erkannte ich, dass ich im großen Ganzen gar nicht so verdammt wichtig bin. Das ist eine erschütternde Erkenntnis. Aber als ich anfi ng, mich darauf einzulassen — mir einzugestehen, dass ich nichts weiß und Hilfe gebrauchen könnte — fand ich etwas Frieden und Perspektive.

Ich begann, mich mit den Menschen, die ich liebe, auf neue, tiefere Weise zu verbinden. Ich fing an, Stille zu finden, Ruhe zu erleben und mit mir selbst im Reinen zu sein. Um aus mir herauszukommen, legte ich mir einen Hund zu und ging jeden Morgen mit ihm zu einem nahegelegenen Fluss, wo ich in der morgendlichen Stille und dem Nebel eine längst vergessene Ruhe und Zuversicht spürte. Ich ließ mich weniger von alltäglichen Problemen wie Arbeitsdramen, Stau, Terminen und Rechnungen aus der Ruhe bringen.

Ich war kein völlig neuer Mensch und man würde mich nie mit Mr. Rogers1 verwechseln. Doch ich war achtsamer und konnte erkennen, dass ich immer noch von Bequemlichkeit umgeben war. Ich badete förmlich darin. Nur waren diese Formen weniger direkt zerstörerisch, jedoch potenziell heimtückischer. Ich musste nur einen Blick auf mein tägliches Leben werfen. Ich fühlte mich in jedem einzelnen Moment wohl.

Ich schlief in einem weichen Bett in einer temperaturgeregelten Wohnung. Ich pendelte mit einem Truck zur Arbeit, der alle Annehmlichkeiten einer Luxuslimousine hatte. Ich vertrieb jeden Anfl ug von Langeweile mit meinem Smartphone. Ich hatte einen ergonomischen Schreibtischstuhl und starrte den ganzen Tag auf einen Bildschirm, wobei ich mit meinem Geist und nicht mit meinem Körper arbeitete. Als ich von der Arbeit nach Hause kam, stopfte ich mich mit einfachem, hochkalorischem Essen voll, das Gott weiß woher kam. Dann ließ ich mich auf mein überfülltes Sofa plumpsen, um Fernsehen zu schauen, das aus dem Weltall gestreamt wird. Ich habe mich selten unwohl gefühlt, wenn überhaupt. Die körperlich unangenehmste Aktivität, die ich ausübte, nämlich Sport, fand in einem klimatisierten Gebäude statt, wobei ich gleichzeitig die Nachrichtensendungen im Kabelfernsehen verfolgte, die immer mehr darauf abzielen, mein Weltbild zu bestätigen, anstatt es zu hinterfragen. Ich gehe nicht draußen joggen, wenn die Bedingungen nicht, nun ja, angenehm sind. Weder zu heiß, noch zu kalt, noch zu nass.

Warum sollte ich mich also von all diesen anderen Annehmlichkeiten trennen?

1 Fred McFeely Rogers (20. März 1928 – 27. Februar 2003), besser bekannt als Mister Rogers, war ein amerikanischer Fernsehmoderator, Autor, Produzent und presbyterianischer Pfarrer. Er war der Schöpfer, Showrunner und Moderator der Vorschul-Fernsehserie „Mister Rogers‘ Neighborhood”, die von 1968 bis 2001 lief.

3

0,004 PROZENT

WIR MENSCHEN HABEN den Wunsch nach Komfort entwickelt. Wir streben instinktiv nach Sicherheit, Schutz, Wärme, zusätzlicher Nahrung und minimaler Anstrengung. Und dieser Drang war in der Geschichte der Menschheit fast immer von Vorteil, weil er uns zum Überleben zwang.

Unbequemlichkeit kann sowohl körperlich als auch emotional sein. Es umfasst Hunger, Kälte, Schmerzen, Erschöpfung, Stress und alle anderen belastenden Empfi ndungen und Gefühle. Unser Bedürfnis nach Komfort hat uns dazu gebracht, Nahrung zu finden. Unterschlüpfe zu bauen und zu suchen. Vor Raubtieren zu fliehen. Zu riskante Entscheidungen zu vermeiden. Wir taten alles, was uns half, weiterzuleben und unsere DNA zu vermehren. Es ist also nicht verwunderlich, dass wir auch heute noch das tun, was für uns am bequemsten ist.

Nur waren unsere ursprünglichen Bequemlichkeiten unbedeutend und bestenfalls von kurzer Dauer. In einer unruhigen Welt half uns das ständige Streben nach ein wenig Komfort, am Leben zu bleiben. Unser allgemeines Problem heutzutage besteht darin, dass sich zwar unsere Umwelt verändert hat, nicht aber unsere Verdrahtung. Und diese Verdrahtung ist tief verwurzelt.

Vor etwa 2,5 Millionen Jahren entstanden die Homo habilis, unsere Vorfahren, aus den geschicktesten Primaten seiner Zeit. Diese Männer und Frauen liefen bereits auf zwei Beinen und nutzten Steinwerkzeuge, was ihnen einen klaren Vorteil in der Wildnis verschaffte. Dennoch ähnelten sie uns nicht sehr (man stelle sich einen Schimpansen vor, der mit einem modernen Menschen gekreuzt wurde), und ihr Gehirn war nur halb so groß wie das unsere.

Dann, vor 1,8 Millionen Jahren, kam der Homo erectus. Diese Spezies sah uns ähnlicher und verhielt sich auch so. Sie waren etwa 1,80m groß und lebten in sozialen Jäger- und Sammlergemeinschaften. Wahrscheinlich wussten sie, wie man Feuer benutzt, und ihre Denkweise war abstrakt, was wir vermuten, weil sie Kunst schufen, indem sie Muster in Gegenstände ritzten, die sie in der Natur fanden. Sicher, diese Kunst sah mehr nach der eines Zweijährigen aus und weniger nach der Sixtinischen Kapelle, aber es war ein Fortschritt.

Vor etwa 700.000 Jahren folgten der Homo heidelbergensis und der Homo neanderthalis. Ihre Gehirne waren etwas größer als unsere und sie hatten alle Fähigkeiten ihrer Vorfahren übernommen, wie den Umgang mit Werkzeugen, das Feuermachen und vieles mehr. Sie lernten auch, Häuser zu bauen, Kleidung herzustellen und — damit verbunden — die Jagd zu beherrschen. Sie waren die besten Räuber. Mit ihren Steinspeeren erlegten sie Tiere wie Rothirsche, Nashörner und sogar Mammuts. Das Mammut mit seinem gewaltigen Rüssel ist heute ausgestorben und konnte so viel wiegen wie ein Kenworth-Sattelzug.

Anders als uns die Versicherungswerbung glauben machen will, waren Homo heidelbergensis und neanderthalis keine Dummköpfe. Ihre epischen Jagden erforderten koordinierte Teamarbeit. Ein einzelner Mann oder eine einzelne Frau gegen ein Mammut bedeutet für diesen Mann oder diese Frau ein Gemetzel. Aber mit Männern und Frauen — einem Team von Männern und Frauen, die strategisch vorgehen und zusammenarbeiten — konnten wir Schaden anrichten. Damals erkannten unsere Vorfahren, dass wir nicht nur überleben, sondern ein besseres Leben führen können, wenn wir unsere Köpfe zusammenstekken, um Probleme gemeinsam zu lösen.

So sind wir entstanden. Unsere Spezies, der Homo sapiens, wandelt seit etwa 200.000 bis 300.000 Jahren auf der Erde, je nachdem, welchem Anthropologen man glaubt. Und wir sind sehr weit entwickelt, unabhängig davon, was man in Reality-TV-Sendungen wie „Cops“ oder einer der „Housewives“-Serien sieht. Der frühe Homo sapiens entwickelte komplexe Werkzeuge, Sprachen, Städte, Währungen, Landwirtschaft, Transportsysteme und vieles mehr. Und all das geschah, bevor wir die Geschichte der Menschheit aufgezeichnet haben, also vor nur etwa 5.000 Jahren.

Die modernen Annehmlichkeiten, die unser tägliches Leben bestimmen — Autos, Computer, Fernsehen, Klimaanlagen, Smartphones, stark verarbeitete Lebensmittel und vieles mehr — nutzt unsere Spezies erst seit etwa 100 Jahren oder weniger. Das sind etwa 0,03 Prozent der Zeit, die wir auf der Erde leben. Nimmt man alle Homos zusammen — habilis, erectus, heidelbergensis, neandertalis und uns — und erweitert die Zeitskala auf 2,5 Millionen Jahre, dann sinkt die Zahl auf 0,004 Prozent. Konstanter Komfort ist für uns Menschen etwas grundlegend Neues.

In diesen 2,5 Millionen Jahren war das Leben unserer Vorfahren voller Unannehmlichkeiten. Ständig waren die Menschen den Elementen ausgesetzt. Draußen war es entweder zu heiß, zu kalt, zu nass, zu trocken, zu windig oder zu verschneit. Die einzige Möglichkeit, dem Wetter zu entkommen, war ein bescheidener Unterschlupf, wie zum Beispiel eine kalte, feuchte Höhle voller Fledermäuse und Ratten oder ein Erdloch, das mit Ästen oder einem Tierfell überdacht war. Es gab auch andere primitive Bauten, die gerade genug Schutz boten, um eine Person am Leben zu erhalten. Heute leben die meisten von uns bei knapp 22 Grad Celsius und nehmen das Wetter nur während der zwei Minuten wahr, die wir brauchen, um über einen Parkplatz oder von der U-Bahn-Station zu unserem Büro zu gelangen. Die Amerikaner verbringen heute rund 93 Prozent ihrer Zeit in klimatisierten Innenräumen, und ganze Städte gäbe es nicht, wenn wir die Klimaanlage nicht erfunden hätten. Zum Beispiel Phoenix und Las Vegas.

Die ersten Menschen hatten immer Hunger. Die Hadza, ein Stamm von Jägern und Sammlern in Tansania, der so lebt wie unsere frühen Vorfahren, klagen Anthropologen ständig, dass sie Hunger haben. Es ist nicht die Art von sinnlosem Hunger, die man bekommt, wenn man das Food Network schaut. Es ist ein tiefer, anhaltender Hunger.

Die frühen Menschen hatten sicher nicht jederzeit leichten Zugang zu kalorienreicher Nahrung. Entweder mussten sie Meileweit laufen, um die richtige Stelle zu finden, sie tief aus dem Boden graben oder hoch von einem Baum pfl ücken. Oder sie waren gezwungen, mit winzigen und riesigen Tieren zu kämpfen. Noch heute werden die Hadza beim Honigsammeln ständig von Bienenschwärmen gestochen, eine Delikatesse für den Stamm. Fast 80 Prozent der Neandertaler-Knochen weisen Spuren auf, die darauf hindeuten, dass ihr Besitzer von Tieren verstümmelt oder getötet wurde. Heute können wir per App einen Lieferservice bestellen oder im Supermarkt alles Mögliche einkaufen — vom Honig im niedlichen Plastikbärchen bis zum in Plastikfolie verpackten Fleisch — und ziemlich sicher sein, dass unsere Besorgung nicht mit schweren körperlichen Schäden endet.

Wenn unsere Vorfahren nicht gerade auf Nahrungssuche waren oder von Mastodonten gefressen wurden, hatten sie lange Ruhepausen, in denen sie stundenlang faulenzten. Sie mussten sich die Langeweile vertreiben.

Diese Menschen ließen ihre Gedanken schweifen und mussten kreativ sein und sich gegenseitig unterhalten. Wie sagte doch meine damalige Freundin und heutige Frau, als wir zu Beginn unserer Beziehung zelten gingen: „Nach drei Stunden hatten wir keinen Gesprächsstoff mehr und wir hatten noch einen ganzen Tag vor uns“. Erst in den 1920er Jahren, als das Radio die Massen erreichte, gab es eine ganztägige Flucht aus der Langeweile. In den 1950er Jahren kam dann das große Fernsehen. Am 29. Juni 2007 wurde die Langeweile schließlich für tot erklärt — dank des iPhones. Und mit ihr sind auch unsere Phantasie und unsere tiefen sozialen Bindungen verschwunden.

Unsere Vorfahren haben, wenn sie nicht gerade saßen, sehr, sehr hart gearbeitet. Die Hadza bewegen sich 14-mal mehr als der durchschnittliche Amerikaner. Sie bewegen sich etwa 2 Stunden und 20 Minuten am Tag, schnell und hart. (Obwohl das, was sie tun, eigentlich „Leben“ und nicht „Bewegung“ heißt.) Die frühen Menschen liefen oder rannten Meileweit, um Wasser und Nahrung zu finden. Der menschliche Körper ist so gebaut, wie er ist — mit gewölbten Füßen, langen Beinsehnen, Schweißdrüsen und vielem mehr — weil wir uns für die Jagd entwickelt haben. Wir jagten und verfolgten das Tier Meileweit, bis es vor Erschöpfung zusammenbrach. Dann töteten wir es, schlachteten es und trugen es den ganzen Weg zurück zum Lager. Wenn die Beute zu schwer war, um sie zu tragen, brachen unsere Vorfahren das Lager ab und gingen zu der erlegten Beute.

Sie hatten Stress. Sehr viel Stress. Wenn sie kein Futter fanden, starben sie. Wenn ein Löwe ihr Futter wollte, starben sie (oder liefen weg oder wurden zerfl eischt). Wenn sie sich zu weit vom Wasser entfernten, starben sie. Wenn ein Sturm aufkam, starben sie. Wenn sie sich infi zierten, starben sie. Wenn sie stolperten und sich ein Bein brachen, starben sie. Und so weiter.

Ja, der moderne Mensch ist gestresst. Laut der American Psychological Association sind wir gestresster als je zuvor. Aber wir leiden nicht unter dem akuten Stress, der die Menschen vor Millionen von Jahren in Aufruhr versetzte. Körperlichen Stress wie starken Hunger, Erschöpfung durch die Verarbeitung von Nahrungsmitteln, das Tragen schwerer Lasten oder die Belastung durch Krankheitserreger und starke Temperaturschwankungen erleben die meisten von uns nicht. Wir leiden auch nicht unter psychischem Stress wie der Frage, woher die nächste Mahlzeit kommt, der Angst vor Raubtieren mit Reißzähnen oder der Befürchtung, dass sich eine kleine Schnittwunde entzünden und uns in einer Woche töten könnte. Die Covid-19-Pandemie war wahrscheinlich das erste Mal, dass viele von uns diesen vergessenen Stress spürten und erkannten, dass wir Menschen der Natur immer noch hilfl os ausgeliefert sein können.

Für die meisten modernen Amerikaner ist „Stress“ oft gleichbedeutend mit Dingen wie: „Wegen des Verkehrs komme ich zu spät zu meinem Yogakurs.“ Oder: „Verdient mein Nachbar mehr Geld als ich?“ Oder: „Diese Tabellenkalkulation dauert ewig“. Oder: „Wenn mein Kind nicht an eine Eliteuniversität geht, werden wir alle ein Leben in völliger Bedeutungslosigkeit führen.“ Das ist der Stress der Ersten Welt.

Deshalb haben viele Wissenschaftler darüber geschrieben, wie die Welt insgesamt besser wird. Sie weisen darauf hin, dass die Menschen länger und besser leben, mehr Geld verdienen und seltener ermordet werden oder hungern als je zuvor. Selbst den ärmsten Amerikanern geht es im Vergleich zu früheren Generationen gut. Und ja, viele Zahlen, Daten und Diagramme deuten tatsächlich darauf hin, dass die Welt besser geworden ist. Natürlich ist die Welt besser!

Aber es gibt einen Haken: Weil unsere Vorfahren mit so vielen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, mussten sie sich mit vielen Dingen nicht auseinandersetzen. Nämlich die größten Probleme, mit denen moderne Kulturen zu kämpfen haben. Probleme, die unser Leben ungesünder, unglücklicher und weniger lebenswert machen, als es sein könnte.

Dank der modernen Medizin lebt der Durchschnittsmensch heute länger als je zuvor. Die Daten zeigen jedoch, dass die meisten von uns einen größeren Teil ihres Lebens in schlechter Gesundheit verbringen, unterstützt durch Medikamente und Maschinen. Die Lebenserwartung mag gestiegen sein. Aber die Spanne der Gesundheit ist kleiner geworden.

32 Prozent der Amerikaner sind übergewichtig und 38 Prozent fettleibig. Acht Prozent der Fettleibigen gelten als “extrem fettleibig”. Insgesamt sind also 70 Prozent zu schwer. Fast ein Drittel leidet an Diabetes oder Prädiabetes. Mehr als 40 Millionen Amerikaner haben Mobilitätsprobleme, die sie daran hindern, von A nach B zu kommen, und ein Viertel leidet an Herzkrankheiten. Dabei handelt es sich um medizinische Probleme, die es bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts so gut wie gar nicht gab.

Die Menschen leiden immer häufi ger an Verzweifl ungskrankheiten wie Depressionen, Angstzuständen, Sucht und Selbstmord. Die Zahl der Todesfälle durch Überdosis hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten mehr als verdreifacht, und die Wahrscheinlichkeit, dass ein durchschnittlicher Amerikaner Selbstmord begeht, ist heute höher als je zuvor. Es gibt Belege dafür, dass Selbstmord in der Geschichte der Menschheit so gut wie nie vorkam. In meiner Highschool-Abschlussklasse mit 400 Schülern starben seit unserem Abschluss jedes Jahr ein bis drei Schüler an einer Überdosis oder durch Selbstmord.

Die Lebenserwartung in den USA ist in den Jahren 2016, 2017 und 2018 wegen solcher Krankheiten zurückgegangen. Einen solchen Rückgang der Lebenserwartung hat es seit 1915 bis 1918 nicht mehr gegeben, als der Erste Weltkrieg und die Pandemie der Spanischen Grippe sich zu einer Symphonie des Todes vereinten.

Natürlich müssen wir uns nicht mit den Unannehmlichkeiten herumschlagen, wie zum Beispiel unser Essen erarbeiten zu müssen, jeden Tag harte und anstrengende körperliche Arbeit zu verrichten, großen Hunger zu verspüren und den Elementen ausgesetzt zu sein. Aber wir müssen uns mit den Nebenwirkungen unseres Komforts auseinandersetzen: langfristige körperliche und geistige Probleme.

Wir haben zu wenig körperliche Anstrengung, wir müssen zum Beispiel nicht hart für unseren Lebenserhalt arbeiten. Wir haben zu viele Möglichkeiten, uns zu betäuben, mit Trostessen, Zigaretten, Alkohol, Tabletten, Smartphones, Fernsehern und mehr. Wir sind losgelöst von dem, was uns glücklich und lebendig macht, wie Verbundenheit, dem Leben in der Natur, Anstrengung und Durchhaltevermögen.

Wir scheinen zu spüren, dass etwas nicht stimmt. Laut einer Umfrage glauben nur sechs Prozent der Amerikaner, dass die Welt besser wird. Einige Anthropologen behaupten sogar, dass die Menschen in den letzten 13.000 Jahren glücklicher waren. Damals hatten die Menschen einfachere Bedürfnisse, die leichter zu befriedigen waren, und sie waren eher in der Lage, in der Gegenwart zu leben.

Komfort und Bequemlichkeit sind schön und gut. Aber sie haben sich nicht immer positiv auf unser wichtigstes Ziel ausgewirkt: glückliche und gesunde Jahre. Vielleicht hat die Tatsache, dass wir nur in unserer immer komfortableren, überbauten Umwelt leben und stets unserem Bedürfnis nach Bequemlichkeit gehorchen, unbeabsichtigte Folgen und führt dazu, dass wir grundlegende menschliche Erfahrungen verpassen. Es gibt Bedingungen, für die wir uns entwickelt haben, und Erfahrungen, die wir machen sollten, die aber nicht mehr Teil unseres Lebens sind. Das hat uns zweifellos verändert, oft nicht zum Besseren.

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800 GESICHTER

DAVID LEVARY IST Anfang 30 und Psychologe an der Harvard University. Er verkörpert das Bild eines aufstrebenden Ivy-League-Psychologen: tadellose Aussprache, perfekter Bart und Interesse an den großen Fragen darüber, warum wir Menschen uns so verhalten, wie wir es tun.

Levari studierte bei dem berühmten Forscher Dan Gilbert, als die beiden zu einer Konferenz reisten. Als sie in der Schlange vor der Flughafenkontrolle standen, fiel ihnen etwas Merkwürdiges auf. Die TSA2-Angestellten behandelten viele Menschen, die scheinbar keine Gefahr darstellten, wie existenzielle Risiken.

Wir alle kennen das Phänomen aus dem wirklichen Leben. Ein wohlmeinender TSA-Agent durchsucht ein Handgepäckstück, weil er die Banane für eine 9mm Beretta hält. Oder eine 90-jährige Rollstuhlfahrerin, die weder gehen noch sehen kann, wird am ganzen Körper abgetastet, weil sie vergessen hat, dass sie eine halbvolle Flasche Haarspray in ihrer Handtasche hatte.

„Vorsicht ist besser als Nachsicht“, lautet offenbar die Devise. „Aber wir haben uns gefragt“, sagt Levari, „ob die TSA sich einfach zurücklehnen und nichts unternehmen würde, wenn die Leute plötzlich keine verbotenen Gegenstände mehr zum Flughafen mitbrächten und die Gepäckscanner nicht mehr anspringen würden.“ Sie waren nicht dieser Ansicht. „Unsere Intuition war, dass die TSA das tun würde, was die meisten von uns tun würden“, sagt er. „Wenn es nicht mehr viel zu finden gibt, würden sie anfangen, nach einer breiteren Palette von Dingen zu suchen, wenn auch nicht bewusst oder absichtlich, weil es ihr Job ist, nach Bedrohungen zu suchen.“

Vor diesem Hintergrund hat Levari kürzlich eine Reihe von Studien durchgeführt, um herauszufi nden, ob das menschliche Gehirn auch dann nach Problemen sucht, wenn diese seltener werden oder gar nicht mehr existieren. In einer seiner Studien mussten die Probanden eine Folge von 800 verschiedenen menschlichen Gesichtern betrachten, die von sehr einschüchternd bis völlig harmlos reichten.

Die Teilnehmer sollten beurteilen, welches der Gesichter „bedrohlich“ aussah. Sobald sie jedoch das 200. Gesicht gesehen hatten, begann Levari (ohne dass die Teilnehmer etwas davon wussten), Gesichter zu zeigen, die immer weniger bedrohlich aussahen.

Eine weitere Studie von Levari verwendete ein ähnliches Konzept. Diesmal sollten die Teilnehmer jedoch 240 Vorschläge für wissenschaftliche Forschung als „ethisch“ oder „unethisch“ beurteilen. Ungefähr in der Mitte der Studie begann Levari, den Teilnehmern immer weniger „unethische“ Vorschläge zu geben.

Diese beiden Szenarien sollten ziemlich schwarz und weiß sein, nicht wahr? Eine Person ist entweder bedrohlich oder sie ist es nicht. Ein Vorschlag überschreitet eine moralische Grenze oder nicht. Wenn wir diese Situationen nicht als schwarz und weiß sehen können, stellt sich die Frage, ob wir unserem Urteilsvermögen in viel wichtigeren Fragen wirklich trauen können. Zum Beispiel, wie bequem wir geworden sind und wie sich das auf uns auswirkt.

Als Levari sich alle Daten ansah, entdeckte er, dass Menschen nicht schwarz oder weiß sehen können. Wir sehen Grau. Und das Grau, das wir sehen, hängt von all den anderen Grautönen ab, die davor kamen. Wir passen unsere Erwartungen an.

Als die bedrohlichen Gesichter seltener wurden, begannen die Teilnehmer, neutrale Gesichter als bedrohlich zu empfi nden. Als die unethischen Forschungsvorschläge seltener wurden, begannen die Teilnehmer, unklare Forschungsvorschläge als unethisch zu betrachten.

Er bezeichnete dies als „prävalenzbedingten Konzeptwechsel“. Im Grunde seien es „schleichende Probleme“. Er erklärt, dass wir nicht zufriedener werden, wenn wir weniger Probleme haben. Wir senken nur unsere Schwelle für das, was wir als Problem ansehen. Am Ende haben wir genauso viele Probleme. Nur sind unsere neuen Probleme immer hohler.

Levari hat damit auf den Punkt gebracht, warum viele Menschen in fast jeder Situation ein Problem finden können, egal wie gut es uns im Vergleich zur gesamten Menschheit geht. Wir verschieben immer den Grenzpfahl. Es gibt buchstäblich eine wissenschaftliche Grundlage für die Probleme der Ersten Welt.

„[Ich] glaube, das ist ein grundlegendes Merkmal der menschlichen Psychologie“, sagt Levari. Das menschliche Gehirn hat sich wahrscheinlich so entwickelt, dass es diese relativen Vergleiche anstellen kann, weil es dafür viel weniger Gehirnschmalz braucht, als sich an jede Situation zu erinnern, die man gesehen hat oder in der man war. Dieser Gehirnmechanismus hat es uns ermöglicht, schnelle Entscheidungen zu treffen und uns sicher in unserer Umgebung zu bewegen. Aber auf die heutige Welt übertragen? „Wenn die Menschen all diese relativen Urteile fällen“, sagt Levari, “sind sie mit ein und derselben Sache immer unzufriedener als früher.“

„Dieses verrückte Phänomen hat direkt damit zu tun, wie wir heute mit Komfort umgehen“, sagt Levari. Wir nennen es „Komfortwahn“. Wenn ein neuer Komfort eingeführt wird, gewöhnen wir uns daran und unser alter Komfort wird inakzeptabel. Der Komfort von heute ist das Unbehagen von morgen. Das führt zu einem neuen Niveau von Komfort.

Treppen waren einmal das neue Wunder der Effi zienz. Aber warum sollte man sie noch benutzen, wenn es doch die Rolltreppe gibt? Ein wenig mageres, hart verdientes Fleisch und ein paar einfache Kartoffeln waren einmal die beste Mahlzeit des Jahres. Aber warum sollte man diese fade Kombination essen, wenn es an jeder Ecke Restaurants gibt, die perfekt abgestimmte Kombinationen aus Zucker, Salz und Fett anbieten? Ein kühles Tipi, eine Jurte oder eine einfache Hütte waren einmal ein luxuriöser Zufl uchtsort vor dem Wetter. Doch heute können wir die Innentemperatur genau nach unseren Wünschen einstellen.

Darüber hinaus hat der neue Komfort die Grenze dessen, was wir als akzeptables Maß an Unbehagen empfi nden, weiter verschoben. Mit jedem Fortschritt schrumpft unsere Komfortzone. Das Entscheidende ist, so Levari, dass dies alles unbewusst geschieht. Wir merken nicht, dass der Komfort uns verschlingt und was er mit uns macht.

Was wäre also, wenn wir die uns umgebenden Grautöne auflösen und uns des Komfortwahns bewusst würden?

2 TSA steht für Transportation Security Administration — Transportsicherheitsbehörde.

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20 Meter

ICH HABE DONNIE im Herbst 2017 kennengelernt.

Ich wurde von einer nationalen Zeitschrift gebeten, über die tiefgreifenden Veränderungen in der Welt der Jagd zu schreiben. Es gibt immer mehr Männer und Frauen, die mit dem Klischee aufräumen, dass Jäger harte, zähneknirschende Kerle sind, die an den Rand der zivilisierten Welt fahren und dort sitzen und essen, während sie darauf warten, dass ein naives, majestätisches Tier auf eine Lichtung spaziert, damit sie es aus der Ferne erlegen und sich eine neue Dekoration an die Bürowand hängen können. So haben unsere Vorfahren nicht gejagt. Und so jagt auch Donnie nicht.

Er ist de facto der Anführer eines kleinen, aber stetig wachsenden Stammes von Jägern im Hinterland. Diese Menschen sind zu gleichen Teilen Jäger, extreme Ausdauersportler, Locavore, Überlebenskünstler und Naturforscher. Donnie hat sein halbes Leben damit verbracht, wie unsere Vorfahren zu leben. Er flieht monatelang in die schönsten, abgelegensten und rauesten Landschaften der Welt und trägt alles, was er zum Überleben braucht, auf seinem Rücken. Eine erfolgreiche Jagd bedeutet, dass er die 32 bis 45 Kilogramm schwere Beute über Meilenlange, unwegsame Strecken zu einem Sammelplatz tragen muss. Seine größte Beute? Vierzehn Trips, je 45 Kilogramm Yukon-Elch. Er nutzt jedes verwertbare Gramm des Tieres und versorgt seine Familie und Freunde mit Fleisch, das alle Vorteile von Whole Foods Supermärkten bietet: frei von Antibiotika und Pestiziden, grasgefüttert und in extremer Freilandhaltung aufgezogen.

Das erste Licht traf auf die Neonlichter des Strip, als ich die Stadtgrenze von Las Vegas verließ und auf die US 93 abbog, eine zweispurige Autobahn, die das Great Basin von Nevada von Norden nach Süden durchquert. Vier Stunden fuhr ich durch die Wüste, wo es mehr Hasen als Autos gab und sogar der Radioempfang nicht zu gebrauchen war. Ich landete in Ely, Nevada, einer Stadt mit mehr Höhenmetern als Einwohnern.

Donnie sprang aus einem F-250 Pickup und kam auf mich zu. Er trug ein Flanellhemd und übergroße Stiefel. Seine schulterlangen grauen Haare lugten unter einer Filson-Mütze hervor. Man könnte ihn sich als einen bärtigen Fabio aus dem Grenzgebiet vorstellen.

Er gab mir eine raue Hand, um meine zu schütteln, und wurde ein richtiger Ranger Rick. „Ich bin jetzt seit einer Woche da oben und es ist wunderschön. Es ist wirklich ein fantastisches Land“, sagte er. Dann atmete er die salzige Luft Nevadas ein und blickte auf die 3.048 Meter hohen Gipfel der White Pine Mountains. „Lass uns rauffahren.“

Donnie lenkte den Ford über eine leere Autobahn. Schließlich bog er auf eine holprige Schotterpiste ab, die von Salbeibüschen umgeben war. Wir kamen an einem geparkten Pickup vorbei, um den eine Gruppe dickbäuchiger, getarnter Männer mit Ferngläsern die Bergketten über uns beobachtet. „Viele Leute hier wohnen in Hotels und jagen von der Straße aus“, sagte Donnie und schüttelte den Kopf.

Er lenkte den Truck aus der Hochwüste auf eine felsige 4x4-Piste, die in einen dunklen Canyon führte. Donnie gestand mir, dass ihm der mentale und physische Prozess, wochenlang an fantastischen Orten zu pirschen, mehr Spaß macht als das eigentliche Erlegen der Beute. Der Prozess ist die Belohnung. Aber ein erfolgreiches Ergebnis macht den Prozess noch lohnender.

„Ich komme nicht aus einer Familie von Jägern und Fischern“, sagte er. „Als Kind habe ich „Outdoor Life“ abonniert und war wie besessen. Ich wollte große Abenteuer erleben. In meinem ersten Jahr auf dem College ging ich im Prince William Sound auf Schwarzbärenjagd.“

Wir holperten unbeholfen über die unebene Straße und lehnten uns in jede der breiten Spurrillen, über die der Truck fuhr. „Ich war besessen davon, einen Bären zu fangen und ihn anzupacken“, sagte er. „Ich war gerade auf dem Weg zu diesem abgelegenen Strand in der Schneewehenbucht, als der erste Bär auftauchte. Ich hatte völlig vergessen, warum ich hier war. Ich beobachtete, wie sich seine Pfoten auf den Felsen abstützten, wie er Lachs aufhob und fraß. Ich bemerkte all die winzigen Details in seinem Gesicht, in seinen Augen und wie er atmete. Ich war überwältigt. Ich fühlte mich diesem Bären so verbunden. Mein Herz wurde ganz schwer und ich begann fast zu weinen.“

Die Straße endete an einem Ausgangspunkt tief im Canyon. Wir stiegen aus dem Führerhaus und Donnie begann, seine Ausrüstung in den Rucksack zu packen. Keine Tarnkleidung. Stattdessen dunkle, praktische Outdoor-Ausrüstung, die man eher bei REI3 als bei Cabela’s finden würde. Abenteuerkleidung wie ultraleichte Daunenunterwäsche und GORE-TEX-Jacken, die für Bergsteiger entwickelt wurden, passen besser und funktionieren besser, sagte er. Sie sind auch für Nichtjäger leichter zugänglich. „Das meiste Großwild kann sowieso nur in Grautönen sehen“, sagte er. „Großwildtarnung ist hauptsächlich ein Marketingtrick.“

Er erzählte weiter. “Ich konnte den Bären einfach nicht erlegen. Später in der Nacht sagte der Kapitän des Bootes, auf dem ich übernachtete, zu mir: Ich glaube, du bist ein Jäger. Ich glaube, du wirst enttäuscht sein, wenn du hier nicht mit einem Bären abreist”, sagte Donnie. Wir stapften den steilen, von Pinien gesäumten Pfad entlang, als der Canyon mit der untergehenden Sonne immer dunkler wurde.

„Am nächsten Tag ging ich wieder an den Strand. Er war von schneebedeckten Gipfeln umgeben und es war unglaublich schön. Weißkopfseeadler jagten Fische. Die Bucht war blutrot von einem Orca, der ein Buckelwalkalb jagte. Dann kam ein Bär aus dem Wald. Ich zielte und hielt inne“, sagte er, als wir an einem felsigen Bach vorbeikamen. „Dann habe ich geschossen. Der Bär ging zu Boden. Und dann wurde mir alles klar. Der Bär konnte kein Bär mehr sein. Und das lag an mir. Aber nachdem ich eine Weile gesessen hatte, bemerkte ich wieder die Adler und die Wale. Sie waren alle auf der Jagd. Raben flogen über mich hinweg und warteten darauf, die Überreste ihrer Beute und meines Bären zu zerreißen. Ich dachte: Oh, okay, ich habe mich in dieses Ökosystem eingefügt. Ich bin nur ein weiterer Teil dieses natürlichen Prozesses.“

Seitdem ist er Teil dieses Prozesses. Nach dem College begann Donnie als Feldbiologe für den US Fish and Wildlife Service zu arbeiten. Sechs Monate lang zählte er die Lachsbestände am Tuluksak River in Alaska. „Ich war allein dort oben. Ich wohnte in einem gelben Dreimannzelt“, sagte er. „Alle drei Wochen, wenn mein Vorgesetzter kam, um mir Vorräte zu bringen, sah ich einen anderen Menschen. Mein Abendessen angelte ich neben einem Rudel Wölfe.“

Irgendwann fing er an, seine Abenteuer zu filmen. Zum einen, um seine Jack-London-artigen Geschichten zu untermauern, zum anderen, um den Leuten zu zeigen, was sie verpassen. Zunächst filmte er mit einer billigen Handkamera. Dann traf er William, der seine eigenen Jagden im Nordosten gefi lmt hatte. Sie drehten eine Jagddokumentation, die sie „The River’s Divide“ nannten. Sie hat nichts mit dem zu tun, was man auf dem Outdoors Channel sehen kann. „Viele Jagdfi lme und -sendungen feiern den Tod. Ihr Motto ist: Tötet sie in Massen. Das ist ekelhaft, einfach ekelhaft“, sagte Donnie. Seine Filme sind wie „Planet Erde“, nur dass es um die Jagd geht. Lange, ruhige Aufnahmen, zum Beispiel von einem nebligen Herbstmorgen an einem Teich, oder Detailaufnahmen eines Fuchses, der sich ins Lager verirrt hat.

„The River’s Divide“ beschreibt Donnies vierjährige Odyssee auf der Suche nach einem Weißschwanzbock in den Badlands, den er Steve nannte. Im Mittelpunkt stehen der Lebensraum, die Entwicklung und die Persönlichkeit des Bocks sowie die widersprüchlichen Gefühle, die Donnie empfand, nachdem er ihn erlegt hatte. „Danach erhielt ich Tausende von Briefen von Jägern und Nichtjägern. Den Leuten gefi el mein Ansatz. Ich glaube, sie mochten die Filme auch deshalb, weil sie zeigen, wie wertvoll es ist, aus dem modernen Konkurrenzkampf auszusteigen und ein Teil der Natur zu sein.“

Donnie verbringt nun jedes Jahr mehrere Monate abseits des Wettkampfs und erkundet hunderte von Meilen in der Wildnis der Arktis, in Mexiko, Russland, Alaska, im Yukon und anderswo. „Wenn du außergewöhnliche Erfahrungen machen willst“, sagte er, während wir den Pfad hinaufstiegen und sich die Silhouette der hohen Kiefern schwarz gegen den mondbeschienenen Himmel abhob, „musst du an außergewöhnliche Orte gehen.“ Er ist eine Mischung aus Davy Crockett, David Attenborough und dem Dalai Lama.

Als wir an unserem ersten Zeltplatz ankamen, war es so dunkel, wie ich es noch nie in Las Vegas erlebt hatte. Ein Stück Felsboden war der einzige halbwegs ebene Platz, den wir auf einer steilen Bergwiese finden konnten. Ich füllte meine Wasserfl asche an einer Quelle, die aus dem Berghang sprudelte, und nahm einen langen Schluck. Ich zitterte.

Draußen war es eiskalt. Offensichtlich hatte mein 22-GradLebensstil — vom temperaturkontrollierten Haus zum Auto, zum Büro und wieder nach Hause — mein Gehirn und meinen Körper nicht wirklich auf eine Art von Wetter vorbereitet, das nicht... 22 Grad warm war. Ich fühlte, wie sich die Kälte von den Extremitäten bis zur Körpermitte ausbreitete. Also zog ich jede Schicht an, die ich eingepackt hatte. Ein T-Shirt aus Wolle, eine Zwischenschicht aus Wolle, eine Daunenweste, eine Jacke, eine Mütze und Handschuhe. Und trotzdem habe ich immer noch gezittert wie ein Idiot.

William stand stoisch neben der Quelle, er trug ein kurzärmeliges T-Shirt, die Temperatur war ihm egal. „Ist dir nicht kalt?“, fragte ich ihn.

„Hä?“, sagte er, scheinbar ohne den Frost zu bemerken, der aus seinem Mund kam. „Kalt.“, sagte ich und zog am Ärmel meiner Jacke. „Ist dir nicht kalt?“

„Oh, nein. Nicht wirklich. Ich weiß, dass es draußen kalt ist“, sagte William. „Aber das macht mir nichts aus. Ich mag das Gefühl. Normalerweise kann ich ein T-Shirt bis zu einer Temperatur von vier Grad tragen.“

Wir versammelten uns alle zum Abendessen in Donnies Vier-Mann-Tipi (das klingt komisch, aber es ist eigentlich nur ein Zelt mit einem höheren Dach und ohne Boden). Ich war nicht gegen die Jagd. Aber ich war auch nicht bereit, ein Gewehr oder einen Bogen in die Hand zu nehmen. Also fragte ich Donnie: „Warum überhaupt jagen? Ich finde die Trophäenjagd abscheulich. Fleisch kann man in jedem Restaurant und Lebensmittelgeschäft kaufen.“

Er stimmte mir im Punkt Trophäenjagd zu. Dann erklärte er mir den strengen ethischen Kodex, den er während seiner Arbeit als Wildtierforscher entwickelt hat. Zum Beispiel jagt er nur die älteren Tiere einer Art, weil die Entnahme eines alten Tieres oft die Gesundheit der ganzen Herde verbessert, während die Entnahme eines jungen Tieres das Gegenteil bewirkt. Außerdem können die Jungtiere sich so voll entfalten. Zu seinem Ärger werde er manchmal mit einem Trophäenjäger verwechselt. „Ich bin defi nitiv nicht auf der Jagd nach Geweihen oder Hörnern“, sagte er. „Aber ältere Tiere haben oft die größten Geweihe und Hörner.“

Donnie setzte sich wieder auf seine Isomatte und begann, philosophisch zu werden. „Wir sind in einem Ökosystem von Räubern und Beute aufgewachsen. Wenn man ein Kaninchen fragt: ‘Warum bist du ein Kaninchen?’, würde es wahrscheinlich sagen: ‘Ich weiß es nicht. Ich bin einfach ein Kaninchen. Ich esse Karotten und habe einen buschigen Schwanz und Schlappohren. Ich war schon immer ein Kaninchen.’ Das ist irgendwie auch meine Antwort“, sagte Donnie. „Ich bin ein Jäger. Ich glaube, wenn man alle Schichten auseinandernimmt, hat sich der Mensch vom Einzeller zum Affen und schließlich zum Menschen entwickelt. Wir sind Tiere. Und im Grunde sind wir Jäger und Sammler. Die meisten von uns leben immer noch in einer Art Räuber-BeuteVerhältnis. Jagen und Sammeln. Denn die meisten von uns essen immer noch Fleisch, und wir alle essen immer noch Gemüse“, sagte er. „Aber wir haben heute den Luxus, dass das Jagen und Sammeln industriell für uns erledigt wird. Hätten wir das nicht, würden wir sicher alle noch selbst jagen und sammeln. Ich glaube, ich bin der ursprünglichen Form einfach näher als die meisten Menschen.“

Dann hielt er einen Moment inne. „Ich weiß, dass die Jagd umstritten ist“, sagte er. „Aber wenn man Fleisch isst, geht man einfach in den Supermarkt und zückt die Kreditkarte. Man weiß nichts über das Tier. Wie es gelebt hat, wo es herkommt, was für ein Leben es hatte. Aber ich weiß es.“

Beim Abendessen haben wir viel über Fleisch gesprochen. Aber das Essen selbst war nicht sehr abwechslungsreich. Es war nur eine Art Brei für Wanderer. Danach zog ich mich in mein bescheidenes Quartier zurück — eine Plane, gestützt von einem Trekkingstock — und versuchte etwas zu schlafen.

Von da an wurde der Trip nur noch ungemütlicher. In den nächsten Tagen kletterten wir stundenlang mit 30 Kilo schweren Rucksäcken auf dem Rücken über steile, wilde Hügel. Um im Hochland Wasser zu holen, mussten wir tausende Meter zu einer Quelle absteigen und dann die schweren, unhandlichen Wassersäcke zurück ins Lager schleppen. Wenn wir nicht wanderten, saßen wir auf den windumtosten Gipfeln und hielten mit dem Spektiv Ausschau nach Elchen. Aber wir hatten nur ein Spektiv und ich hatte keine Ahnung, wo ich suchen sollte. So saß ich dort in einem Zustand der Langeweile, den ich nicht mehr erlebt hatte, seit ich in der Mittelstufe auf das Ende der Algebra-Stunde gewartet hatte. Um unsere Rucksäcke so leicht wie möglich zu halten, ernährten wir uns jeden Tag von ein oder zwei Snickers und einer gefriergetrockneten Mahlzeit. Das reichte vielleicht für ein Instagram-Model, aber sicher nicht für einen erwachsenen Mann, der den ganzen Tag einen schweren Rucksack bergauf schleppte. Ich war ausgehungert. Außerdem hatte ich die ganze Zeit weder geduscht noch meine Hände gewaschen, was im Zeitalter der Desinfektionsmittel ungewöhnlich ist. Ich hatte auch meine Schichten an Kleidung, Handschuhe und Mütze nicht ausgezogen.

Ich habe viel Zeit damit verbracht, die Notwendigkeit dieses ganzen Unterfangens in Frage zu stellen.

Doch nachdem wir ein paar Tage auf den Granit- und Kalksteinkämmen in 3.048 Meter Höhe zwischen Borstenkiefern gewandert waren — 2.000 Jahre alten Kiefern, die es nur in den rauesten und höchsten Landschaften des Westens gibt — erlebten wir eine Begegnung der besonderen Art.

„Runter!“, raunte Donnie fl üsternd.

Ein Elchbulle von der Größe eines Pickups stand knapp 60 Meter entfernt. Sein Hinterteil war uns zugewandt, während er sich zum Grasfressen bückte und sein Geweih wie ein Baukran durch die trockene Bergluft fegte. Wir warfen uns zu Boden. Wenn der Elch uns witterte, würde er mit 60 Meilen pro Stunde galoppieren und aus unserem Blickfeld verschwinden.

Donnie spannte einen Pfeil in seinen Bogen und ging mit karikaturhaften Schritten auf den Elch zu. 20 Meter entfernt hockten wir uns hinter einen Granitfelsen und warteten. Wir warteten darauf, dass das Tier uns seine Schulter zeigte. Der Pfeil würde, so hofften wir, lautlos und sauber eindringen und sich seinen Weg durch die Rückenschlagader in die Lunge bahnen. Nach einem solchen Schuss hat das Tier nur noch wenige Sekunden zu leben. Pfeile sind lautlos und scharf. Oft kippt das Tier um, bevor es sich seiner tödlichen Lage bewusst wird.

Der Bulle kaute nicht mehr. Seine dunklen Augen schienen zu blinzeln, und er legte seine weißbraunen Ohren an. Er hob den Kopf und drehte sich um, um seine Umgebung zu inspizieren. Dabei entblößte er sein wichtigstes Körperteil. Donnie spannte seinen Bogen.

Zen-Mönche meditieren jahrzehntelang, um den Zustand der Präsenz zu erreichen, den ich in dem Moment empfand. Meine Sinne konzentrierten sich auf den Elch und meine Beziehung zu ihm. Ich nahm die dichte Textur seines Fells wahr und wie es elegant von hellbraun zu braun zu weiß wechselte. Ich bemerkte die Noppen, die flachen Kurven und die scharfen Spitzen seines übergroßen Geweihs. Ich hörte, wie seine Zähne das Gras zerkauten und seine schweren Atemzüge seinen Brustkorb anschwellen ließen.

Noch nie war ich dem Tod so nahe gewesen, dem Moment, in dem der Lebenszyklus eines Lebewesens endet, damit der eines anderen fortgesetzt werden kann. Das letzte Fleisch, das ich gegessen hatte, war in einer Papiertüte zwischen zwei Brötchen verpackt und stammte wahrscheinlich aus einem mysteriösen Schlachthof im Mittleren Westen.

Ich fragte mich nur, ob Donnie den Pfeil mit 300 Meilen pro Stunde in den unscheinbaren Bullen fliegen lassen würde. Bis mir ein Beobachter auffi el. Ein Kojote lauerte hinter uns und hoffte auf ein Abendessen aus Elchinnereien. Auch der Elch wurde aufmerksam, erschrak und galoppierte davon, als Donnie die Sehne des Bogens wieder zum Stillstand brachte. „Er war groß und schön, aber zu jung“, sagte Donnie.

Der Rauch der Waldbrände im Westen filterte die Sonne in ein Kastanienbraun, als wir über die Bergkämme zum Lager zurückkehrten. Ich fühlte mich so lebendig wie seit den ersten Tagen meiner Nüchternheit nicht mehr, als mir klar wurde, dass ich ein völlig neues Leben vor mir hatte. Mein Geist war ruhiger, mein Körper fitter. Ich fühlte mich mehr im Einklang mit höheren Rhythmen als mit den hektischen Frequenzen des modernen Lebens.

3 Recreational Equipment Inc.

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50/50

ALS ICH IN die „Zivilisation“ zurückkehrte, hielt das mulmige Gefühl noch wochenlang an. Immer wieder musste ich daran denken, wie ich mich in diesen verrückten Tagen gefühlt hatte, als ich unbarmherzige Bergwände hinaufkletterte, Mahlzeiten verpasste, vergeblich versuchte, der Kälte zu entkommen und nicht wusste, was die ungezähmte Welt als nächstes mit mir machen würde. Es war das Gegenteil von Komfortwahn. Es war, wie ich bald von einem Arzt in Harvard erfuhr, eine Art Misogi.

Das Kojiki ist ein japanisches Dokument, das von der Kaiserin Genmei im Jahr 711 in Auftrag gegeben wurde. Es ist das älteste erhaltene Dokument Japans. Es enthält Mythen, Legenden und historische Berichte über den japanischen Archipel, die Entstehung von Himmel und Erde und die Ursprünge der Shinto-Götter und -Helden. Die epischste Erzählung des Kojiki ist Misogi.

Izanagi war ein Shinto-Gott und mit der Shinto-Göttin der Schöpfung und des Todes verheiratet. Den beiden Göttern ging es gut, bis Izanagis Frau bei der Geburt ihres Kindes starb. Sie stieg in das Land der Toten hinab, die Unterwelt, in die alle Shinto-Götter im Jenseits gehen.

Izanagi war am Boden zerstört. Er weinte und schlief, bis er beschloss, dass er so nicht weiterleben konnte. Er beschloss, ins Land der Toten zu gehen, um seine Frau zurückzuholen.

Izanagi betrat eine Höhle, die in die Unterwelt führte. Als er tiefer ging, stieß er auf eine höllische Landschaft. Dämonen, Zombies und groteske Gestalten wollten ihn gefangen nehmen und für immer festhalten.